Archiv für den Monat: März 2023

Ein ténor de grace à la française

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So romantique! heißt das neue Recital des Tenors Cyrille Dubois bei ALPHA-CLASSICS (924). Aufgenommen in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane im Juli 2021 in Lille, enthält es französische Opernarien, die zwischen 1820 und 1900 entstanden und für einen ganz bestimmten Stimmtyp geschrieben wurden. Es ist der ténor de grace, die französische Variante des italienischen tenore di grazia.  Sänger dieser Gattung bedienten vor allem das Repertoire der Opéra comique. Ihre Stimmen zeichnen sich durch ein helles, geschmeidiges Timbre und eine leichte, strahlende Höhe aus. Diese Merkmale charakterisieren auch den Solisten des Recitals. Er singt Händel, Mozart und Belcanto-Partien, spezialisiert sich aber vor allem auf das französische Fach. Einfühlsam begleitet wird er vom Orchestre National de Lille unter Leitung von Pierre Dumoussaud.

Älteste Komposition der Anthologie ist die Cavatine des Georges, „Viens, gentille dame“, aus François-Adrien Boieldieus La Dame blanche (1825). Der Tenor beginnt sie verträumt, um sie dann überschwänglich zu steigern und ganz entrückt enden zu lassen. Boieldieus Modell führte Daniel-François-Esprit Auber weiter. Das Air des Fabio „Asile où règne le silence“ aus dessen La Barcarolle (1845) eröffnet das Programm. Mit Rezitativ, Cantabile und schnellem, rhythmischem Schluss, der italienischen stretta vergleichbar, ist diese Nummer typisch für ein romantisches grand air. Die Stimme des Tenors klingt hier besonders weich und schmeichelnd, trumpft am Ende bei den Spitzennoten gehörig auf.

Verdienstvoll ist die Zusammenstellung der CD, welche viele Raritäten enthält, so die Romance des Alvar, „Combien de fois j’ai revé d’elle“ aus Benjamin Godars Pedro de Zalamea (1884), die Romance du sommeil, „Revons qu’un plus beau jour“, des Titelhelden aus Louis Clapissons Gibby la cornemuse (1846) oder das Air des Haydn, „Viens, o mélodie“, aus Charles Luce-Varlets L’élève de Presbourg (1840). Da hört man schwärmerische, elegische, melancholische, zärtliche, sehnsuchtsvolle Klänge und feine Kopftöne.

Natürlich finden sich auch bekannte Namen auf der Liste der Komponisten, nicht immer aber Ausschnitte aus dessen populären Werken. So ist von Ambroise Thomas nicht nur die bekannte Mélodie des Wilhelm, „Adieu, Mignon“, aus der nach Goethe entstandenen Mignon (1866) in einer sanften, traumversunkenen Wiedergabe zu hören, sondern es ergibt sich auch die Bekanntschaft mit seiner Komposition Le roman d’Elvire (1860), aus der das emphatische und exponiert notierte Air des Gennaro, „Supreme puissance“, erklingt, und mit seinem Raymond von 1851, aus dem die Cavatine des verzweifelten Titelhelden, „Point de pitié“, zu hören ist. Auch bei Charles Gounod wählte der Sänger nicht dessen Faust, sondern Le médecin malgré lui (1858) und daraus das narrative  Fabliau des Léandre „Je portais dans une cage“. Da die dramatischen Tenorpartien des Eléazar in Fromental Halévys La Juive und die des männlichen Titelhelden in Camille Saint-Saëns’ Samson et Dalila einen ganz anderen Tenortyp verlangen würden, wählte Dubois von Halévy Les mousquetaires de la reine (1846) mit dem inbrünstigen  Couplet des Olivier, „Enfin un jour plus doux se lève“, und von Saint-Saëns Le timbre d’argent (1864) mit der Mélodie des Bénédict, „Demande à l’oiseau“.

Von Georges Bizet findet sich die nicht ganz unbekannte Oper La jolie fille de Perth (1867) mit dem erregten Air des Smith „O cruelle!“, von Léo Delibes seine populäre Lakmé (1883) mit dem  ekstatischen Air des Gérald „Fantaisie aux divins mensonges“. Ein wirklicher Hit ist dagegen die Cavatine des Tonio, „Ah! mes amis“, aus Gaetano Donizettis La fille du régiment (1840) mit ihrer Serie von hohen C’s. Hier muss sich der Interpret großer Konkurrenz stellen, macht aber gute Figur mit einem leidenschaftlichen Entrée, dem schwelgerischen „Pour mon ame“ und sicheren Topnoten. Zum Schluss nochmals eine Rarität mit der Romance  des Donatien, „Adieu, toi ma pauvre mère!“ aus Louis Clapissons Le code noir (1842), mit der dieses bemerkenswerte Recital noch einmal die Vorzüge der Stimme herausstellt und wirkungsvoll endet (10. 02. 23). Bernd Hoppe

Ersteinspielung

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Als Weltpremiere veröffentlicht DYNAMIC als Blu-ray Disc Nicola Porporas Serenata L’Angelica (57936). Die Aufnahme stammt vom Festival della Valle d’Itria in Martina Franca und wurde Ende Juli/Anfang August 2021 im Palazzo Ducale produziert. Gianluca  Falaschi verantwortete die Produktion als Regisseur und Ausstatter, unterstützt vom Choreografen Mattia Agatiello.

Mit Federico Maria Sardelli steht ein Spezialist für Alte Musik am Pult des auf historischen Instrumenten musizierenden Ensembles La Lira di Orfeo. Das garantiert einen authentischen Klang, der schon in der Sinfonia zu vernehmen ist. Sie tönt zunächst gravitätisch und dann lebhaft. Leider wird sie vom Regisseur in Szene gesetzt – an einer festlich gedeckten Tafel nehmen die Personen der Handlung Platz und heben das Glas auf das Wohl aller Anwesenden. Hinter der Tafel, an der sich bis zum Schluss das Geschehen abspielt, befindet sich eine mattierte Glaswand, hinter der Tänzer in erotischen Szenen zu sehen sind. In Tiermasken agieren sie halbnackt später auch auf der Szene in sexuellen Spielarten aller Art.

