Martha Mödl: Was bleibt.

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Es gibt Sänger, die allein dadurch unsterblich werden, dass sie noch Jahre nach ihrem Tod auf bisher unveröffentlichten Tonaufnahmen zu hören sind. Fans und Freunde der Oper ganz allgemein pflegen dann genauso entschlossen zuzugreifen, als seien die oder der Verehrte noch auf Bühnen und Podien unterwegs. Hast Du schon gehört? Kannst Du dir vorstellen? Da gibt es doch diese neue CD, die Du unbedingt haben musst! Sammlerklatsch hat sich längst von den Bühnenausgängen ins Internet verlagert. Das hat manchen Vorteil. Beteiligte kennen sich oft nur dem Namen nach – wenn es denn überhaupt der richtige ist. Man muss um Leute, die man aus irgendeinem Grund nicht mag und von denen man selbst mit Verachtung gestraft wird, keinen Bogen machen. Jedenfalls hatte es sich im Netz schnell herumgesprochen, dass es ein neues Martha-Mödl-Album gibt, erschienen bei Profil Edition Günter Hänssler (PH21055). Die Zeitmaschine springt an. Bayreuther Festspiele 1955. Ring des Nibelungen, ein neuer Holländer, Tannhäuser und Parsifal. Am 12. August stand Siegfried, am 16. Parsifal auf dem Programm. Aus beiden Vorstellungen wurden der letzte bzw. der mittlere Aufzug in das Album übernommen. Es sind Mödl-Akte. Sie sang die Brünnhilde alternierend mit Astrid Varnay, und viermal die Kundry.

„Für Bayreuther Verhältnisse war es also ein ruhiger Sommer“, vermerkt Bernd Zegowitz im Booklet. War es das wirklich? Der Autor lässt unerwähnt, dass die Decca mit ihrer neuesten Aufnahmetechnik angereist war. Erstmals seit Beginn von Tonaufnahmen wurde der komplette Ring in Stereo mitgeschnitten, während es die Schwestergesellschaft Teldec auf den neuen Holländer abgesehen hatte. Der kam aber nur bei der Decca in Stereo heraus, bei der Teldec lediglich in Mono. Allein die Anwesenheit des Teams mit den eigenen Mikrophonen dürfte für zusätzlichen Wirbel gesorgt haben. Als Präferenz für die Vermarktung hatte sich die englische Plattenfirma für den ersten Zyklus dieser Saison mit der Varnay-Brünnhilde entschieden. Veröffentlicht wurde das einzigartige Dokument aber erst 2006 von Testament, nachdem es um den von Georg Solti geleiteten spektakulären Decca-Studio-Ring etwas ruhiger geworden war und der Mitschnitt nicht mehr als Konkurrenz im eigenen Haus wahrgenommen wurde. 2009, drei Jahre später schob Testament, ebenfalls in Stereo, doch nicht so konsequent remastert, Walküre und Götterdämmerung aus dem zweiten Ring-Zyklus mit der Mödl als Brünnhilde nach. Es wurden mehr Bühnengeräusche zugelassen, was die Live-Atmosphäre eher betonte als ihr abträglich schien. Dieser Mitschnitt war zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Er sollte bei der Herstellung des Masterbandes als Korrekturmaterial in Reserve gehalten werden. Schade, dass nicht auch noch Rheingold und Siegfried folgten. Dadurch wurde die einmalige Chance vertan, aus einer Saison beide Ring-Aufführungen für die Nachwelt dokumentiert zu haben. Glück für Hänssler. Die Firma konnte nun mit dem dritten Siegfried-Aufzug wenigstens die Brünnhilde der Mödl von 1955 komplettieren.

