Seit einigen Jahren gehört das Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier zu Ceclia Bartolis bevorzugten Regisseuren. Auch für die Produktionen von Giulio Cesare und Norma bei ihren Pfingstfestspielen in Salzburg hat sie die beiden Künstler als Mitstreiter auserwählt. Dort wird im Juni, weil das Festival-Motto „Rossinissimo“ lautet, neben des Komponisten La Cenerentola auch dessen Otello gezeigt, den das Regie-Duo 2012 am Opernhaus Zürich herausgebracht hatte. Davon gibt es nun einen Live-Mitschnitt bei Decca (074 3863), die behauptet, dass das selten gespielte Stück durch die beiden Regisseure neu belebt worden sei – und dabei übersehen hat, dass das 1816 in Neapel uraufgeführte Werk seit Jahren im Programm des Rossini Festivals in Pesaro einen festen Platz einnimmt. Dort wurde es 1988, 1998 und zuletzt 2007 gezeigt, als Juan Diego Flórez den Rodrigo sang – einer von fünf geforderten Tenören in dieser Oper, was die Besetzungsbüros heute vor kaum lösbare Aufgaben stellt. In Zürich wurde die Rolle, die Giovanni David kreiert hatte, Javier Camarena anvertraut, der die exponierte Partie beachtlich meistert. Seine Spitzentenöre haben Strahl und Durchschlagskraft, die Koloraturen schmeicheln und fließen. Die Arie zu Beginn des 2.Aktes „Ah, come mai non senti“ in ihrer heiklen Tessitura bewältigt er souverän. Sie mündet in eine reich verzierte Cabaletta mit jenem Thema, welches von fremder Hand später als motivische Grundlage für das buffoneske „Katzenduett“ missbraucht wurde. Hier kann er nicht nur seine Virtuosität zur Schau stellen, sondern macht aus dem Stück auch ein spannendes Charakterporträt eines leidenschaftlich Liebenden, der zerrissen ist zwischen Verzweiflung und Vergeltung. Auch im Terzett mit Otello und Desdemona im 2. Akt überrascht er mit erstaunlichem gestalterischem Furor und stimmlichem Aplomb.
Die Titelrolle, die bei der Uraufführung Andrea Nozzari interpretiert hatte, singt der im Rossini-Fach erfahrene John Osborn (beispielsweise war er Renée Flemings Partner in der Armida an der Met), der sogleich in seiner Auftrittskavatine („Ah sì, per voi già sento“) heldische und lyrische Momente zu vereinen weiß. In der Stimmfarbe und -typ trifft er, verglichen mit großen Rollenvertretern der letzten Jahre, den Charakter der Figur allerdings nicht ideal. Darstellerisch zeichnet er den Verfall des Helden genau und (besonders in der tragischen Schluss-Szene) auch ergreifend.
In der dritten großen Tenorpartie, der des Jago, geschrieben für Giuseppe Ciccimara, ist in Zürich Edgardo Rocha zu hören – mit einer etwas allgemeinen, nicht unbedingt spezifischen Rossini-Stimme. Die Koloraturen machen ihm Mühe, die exponierte Höhe klingt grell. Optisch und darstellerisch wirkt er ein wenig harmlos, für diese Figur wünschte man sich ein geschärfteres Profil. Das „Nessun maggior dolore“ des Gondoliero aus dem Off, das Desdemona mit roter Farbe an die Wand ihres Schlafzimmers schreibt, singt Ilker Arcayürek – allerdings nicht mit jener Süße, die Desdemona in dieser Stimme beim Erklingen des kurzen Liedes empfindet. Die kontrastierend dunkle Farbe in der Tenor-lastigen Besetzung bringt der Bass Peter Kálmán als Desdemonas Vater Elmiro ein, der mit autoritärem Nachdruck singt und gestaltet.