Das Libretto von Pietro Metastasio erzählt die Geschichte von Angelica und Medoro, in die der Dichter Passagen aus dem Orlando furioso eingebunden hat, endend mit dessen Wahnsinnsszene. Zu diesen Charakteren gesellen sich noch der Schäfer Titiro, seine Tochter Licori und ihr Geliebter Tirsi.

Prominenteste Vertreterin der von Sängerinnen dominierten Besetzung ist die italienische Mezzosopranistin Teresa Iervolino – Festival erprobt in Salzburg und Pesaro – als Orlando. Mit dem Rezitativ „Pur ti raggiungero“ hat sie im roten Anzug einen fulminanten Auftritt mit einer Stimme von maskuliner Energie und starkem Nachdruck.  Mir der folgenden Aria „Dal mio bel sol lontano“ kann sie die samtene Beschaffenheit ihrer Stimme besonders  heraus stellen. „La bella mia nemica“ im zweiten Teil imponiert durch den resoluten Vortrag. Mit „Mi provera spietato“ hat sie dann auch ein (leider nur kurzes) Bravourstück. Ihr gehören zudem die beiden letzten Soli des Werkes: das erregte, konfuse „Da me che volete“ und – verbunden durch ein verwirrtes Rezitativ – das entrückte „Aurette, leggiere“, welches in seinen Stimmungen jäh umschlägt. Iervolino wird diesem differenzierten Anspruch imponierend gerecht. Ekaterina Bakanova ist die Titelheldin. Ihr fällt mit der Aria „Mentre rendo a te la vita“ das erste Solo des Werkes zu – ein getragenes Stück von reicher Empfindung. Sie singt es mit lyrischem, obertonreichem Sopran. Durch koketten Ausdruck fällt ihr „Costante e fedele“ auf. Mit „Quel cauto nocchiero“ hat sie im zweiten Teil eine virtuose Gleichnisarie vom bedrohten Steuermann, was die Tänzer mit Quallengebilden in den Händen illustrieren. Ihr folgt Paola Valentina Molinari als Medoro mit „La tortura innocente“. Es ist die erste Arie in der typisch virtuosen Manier Porporas und die Sängerin absolviert sie mit resolutem Sopran angemessen. Auch ihre nächste Aria, „Sopra il suo stelo“, fällt in diese Kategorie und wird gleichfalls überzeugend bewältigt. Den ersten Teil des Werkes beschließen Angelica und Medoro mit dem Duett „Se infida tu mi chiami“, in welchem sich die beiden Stimmen ausgewogen verbinden. Nach einer stürmischen Sinfonia, die den zweiten Teil einleitet, hat Medoro mit „Quell’umidetto ciglio“ auch dessen erstes Solo und kann mit tiefer Empfindung aufwarten.

Mit dem Bariton Sergio Foresti als Titiro findet sich in der übrigen Besetzung noch ein bekannter Name. In seiner Auftrittsarie „Folle chi sa sperar“ trumpft er mit reifer, gelegentlich auch dumpfer Stimme auf. Reicher Hörnerklang begleitet seine Aria „Non cerchi innamorati“, in welcher er mit starker Autorität aufwartet. Die Sopranistin Barbara Massaro ist seine Tirsi mit heller Stimme und die Mezzosopranistin Gala Petrone seine Tochter Licori. Ihr Auftritt mit dem verschatteten „Ombre amene“ ertönt gebührend verhalten, das „Se i rai del giorno“ im zweiten Teil klangreicher. Am Ende werden die Sänger in ihrem Mix aus Rokoko-Kostümen und moderner Alltagskleidung vom Publikum herzlich gefeiert. Bernd Hoppe

Aus der Komischen Oper Berlin

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Fast auf den Tag genau 87 Jahre nach ihrer Uraufführung im Berliner Admiralspalast wurde in einer rekonstruierten und neu arrangierten Fassung, denn die Orchestrierung ging in den Kriegswirren verloren, Jaromir Weinbergers Operette Frühlingsstürme in der Komischen Oper aufgeführt. Am 20. Januar 1933 war das Stück erfolgreich uraufgeführt worden, das dem Tenor Richard Tauber auf die Stimmbänder komponiert worden war, der nach der Vorstellung vor dem Hotel Kempinski am Kurfürstendamm von SA-Schlägern niedergeschlagen wurde. Der Komponist und sein Star verließen Deutschland, auch Weinbergers Oper Schwanda der Dudelsackpfeifer, in der Spielzeit 29/30 die noch vor Carmen oder Zauberflöte meistgespielte Oper in Deutschland, verschwand von den Spielplänen, Frühlingsstürme wurde noch einige Male in tschechischer Sprache aufgeführt, zum letzen Mal 1947 in Ostrava.  Aus dem Jahr 1933 gibt es einige Aufnahmen von Arien und Duetten, allerdings hat hier Tauber nicht seine Bühnenpartnerin Jarmila Novotná zur Seite und diese an seiner Stelle den Tenor Marcel Wittrich.

