Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Giuseppina Grassini

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Anlässlich der zwei Ausgaben (CD und DVD) von Zingarellis Oper Giulietta e Romèo bei Chateau de Versailles vielleicht ein längeres Wort zu Giuseppina Grassini, Weltstar und Mätresse der Mächtigen: Die Diva, die Napoleon, den Duke of Sussex und Wellington, neben manchen anderen Bedeutenden ihrer Zeit, verführte und dazu noch einen eigenen gutwilligen Ehemann besaß.

1773 in Varese geboren, fiel die junge Giuseppina Grassini schnell durch ihre musikalische Begabung auf. Ihre Eltern ließen sich dazu überreden, sie nach Mailand zu schicken, um ihre Ausbildung zu machen. Dort lernte sie den Fürsten Belgiojoso kennen (Conte Ludovico Luigi Carlo Maria di Barbiano e Belgiojoso, 1728 – 1801) kennen, der sie unter seine Fittiche (und in sein Bett) nahm und sie durch Antonio Secchi unterrichten ließ, sodass sie 1789 ihr Debüt als Seconda Donna am Teatro Ducale von Parma geben konnte.

Giuseppina Grassini in „Le nonnes del sol marito“ [„Due nozze e un sol marito“] von Cimarosa/Ricordi Archives

1791 debütierte sie an der Scala in Nebenrollen in Werken von Guglielmi, Paisiello und Salieri, setzte ihre Karriere in Vicenza und Venedig fort und kehrte schließlich 1793 mit einer vollendeten Altstimme nach Mailand an die Scala zurück: Erst zwanzig Jahre alt, feierte sie bereits ihren ersten Erfolg in Zingarellis Artaserse, neben dem Kastraten Marchesi und dem Tenor Lazzarini. Mit Demofoonte von Portogallo konnte sie 1794 ihren Aufstieg in Mailand fortsetzen, aber der durchschlagende Triumph kam im Januar 1796 mit Giulietta e Romeo, einer Oper, die Zingarelli in acht Tagen für sie und den hervorragendenKastraten Girolamo  Crescentini komponiert hatte. Umwerfend frisch und schön, eroberte der 23-jährige Star die Herzen der Mailänder, die in ihr eine grandiose Tragödin entdeckten. Die Künstler wurden am Ende der Oper mit Beifallsstürmen gefeiert.

Es war das Jahr 1796, in dem die glorreiche „Armee Italiens“ mit dem jungen Bonaparte an der Spitze am 15. Mai in Mailand einmarschierte, umjubelt von der Menge und von der Oberschicht willkommen geheißen. Von Gala-Abenden bis hin zu Opern-Aufführungen genoss der 27-jährige General Mailand und zweifellos auch das Talent von Grassini, die regelmäßig vor ihm sang und sich sicher dem Helden gegenüber sehr freundlich zeigte. Er aber war in Josephine verliebt… Sie sollten später zueinanderfinden.

Im Fenice von Venedig fand im Dezember 1796 die Premiere des zweiten Triumphes von Grassini und Crescentini statt: Cimarosas Gli Orazi e Ii Curiazi. Im Mai 1797 kehrte Bonaparte nach Mailand zurück, und die Grassini sang regelmäßig für ihn privat in seiner Villa in Mombello. Aber danach wurde sie in Neapel für die Uraufführung von Cimarosas Artemisia engagiert, die wieder ein durchschlagender Erfolg war und ihr die Bewunderung des englischen Prinzen Augustus Frederick von Sussex, die Verehrung durch die neapolitanische High Society und die Zuneigung des musikbegeisterten Volkes einbrachte. Als sie von einem dreißigjährigen Franzosen umworben wurde, rächte sich der Prinz, lud sie auf sein Schiff ein und warf sie im Golf von Neapel über Bord! Doch da Grassini schwimmen konnte, gelang es ihr, das Ufer zu erreichen.

