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Island nimmt innerhalb der Musikgeschichte der nordischen Länder eine Sonderrolle ein. Spärlich ist die isländische Tradition der klassischen Musik zu nennen, was schon daran liegt, dass es bis 1921 kein landeseigenes Orchester gab und bis 1930 auch kein isländisches Konservatorium. Insofern kann auf gerade ein Jahrhundert zurückgeblickt werden. Der landläufig vermutlich bekannteste Komponist Islands war Jón Leifs (1899-1968), der gleichwohl wiederum einen skurrilen Außenseiter darstellt, nicht typisch ist für die klassische Musik Islands, und dessen schroffes und exzentrisches Werk mitunter als die lauteste Musik überhaupt beworben wurde. Diskographisch ist Leifs allerdings vergleichsweise sehr gut abgedeckt, was so für Páll Ísólfsson (1893-1974), den Begründer der Musikschule Reykjavík, mitnichten gilt. Bis dahin musste eine Ausbildung zum klassischen Musiker zwingend im Ausland erfolgen, in diesem Falle in Leipzig. Anders als Leifs kehrte Ísólfsson nach Beendigung seines Studiums in seine Heimat zurück und wirkte dort nicht nur als Direktor der besagten Reykjavíker Musikschule (1930-1957), sondern war daneben auch Leiter der Musikabteilung des Isländischen Rundfunks (1930-1959) und Organist der Domkirche zu Reykjavík (1939-1968). Die Komponistin Jórunn Vidar (1918-2017) konnte aufgrund der Pionierarbeit Ísólfssons dann als Vertreterin der nächsten Generation isländischer Musikschöpfer bereits am Konservatorium der Landeshauptstadt ihre Studien beginnen.
Das Label Chandos bringt nun eine hochinteressante Scheibe auf den Markt (CHSA 5319), die sich der Musik von Ísólfsson und Vidar annimmt. Es zeichnet, idiomatisch astrein, verantwortlich das Isländische Sinfonieorchester unter der Leitung des britischen Dirigenten Rumon Gamba.
Jeweils zwei Werke der beiden Komponisten wurden berücksichtigt, im Falle von Ísólfsson zwei Bühnenmusiken aus den 1940er Jahren. Die Schauspielmusik zum Drama Das Fest auf Solhaug von Henrik Ibsen (1943) entstand mitten im Zweiten Weltkrieg unter denkbar schwierigen Bedingungen. Obwohl Reykjavík seinerzeit bloß um die 40.000 Einwohner hatte, gelang es, eine eigene Theatergruppe, ein Orchester und das notwendige Publikum dafür zu mobilisieren. Es war als Akt der Solidarität für das deutsch besetzte Norwegen zu verstehen. Die fünfsätzige Bühnenmusik, die einer Suite ähnelt, besteht aus einer Ouvertüre, einem Hochzeitsmarsch, einem norwegischen Volkstanz, dem Portrait eines Bergkönigs und einem abschließenden Trauermarsch und kommt auf eine Länge von einer knappen Viertelstunde. Die Schauspielmusik für Aus Jónas Hallgrímssons Bilderbuch (1945) war gar noch ehrgeiziger und trug patriotischere Züge, war doch die Loslösung Islands von der Krone Dänemark im Vorjahr erfolgt. Der isländische Poet Jónas Hallgrímsson (1807-1845) gilt in seinem Heimatland als Nationalheld. Die Bühnenmusik ist in diesem Falle für bloßes Streichorchester gesetzt, daher leichtgewichtiger, dauert ebenfalls knapp 14 Minuten und umfasst sechs Sätze: ein Vorspiel, einen Marsch, ein Menuett, ein Volkslied sowie abschließend ein Paar isländischer Volkstänze. Wer den gewöhnungsbedürftigen und zuweilen enervierenden Tonfall Leifs‘ im Ohr hat, wird mit Freude feststellen, dass Ísólfsson sich einer deutlich gemäßigteren und letztlich gefälligeren, mehr in der Nachfolge Griegs stehenden musikalischen Sprache bedient, die authentisches Lokalkolorit aufweist.
Jórunn Vidar ist mit Ballettmusik vertreten, zum einen Eldur (Feuer) von 1950, eine knapp zehnminütige Komposition, bei der nach den Worten des Komponisten folgende Bilder in den Sinn kommen: „lodernde Freudenfeuer, Stichflammen, Fanale, Fackeln, Glut, Asche“. Das Feuer, zu Beginn durch einen Feuerstein entfacht, durchläuft verschiedene Phasen, erlischt zwischenzeitlich auch, nur um letztlich wieder aufzuflammen und alles zu verschlingen. Das Ballett wurde zusammen mit der Tänzerin Sigrídur Ármann konzipiert und gelangte als erstes Ballett des neuen Nationaltheaters von Reykjavík auf die Bühne. Dasselbe Team Vidar/Ármann schuf zwei Jahre später auch Ólafur Liljurós, ein Handlungsballett nach einer im Norden sehr geläufigen Volksballade. Diese handelt von Ólafur, der vier Elfinnen begegnet und von diesen betört wird, ihnen aber widersteht und an seinem Gott (in einer Version Christus) festhalten will. Schließlich ringt eine Elfe dem Helden einen Kuss ab, währenddessen sie ihm indes ein zuvor verstecktes Schwert ins Herz stößt. Die kunstvolle Ballettmusik ist etwa halbstündig und untergliedert sich in acht Nummern. Auch die Tonsprache Vidars ist tonal, allenfalls dezent modern und insofern hörbar der Tradition verpflichtet, wobei man durchaus eine Vorbildwirkung gerade Ísólfssons heraushören kann.
Der künstlerische Wert dieser Produktion darf geflissentlich als auf höchstem Niveau bezeichnet werden. Klanglich lässt die Einspielung zudem keine Wünsche offen und liegt neben der gewöhnlichen CD-Spur auch im hochauflösenden SACD-Format, sowohl stereophon als auch als Mehrkanalton, vor (Aufnahme: Eldborg, Harpa, Reykjavík, 13.-15. Juni 2022). Die Textbeilage fällt labeltypisch vorbildlich aus (Einführungstext von Paul Griffiths auf Englisch, Deutsch und Französisch). Insgesamt eine echte Bereicherung für Freunde nordeuropäischer Musik, die Neuentdeckungen aus der Peripherie gegenüber aufgeschlossen sind (13. 03. 23). Daniel Hauser