Das Libretto von Gustav Beer ist der Nachwelt überliefert worden, weist allerdings die genreüblichen Schwächen mit Herz-Schmerz-Reimen auf wie „sollst mein Leben hold umschweben“ oder Holprigem wie „darf ich sie nicht begehren, wozu wär‘ solches gut“, ansonsten neigt sich das Werk eher dem Genre tragische Operette zu, denn es gibt kein happy end zwischen den Komponenten des Hohen, sondern nur des  Buffo-Paars, stattdessen ein Sichfügen in die Gegebenheiten, eine aus einem Irrtum entstandene Ehe für den Tenor, für die Diva das Bündnis mit dem alternden General, dem sie einst das (falsche) Lösungswort „Frühlingsstürme“ entlockte, um ihrem Geliebten die Flucht aus dem feindlichen Lager zu ermöglichen. Die Darstellung der Handlung nahm im Programmheft der Komischen Oper zwei volle Seiten in Anspruch, was für eine Operette bedenklich ist, auch damit zusammenhängt, dass sie auf tatsächliche historische Ereignisse, den japanisch-russischen Krieg von 1905 und die darauf folgenden Friedensverhandlungen, zurückgreift.

Trotz all dieser nicht gerade optimalen Voraussetzungen war der Komischen Oper wieder ein zumindest in großen Teilen praller Operettenabend gelungen, den Naxos jetzt als DVD vorstellt. Da ist ein Wehrmutstropfen nur, dass ausgerechnet der  Beginn sich mit einer langen Sprechszene für die Lagebesprechung im russischen Hauptquartier in der Mandschurei ungewöhnlich zäh dahinzieht.  Einen Kontrast dazu bieten die frech-fetzigen, manchmal zu klamaukhaften Szenen des Buffopaars, der aufmüpfigen Generalstochter Tatjana und des deutschen Skandaljournalisten Roderich Zirbitz, der sich auch als Koch oder Zauberkünstler verkleidet, um an seine Stories zu gelangen. So richtig in die Operettengänge kommt die Geschichte, wo sie sich fein über die Gattung lustig macht mit Damenballett (Choreographie Otto Pichler) mit riesigen Schwanenfederfächern, Revuetreppe in rosigen Farben und einem Starkregen von roten Papierherzchen. Nicht nur die Tänzerinnen bekamen in vielen ganz unterschiedlichen Funktionen, Chinapüppchen oder blasierte Hotelgäste, die allerschönsten Kostüme von Dinah Ehm verpasst. Der andere große Pluspunkt ist der Darsteller der reinen Sprechrolle des heiratslustigen, wenn auch bereits von Altmännerproblemen geplagten Generals Katschalow, Stefan Kurt, für den sich Regisseur Barrie Kosky eine Fülle herrlicher Szenen ausgedacht hatte, so das Musizieren auf dem verführerisch ausgestreckten Bein der angebeteten Lydia, den Streit zwischen hochfliegenden Liebesgedanken und viel tiefer liegenden Misshelligkeiten, den inneren Kampf zwischen Erzieherstrenge und Vaterliebe. Ihm galt dann auch, trotz eines schlimmen eingelegen „Kuda, kuda“ der herzlichste Beifall des Publikums.

Auf leerer schwarzer Bühne  (Klaus Grünberg) ist ein riesiger wandelnder Kubus zu bestaunen, der sich zu Schauplätzen wie Vorzimmer zum Ballsaal oder Hotelhalle öffnen kann und durch eine Unzahl von Türen Auftritts-, Flucht- und Versteckmöglichkeiten ohne Zahl bietet. Da bedarf es dann nur weniger Requisiten wie zweier auch als Versteck dienender Palmen, um die passende Atmosphäre zu schaffen.

Die Komische Oper kann auch eine Operette bestens mit Kräften aus dem eigenen Ensemble besetzen. So die zwielichtige Lydia mit der bildschönen, mit leichtem, aber farbigem, in der Höhe reich aufblühendem Sopran bedachten Vera- Lotte Boecker, mit Alma Sadé, die die flippige Tatjana hinreißend spielt und deren Sopran an Frische nichts einbüßt, obwohl sie häufig fürchterlich kreischen muss. Eine kurze und dazu gesangslose Rolle hat Martina Borroni als Gattin des Helden und kann trotzdem berühren. Dieser ist mit Tansel Akzeybek rollengerecht besetzt, bringt das exotische Element als Ito und dazu einen timbreschönen, mitreißend höhensicheren Tenor in die Produktion. Dominik Köninger windet sich schlangengleich durch seine Partie als newssüchtiger Roderich und singt dazu hinreißend mit markigem Bariton. Tino Lindenberg und Luca Schaub lassen als russische Offiziere in schmucker Uniform weibliche Herzen für das Militär schlagen. Ihr unrühmliches Ende zwölf Jahre später blendet man besser aus.

Viel Verdienstvolles ist  Norbert Biermann zu verdanken, der aus Klavierauszügen, Schlagerheftchen, wenigen originalen Orchesterstimmen und Platten-Aufnahmen und nach dem Studieren des Schwanda eine Rekonstruktion und Arrangements schuf, die in ihrer Raffiniertheit, Klangschönheit und ihrem musikalischen Reichtum vom Orchester der Komischen Oper unter Jordan de Souza voll zur Geltungsgebracht wurden und damals Appetit machten auf die Premiere von „Schwanda der Dudelsackpfeifer“ im folgenden März. Die erhoffte generelle Renaissance der Werke des Komponisten allerdings blieb aus (Naxos 2.110677-78). Ingrid Wanja  

Kenneth Montgomery

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Mit großem Bedauern lasen wir vom Tode des britischen Dirigenten Kenneth Montgomery OBE (28. Oktober 1943 – 5. März 2023). Viele seiner Aufnahmen, ob nun offizielle oder (überwiegend) inoffizielle vom Radio zieren die Sammlungen der Musikfreunde, vor allem die Früchte seiner Arbeit in Amsterdam, wo er lange Jahre für herausragende Aufführungen sorgte. Ob nun Johann Christian Bach (sein Amadis gehört zu meinen absolute Lieblingsaufnahmen) oder Händel, Donizetti et al: Seine energische, dichte Orchesterbehandlung, sein Drive und sein Verständnis für die Musik zeichnen alle seine Dokumente aus. Mit seinem Tod ist die Musiklandschaft ärmer geworden. G. H.