Sammler wissen solche editorische Akribie zu schätzen und hören gnädig über die Defizite im Vergleich mit dem rasanten Decca-Klang hinweg. Die Mödl ist bestens disponiert. Stimmlich hatte sie für mich ihren Höhepunkt erreicht. Sie würde nie mehr besser klingen. Die Bänder stammen nicht von der Decca sondern wurden vom Bayerischen Rundfunk in Lizenz zur Verfügung gestellt. Mastering und Sounddesign besorgte das Tonstudio von Holger Siedler in Dormagen, das in seiner Internetpräsentation auf vierzig Jahre Praxis verweist, die die Basis „der natürlich klingenden Aufnahmen im THS-Studio“ seien. Die Stimmen sind sehr deutlich und präsent. Sie rücken mehr als vielleicht nötig in den Vordergrund. Vor allem in der Erda-Szene. Es ist, als ob Maria von Ilosvay nach dem mächtigen Weckruf durch den Wanderer (Hans Hotter) plötzlich im Raum steht. So nahe kommt sie. Wer selbst schon im Festspielhaus saß, weiß, dass es dort anders, nämlich entfernter klingt. Mythische Distanz ist gewollt und Teil des noch von Wagner erdachten Theaterzaubers. Bei diesem akustisch relativ vordergründigen Konzept des Albums bleibt es bis zum strahlenden Schluss, wenn sich Brünnhilde und Siegfried (Wolfgang Windgassen) in der leuchtenden Liebe lachenden Tod stürzen. Bayreuther Akustik hin oder her, faszinierend klingt es unter guten Kopfhörern letztlich schon. Zumal die Mödl noch etwas mehr als ihr Partner mit buchstabengetreuem Ausdruck singt. Eine Fähigkeit, die immer mehr verloren geht, und die auch ein bleibender Eindruck vom zweiten Parsifal-Aufzug mit Ramón Vinay in der Titelrolle und Gustav Neidlinger als Klingsor ist. Wie die Kundry aus lähmendem Schlaf gerissen wird, wie sie sich zwanghaft kriechend in ihrem schuldbeladenen Büßerdasein wiederfindet, widerwillig ihren Dienst antritt, um Parsifal „zu bestehen“, von diesem aber zurückgewiesen wird: Das macht der Mödl niemand nach. Sobald auch diese CD des Hänssler-Albums verklungen ist, könnte man schwören, diese Sängerin soeben von ihrer allerbesten Seite gehört zu haben. Mehr geht nicht. Steigerungen ausgeschlossen. So stark ist der jeweilige Eindruck. Er hält vor, bis man sich der nächsten Aufnahmen zuwendet. Der Bayreuther Isolde von 1952 oder der Fidelio-Leonore in dem US-amerikanischen NBC-Dokumentarfilm „Call to Fredom“ gelegentlich der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper im Spätherbst desselben Jahres wie Siegfried. Meine ganz persönliche Auswahl ist mit den Jahren kleiner, dafür aber feiner geworden.

In Bayreuth blieb der Mödl mit 1956 noch eine Spielzeit, in der sie ebenfalls Brünnhilde und Kundry sang. Im folgenden Jahr war sie nurmehr als Kundry, 1958 letztmalig als Brünnhilde angesetzt, 1959 und 1960 wieder als Kundry. 1962 sprang sie einmal als Isolde ein, und kehrte erst 1966 nach einem Fachwechsel als Waltraute in der Götterdämmerung zurück, wovon des bei Philips einen Mitschnitt gibt. Beschlossen wurde das Bayreuth-Kapitel 1967 mit Fricka, dem Alt-Solo in Parsifal und Waltraute, die sie laut Aufführungsdatenbank der Festspiele bei ihrem allerletzten Auftritt am 23. August sang. „Walhalls Göttern Weh‘!“, sind ihre letzten Worte. Die Mödl als Prophetin. Im Jahr zuvor war Wieland Wagner gestorben, dem sie nach eigenem Bekunden sehr viel zu verdanken hatte. „Wir verstanden uns auf Anhieb, weil ich immer sofort gespürt hab, war er wollte, ich sage mit Absicht ,gespürt‘, denn gewusst hab ich’s nicht. Das war reine Intuition“, erinnerte sie sich später gegenüber dem Stimmenkenner und Musikschriftsteller Thomas Voigt. Sie denke sich gar nichts aus. „Ich nehm’s rein von der Musik. Und offenbar hat sich das mit der Art vom Wieland sehr gut vertragen.“ Es sollte vieles anders werden.

