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Große Berühmtheit kann Segen und Fluch zugleich sein. Das Stichwort „Gilbert & Sullivan“ ist wohl den meisten Klassikfreunden auch hierzulande ein fester Begriff. Gemeint sind die erfolgreichsten komischen Opern aus dem englischen Sprachraum überhaupt, 14 an der Zahl, die von den 1870er bis in die 1890er Jahre hinein in Zusammenarbeit mit dem Librettisten W. S. Gilbert entstanden. Dass Arthur Sullivan (1842-1900) ein weit größeres Repertoire abdeckte, ist, zumal außerhalb Großbritanniens, heutzutage nur wenigen bekannt. Neben den insgesamt 24 Opern gibt es ein knappes Dutzend Orchesterwerke, zehn Chorwerke, zwei Ballette, sieben Bühnenmusiken, einen Liederzyklus und Zahlloses an Kirchenmusik. Seine großen Verdienste um die britische Musik brachte ihm die Wertschätzung König Victorias und 1883 auch den Ritterschlag ein.
Es ist Ironie des Schicksals, dass von Sullivans vielleicht ambitioniertestem Werk überhaupt, dem englischsprachigen gewaltigen Oratorium The Light of the World (Das Licht der Welt), bis vor kurzem keine professionelle Gesamteinspielung vorlag. Die Idee dazu soll dem erst 30-jährigen Komponisten im Herbst 1872 beim Besuch einer Kapelle in Norwich gekommen sein. In relativ kurzer Zeit lag die Komposition im Folgejahr vor und erfuhr beim Birmingham Festival bereits am 27. August 1873 ihre Uraufführung. Es handelte sich um Sullivans zweites Oratorium nach The Prodigal Son (Der verlorene Sohn) von 1869. Ist letzteres Werk von etwa einstündiger Aufführungsdauer, übertrifft The Light of the World dies mit üppigen zweieinhalb Stunden noch einmal deutlich und erreicht damit die Ausmaße von Georg Friedrich Händels Messiah, dem bis heute sicherlich berühmtesten englischen Oratorium überhaupt. Auf den oberflächlichen ersten Blick tut sich ein Vergleich geradezu auf, doch widmet sich Sullivan nicht wie Händel der spirituellen Idee Christi und ist sein Anliegen auch keine Passion im Stile von Johann Sebastian Bach. Vielmehr fokussiert sich Sullivan auf die menschlichen Aspekte, das Wirken Jesu auf Erden, sein Wirken als Prediger, Heiler und Prophet. Ähnlich Mendelssohns Elias, offenbart sich das Werk sodann auch in der ersten Person, wobei die Charaktere sich direkt dem Publikum zuwenden. Eine gewisse Nähe der Thematik mag man auch zum kurz zuvor vollendeten Christus von Franz Liszt erkennen.
Ein Auftreten des Heilands in erster Person erschien im viktorianischen England freilich in gewissen Kreisen beinahe blasphemisch. Dies erklärt dann auch den Umstand, warum der Komponist den Charakter des Jesus von Nazaret in der Partitur schlicht als baritone oder solo bezeichnet. Indem er bewusst auf einen Erzähler verzichtet, verleugnet Sullivan sein Herkommen von der Oper mitnichten und erzielt eine stellenweise beinahe opernhafte Dramatik. Die anderen auftretenden Einzelpersonen sind Mary, the Mother of Jesus (Maria, die Mutter Jesu), Mary Magdalene (Maria Magdalena), Martha, An Angel (Ein Engel), A Disciple (Ein Jünger), Nicodemus, A Ruler (Ein Herrscher), A Pharisee (Ein Pharisäer) sowie A Shepherd (Ein Hirte). Der Chor, der eine ganz eminente Rolle einnimmt, tritt in verschiedener Funktion auf: Zunächst als Chor der Engel, sodann als Chor der Hirten, als Chor der Kinder, als Chor der Jünger, als Chor der Frauen, teilweise aber auch ohne genauere Bezeichnung und gegen Ende an einer Stelle auch a capella.