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Dazu nun die englische Wikipedia: Als einziges Kind von Lily und Tom Montgomery wuchs er in Wandsworth Parade, Belfast, auf und besuchte die Royal Belfast Academical Institution. Sein Musikstudium absolvierte er am Royal College of Music. Er studierte bei Adrian Boult und setzte später seine Dirigierstudien bei Hans Schmidt-Isserstedt, Sergiu Celibidache und Sir John Pritchard fort. Zu seinen ersten Engagements als Dirigent gehörte die Arbeit an der Glyndebourne Festival Opera, wo er als Assistenzdirigent, Assistenz-Chorleiter und Probenpianist tätig war. Später gehörte er dem Dirigentenstab der Sadler’s Wells Opera an.

Im Jahr 1973 wurde Montgomery Musikdirektor der Bournemouth Sinfonietta. Von 1975 bis 1976 war er Musikdirektor der Glyndebourne Touring Opera und blieb dem Ensemble als Gastdirigent erhalten. 1985 wurde er sowohl künstlerischer als auch musikalischer Leiter der Opera Northern Ireland. Beim Ulster Orchestra war Montgomery als erster Gastdirigent tätig, und im September 2006 ernannte ihn das Orchester mit Wirkung vom September 2007 zu seinem Chefdirigenten – der erste in Belfast geborene Musiker, der zum Chefdirigenten des Orchesters ernannt wurde. Er beendete seine Tätigkeit als Chefdirigent des Ulster Orchestra am Ende seines Dreijahresvertrags im Jahr 2010.

Außerhalb des Vereinigten Königreichs wurde Montgomery 1975 zum Chefdirigenten des Niederländischen Radio-Sinfonieorchesters ernannt und bekleidete dieses Amt von 1985 bis 1989 auch unter dem neuen Namen Netherlands Radio Symphony. Später wurde er zum Leiter des Niederländischen Rundfunkchors (Groot Omroepkoor) ernannt. Im Jahr 1991 wurde er Leiter der Opernstudien am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Er lebte weiterhin in den Niederlanden, wo er im Jahr 2023 starb.

Ab 1982 war Montgomery regelmäßiger Gastdirigent an der Santa Fe Opera (SFO).  Im Mai 2007 ernannte die Santa Fe Opera Montgomery zu ihrem Interims-Musikdirektor als Nachfolger von Alan Gilbert. Montgomerys Amtszeit als Interims-Musikdirektor endete nach der Spielzeit 2007 mit der Ernennung von Edo de Waart zum Chefdirigenten der SFO mit Wirkung vom 1. Oktober 2007. Im April 2013 wurde Montgomery zum Ehrendirigenten der SFO für die Spielzeit 2013 ernannt.

Montgomery wurde bei den Neujahrsehrungen 2010 zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt. Er starb am 5. März 2023 im Alter von 79 Jahren. (Foto kennethmontgomery.net)

Schlammschlacht bei Wagners

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Ist es ein Zufall, dass in so kurzer Zeit gleich zwei Biographien über zwei Wagner-Frauen erschiene? Über Cosima W. (wenngleich diese nun mehr als vielfach in Biographien porträtiert wurde) und ihre Tochter Isolde. Es macht nach unserer Meinung Sinn, die beiden Bücher in einer Präsentation zu besprechen, war doch die Beziehung zwischen beiden problematisch. G. H.

So schreibt der herausgebende Suhrkamp Verlag mundig:(…) „Cosima wollte für ihre Tochter nur das Beste – nämlich eine gute Partie. Die war der Musiker und Dirigent Franz Beidler, den Isolde im Dezember 1900 heiratete, nicht. Ihm fehle die »vornehme Gesinnung« – so Cosima, die ihn vom Bayreuther Hügel verbannte. Isolde rächte sich, als sie der Mutter zukommen ließ, ihr geliebter Sohn Siegfried sei homosexuell – damals ein schweres Vergehen. Die Folge: Isolde wurde die Herkunft als Tochter Richard Wagners aberkannt und ihr Sohn damit enterbt. Eine beispiellose Schlammschlacht begann.“ 

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Vor zehn Jahren befasste Eva Rieger sich mit dem Schicksal der Wagner-Enkelin Friedelind, nun ist ihr neuestes Buch erschienen und ist der Wagner-Tochter Isolde gewidmet (Isolde – Richard Wagners Tochter im Insel Verlag). Beiden Nachkommen gemeinsam ist der ihr gesamtes Leben überschattende Zwist mit den in Wahnfried ansässigen und die Festspiele leitenden Wagners, beiden gemeinsam ist aber auch die offensichtliche künstlerische Begabung, die Isolde nie ausbilden, geschweige denn vor den Augen der Welt offensichtlich machen konnte, während Friedelind, eine Generation weiter, eher an ihrer Unfähigkeit , mit Geld umzugehen, scheiterte. Während Friedelind um ihr Erbe kämpfte, stritt Isolde um den Namen Wagner. Während sie gezeugt wurde, war ihre Mutter Cosima bereits die Geliebte Wagners, lebte aber noch, wenigstens zeitweise, mit ihrem Gatten, dem Dirigenten Hans von Bülow, unter einem Dach. Auch ihre Geschwister Eva und Siegfried wurden geboren, ehe Cosima und Richard einander heiraten konnten, die Eintragung Siegfrieds beim Standesamt wurde erst nach der Scheidung und Wiederverheiratung Cosimas vorgenommen.

