Der Name ist kreuzworträtselverdächtig. Sängerin mit sechs Buchstaben, davon zweimal Y und zweimal V. Das kann nur Jennifer Vyvyan sein. Stimmt genau. Kenner schätzen ihren hellen, gut sitzenden Sopran, dessen Höhe leicht belegt sein kann und dessen Stärke nicht die tieferen Lagen sind, ein Mangel, den sie mit viel Geschick und Einsicht in die eigenen Möglichkeiten verwaltet. Dafür sind die Mittellage und die Atemtechnik phänomenal. Nicht sehr voluminös ist diese Stimme, aber sehr belastbar. Und reell. Auf Aufhieb ist sie nicht gleich wiederzuerkennen. Wer sie zum ersten Mal hört, staunt allemal, wie gut diese Jennifer Vyvyan singen konnte. Sie war meist in musikalischen Randbezirken unterwegs, hat außer viel Händel kein zentrales Opernrepertoire gesungen, von einigen Mozart-Rollen – darunter Konstanze, Elvira und Elettra – einmal abgesehen. Ihre Domäne waren Barockopern, Oratorien, Konzertprogramme und Werke ihres Landsmannes Benjamin Britten. Die bekannteste Aufnahme mit ihr dürfte der monströse Messiah von Händel unter Beecham sein, der nie vom Markt verschwunden ist und damit auch ihren Namen im Katalog hielt. Im Internet wird Jennifer Vyvyan mit einer sehr ästhetisch anmutenden Seite gewürdigt, deren Besuch sich lohnt und von ihrem Sohn betrieben wird. Nun wird sie mit der Wiederauflage einer alten Platte von 1956 bedacht.
Decca ist dazu tief ins Archiv hinab gestiegen und hat auch entlegenste Räume geöffnet. Erstaunlich, was da alles zum Vorschein kommt und jetzt in einer neuen Reihe zusammengefasst wird: Most Wanted Recitals! Die ersten CDs sind im Handel. Wie heutzutage weit verbreitet, prangen auf den Vorderseiten Abbildungen der Plattenhüllen der Erstausgaben. Da kommt Nostalgie auf, wenn nicht gar Sehnsucht nach dem guten alten Vinyl-Zeitalter. So soll es sein, das ist Kalkül, verkaufsfördernd. Ich bekenne freimütig, davon fasziniert zu sein, obwohl ich in meinen eigenen Beständen kaum noch Platten habe. Nun kehren sie wenigstens als platzsparende Reminiszenz zurück. Ansonsten ist die Ausstattung schlicht: In den Booklets finden sich auch die Rückseiten der jeweiligen LPs abgebildet, was konsequent ist, zudem Tracklisten, Aufnahmedaten und unerklärliche drei unbedruckte Seiten, die bestenfalls für eigene Notizen verwendet werden können. Die CDs selbst sind in der Art der alten Plattenetiketten bedruckt. Behutsam wurde das Klangbild den gestiegenen Erwartungen der Gegenwart angepasst, die früheren Stereotitel sind als solche auch benannt, Mono ist Mono geblieben. Nichts klingt übersteuert. Da eine CD mehr Platz bietet als eine LP, wurde meist sehr sinnvoll aufgefüllt. Der Bonus ist aber immer als solcher kenntlich gemacht, so dass der Platteninhalt in seiner ursprünglichen Zusammenstellung erhalten bleibt. Es wird nichts vermengt. Dadurch ist auch Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung das Konzept nachvollziehbar. Aufnahmen sind dabei, die selbst gut sortierte Sammler lediglich dem Titel nach kennen.
So auch die Uralt-LP „Mozart and Haydn Recital“ mit der Vyvyian und einem für sie typischem Programm (480 8185). Von Joseph Haydn ist die vierzehn Minuten lange Szene und Arie für Sopran und Orchester „Berenice, che fai“ zu hören, die erst durch Janet Baker in einer viel späteren Decca-Einspielung so richtig berühmt wurde. Sie erzählt von Antigonus Gonatus, einem König im antiken Mazedonien. Dieser möchte Berenice heiraten, die jedoch unglücklicherweise in seinen Sohn Demetrius verliebt ist. Haydns Komposition setzt in dem Moment ein, als Berenice davon überzeugt ist, dass sich ihr Geliebter Demetrius in seiner Pein das Leben nehmen möchte. Es folgen Laudamus und Quoniam aus der Cecilienmesse sowie von Mozart die Konzertarien „Ah, lo previdi“ KV 272 und „Ch´io mi scordi di te“ KV 505. Aufgefüllt wurde mit anderen Mozart-Titeln, darunter das „Alleluia“ aus Exsultate Jubilate, das Appetit auf die komplette Kantate macht, sowie Canzonetten von Johann Christian Bach.
Mit Liedaufnahmen werden Anton Dermota (480 8151), Hans Hotter (480 8159), Hilde Gueden (480 8156) und Lisa Della Casa (480 8149) bedacht. Dermota singt, begleitet von seiner Frau Hilde, Die schöne Müllerin von Franz Schubert. Sie wurde 1953 im Großen Musikvereinssaal in Wien eingespielt und findet in der Diskographie des Sängers in dessen Autobiographie „Tausendundein Abend – Mein Sängerleben“ (ISBN 3423016892) im Gegensatz zur dreiundzwanzig Jahre später entstandenen Aufnahme keine Erwähnung. Kaum zu glauben, dass da eine Absicht im Spiele war. Dafür ist die Aufnahme viel zu gelungen, auch wenn der leicht näselnde Ton des Sängers auf bestimmten Vokalen einen seltsamen Kontrast bildet zur Leichtigkeit und Offenheit der jugendlichen Stimme. Für mich ist diese Müllerin in ihrer Ursprünglichkeit eine der besten. Muss es wirklich zu diesen Zyklus noch etwas obendrauf geben? Unbedingt! Nachdem ich nämlich den „Nussbaum“ und die „Lotosblüte“ von Schumann und vier Lieder von Wolf – darunter „Der Musikant“ und „Auf ein altes Bild“ – gehört hatte, möchte ich nicht mehr darauf verzichten. Diese Lieder, die drei Jahre früher eingespielt wurden, sind in meinen Ohren ohne jeden Makel. Ich würde sie noch der Müllerin vorziehen.