Sexy war er ja: Napoleon Buonaparte zur Zeit des Einmarsches in Mailand/ Gemälde/Ausschnitt von David/ Wikipedia

Zurück in Mailand, galt sie als die „attraktivste und berühmteste Schauspielerin der Zeit“ (Stendhal), und die siegreiche Rückkehr des Ersten Konsuls nach Italien im Juni 1800 war für ihr weiteres Leben entscheidend. Sobald er in Mailand eintraf, improvisierte sie zu seinen Ehren an der Scala einen Galaabend, mit dem sie die Begeisterung der befreiten Italiener zum Ausdruck brachte, und wie ein Zeuge berichtete, rief sie ihm am 4. Juni „wie eine berauschte Bacchantin“ die Verse der Marseillaise zu. Am Ende der Aufführung gratulierte er ihr und… verbrachte die Nacht mit ihr. Er setzte die Kämpfe fort, war bei Marengo siegreich und schloss Frieden. Erschöpft fand er sie in Mailand wieder, wo sie ihn im Triumph empfing„Er legte seinen Kopf an meiner Brust wie ein kleines Kind zur Ruhe“, erzählte sie über diese „historische Nacht“. Wieder wurde eine Gala an der Mailänder Oper veranstaltet, die das Glück von Liebe und Ruhm vollendete. Von da an wich er nicht mehr von ihrer Seite„Signora Grassinis Stimme entzückte ihn. Hätte er sich nicht unbedingt um die Geschäfte kümmern müssen, hätte er ihrem Gesang stundenlang mit Genuss zugehört.“ (Bourrtenne). Er beschloss, sie nach Paris mitzunehmen, damit sie bei den Feierlichkeiten des 14. Juli anlässlich des Sieges in Italien auftrete. Von einer begeisterten Menge umgeben, hörte der Sieger von Marengo seiner Muse zu: „Glorie delle armi, la Cisalpina liberata…“

Noch ein Mann im Liebesleben von Giuseppina Grassini: Der Geiger und Komponist Pierre Rode Jacques/Gemälde von Antoine Vallin 1808/ Wikipedia

Die Stimme der so jungen, so schönen Grassini repräsentierte das glückliche, in seinen Befreier verliebte Italien. Daraufhin begann ein halb geheimes, halb mondänes Verhältnis, denn Bonaparte wollte nicht, dass diese Beziehung publik  werde. Und trotz seiner vielfältigen Beschäftigungen hatte er genug Zeit, um Giuseppina zu verwöhnen. Sie kam regelmäßig, um vor Bonaparte und Josephine zu singen. Vor allem flanierte sie aber durch Paris, das sie sehr liebte! Doch sie vermisste die Bühne und unterbreitete Bonaparte vergeblich das Projekt zur Gründung eines italienischen Opernhauses. Dessen ungeachtet gelang es ihr, in Salons zu singen und sogar ein Konzert an der Oper zu geben, wo sie triumphierte. Aber ihre Freundschaft mit dem Geiger Pierre Rode, der mit ihr auftrat, entwickelte sich zu einer Liaison. Bonaparte befragte seinen Minister Fouche zu den Gerüchten, die ihn diesbezüglich erreichten, und erhielt folgende Antwort: „Meine Überwachung war zunächst in Verzug. Aber ich weiß jetzt, dass ein kleiner Mann, der in einen blauen Gehrock gekleidet ist und einen kleinen Dreispitz trägt, jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr das Schloss verlässt, in eine Kutsche steigt und in die Rue Chantereine Nr. 28 zu Grassini fährt. Dieser kleine Mann sind Sie. Und die Schöne ist ihnen mit dem Geiger Rode untreu.“ Bonaparte war ab 1801 seiner Mätresse bereits überdrüssig und ließ es geschehen: Sie war gleichsam in eine zärtliche Ungnade gefallen.

Augustus Frederick, Duke of Sussex, gehörte ebenfalls zu ihrer Sammlung/ Gemälde von Guy Head/Wikipedia