Das Buch von Eva Rieger liest sich wie ein spannender Roman, genügt aber streng wissenschaftlichen Ansprüchen, indem er im Wesentlichen aus Briefen, Zeitungsartikeln, Bekenntnissen besteht, die geschickt zu einer fortlaufenden Handlung miteinander verknüpft werden und so das Werk zu „Eine(r ) unversöhnliche(n) Familiengeschichte“ machen. Geht es einmal ins Reich der Spekulation, dann wird das auch mit einem „vielleicht“ betont. Da gerät der Leser immer wieder ins Staunen darüber, wie viel Schriftliches die damalige Generation verfasste, aufbewahrte und damit der Nachwelt zukommen ließ. Bewundernswert ist auch die Beherrschung der Sprache, die manchen Brief geradezu zu einem literarischen Kunstwerk werden lässt. Genauso bemerkenswert ist aber auch die Gefühlsseligkeit, ist das Pathos, das aus den Briefen zum heutigen Leser spricht, so dass er fast beschämt darüber ist, so tief in das Gefühlsleben fremder Menschen einzudringen, die ihm mit zunehmender gelesener Seitenzahl immer vertrauter werden.

Für Isolde scheint das Leben zunächst nur Positives bereit zu stellen, sie gilt als „Lieblingstochter“, als „wunderliches Wunderkind“, nach zwei Halbschwestern, deren Vater der ungeliebte von Bülow ist, als erstes in Leidenschaft empfangenes und mit Freude geborenes Kind Cosimas, wenn auch „nur“ ein Mädchen. Und so wird auch nur für den nach vier Mädchen geborenen Siegfried Wert darauf gelegt, dass er auch für das Standesamtsregister als Kind Wagners gilt.

Nicht nur die Wagner-Familie wird portraitiert oder portraitiert sich durch die überlieferten Zeugnisse selbst, auch viele berühmte Zeitgenossen wie natürlich der Großvater Franz Liszt oder Malwida von Meysenbug begegnen dem Leser, der natürlich, was die frühen Lebensjahre Isoldes betrifft, nur das akribisch aus Zeitzeugenberichten Herausgefilterte zur Kenntnis nehmen kann, der aber gerade darin die Redlichkeit der Verfasserin erkennt, die sich nicht in Spekulationen ergeht. Wenn sie einmal mutmaßt, Isolde habe eine Aufführung besonders genossen, dann lässt sich das durch die Zeichnungen, die die Wagner-Tochter Jahre später davon anfertigte, schon fast beweisen. Ein kleiner Exkurs, der nicht von der Autorin zu verantworten ist, stellt Siegfried über Brünnhilde, eine fragwürdige Parallele zum Verhältnis des Wagner-Sohnes zu seinen Schwestern ziehend.             

Die Autorin Eva Rieger/ Wikipedia

Erfreulich ist auch der umfangreiche Bildteil, in dem auch Isoldes Kostümentwürfe für die Blumenmädchen in Parsifal zu sehen sind und der beweist, dass sie nicht nur die begabteste, sondern auch die attraktivste der vier Cosima-Töchter war. Ein bisschen dünn ist die Beweislage für die Behauptung, Isolde „blieb… unbeirrt in ihrer Suche nach einem Lebensinhalt“, und deutet sich bereits das nächste Buch von Rieger mit folgendem Absatz an:“Die schwärmerische Idealisierung von Diven durch homosexuelle Männer ist ein Phänomen, das bislang wissenschaftlich nicht eindeutig erklärt werden kann“?

Sehr bald taucht am Horizont mit Houston Chamberlain eine verhängnisvolle Figur auf, der nacheinander der verwitweten Cosima, Isolde und, schließlich mit Erfolg, Eva den Hof macht und einen extremen Antisemitismus in das ohnehin nie den Juden zugetane Wahnfried bringt. Noch ist das Verhältnis zwischen Cosima und Isolde gut, bittet die Tochter die Mutter, ihr bei der „Wegfindung“ zu helfen. Sie heiratet den Dirigenten Franz Beidler, der, selbst hochbegabt, dem angeblichen Genie Siegfried, weder dem Komponisten noch dem Dirigenten, angemessen huldigen mag und deshalb aus dem Festspielhaus verbannt wird, in Russland, England oder Spanien sein Auskommen suchen muss. Da ihm Isolde dorthin nur selten folgt, gibt es einen interessanten Briefwechsel zwischen den beiden Gatten, von dem das Buch profitieren kann. Zum endgültigen Bruch und um einen Prozess um den Namen Isoldes kommt es, nachdem die Homosexualität Siegfrieds ins Spiel gebracht wurde, ihre Gegner Isolde am liebsten in eine Nervenklinik einweisen lassen würden. Das empört die Autorin so sehr, dass sie sich zu einem unbewiesenen „Das (die Offenlegung der Homosexualität Siegfrieds) hätte Isolde niemals zugelassen“, hinreißen lässt. In diesem Konflikt sieht die Verfasserin und sie belegt es eindrucksvoll, entgegen der bisherigen Meinung nicht nur ein „erbrechtliches Kalkül“, sondern den Versuch, den Sohn Isoldes generell von der Erbfolge auszuschließen. Schließlich war er bis zur späten Ehe Siegfrieds und der Geburt Wielands der einzige Enkel Wagners.