Ein schwieriger Fall ist Hans Hotter. Das letzte, was von diesem Heldenbariton im Jahr 1973 – das stand er im 64. Lebensjahr – zu erwarten gewesen wäre, waren Lieder von Hugo Wolf. Als sei der filigrane Feinsinn bei diesem Komponisten nie entdeckt worden, dröhnt es aus den Lautsprechern. Mussten es ausgerechnet diese vier Nummern aus dem mit viel Ironie gespickten Italienischen Liederbuch sein, die diese schwere, hallige Stimme gar nicht verträgt. Damit hatte die Decca weder sich noch ihrem Exklusivkünstler einen Gefallen getan. Man muss diesen Sänger sehr verehren und sehr gut kennen, um dieser CD gute Seiten abzugewinnen, die es am Ende aber doch gibt. Die Drei Gedichte von Michelangelo würde ich von allzu harscher Kritik ausnehmen. „Alles endet, was entsteht“ ist in seiner tiefen Resignation bei Hotter am Ende doch ganz gut aufgehoben. Es ist, als ob er noch einmal alle seine gestalterischen Fähigkeiten zusammen nahm. Damit konnte er auch einigen Liedern von Schubert wie dem „Doppelgänger“ oder der „Gruppe aus dem Tartarus“, die die ursprüngliche zweite Plattenseite füllten, Wirkung abgewinnen. Am Flügel saß Geoffrey Parsons, der auch Elisabeth Schwarzkopf bei den Liederabenden in den letzten Jahren ihres Künstlerlebens begleitete.
Hilde Gueden nahm 1956 Lieder von Richard Strauss auf, auch diese sind eine späte Premiere auf CD. Ihr Begleiter war Friedrich Gulda, Produzent John Culshaw. Die Güden garantiert selbst nach so langer Zeit hundertprozentigen Wiedererkennungswert. Wer diese Stimme einmal gehört hat, vergisst sie nie mehr. Sie setzt sich fest. Nicht immer zur Freude. Im Liedgesang tritt besonders stark hervor, was man eine Kinderstimme nennen könnte. Sobald ein Orchester hinzutritt, klingt die Stimme weicher, geschmeidiger und liebenswürdiger. Dreizehn Strauss-Lieder hintereinander können sehr lang und anstrengend sein. Deshalb habe ich mich dankbar auf den Bonus geworfen, der sich aber als unglücklich zusammengestellt erweist. Warum wurden aus dem Querschnitt des Rosenkavalier unter Silvio Varviso nur zwei Szenen entnommen, nämlich die Rosenüberreichung und das gesamte Finale – und nicht auch noch der Rest? Die Gueden ist dort die Sophie, Regine Crespin die Marschallin und Elisabeth Söderström der Octavian. Die Kapazität der CD hätte es hergegeben. Stattdessen wird das Duett mit Lisa Della Casa aus dem ersten Akt von Arabella unter Rudolf Morat – so wunderbar es auch ist – hinzugezogen, das es längst auf CD gibt?
Gute alte Bekannte versammeln sich auch auf der Lisa Della Casa gewidmeten CD. Das Material stammt von zwei Langspielplatten, wobei das Operatic Recital bereits bei seinem ersten Erscheinen mit Arien aus Gesamtaufnahmen aufgefüllt wurden. Exklusiv waren seinerzeit lediglich die fünf von Heinrich Hollreiser dirigierte Szenen aus Händels deutsch gesungenem Giulio Cesare, die es aber bereits auf CD gibt. Sei es drum. Sie – wenn auch etwas unterkühlt – sind betörend genug, dass es sie gar nicht oft genug geben kann. Ein Premieren-Siegel hat der Bonus aus fünfzehn der bekanntesten Lieder von Schubert, Brahms, Wolf und Strauss mit Klavierbegleitung (Karl Hudez), die nach ihrer Produktion im Jahre 1956 eine eigene Platte bildeten. Ob die Übernahme auf CD komplett erfolgte, ist nicht ersichtlich. Den Zeiten nach schon, denn LPs mit eine Spieldauer von sehr guten vierzig Minuten waren die Regel. Mir geht es mit der Casa wie mit der Gueden, ich habe sie lieber mit Orchester, das den Marmor in ihrer Stimme erwärmt. Mit Klavier wirkt sie mitunter auch etwas kokett, was man ihr nicht abkauft, weil viel zu kalkuliert. Aber dann plötzlich der Hugo Wolf, der für alles entschädigt, was ich bei Brahms oder Schubert vermisse: Wahrhaftigkeit. „Geh‘, Geliebter, geh‘ jetzt“, womit das Spanische Liederbuch endet. Eine nicht enden wollende Entsagungsszene voller Wehmut, Schmerz und Trauer. Solche Gefühlslagen sind ihre Stärke – im Lied wie in der Oper. Da ist sie ganz in ihrem Element. Auf die Fortsetzung dieser Decca-Reihe darf man wirklich gespannt sein. – Das große Foto oben wurde uns freundlicherweise vom Betreiber der englischen Internetseite über Jennifer Vyvyan überlassen. Danke.
Rüdiger Winter
… und die Decca-Serie geht weiter!