Das Liebespaar Napoleon und die Diva verließ Paris im November, um Grassinis Opernkarriere in Italien wieder aufzunehmen, wo man sie herzlich empfing. Sie wurde in Genua und Triest gefeiert und reiste 1803 nach London, um sich mit ihrer Rivalin, der Sopranistin Billington, zu messen. Sie trafen in Peter von Winters Ii Ratto di Proserpina aufeinander, dann bei zahlreichen Gesellschaftsabenden, bei denen Grassini ihre Rivalin übertrumpfte. Als Londons Liebling verließ sie die Stadt 1805, um schnell nach Paris zurückzukehren, wo Napoleon sie mit Vergnügen wiedertraf – trotz ihrer Ehe mit Giuseppe Conte Ragani (1785 – 1862), der an ihrer Seite bald zu einem verständnisvollen Schatten wurde. Um sich Grassinis Dienste zu sichern, ernannte Napoleon sie 1807 zur „ersten Sängerin Seiner Majestät des Kaisers und Königs“. Mit einer außergewöhnlich hohen Gage trat sie am Hof in der Musique Particuliere de l’Empereur unter der Leitung von Paer auf, wo sie Crescentini wieder traf. Gemeinsam gaben sie mit beachtlichem Erfolg mehrere Aufführungen von Giulietta e Romeo am Theâtre des Tuileries. Nach einem dieser Abende verlieh der Kaiser Crescentini den Orden der Eisernen Krone„Durch welch rühmliche Tat könnte sich ein Crescini (!) wohl eine solche Ehre verdient haben?, fragte ein Offizier. Da erhob sich das schöne Fräulein Grassini majestätisch von ihrem Sitz und erwiderte mit höchst theatralischer Geste und dramatischem Tonfall: „Und seine Verwundung, mein Herr, welchen Wert messen sie ihr zu?“ Darauf brach Jubel und großer Beifall aus“, heißt es in Napoleons  Tagebuch von St. Helena.

Die Grassini sang außerdem für den Kaiser La vergine del sole von Gaetano Andreozzi, La morte di Cleopatra von Sebastiano Nasolini und gemeinsam mit Crescentini die Uraufführung von Luigi Cherubinis Pimmalione. Ihre letzte Uraufführung in Paris war Paers Didone abandonnata im Jahr 1811. 1813 konnte sie schließlich auf der Opernbühne in Cimarosas Gli Orazi e i Curiaci und in mehreren hervorragenden Konzerten brillieren. Doch auch wenn sie in diesen turbulenten Jahren oft für den Kaiser sang, riss sie der Zusammenbruch des Regimes mit sich. Napoleon verließ Paris am 25. Januar 1814: Er sollte seine Lieblingssängerin nicht mehr wiedersehen. Als die Alliierten in Paris eintrafen, buhlte sie natürlich um deren Gunst und ging nach London, um dort mit ihrer Didone an ihre Erfolge anzuknüpfen: ein Triumph, der umso vollkommener war, als sie den Oberbefehlshaber der britischen Armeen, Herzog von Wellington, verführte. Die Grassini liebte die Sieger!

Und schließlich war da noch Arthur Duke of Wellington/ Wikipedia, der Napoleon in den Armen der Grassini ablöste

Als Wellington zum Botschafter in Paris ernannt wurde, kehrten sie gemeinsam dorthin zurück, wobei die stolze Sängerin zu seiner offiziellen Mätresse wurde. Doch er verließ Paris 1815, und die schöne Giuseppina wurde von der Rückkehr des „Helden der Hundert Tage“ überrascht: Sie wagte aber nicht, mit ihm in Kontakt zu treten. Ihre beiden Liebhaber bekämpften sich bis zur Schlacht von Waterloo: ein unglaubliches Schicksal! Der besiegte Napoleon kehrte ins Palais de Elysee zurück, dann nach Malmaison, aber sie suchte ihn nicht auf.

Als Wellington am 7. Juli in Paris einzog, begrüßte sie ihn als Sieger. Sie brachen gemeinsam auf, um in London Triumphe zu feiern, wo sie in Covent Garden vor dem ganzen Hof sang. Dann ließen sie sich in Paris nieder. Er hatte dort nur Augen für ihre Reize und ihre musikalischen Talente, die sie nur in den Salons ausübte, da ihr der Weg zur italienischen Oper durch die Sopranistin Angelica Catalani am Hof der Bourbonen versperrt war. Schließlich gingen die Liebenden aber getrennte Wege.