Was am Schluss des Buches die Zuordnung von Kaiserreich und Nazizeit zum Männlichen, der Weimarer Republik zum Weiblichen soll, ist nicht ganz auszumachen und eigentlich überflüssig, mindert aber den Wert des Werks nur geringfügig. Bibliographie, Abkürzungsverzeichnis, Bildnachweise, Personenregister, Stammtafel und Bilderverzeichnis vervollständigen den Band (Eva Rieger: Isolde – Richard Wagners Tochter, Insel Verlag 2022, 345 Seiten, ISBN 978 3 458 64292 3). Ingrid Wanja 

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Dazu aber auch Achim Bahr von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft:  Ignoranz und Unwissenheit –  ein Beispiel dafür, wie durch Ignoranz und Unwissenheit gerade in Bezug auf Siegfried Wagner Fehler erzeugt und kolportiert werden, gibt Eva Rieger in ihrem neuen Buch: Isolde. Richard Wagners Tochter. Eine unversöhnliche Familiengeschichte. Darin zitiert sie aus einem Brief Isolde Beidlers an ihre Schwester Eva Chamberlain: »›Das war ein Müssen‹, war ›Herzensgebot‹!« und erläutert die Zitate [Plural!] in Fußnote 46: »Zitat [Singular!] aus Meistersinger, III. Akt.« Dies bezieht sich freilich nur auf das erste Zitat in dieser Briefstelle, das zweite erkennt sie gar nicht und verwechselt es anscheinend sowieso mit einer Stelle aus dem II. [!] Akt Meistersinger (»Lenzes Gebot, die süße Not …«). Sie weiß ganz offensichtlich nicht, dass es sich hierbei eindeutig um ein Zitat aus einer Oper von Siegfried Wagner handelt: STERNENGEBOT (op. 5, 1906), Schluss des 3. Aktes: Höher als aller Sterne Gebot waltet ein Zweites: Des Herzens Gebot! Der Kontext dieses zweiten Zitats würde Eva Rieger einen zusätzlichen Aspekt der Situation ermöglichen, die sie an dieser Stelle ihres Buches beschreibt, so aber weder verstehen noch einordnen kann. Achim Bahr (in Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth)

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Und nun die Rezension zu Sabine Zurmühls Buch Cosima Wagner-Ein widersprüchliches Leben im Böhlau-Verlag: Widersprüchlich ist das Wort im Untertitel von Sabine Zurmühls Cosima-Wagner-Biographie, das das Interesse an seiner Lektüre wachruft, und es ist dasjenige, dem man widersprechen möchte, wenn man seine Lektüre beendet hat. Nachvollziehbar ist immerhin, dass als Widerspruch zur  bedingungslosen Anbetung des musikalischen Genies die Emanzipation der  von einer hochadligen Mutter abstammenden Katholikin, die aus einer Ehe ohne Liebe ausbricht und Jahre lang in wilder Ehe mit einem Bürgerlichen lebt, gesehen wird. Auch ihre souveräne Leitung der Bayreuther Festspiele nach Richard Wagners Tod spricht für ihre tatsächliche Emanzipation, wobei das Widersprüchliche immerhin darin gesehen werden könnte, dass sie die Emanzipationsbestrebungen der Frauen in ihrer Zeit eher ironisch kommentierte, statt sie zu unterstützen.

Das Buch erweckt zunächst den Anschein, wie eine Oper gegliedert zu sein, beginnend mit der Ouvertüre,  aus den Kosenamen Wagners für seine zweite Frau bestehend. Das wird aber nicht durchgehalten, es folgen Kapitelüberschriften, meistens nur aus einem Wort bestehend, so „Schreiben“, „Kindersorge“ oder „Gesundheit“, innerhalb derer chronologisch vorgegangen wird. Souverän werden umfangreiche Zitate aus Briefen, Tagebüchern, Aussagen von Zeit- und Weggenossen mit den Kommentaren der Verfasserin ineinander verschränkt. Und auch Träume sind es wert, von Cosima dargestellt und von der Verfasserin in ihren Text aufgenommen zu werden. Das „atemlose Leben“ der Cosima scheint über weite Strecken eine Atemlosigkeit der Sprache der Autorin zu provozieren, ein Aufeinandertürmen von Gegensätzen, leidenschaftliche Formulierungen wie „ja, sie war“- und es folgen die Vorwürfe, die man der unehelich geborenen, gar nicht hübschen, später zu Karikaturen provozierenden Liszt-Tochter machte.

Einfühlsam beschreibt Zurmühl die Zerrissenheit zwischen Französisch- und Deutschsein, später eine bedingungslose Hinwendung zum eigentlich „nur“ zweiten Heimatland. Nicht ganz verleugnet wird die feministische Grundstimmung der Verfasserin, aber diese führt nie dazu, die bedingungslose Hingabe, ja Selbstaufopferung ihres Forschungsgegenstands ins Lächerliche zu ziehen. Man gewinnt stattdessen zunehmend mit dem Fortschreiten in der Lektüre den Eindruck, noch nie zuvor habe sich eine Biographin Cosima Wagners ihrem Forschungsgegenstand gegenüber so fair verhalten, so fern von Schönfärberei wie von Verunglimpfung. Sympathisch müssen der Autorin die vielen Freundschaften gewesen sein, die Cosima (Nach einigen Skrupeln nennt sie sie durchgehend so und nicht, wie es den Männern zugestanden wird, mit ihrem Familiennamen.) in einem reichen Briefwechsel pflegte.

Zwei Wagner-Partien spielten für Cosima und damit auch für Zurmühl eine besondere Rolle: Fricka und Kundry. Einmal war es die Faszination des Gegensatzes zwischen Regelbruch, wie ihn Wotan verkörpert, und Prinzipientreue, für die Fricka steht, der Cosima interessierte und nicht minder die Autorin, zum anderen der Weg Kundrys, der im Dienen Ziel und Ende findet.

Die Autorin Sabine Zurmühl/ Wikipedia

Anschaulich berichtet Zurmühl von der Gestaltung von Festen, so des Cosima-Geburtstags mit Aufführung des Siegfried-Idylls, der Selbstinszenierung, in der auch die Kleidung eine wichtige Rolle spielt. Es bleibt nicht bei einer Darstellung, einer Beschreibung, sondern es werden Schlüsse gezogen wie der, dass Cosima das apollinische, Richard das dionysische Prinzip verkörpere.

