„Welch ein Werk, welche Poesie, die harmonischste Stimmung durch das Ganze, alle Sätze wie aus einem Gusse, ein Herzschlag, jeder Satz ein Juwel! Wie ist man von Anfang bis zu Ende umfangen von dem geheimnisvollen Zauber des Waldlebens! Ich könnte nicht sagen, welcher Satz mir der liebste? Im ersten entzückt mich schon gleich der Glanz des erwachten Tages, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume glitzern, alles lebendig wird, alles Heiterkeit atmet, das ist wonnig! Im zweiten die reine Idylle, belausche ich die Betenden um die kleine Waldkapelle, das Rinnen der Bächlein, Spielen der Käfer und Mücken – das ist ein Schwärmen und Flüstern um einen herum, dass man sich ganz wie eingesponnen fühlt in all die Wonne der Natur. Der dritte Satz scheint mir eine Perle, aber es ist eine graue, von einer Wehmutsträne umflossen; am Schluss die Modulation ist ganz wunderbar. Herrlich folgt dann der letzte Satz mit seinem leidenschaftlichen Aufschwung: das erregte Herz wird aber bald wieder gesänftigt, zuletzt die Verklärung, die sogar in dem Durchführungs-Motiv in einer Schönheit auftritt, für die ich keine Antwort finde.“
Für mich ist diese Beschreibung der 3. Sinfonie von Johannes Brahms durch Clara Schumann fast so schön wie die Musik selbst. Nachzulesen in einem Brief an den Komponisten vom 11. Februar 1884. Brahms schrieb die Sinfonie 1983 während eines Kuraufenthaltes in Wiesbaden. Das gab ihr auch den Beinamen als „Wiesbadener“. Sie ist eines seiner persönlichsten Werke. Wer genau hinhört, lernt Brahms besser kennen als durch Biographien. Ist das auch immer so zu hören? Der Interpretationsansatz fällt so unterschiedlich aus wie die die Zahl der Einspielungen groß ist. Fast unübersehbar sind die Angebote. Doch viele Dirigenten finden die Balance zwischen den relativ massiven Ecksätzen und dem dazwischen liegenden lyrischen Andante und dem Poco allegretto nicht, wodurch der Zugang erschwert wird. Schnell wächst sich diese Musik zur Langeweile aus. Nahezu ideal gelingt der thematisch-musikalische Ausgleich Rudolf Kempe mit den Münchner Philharmonikern. So sensibel habe ich die Sinfonie selten gehört. Es wird deutlich, warum sich Hans Knappertsbusch, der sie besonders häufig aufgeführt hat, das Andante für sein Begräbnis gewünscht hatte. Kempe hat zwischen 1975 und 1976 alle vier Sinfonien eingespielt, neu aufgelegt in einer 10-CD-Box bei The Intense Media / Documents (600135). Dort gerät diese Einspielung unter der Wucht der neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven mit Otto Klemperer und dem Philharmonia Orchestra allerdings etwas ins Hintertreffen. Aber das ist schließlich nur äußerlich. Gegen Klemperer spricht natürlich nichts. Sein Beethoven in dieser Produktion mit Wilma Lipp, Ursula Boese, Fritz Wunderlich und Franz Crass als Solistenquartett in der Neunten, ist und bleibt ein Monument. Für ihn und Kempe ist genug Platz in dieser Box.
Als Perfektionist und Energiebündel wird Ferenc Fricsay in der ihm gewidmeten Box gepriesen (233361). Treffender lässt sich seine kometenhafte Karriere, die durch tödliche Krankheit tragisch endete, nicht auf den Punkt bringen. Rasant ist die Programmauswahl mit Bartók, Mozart, Beethoven, Strawinsky, Tschaikowsky, Mahler, Rimsky-Korsakov, Franck, de Falla und Johann Strauß. Es scheint, als habe Fricsay alles gekonnt. Seinen Mozart – hier das legendäre d-Moll-Klavierkonzert KV 466 mit Clara Haskil, etliche Ouvertüren und ein großer Querschnitt durch Don Giovanni (Dietrich Fischer-Dieskau, Sena Jurinac, Maria Stader, Irmgard Seefried, Ernst Haefliger, Karl Christian Kohn) – empfinde ich als besonders beglückend. Deshalb hätte es ruhig mehr sein können von diesem Komponisten und auch der komplette Giovanni statt der Häppchen. Entstanden sind die Aufnahmen mit dem RIAS-Symphonie-Orchester, das 1956 in Radio-Symphonie-Orchester Berlin umbenannt wurde sowie mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester.
Gloria in excelsis Deo! Diese Box erweist sich erst bei näherem Hinsehen als Glücksfall (600114). Unter das Dach des berühmten Hymnus passt vieles, auch Werke von Bach, Mozart, Haydn, Beethoven, Mendelssohn, Fauré und Verdi, deren Namen auf dem Titel stehen. Auch Elijah. Dass es dieser Decca-Elijah ist, macht den Mehrwert dieser Box aus: die Einspielung unter Josef Krips mit Jacqueline Delman (Sopran), Norma Procter (Alt), George Maran (Tenor) und Bruce Boyce (Bariton), dem Hampstead Parish Church Boys’ Choir, dem London Philharmonic Choir und dem London Symphony Orchestra. Die in der Kingsway Hall entstandene Aufnahme in englischer Sprache von 1954 markiert das Ende der segensreichen Mono-Ära. Sie galt über Jahrzehnte als Maßstab und Referenz für dieses Chorwerk. Generationen haben damit Zugang zu Mendelssohn gefunden. Wer auf sich hielt, hatte schon die Schallplatten im Schrank. Es dürfte die erste Gesamtaufnahme gewesen sein, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gelangte, wo Mendelssohn während des Nationalsozialismus geächtet war. Inzwischen ist die Zahl der Einspielungen nicht mehr zu zählen, die Krips-Deutung voller Innigkeit und Schwung und Größe in den Chören hat ihre Einmaligkeit bewahrt. Insofern will es nicht ganz angemessen erscheinen, sie lieblos in so einer Sammlung zu verstecken. Sie hätte exklusive Aufmerksamkeit verdient wie bei der australischen Decca Eloquence (ELQ4804334). Nur ist es schwierig, in Deutschland an diese Ausgabe heranzukommen.
Was ist noch in der Schachtel? Die Matthäuspassion von 1958 unter Karl Richter (Irmgard Seefried, Antonia Fahberg, Hertha Töpper, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau, Max Proebstl), das Verdi-Requiem von 1963 unter Fricsay mit Maria Stader, Marianna Radev, Helmut Krebs und Kim Borg als Solisten sowie Karajans Einspielung der Missa Solemnis mit Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Nicolai Gedda und Nicola Zaccaria. Mit Igor Markevitch am Pult sind gleich drei Titel zu finden, nämlich die Schöpfung (Irmgard Seefried, Richard Holm und Kim Borg), das Requiem von Fauré (Suzanne Danco, Gérard Souzay) sowie Mozarts Krönungsmesse mit Maria Stader, Oralia Dominguez, Ernst Haefliger und Michel Roux.
Rüdiger Winter