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Ein geschlagenes Jahr ist vergangen, seitdem der finnische Dirigent Klaus Mäkelä sein vielbeachtetes Debüt beim Traditionslabel Decca mit einem kompletten Zyklus der sieben Sinfonien von Jean Sibelius machte. Lange musste man sich gedulden, bis nun die zweite diskographische Signatur des charismatischen Nordeuropäers erfolgt (Decca 485 3946). Die Auswahl der Werke ist gewiss nicht zufällig. Hatte man bei Sibelius aus die Osloer Philharmoniker gesetzt, denen Mäkelä seit 2020 vorsteht, ist es nun das Orchestre de Paris, wo er seit 2022 ebenfalls als Chefdirigent fungiert. Im Fokus stehen diesmal Igor Strawinski und seine beiden Ballette L’Oiseau de feu (Der Feuervogel) und Le Sacre du printemps (Die Frühlingsweihe), eingespielt in der Pariser Philharmonie im September und Oktober 2022. Beide Werke feierten ihre Uraufführung in Paris, der Feuervogel am 25. Juni 1910 im Théâtre National de l’Opéra und die Frühlingsweihe am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées. Von daher kann man von einem hohen Grad an Idiomatik hinsichtlich der Wahl des eingesetzten französischen Orchesters sprechen.
Vom Feuervogel gibt es neben der kompletten Ballettmusik (1910) nicht weniger als drei vom Komponisten arrangierten Suiten, die auf 1911, 1919 und 1945 datieren. Einzig die erste Suite bedient sich derselben Instrumentierung wie im ursprünglichen Ballett. In den späteren Suiten hat Strawinski das Orchester verkleinert, so entfielen vor allem die direkt auf der Bühne eingesetzten Blechbläser (drei Trompeten, zwei Tenor-Wagnertuben und zwei Bass-Wagnertuben) und zwei der drei Harfen. Dass Mäkelä nun die vollständige Ballettmusik einspielt, darf ausdrücklich begrüßt werden, da die Diskographie nicht derart umfänglich ist, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Tatsächlich dominieren die drei deutlich kürzeren Suiten eindeutig und erfolgte die erste Gesamtaufnahme der kompletten Urfassung erst im Jahre 1959 durch Antal Doráti auf dem Label Mercury. Es folgte sodann 1961 die historisch bedeutsame Einspielung durch den Komponisten selbst für Columbia (1967 nahm Strawinski auch noch die 1945er Suite auf). In der Folge nahmen sich bedeutende Dirigenten wie Pierre Boulez (1967), Ernest Ansermet (1968), Seiji Ozawa (1972 und 1983), Dmitri Kitajenko (1991) und Andris Nelsons (2009) der ungekürzten Originalpartitur an. Mäkelä muss sich also hochkarätiger Konkurrenz stellen. Es darf vorweggenommen werden, dass sich die Neueinspielung der Decca in diesem illustren Kreise gut behaupten kann. Mäkeläs Ansatz begreift das Werk noch aus der spätromantischen Tradition heraus und sieht es gewissermaßen als den letzten Ausläufer dieser von Tschaikowski perfektionierten Gattung. Es nimmt insofern nicht wunder, dass es zugespitztere, sozusagen drastischere Deutungen gibt, zuvörderst besagte Ersteinspielung Dorátis, der in seinen späten Jahren übrigens noch eine Neuaufnahme bei Decca vorlegte (1982). Von besonderem Interesse ist freilich die Tatsache, dass das Orchestre de Paris mit schon genanntem Ozawa vor genau einem halben Jahrhundert bereits eine fulminante Darbietung vorlegte. An die sensationell herausgearbeitete Durchleuchtung der Partitur á la Boulez will Mäkelä augenscheinlich nicht anknüpfen. In keiner anderen mir bekannten Aufnahme wird das Bühnenorchester so akribisch hörbar gemacht wie bei Boulez. Mäkelä, dessen Tonfall insgesamt süffiger daherkommt, nimmt sich mit 48 Minuten auch mehr Zeit als seine Vorläufer (Strawinski selbst benötigte fünf Minuten weniger). Dies führt zu einer lyrischeren Note, die diskographisch gewiss eine Bereicherung darstellt.
Ungleich rabiater, gleichsam der Urknall einer neuen Zeitrechnung, kommt natürlich die Frühlingsweihe daher, deren Pariser Erstaufführung unter Pierre Monteux einen handfesten Skandal auslöste. Entsprechend bedeutsam ist freilich Monteux‘ späte Stereoeinspielung für Decca mit dem legendären Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire (1956). Nicht weniger eminent Leonard Bernsteins radikale Deutung (1958), welche auf den Beifall Strawinskis selbst stieß und gut die Eruption vermittelt, welche die Uraufführung wohl ausgelöst haben muss. Mäkelä sieht sich im Falle des Sacre einer noch geballteren Konkurrenzsituation gegenüber, wurde das Werk seit 1929 (Strawinskis Ersteinspielung) doch weit über 100 Mal in dieser Form aufgenommen (Suiten gibt es hier keine). Es ist nicht einfach, weitere Einspielungen besonders hervorzuheben, doch muss gerade die urrussische Interpretation von Jewgeni Swetlanow (1966) auf jeden Fall Erwähnung finden. Aus historischer Warte bedeutsam ist die unter dem Dirigat Leopold Stokowskis entstandene und in frühestem Zweikanalton produzierte gekürzte Fassung für den legendären Disney-Film Fantasia von 1940. Mit gut 35 Minuten Spielzeit befindet sich Mäkelä auch beim Sacre unter den langsameren Interpreten, wobei die durchschnittliche Spieldauer mit etwa 33-34 Minuten nur unwesentlich schneller ist (Bernstein kam in seiner letzten Einspielung von 1982 gar auf 37 Minuten). Nach der recht auszelebrierten Einleitung kommen die Vorboten des Frühlings deutlich weniger schroff hervor als etwa bei Doráti (1959), Leinsdorf (1973) oder Solti (1974), viel eher der Klangästhetik Karajans (1963 und 1977) nahestehend. Die Detailverliebtheit, die dergestalt wiederum zu Tage tritt, ist auf ihre Art faszinierend. Die große dynamische Bandbreite der Einspielung wird bei diesem Werk besonders deutlich, ohne dass ruhigere Abschnitte nahezu unhörbar würden.
Eine in der Summe bemerkenswerte Premiere Mäkeläs und seines Pariser Klangkörpers, welcher womöglich der ganz große Aha-Effekt abgeht, der seinen Sibelius mit den Osloern auszeichnete, und die hie und da beinahe introvertiert daherkommt, aber bei nüchterner Betrachtung eine vollauf legitime Art der Darbietung der beiden Ballettwerke darstellt. Die Textbeilage fällt gediegen aus. Daniel Hauser