.
Die französische Firma ALPHA-CLASSICS bringt ein Händel-Album mit der französischen Sopranistin Sandrine Piau heraus, das im Oktober 2020 im Théâtre de Poissy aufgenommen wurde (ALPHA 765). Der Titel Enchantresses ist Programm – unter den 14 Nummern finden sich Zauberinnen und Verführerinnen, aber auch verzauberte, enttäuschte und verletzte Frauen. Die Solistin wird begleitet vom Ensemble Les Paladins unter seinem Gründer Jérôme Correas. Beide haben schon mehrfach zusammengearbeitet und diese Vertrautheit ist deutlich spürbar im künstlerischen Einvernehmen und in der stilistischen Übereinstimmung.
Zu Beginn erklingt ein Ausschnitt aus einem weniger bekannten Werk des Hallenser Meisters – die Arie der Adelaide „Scherza in mar“ aus Lotario, uraufgeführt 1729. In dieser forschen Gleichnisarie von einem kleinen Schiff, das im Sturm versinkt, kann die Solistin ihre gereifte und an lyrischer Substanz gewachsene Stimme hören lassen. Auch die Koloraturen haben Gewicht und beweisen die neue Qualität der Interpretin. Weit populärer ist ein Frühwerk von 1711, Rinaldo, aus dem Piau aber kein Solo der Zauberin Armida ausgewählt hat, sondern das einer becircenden Sirene („Il vostro maggio“) – eine von Handels bezaubernden melodischen Eingebungen in wiegendem siciliana-Rhythmus. Eigentlich eine Aria a due, ist sie hier solistisch besetzt, und man kann verstehen, dass sich die Sängerin diese Perle nicht entgehen lassen wollte. Die Stimme klingt dann auch schmeichelnd und betörend, aber dennoch gewichtig. Am Ende gibt es dann noch einen seiner größten Hits – Almirenas Arie „Lascia ch’io pianga“, die wohl alle bedeutenden Sopranistinnen interpretiert haben. Piau singt sie so schlicht wie gefühlvoll und weiß auch mit individuellen Nuancen aufzuwarten. Aus dem Giulio Cesare in Egitto sind zwei in ihrer Stimmung sehr unterschiedliche Soli der Cleopatra zu hören. „Da tempeste“ ist als Gleichnisarie eine bravouröse tour de force der Koloratur, ein Prüfstein für jede Interpretin der Partie. Piau absolviert sie in souveräner Manier, brilliert in den virtuos getupften staccati und überrascht im Da capo mit originellen Varianten. „Piangerò la sorte mia“ dagegen ist ein Ausbruch der Verzweiflung – quasi ein Lamento. Piau findet dafür einen bewegenden Schmerzenston von makelloser Reinheit. Aufbegehrend und aufregend ist der Mittelteil „Ma poi morta“ mit stürmischem Koloraturfuror. Mit der Alcina gibt es dann wieder eine echte Zauberin, die in ihrer Arie „Ah, mio cor!“ den Konflikt schildert, ihren Geliebten Ruggiero zu verlieren. Dies ist erneut ein Stück von großem lyrischem Gefühlsausbruch in einer Situation der Verzweiflung. Piau weiß es mit emphatischer Grandeur auszubreiten und im dramatischen Mittelteil wiederum mit brillantem Koloraturfeuerwerk zu überzeugen. Aber sie singt auch eine Arie der anderen Sopranheldin der Oper – Alcinas Schwester Morgana. Deren „Tornami a vagheggiar“ ist ein hochvirtuoses Stück für einen soprano di bravura, in dem Sandrine Piau noch einmal ihre Kunst der Koloraturtechnik beweisen kann, dabei aber nie dünn oder leichtgewichtig klingt.
Zu Handels früher Periode zählt auch Amadigi di Gaula (1715), in der die Zauberin Melissa eine Rivalin zu überlisten sucht und in der rasenden Arie „Desterò dall’empia Dite“ die Höllengeister um Beistand bittet. Die Sängerin veranschaulicht den Ausnahmezustand der Figur mit frenetischem stimmlichem Einsatz und ekstatischem Ausdruck. Schließlich findet sich in der Anthologie noch die Arie der Lucrezia, „Alla salma infedel porga lapena“ aus der gleichnamigen Kantate, in der die Heldin beschließt, die Schande ihrer Vergewaltigung mit dem Tod zu sühnen. Die Szene mit entrückten Melismen ist von existentiellem Zuschnitt. Das Programm wird ergänzt durch drei Sätze aus den Concerti grossi op. 6 sowie die Overture zu Amadigi di Gaula, in denen das Orchester mit feierlichen Klängen aufwartet, in der Overture mit majestätischem Musizieren sogar an den erhabenen Stil der französischen tragédie lyrique erinnern kann (14. 02.22). Bernd Hoppe