Pluspunkt lange Fassung

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Aus Kostengründen entstehen immer seltener Aufnahmen kompletter Opern im Studio – WARNER CLASSICS bildet da eine rühmenswerte Aufnahme. Denn nicht nur die zahlreichen Aktivitäten auf dem Barocksektor beim Label Erato ragen da heraus, auch italienische Standardwerke werden produziert, wovon die Aida von 2015 mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann zeugt. Sie wurde mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom unter Antonio Pappano aufgenommen.

An diesem Ort entstand genau vor einem Jahr die Einspielung von Puccinis Dramma lirico Turandot, die nun auf zwei CDs veröffentlicht wurde (5054197406591). Wieder wirken das aus der Aida-Aufnahme bekannte Orchester und sein Dirigent mit. Ihre Besonderheit bezieht die Ausgabe aus Pappanos Entscheidung, das originale Finale des Komponisten Franco Alfano komplett aufzunehmen. Nach Puccinis Tod 1924 hatte er das Schlussduett zwischen Turandot und Calaf auf der Grundlage von Puccinis Skizzen vollendet. Dirigent Arturo Toscanini allerdings veranlasste ihn zu Änderungen und Kürzungen. In dieser amputierten Fassung wird die Oper heute zumeist aufgeführt. 1999 gab es einen Versuch des italienischen Komponisten Luciano Berio für eine neue Finallösung, die 2002 uraufgeführt wurde, sich aber nicht durchsetzen konnte.

Die prominente Besetzung der Neuaufnahme führt die Amerikanerin Sondra Radvanovsky an, die derzeit die Lady Macbeth am Liceu in Barcelona singt. Nach ihren Donizetti-Königinnen, der Norma, Medea, Manon Lescaut und Tosca erarbeitet sich die Sopranistin zielstrebig ein Repertoire, das ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit belegt. Sie legt die Prinzessin im Rahmen ihrer stimmlichen Möglichkeiten an, also nicht als hochdramatischer Sopran, sondern eher in der Nachfolge einer Sutherland und Caballé. Ihr Auftritt mit der fordernden Arie „In questa Reggia“ ist reich differenziert – von dunkler Glut, aber auch introvertierter Wehmut – und bestechend in der stimmlichen Fülle. In der Rätselszene, „Straniero, ascolta!“, klingt der Sopran zunächst geschärfter, nimmt aber zunehmend Töne der Verunsicherung an, gipfelnd in der inständigen und betörend gesungenen Bitte an ihren Vater, sie nicht diesem Fremden auszusetzen. Das Schlussduett „Principessa di morte!“ in der vollständigen Fassung Alfanos dauert nun fast zwanzig Minuten und ist eine vokale Herausforderung an die beiden Interpreten, gibt vor allem dem Kuss Calafs mehr musikalische Entfaltung. Radvanovsky lässt hier flirrende lyrische Töne vernehmen, welche die Verwirrung der Figur eindrücklich zeigen, muss aber dann eine hohe Tessitura bewältigen, was ihr gleichfalls souverän gelingt.

Wieder ist Jonas Kaufmann mit von der Partie, nach seinem Radamès nun als Calaf. Der Tenor singt mit zumeist wuchtiger Stimmgebung, klingt allerdings oft sehr guttural und gelegentlich auch erstickt. Das erste Solo, „Non piangere, Liù“, nimmt er anfangs sehr zurück und lässt erst am Ende starken Einsatz erkennen. Vehement ertönen seine Antworten auf Turandots Rätsel, doch der Spitzenton im Finale des 2. Aktes kann allenfalls als Angstschrei gewertet werden. Auch der populäre Hit „Nessun dorma!“ wirkt etwas forciert und könnte mehr Glanz haben. Das Schlussduett beginnt er in äußerster Erregung, offenbart auftrumpfend seinen Namen und singt gemeinsam mit der Titelheldin noch ein exponiertes  „Amore!“.

Antonio Pappano und Jonas Kaufmann bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ Warner/ youtube

Ein Trumpf der Besetzung ist die albanische Sopranistin Ermonela Jaho als Liù. Bekannt für ihre expressiven Rollenporträts der Violetta, Angelica und Butterfly, bietet sie auch als unglückliche junge Sklavin ergreifende Momente von innigen, flehentlichen Gesängen. Ihre erste Arie, „Signore, ascolta!“, besticht durch den feinen Schimmer und wunderbar aufblühenden Schluss. Zu Herzen gehend und exquisit gesungen sind ihre Soli im letzten Akt („Tanto amore“ und „Tu, che di gel sei cinta“).