An anderer Stelle kommt Zurmühl zum überzeugenden Fazit:“Cosima gehört damit zu den nicht seltenen Frauen der Oberschicht, die tagespolitisches Engagement für  Frauenfragen strikt ablehnen, in ihrer Lebensrealität aber das Rollenmodell selbst verkörperten, das die Frauenbewegung für die Masse der Frauen erst fordern musste“. Wenn Cosima Rechte wahrnahm, so waren noch viel  zahlreicher die Pflichten, denen sie sich freiwillig unterwarf und die die Autorin eindrucksvoll schildert. Dazu gehörte die Erziehung und Bildung der fünf Kinder, die Führung des Haushalts, die Beherbergung zahlreicher Gäste, darunter auch des Vaters Franz Liszt, die Vorbereitung von häufigen Reisen und Umzügen, das Notenschreiben , die Pflege von Verwandten und Gästen, das Heranschaffen von Sponsoren und vieles mehr. Nach Wagners Tod kam noch die Führung der Bayreuther Festspiele dazu, wo sie Regie führte, sich um Bühnenbilder, Technik und alles weitere kümmerte.

Ambivalent ist ihr Verhältnis zu den Juden. Tendenziell ist sie Antisemitin, bedauert aber die Schrift Wagners gegen das Judentum, pflegt durchaus auch herzliche, vorbehaltlose Kontakte mit einzelnen Juden. „Ich habe die besten Freunde unter Juden“, ist von ihr überliefert. Besonders interessant und von Zurmühl detail- und kenntnisreich dargestellt ist die Beziehung zum Parsifal-Dirigenten Levi, ausführlicher Betrachtung wert die zum Schwiegersohn Chamberlain. 

Natürlich muss der Zorn Zurmühls Felix Weingartner treffen, der sich in hässlicher Überheblichkeit über Cosima äußert. Der Verfasserin hingegen kann man bescheinigen, dass ihr völlig das Bestreben abgeht, Cosima von der hohen Warte der besserwissenden Spätgeborenen her zu beurteilen. So enthält sie sich auch im Unterschied zu anderen Biographen jeglicher Spekulation darüber, wie Cosima zu Hitler stand.  Und so kann es geschehen, dass man nach dem Lesen des Buches, das von Fakten und Quellen ausgeht und nicht von einer vorgefassten, zu bestätigenden Meinung,  zu einem sehr viel positiveren Urteil über die Heldin des Werks bereit ist, als es vorher der Fall war.       

Ein Nachwort von Monika Beer, dazu ein nochmal 55 Seiten umfassender Anhang vervollständigen neben vielen interessanten Fotos das Buch (360 Seiten, 2022 Böhlau Verlag Wien, ISBN 978 3 205 21501 1). Ingrid Wanja (Foto oben Bernd Meyer Stiftung mit Dank)

Pluspunkt lange Fassung

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Aus Kostengründen entstehen immer seltener Aufnahmen kompletter Opern im Studio – WARNER CLASSICS bildet da eine rühmenswerte Aufnahme. Denn nicht nur die zahlreichen Aktivitäten auf dem Barocksektor beim Label Erato ragen da heraus, auch italienische Standardwerke werden produziert, wovon die Aida von 2015 mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann zeugt. Sie wurde mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom unter Antonio Pappano aufgenommen.

An diesem Ort entstand genau vor einem Jahr die Einspielung von Puccinis Dramma lirico Turandot, die nun auf zwei CDs veröffentlicht wurde (5054197406591). Wieder wirken das aus der Aida-Aufnahme bekannte Orchester und sein Dirigent mit. Ihre Besonderheit bezieht die Ausgabe aus Pappanos Entscheidung, das originale Finale des Komponisten Franco Alfano komplett aufzunehmen. Nach Puccinis Tod 1924 hatte er das Schlussduett zwischen Turandot und Calaf auf der Grundlage von Puccinis Skizzen vollendet. Dirigent Arturo Toscanini allerdings veranlasste ihn zu Änderungen und Kürzungen. In dieser amputierten Fassung wird die Oper heute zumeist aufgeführt. 1999 gab es einen Versuch des italienischen Komponisten Luciano Berio für eine neue Finallösung, die 2002 uraufgeführt wurde, sich aber nicht durchsetzen konnte.

Die prominente Besetzung der Neuaufnahme führt die Amerikanerin Sondra Radvanovsky an, die derzeit die Lady Macbeth am Liceu in Barcelona singt. Nach ihren Donizetti-Königinnen, der Norma, Medea, Manon Lescaut und Tosca erarbeitet sich die Sopranistin zielstrebig ein Repertoire, das ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit belegt. Sie legt die Prinzessin im Rahmen ihrer stimmlichen Möglichkeiten an, also nicht als hochdramatischer Sopran, sondern eher in der Nachfolge einer Sutherland und Caballé. Ihr Auftritt mit der fordernden Arie „In questa Reggia“ ist reich differenziert – von dunkler Glut, aber auch introvertierter Wehmut – und bestechend in der stimmlichen Fülle. In der Rätselszene, „Straniero, ascolta!“, klingt der Sopran zunächst geschärfter, nimmt aber zunehmend Töne der Verunsicherung an, gipfelnd in der inständigen und betörend gesungenen Bitte an ihren Vater, sie nicht diesem Fremden auszusetzen. Das Schlussduett „Principessa di morte!“ in der vollständigen Fassung Alfanos dauert nun fast zwanzig Minuten und ist eine vokale Herausforderung an die beiden Interpreten, gibt vor allem dem Kuss Calafs mehr musikalische Entfaltung. Radvanovsky lässt hier flirrende lyrische Töne vernehmen, welche die Verwirrung der Figur eindrücklich zeigen, muss aber dann eine hohe Tessitura bewältigen, was ihr gleichfalls souverän gelingt.