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Martha Mödl war im Nachkriegs-Bayreuth von Anfang an dabei. Sie gehörte über Jahre zum lebenden Inventar und sang schon am 30. Juli 1951 in Parsifal – der erste regulären Vorstellung – die Kundry. Teldec hat davon einen Mitschnitt herausgegeben, für den sich offenkundig aus mehreren Vorstellungen bedient wurde. Sie dürfte seinerzeit als der eigentliche Festivalstar wahrgenommen worden sein. Mit ihr hielt ein völlig neuer Typ, der in kein Schema und traditionelles Stimmenfach zu passen schien, Einzug im Festspielhaus. Sie war wie ein Medium, erfasste intuitiv jede dramatische Situation, in die sie sich gestellt fand – und sang drauf los. Sie sang mit wenig Technik und ohne Berechnung, durch und durch Naturbegabung und Naturereignis. Ihre Ausbildung war kurz. Bedingt durch die Folgen der Kriegswirren blieb gar keine Zeit der Reife unter der Aufsicht erfahrener Kollegen und Dirigenten in einem fest gefügten Ensemble. Sie wurde gebraucht und ergriff ihre Chance. Karrieren wie ihre spiegeln die fünfziger Jahre mit ihrem Aufbruchswillen deutlich wider. Sie sind heute so nicht mehr denkbar. Die Mödl war unbelastet, nicht verstrickt. Sie hatte keine Vergangenheit. Nicht zuletzt deshalb kam sie international gut an. Ihr wurden die Rollen abgenommen. Auch wenn Töne daneben gingen. Sie setzte alles auf eine Karte, sang wie um ihr Leben und bezahlte mit dem frühen Verlust ihres hochdramatischen Soprans. Sie hat im Grunde genommen keine Vorgängerin und keine Nachfolgerin. Es gibt keine zweite Mödl. Astrid Varnay hatte nicht das Ausdrucksspektrum der sechs Jahre älteren Duzfreundin, die zugleich auch Konkurrentin war. Stilistisch mag sie überlegen gewesen sein, weil sie eine gründlichere Ausbildung und eine erste spektakuläre Karriere in New York bereits hinter sich hatte als sie in Bayreuth auf die Mödl traf und dort mit Ausnahme der Ortrud dasselbe Repertoire wie sie sang. Aus ihr fuhr es gelegentlich scharf heraus, was bei der Mödl weicher klang. Ihre Tiefe hatte mehr Geheimnis.

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Das Buch von Thomas Voigt ist bei Parthas erschienen (ISBN 4-932529-08-1). Der Autor hat das Wesen von Martha Mödl genau erkundet und erfasst.

„Ich war absolut unbekümmert, hatte keine Angst, keine Skrupel, keine Bedenken, sondern nur ein Glücksgefühl. Und das hat sich über die nächsten fünf, sechs Jahre gehalten“, sagt sie ebenfalls zu Thomas Voigt. Für mich hat keiner das Wesen der Sängerin so genau erfasst wie er. Sein Buch „Martha Mödl – So war mein Weg“ ist eine Sammlung von Gesprächen, die er mit ihr führte. Es erschien 1998 im Parthas-Verlag. Die strenge Abfolge von Frage und Antwort bringt eine Authentizität hervor, die durch keine andere Textform zu erreichen sein dürfte. Hier spricht die Mödl! Wer je persönlich mit ihr ein Wort gewechselt hat, hört sie aus den 190 Buchseiten heraus. In Brechts Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration heißt es, dass man dem Weisen seine Weisheit entreißen müsse, damit er sie nicht mit sich fortnehme. Deshalb sei auch derjenige bedankt, „der sie ihm abverlangt“. Voigt ist so einer. Er hat der Sängerin die richtigen Fragen gestellt. Und sie hat offen und sehr klar geantwortet. Er hat sie nicht angehimmelt, sondern durch jahrelanges vertrauensvolles Miteinander dazu gebracht, viel von sich preis zu geben, sich im Gespräch vielleicht selbst erst über manche Dinge klar zu werden.