Der Autor Laurent Brunner/ Twitter
(Laurent Brunner (@LaurentBrunner) | Twitter)

1817 kehrte die Grassini nach Italien zurück, wo sie an der Scala, in Venedig, Triest und Florenz triumphierte. Überall kamen ihre Abschiedsauftritte beim Publikum außerordentlich gut an. Schließlich kehrte sie aber nach Paris zurück, um ihren Ruhestand – sehr mondän – mit berühmten Freunden zu verbringen: von Rossini über Mme Vigée Lebrun bis Stendhal. Sie nutzte ihren Ruhm, um ihren Schützlingen den Zugang zur Oper zu erleichtern, vor allem ihren Nichten Giuditta Grisi und Giulia Grisi. Letztere hatte 1840 die Ehre, im Invalidendom bei der Rückkehr von Napoleons Asche zu singen: am selben Ort, an dem Giuseppina den Sieger von Marengo gefeiert hatte! Im Alter von 77 Jahren entschlief Giuseppina Grassini sanft, aber fast vergessen, in Mailand. (…) Laurent Brunner/Übersetzung Silvia Beruti-Ronelt

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Giuseppina Grassini als Orazia in Cimarosas Oper „Gli_Orazi ed i Orazi“/ Wikipedia

Dazu noch ein Beitrag aus dem unerlässlichen Wikipedia. (…) Giuseppina Grassini (* 8. April 1773 in Varese; † 3. Januar 1850 in Mailand) gehörte zu den bedeutendsten Opernsängerinnen des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (der Epoche unmittelbar vor Rossini) und wurde als „prima donna seria Europas“, also als Primadonna des ernsten Faches auf den europäischen Bühnen, beschrieben. Kaum 20 Jahre alt, wurde sie schon großen Sängerinnen wie Brigida Banti an die Seite gestellt. Sie galt Kritikern bereits zu dieser Zeit als „zehnte Muse“.

Die Stimme: Gewöhnlich als Altistin kategorisiert, lag ihre Tessitur eher im tieferen Mezzosopran-Bereich und verfügte über ein starkes Timbre, eine große Klangfülle und Flexibilität. So bezeichnete die Komponistin Sophie de Bawr Grassinis Stimme als einen „prächtigen Alt, dem ein unermüdlicher Fleiß einige sehr schöne hohe Töne hinzugefügt hatte“. Ähnlich schrieb auch François-Joseph Fétis: „Ihrer Stimme, einem kräftigen Alt von großer Ausdruckskraft, mangelte es nicht an Ausdehnung in die höheren Tonsphären, und ihre Vokalisation hatte eine Leichtigkeit, eine sehr seltene Qualität bei stark timbrierten Stimmen.“ Dagegen behauptete der Musikkenner Richard Edgcumbe – ein vielleicht nicht ganz unvoreingenommener Parteigänger der Sopranistin Elizabeth Billington – Grassinis Stimmumfang hätte sich in ihrer Londoner Zeit auf nicht viel mehr als eine Oktave reduziert.

Die Stimme Grassinis wurde immer wieder als im Sinne des Belcanto hervorragend ausgebildet beschrieben, laut Fétis war sie „über den ganzen Umfang ebenmäßig und rein“, und er lobte „ihre schöne und freie Tonemission“ und „ihren großen Stil der Phrasierung“. Sophie de Bawr hob die Breite ihrer Tonqualität, die Reinheit ihrer Aussprache und ihre ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen hervor, wie sie den Stilidealen einer von Bawr als „école grandiose“ (großartige Schule) bezeichneten Tradition entsprachen,[61] welche Grassini insbesondere durch ihren Lehrer und Bühnenpartner Crescentini vermittelt bekam und die (laut Baur) schon einige Jahrzehnte später „perdue“ (verloren) war. Der erfahrene Crescentini soll seine Schülerin dabei vor übermäßigen Verzierungen im Vokalvortrag gewarnt haben, wie sie italienische Sänger zu dieser Zeit gerne einsetzten.