Wieder ist Jonas Kaufmann mit von der Partie, nach seinem Radamès nun als Calaf. Der Tenor singt mit zumeist wuchtiger Stimmgebung, klingt allerdings oft sehr guttural und gelegentlich auch erstickt. Das erste Solo, „Non piangere, Liù“, nimmt er anfangs sehr zurück und lässt erst am Ende starken Einsatz erkennen. Vehement ertönen seine Antworten auf Turandots Rätsel, doch der Spitzenton im Finale des 2. Aktes kann allenfalls als Angstschrei gewertet werden. Auch der populäre Hit „Nessun dorma!“ wirkt etwas forciert und könnte mehr Glanz haben. Das Schlussduett beginnt er in äußerster Erregung, offenbart auftrumpfend seinen Namen und singt gemeinsam mit der Titelheldin noch ein exponiertes  „Amore!“.

Antonio Pappano und Jonas Kaufmann bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ Warner/ youtube

Ein Trumpf der Besetzung ist die albanische Sopranistin Ermonela Jaho als Liù. Bekannt für ihre expressiven Rollenporträts der Violetta, Angelica und Butterfly, bietet sie auch als unglückliche junge Sklavin ergreifende Momente von innigen, flehentlichen Gesängen. Ihre erste Arie, „Signore, ascolta!“, besticht durch den feinen Schimmer und wunderbar aufblühenden Schluss. Zu Herzen gehend und exquisit gesungen sind ihre Soli im letzten Akt („Tanto amore“ und „Tu, che di gel sei cinta“).

Bekannte Namen finden sich auch für die Nebenrollen – Michele Pertusi als reifer Timur und als große Überraschung Michael Spyres als Altoum. Der amerikanische Tenor, auf dem Höhepunkt seines Könnens und selbst ein potentieller Vertreter für den Calaf, ist eine Luxus-Besetzung für den alten Kaiser. Er verstellt seine Stimme bis zur Unkenntlichkeit und suggeriert mit ihr trefflich den schütteren Greis.

Mit gebührend schneidenden Akkorden eröffnet Pappano mit dem Orchester die Handlung. Michael Mofidian singt den Mandarino mit etwas dumpfem Bariton. Das charaktervolle Terzett der Minister bilden die Tenöre Gregory Bonfatti als Pang und Siyabonga Maqungo als Pong sowie der Bariton Mattia Olivieri als Ping. Mit starkem Einsatz und klangvollem Gesang bringt sich der Coro dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia (Piero Monti) ein. Pappano scheut nicht den Pomp und Bombast des monumentalen Werkes, bringt aber auch dessen musikalisches Raffinement und die reiche Farbpalette zu angemessener Wirkung. Bernd Hoppe

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PS: Nun gibt es kaum etwas zum ersten Mal. Und es wäre eine Unterlassung, erwähnte man nicht frühere Bemühungen um den originalen, ungekürzten Alfano-Schluss der Turandot. Denn die 1990 Aufsehen erregende CD von Josephine Barstow (Opera Finales bei Decca) enthielt unter Mitwirkung des italienischen Tenors Landon Bartolini eben diesen, sehr wirkungsvoll und Tenor wie Sopran in Bestform (für meinen Geschmack überzeugender als hier nun die Kollegen auf der neuen Warner-Aufnahme, aber de gustibus …).

Und unbekannt war Sammlern das Alfano-Finale nicht. Außer der Oper Bonn in den Neunzigern (Sophia Larson alternierte mit Linda Kelm) gab es die lange Fassung in Amsterdam 1993 (Linda Kelm und Nicola Martinucci, bei Sammlern), in Buenos Aires bereits 1983 (mit der unerschrockenen Adelaide Negri und Vincenzo di Bella, bei Sammlern), 1985 in Rom (mit Gwyneth Jones und Nicola Martinucci, bei Sammlern),  Athen ebenfalls 1983 (mit Giovanna Casolla und Alberto Cupido, bei Sammlern), 1985 in New York (City Opera, erneut Linda Kelm und John Frederic West, bei Sammlern), 1987 in Wien mit Gwyneth Jones und Giuliano Ciannella), 1997 in Bologna mit Jane Eaglen und Nicola Martinucci), 1989 an der Met (mit Eva Marton und Placido Domingo, auch als DVD), 2014 in Cagliari (Cristina Piperno und Frank Porretta), 2015 in Novara (mit Maria Billieri und Walter Fraccaro,  bei Sammlern), 2018 in Odessa (mit Tatjana Zakharchuk und Oleg Zlakoman,  bei Sammlern), und die Finnische Nationaloper schließlich 2019 (mit Satu-Kristina Vesa und Petri Vesa, Calàf Jukka Nykänen).

Sondra Radvanovsky bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ youtbube/ Warner

Aber die neue Warner-Einspielung in für mich wattigem Sound ist in der Tat die erste Studio-Einspielung mit dem Alfano-Ende. Wenngleich unter schwierigsten Umständen eingespielt, was den unbefriedigenden Klang erklärt. Wie Dirigent Pappano im Booklet andeutet, ist diese Turandot in  der Tiefe der Corona-Krise in Italien entstanden. Italien war ja besonders betroffen, und die Leichen stapelten sich auch in Rom. Die Aufnahme in der großen Halle von Santa Cecilia war geplant und konnte (oder wollte? aus Kostengründen?) nicht abgesagt werden. Es gab Masken auf den Gesichtern (bei youtube gibt´s einen clip dazu), der Chor sang in einem getrennten Raum, die Solisten in Teilen ebenfalls. Was die Aufnahme umso schwieriger machte und den mulschigen Klang erklärt. Man kann sich fragen, ob die kommerziellen (und vertraglichen) Erwägungen dieser Aufnahme den Markt nicht unnötig verstopfen, denn so schnell wird keine weitere Firma einen Alfano-Schluss aufnehmen, der ja das eigentliche Verdienst dieser hochbesetzten Turandot ist…  G. H.