Star-Vehikel für die Zürcher Produktion ist natürlich Cecilia Bartoli, die an diesem Opernhaus viele Rollen ausprobiert und darin ihre Bühnendebüts gegeben hat. Mit der Desdemona versuchte sich die Sängerin nach ihrer Adèle im Comte Ory (am selben Haus 2011) an einer weiteren Rossini-Partie, die der Komponist für seine spätere Ehefrau Isabella Colbran geschrieben hatte. Ihr erster Auftritt im unvorteilhaften kleinen Schwarzen (Kostüme: Agostino Cavalca) an Emilias Seite (mit energischem Ton Liliana Nikiteanu) offenbart in beider Duettino „Vorrei, che il tuo pensiero“ schnell das Problem der Besetzung: Die Stimmen klingen zu ähnlich. La Bartoli tönt eben nicht wie ein dunkler Sopran, den die Partie brauchte, sondern einmal mehr wie ein Mezzo. In der Erscheinung erscheint mir ihre Desdemona zu privat und zu herb, in der Gestaltung zu resolut, zu fauchend in den Rezitativen (wie so oft), zu rasend und zischend in den dramatischen Ausbrüchen. Zweifellos bewältigt sie die Partie vokal souverän, aber eben (s. o.) – etwas mehr Soprananteil, etwas mehr Liebreiz hätte man gern gehört. Die Canzone del salice, deren Harfeneinleitung von einer alten Schallplatte erklingt, singt sie träumerisch-entrückt und mit visionärem Ausdruck, das sich anschließende Gebet „Deh calma, o Ciel“ innig und schlicht – die Szene ist der überzeugendste Moment ihrer Interpretation.
Die zwischen dem Barbiere und der Cenerentola entstandene Oper wird musiziert vom Ensemble La Scintilla der Zürcher Oper unter Leitung von Muhai Tang. Er nimmt bereits den Beginn der Sinfonia sehr straff, lässt danach das kantable Thema der Holzbläser weit ausschwingen und sorgt immer wieder für überraschende Impulse aus dem Graben. Die Originalinstrumente ergeben einen reizvollen, federnden Klang, besonders in den accelerandi, die der Dirigent rasant anzieht und damit große Wirkung macht (wie im Finale II). Sie können aber auch gebührend poltern (wie in der temporale der Mordszene) oder beim Flageolett nach Desdemonas Tod faszinierende Farbeffekte hervorbringen.
Bühnenbildner Christian Fenouillat lässt die Inszenierung in einem holzgetäfelten Saal im Stil der Neorenaissance mit prachtvollem Lüster aus Murano-Glas beginnen, wo eine Abendgesellschaft mit Herren in Smokings Otello nach seiner siegreichen Rückkehr aus Zypern mit einem Sektempfang begrüßt. Der Doge in historischem Ornat ist ein zitternder, gekrümmter Greis am Stock, der Otello die Hand zum Kuss reicht. Nicola Pamio singt ihn mit entsprechend reifem, zuweilen schütter klingendem Charaktertenor. Bei der erregten Auseinandersetzung im 1. Finale, wenn Elmiro seine Tochter wegen ihrer heimlichen Vermählung mit Otello verflucht, kommt die Gesellschaft – nun auch mit Damen in großen Roben – aus den angrenzenden Räumen, wo reich getafelt wird, um das Geschehen zu verfolgen und zu kommentieren. Der Zürcher Opernextrachor (Einstudierung: Jürg Hämmerli) kann sich hier mit engagiertem dramatischem Vortrag einbringen. Der Raum wird später mit wenigen Versatzstücken variiert zu Desdemonas Schlafzimmer oder einer öden Kaschemme mit Kühlschrank, Billardtisch und Deckenventilator, wo die verhängnisvolle Unterredung mit Otello und Jago stattfindet und Desdemona am Ende dieser Szene auf dem Tisch stehend sich mit Bier übergießt. Ähnlich geschmäcklerisch ist das Finale, wenn der tote Otello von Rodrigo und Elmiro noch mit Fußtritten misshandelt wird.
Bernd Hoppe