Giuseppina Grassini und Napoleon/ kolorierte Zeichnung von Antoine Calbet/ BNF/ Gallica

Ihre Gesangstechnik verband sie mit einer großen Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft, wobei die an ihr immer wieder bewunderte physische Schönheit und die natürliche Grazie ihrer Bewegungen ihr sehr entgegenkamen. An fast jedem Ort ihrer Karriere wurde hervorgehoben, wie sich Stimme, Körperlichkeit und theatraler Vortrag bei ihr gegenseitig bereicherten und ein Spiel von großer Glaubwürdigkeit entfalteten. Der französische Dramatiker Antoine-Vincent Arnault bemerkte in seinen Memoiren über ihre Auftritte in Neapel: „Diese Sängerin, die noch keine zwanzig Jahre alt war, vereinigte mit einem herrlichen Alt die geschmeidigste Figur, die edelste und eleganteste Statur. […] Was sie repräsentierte, war sie. Für sie schienen die romantischsten Leidenschaften natürlich, und Fiktionen wurden zu Realitäten.“ Edgcumbe, ein Zeuge des Londoner Wettkampfes zwischen Elizabeth Billington und Giuseppina Grassini, schrieb, dass Billington ihr stimmlich überlegen gewesen sei, das Publikum jedoch Grassini aufgrund ihrer schauspielerischen Leistung bevorzugt habe. Auch andere Zeitzeugen wie Charles Bell urteilten, dass Giuseppina Grassini aus der Vereinigung von Musik und dramatischem Spiel ihre einzigartige Kraft bezogen habe: „Sie starb auf der Bühne, ohne jemals lächerlich zu sein.“

Nach Einschätzung der Comtesse de Boigne, die Grassini auf den Festen der Londoner Gesellschaft kennengelernt hatte, verursachten die Auftritte der italienischen Sängerin am King’s Theatre einen Stimmungsumschwung im Publikum. Alt-Stimmen seien so sehr in Mode gekommen, dass Sopranistinnen vorübergehend fast von der Bühne verschwanden.(…) Den letzten Abschnitt ihres Lebens verbrachte sie überwiegend in Mailand, wo sie in der Casa Arese am Largo San Babila eine Mietwohnung bezog. Hier empfing sie zu fachlichen Gesprächen unter anderem die Komponisten Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini. Die Straßenkämpfe im Revolutionsjahr 1848 beobachtete sie von ihren Fenstern aus; dabei wurde eine in ihrem Besitz befindliche Kutsche, mit der sie zwischen Mailand und Paris verkehrte, zur Verstärkung der Barrikaden verwendet und schließlich zerstört. Am 3. Januar 1850 starb sie in ihrer Wohnung.

Giuseppina Grassini hinterließ ein bedeutendes Vermögen, das sie größtenteils an ihre Nichten, weitere Familienmitglieder und an Bedienstete vererbte. Ihren Ehemann Cesare Ragani bedachte sie mit einer Summe, die jährlich 4000 Francs Rendite abwarf (was nur knapp unterhalb der von einer Spitzensängerin wie Wilhelmine Schröder-Devrient ausgehandelten Pension lag). Ein Miniaturbild auf Elfenbeinplatte des Malers Ferdinando Quaglia, das ursprünglich von Napoléon persönlich in Auftrag gegeben worden war und 1911 vom Museum der Scala für den beachtlichen Preis von 50.000 Francs erworben wurde, vermachte sie guten Freunden. 2000 Lire erübrigte sie für Bedürftige in Varese. Beigesetzt ist Giuseppina Grassini auf dem Cimitero di San Gregorio in Mailand. (Quelle Wikipedia)

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Den Artikel von Laurent Brunner und deren Übersetzung entnahmen wir mit Dank dem luxuriösen, dreisprachigen Beiheft zur CD-Aufnahme von Zingarellis Oper Giulietta e Roméo bei Chateau de Versailles (1 CD/DVD CVS044). Redaktion G. H.

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Kultivierte Schnoddrigkeit

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Wer einmal Lotte Lenya mit der Musik ihres Ehemanns Kurt Weill gehört hat, wird sie für alle Zeiten als Inbegriff des Weill-Gesangs im Gedächtnis gehalten haben, auch nicht durch die verdienstvollen Interpretationen von Gisela May, Milva oder Ute Lemper aus ihm zu vertreiben. Nun ist aus der insbesondere an Janáček und anderen Tschechen erprobten Zusammenarbeit von Simon Rattle und seiner Frau Magdalena Kožená eine CD mit Brecht/Weills  Die sieben Todsünden hervorgegangen, ergänzt durch weitere Musik Weills, teils noch in Europa, teils bereits in den USA komponiert.