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Der Zufall wollte es, dass ich mich dieser Tage mit dem Sommernachtstraum von Shakespeare beschäftigte. Im letzten Aufzug spielen die Handwerker die antike Sage von Pyramus und Thisbe in verballhornter Form als Theater auf dem Theater. Das Paar kann sich nicht sehen, es liebt sich sprechend durch einen Spalt in der trennenden Wand zwischen ihren Elternhäusern. In der neuen deutschen Übersetzung von Frank Günther sagt Pyramus: „Ich seh die Stimme.“ Der Satz fiel mir ein, als ich den Booklet-Text der Hänssler-Neuerscheinung las. Unter Hinweis auf ein Zitat von Jens Malte Fischer heißt es, dass die Aufnahmen der Mödl nur einen „unzureichenden“ Eindruck ihrer Bühnenpersönlichkeit geben würden. Sollten die vergleichsweise wenigen Studioeinspielungen gemeint sein, ist dem zuzustimmen. Für Mitschnitte wie die aus Bayreuth aber gilt dies aus meiner Sicht nicht – oder nicht mehr. Denn woran sollten sich jene halten, die die Mödl allenfalls in ihren ganz späten Jahren erlebten haben? Die stehenden Ovationen nach den letzten Vorstellungen galten nicht mehr der jeweiligen Leistung. Sie galten der Lebensleistung, der Legende – und damit der Stimme, die die Leute von Konserven verinnerlicht haben.

Wenn ich Martha Mödl höre, dann ist mir, als sehe ich sie auch. Ein bisschen wie Pyramus seine Thisbe. Ich muss nicht dauernd in Büchern nach Fotos in unterschiedlicher Verkleidung suchen. Und schon gar nicht einen der Filme aus dem Herbst ihrer langen Karriere einlegen, die sich von heutigen ästhetischen Erwartungen an das Theater immer mehr entfernen. Und genau das macht für mich ihre Einmaligkeit aus – so zu singen, als ob man noch immer vor seinem Publikum steht. Sich abzulösen von der Folie historischer Bühnendekorationen. Das ist nach ihrem Tod den allerwenigsten beschieden. An die Callas denkt man da zuerst. Ich ertappe mich dabei, manchmal in meinem Zimmer laut klatschen oder Bravo rufen zu wollen, wenn Tristan, Siegfried oder Götterdämmerung verklungen sind. Dieses gelegentliche Bedürfnis hat sich erst eingestellt, nachdem ich meine Sammlung rigoros minimalisiert habe. Vor allem die späten Dokumenten und die allzu grauen und verrauschten Bänder unbestimmter Herkunft wurden in die Kammer verbannt. Ich will nicht mehr Zeuge eines Niedergangs sein. Der Ruhm der Mödl kommt mit wenig aus. Ihr Bestes hat sie nach meiner Beobachtung in Bayreuth gegeben. Es ist ein Glück, dass die meisten Mitschnitte inzwischen offiziell geworden und teil exzellent remastert sind. Neben Testament hat daran Orfeo den größten Anteil.

Die erste Wegmarke hatte diese Firma 2003 mit dem Tristan von 1952 gesetzt. Und zwar mit dem Segen des damaligen Festspielleiters Wolfgang Wagner. Der hatte – wie im Vorwort ausdrücklich erwähnt – gewisse Zweifel (was immer darunter zu verstehen ist) aus dem Weg geräumt und einer staunenden Gemeinde die Vorstellung vom 23. Juli präsentiert. Ich habe die erste CD aufgelegt und bin nicht eher vom Lautsprecher gewichen, bis sich der letzte Akkord über die tote Isolde der furiosen Mödl gelegt hatte. Mal so einfach hineinhören, ist nicht. Vom ersten Ton an sind wir, die Hörer, Gefangene dieses hochdramatischen Geschehens. Wir sind mitten drin, hören auch das Atmen der Sänger, die Stille, die zum Zerreißen gespannten Pausen – und manchmal auch den Souffleur. Es grenzt schon an Zauberei, was die Restauratoren aus den Originalbändern des Bayerischen Rundfunks, deren Zustand gerüchteweise nicht mehr im besten Zustand gewesen sein sollen, herausgeholt haben. Sollen das wirklich „nur“ die profanen Lautsprecher sein, aus denen das geliebte Werk kommt? Jetzt brauche ich endlich jene Vorfahren nicht mehr zu sehr beneiden, die damals dabei waren. Wir sind es selbst! Auch wenn lediglich mit den Ohren. Doch das genügt schon. Ein Wunder war geschehen. Rüdiger Winter  (Foto oben: Martha Mödl im Dirndl vor der Kulisse des Bayreuther Festspielhauses/  Ausschnitt aus dem Cover des neuen Albums von Edition Profil Günter Hänssler).