Bekannte Namen finden sich auch für die Nebenrollen – Michele Pertusi als reifer Timur und als große Überraschung Michael Spyres als Altoum. Der amerikanische Tenor, auf dem Höhepunkt seines Könnens und selbst ein potentieller Vertreter für den Calaf, ist eine Luxus-Besetzung für den alten Kaiser. Er verstellt seine Stimme bis zur Unkenntlichkeit und suggeriert mit ihr trefflich den schütteren Greis.

Mit gebührend schneidenden Akkorden eröffnet Pappano mit dem Orchester die Handlung. Michael Mofidian singt den Mandarino mit etwas dumpfem Bariton. Das charaktervolle Terzett der Minister bilden die Tenöre Gregory Bonfatti als Pang und Siyabonga Maqungo als Pong sowie der Bariton Mattia Olivieri als Ping. Mit starkem Einsatz und klangvollem Gesang bringt sich der Coro dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia (Piero Monti) ein. Pappano scheut nicht den Pomp und Bombast des monumentalen Werkes, bringt aber auch dessen musikalisches Raffinement und die reiche Farbpalette zu angemessener Wirkung. Bernd Hoppe

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PS: Nun gibt es kaum etwas zum ersten Mal. Und es wäre eine Unterlassung, erwähnte man nicht frühere Bemühungen um den originalen, ungekürzten Alfano-Schluss der Turandot. Denn die 1990 Aufsehen erregende CD von Josephine Barstow (Opera Finales bei Decca) enthielt unter Mitwirkung des italienischen Tenors Landon Bartolini eben diesen, sehr wirkungsvoll und Tenor wie Sopran in Bestform (für meinen Geschmack überzeugender als hier nun die Kollegen auf der neuen Warner-Aufnahme, aber de gustibus …).

Und unbekannt war Sammlern das Alfano-Finale nicht. Außer der Oper Bonn in den Neunzigern (Sophia Larson alternierte mit Linda Kelm) gab es die lange Fassung in Amsterdam 1993 (Linda Kelm und Nicola Martinucci, bei Sammlern), in Buenos Aires bereits 1983 (mit der unerschrockenen Adelaide Negri und Vincenzo di Bella, bei Sammlern), 1985 in Rom (mit Gwyneth Jones und Nicola Martinucci, bei Sammlern),  Athen ebenfalls 1983 (mit Giovanna Casolla und Alberto Cupido, bei Sammlern), 1985 in New York (City Opera, erneut Linda Kelm und John Frederic West, bei Sammlern), 1987 in Wien mit Gwyneth Jones und Giuliano Ciannella), 1997 in Bologna mit Jane Eaglen und Nicola Martinucci), 1989 an der Met (mit Eva Marton und Placido Domingo, auch als DVD), 2014 in Cagliari (Cristina Piperno und Frank Porretta), 2015 in Novara (mit Maria Billieri und Walter Fraccaro,  bei Sammlern), 2018 in Odessa (mit Tatjana Zakharchuk und Oleg Zlakoman,  bei Sammlern), und die Finnische Nationaloper schließlich 2019 (mit Satu-Kristina Vesa und Petri Vesa, Calàf Jukka Nykänen).

Sondra Radvanovsky bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ youtbube/ Warner

Aber die neue Warner-Einspielung in für mich wattigem Sound ist in der Tat die erste Studio-Einspielung mit dem Alfano-Ende. Wenngleich unter schwierigsten Umständen eingespielt, was den unbefriedigenden Klang erklärt. Wie Dirigent Pappano im Booklet andeutet, ist diese Turandot in  der Tiefe der Corona-Krise in Italien entstanden. Italien war ja besonders betroffen, und die Leichen stapelten sich auch in Rom. Die Aufnahme in der großen Halle von Santa Cecilia war geplant und konnte (oder wollte? aus Kostengründen?) nicht abgesagt werden. Es gab Masken auf den Gesichtern (bei youtube gibt´s einen clip dazu), der Chor sang in einem getrennten Raum, die Solisten in Teilen ebenfalls. Was die Aufnahme umso schwieriger machte und den mulschigen Klang erklärt. Man kann sich fragen, ob die kommerziellen (und vertraglichen) Erwägungen dieser Aufnahme den Markt nicht unnötig verstopfen, denn so schnell wird keine weitere Firma einen Alfano-Schluss aufnehmen, der ja das eigentliche Verdienst dieser hochbesetzten Turandot ist…  G. H.