Formal unterteilt sich The Light of the World in zwei große Teile, wobei der erste Teil zunächst einen vom Chor vorgetragenen prophetischen Prolog umfasst, in welchem das zukünftige Auftreten eines Messias bei Jesaja aus dem Alten Testament zitiert wird. Es folgt die Geburt Christi in Bethelehem mit Maria, dem Engel und den Hirten. In der mit Nazareth – In the Synagogue (In der Synagoge) betitelten nächsten Szene tritt erstmals Jesus selbst auf, wobei Matthäus 5,10 gewiss die Schlüsselstelle darstellt: „Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich.“ In der daran anschließenden Szene um Lazarus und At Bethany (In Bethanien) steht die Erweckung des Lazarus, des totgeglaubten Bruders der Martha, von den Toten im Mittelpunkt. The Way to Jerusalem (Der Weg nach Jerusalem) schließlich beschließt den ersten Teil des Oratoriums mit einem freudigen Hosanna-Chor.
Der zweite Teil in Jerusalem wird unverhofft mit einer theatralischen Ouvertüre eingeleitet, die es verdiente, auch aus dem Kontext gelöst im Konzertsaal zu erklingen. Sie vermittelt die feindliche und von Zwietracht vergiftete Stimmung, welche Jesu Anwesenheit in der Stadt hervorruft. Der Herrscher bestreitet, dass Christus aus Galiläa käme und die Weiber beklagen das Schicksal Jesu. Dieser spricht ihnen Mut zu und betont, dass er die Welt überwunden habe (nach Johannes). Dies sind auch die letzten Worte Jesu im gesamten Werk. Die anschließende Passion und den Tod Christi beschreibt wiederum der Chor. Die letzte Szene ist sodann mit At the Sepulchre – Morning (Am Grabe – Morgen) betitelt. Die trauernde Maria Magdalena wird vom Engel getröstet, der ihr versichert, Christus sei auferstanden und dass Gott alle Tränen von den Augen abwischen werde (nach der Offenbarung des Johannes). Der sich allmählich gewaltig steigernde Schlusschor lobpreist die Auferstehung und beschließt das Oratorium prachtvoll und ergreifend mit Worten aus der Offenbarung sowie aus dem Paulusbrief an die Galater: „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus, der sich selbst für unsre Sünden dahingegeben hat, dass er uns errette von dieser gegenwärtigen, bösen Welt nach dem Willen Gottes, unseres Vaters. Ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“
Die großartig gelungene und von wahrem Pioniergeist getragene Weltersteinspielung dieses Oratoriums, das mit seinem Pathos stellenweise an spätere Hollywood-Filmmusik erinnert, hat nun das britische Label Dutton besorgt (2CDLX 7356). Es zeichnet verantwortlich das BBC Concert Orchestra unter John Andrews. Als Chöre fungiert neben dem BBC Symphony Chorus (Chorleitung: Gavin Carr) der Kinder Children’s Choir (Chorleitung: Joyce Ellis). Kongenial durch die Bank die Riege der Solisten Natalya Romaniw (Sopran), Eleanor Dennis (Sopran), Kitty Whately (Alt), Robert Murray (Tenor), Ben McAteer (Bariton) sowie Neal Davies (Bass). Die ausgezeichnet klingende Produktion (Aufnahme: Watford Colosseum, 21.-25. April 2017), die in Zusammenarbeit mit der BBC entstand, erscheint im hybriden SACD-Format sowohl im Stereo- als auch im Mehrkanalformat. Für die Cover-Gestaltung hätte man sich anstatt des modernen Gethsemane (2016) von Jorge Cocco Santángelo vielleicht eher das gleichnamige allegorische Gemälde The Light of the World (1853) des englischen Präraffaeliten William Holman Hunt erwartet, doch ist dies nur ein marginales Manko. Labeltypisch vorbildlich die (wenn auch nur englische) Textbeilage mit einer Einführung von Martin T. Yates und einer theologischen Einordnung von Ian Bradley. Der komplette gesungene Text liegt bei. Hilfreich auch die Angabe der jeweiligen genauen Bibelstellen. In der Summe neuerlich ein beeindruckendes Plädoyer für eine in Vergessenheit geratene musikalische Rarität. Daniel Hauser