Wieder einmal war es ein liebender Gatte gewesen, der Engländer Edward James, der seiner Frau, der Tänzerin Tilly Losch, zu einem Auftritt auf der Bühne verhelfen wollte und deshalb ein Werk für sie in Auftrag gab. Sie war dann Anna II in dem Stück um ein Schwesternpaar, dass in den USA sein Glück versucht, um das nötige Geld für ein „kleines Haus in Louisiana“ zusammenzuverdienen, wobei Anna I, die Sängerin, die Antreibende, Anna II, die Tänzerin,  die Ausführende ist,  die Bewertung der Sieben Todsünden in ihr antireligiöses Gegenteil verkehrt wird, so wenn Anna II in Zorn über Tierquälerei gerät und dafür bestraft wird. In der CD-Aufnahme fällt naturgegeben die Tänzerinnenrolle weg, und Anna I übernimmt auch die wenigen gesprochenen Worte von Anna II und das sehr eindrucksvoll, wenn sie in ihnen die unausweichliche Entwicklung hin zu einer innerlich ausgebrannten , illusionslosen Frau hörbar macht. Gesanglich ist ihre, eine Opernsängerinnen- und keine Diseusenstimme, voller, runder, weicher, nuancenreicher mit einem Hauch Melancholie, weniger rotzig als die der Lenya und nur hin und wieder in scharfe Töne wechselnd.

Die „Familie“ der Schwestern oder besser der doppelgesichtigen einen Schwester besteht aus zwei Tenören, einem Bariton und einem Bass (ausgerechnet die Mutter), die Vier sind als vokale  Individuen klar erkennbar und bilden zugleich ein ebensolches Ganzes. Das Orchester vermittelt einen Edelkaschemmensound, gibt sich angemessen grell, straff und temporeich, es ist das London Symphony Orchestra.

Fern aller Westernromantik bewegt sich Tod im Wald, wo es um das langsame Sterben eines von Lynchjustiz Heimgesuchten geht, dem Florian Boesch mit markantem Bassbariton ebenso eine Stimme gibt wie dem erzählenden Text. Unerbittlichkeit lässt sich vom Orchester vernehmen. Andrew Steples singt die Arie Lonely House aus Weills amerikanischer Oper Street Scene mit sehnsüchtig klingendem Tenor, und auch das auf Walt Whitmans Dirge fort two veterans komponierte Lied. Dem Bariton Ross Ramgobin gelingt mit Beat! Beat! Drums!, eigentlich für Paul Robeson bestimmt, eine eindrucksvolle Antwort wohl auf den Überfall auf Pearl Harbour.

Den Abschluss bildet die Kleine Dreigroschenmusik in schöner Ausgeglichenheit zwischen frechem Moritatensound und eleganter Barmusik, von einem Highlight zum nächsten gleitend (LSO Live 500880). Ingrid Wanja     

Zingarellis „Giulietta e Romèo“

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Die Liebesgeschichte von Romeo und Julia gehört zu den berühmtesten Dramen der Welt – sie hat auch reichlich ihre Spuren in der Musik hinterlassen. Ob Tschaikowsky, Prokowjev oder Gounod, ob Bellini, Vaccaj oder Berlioz – es gibt jede Menge berühmter Vertonungen. Nun kommt eine vergessene auf den Markt, eine Oper von Niccolò Zingarelli, nach dem 2021 herausgegebenen CD-Querschnitt nun 2024/25 als Video komplett:  Giulietta e Roméo beim Label Chateau de Versailles. Dazu zum ersten eine Besprechung von Ingrid Wanja und danach Verschiedenes zur Oper selbst, auch die Rezension des CD-Querschnitts von Chateau der Versailles von 2021, die in der Wertung von der DVD-Besprechung abweicht. De gustibus und so ….

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Der Komponist Nicolò Zingarelli/Wikipedia/BiblioMC

Nun also Ingrid Wanja: Die Universität von Bologna besitzt ein Verzeichnis der Aufführungen, die Nicolò Antonio Zingarellis erfolgreichster Oper Giulietta e Romeo nach ihrer Uraufführung in Mailand 1796 zuteil wurde, und es ist eine fast unendliche Liste von italienischen Städten, bis 1812 auch Berlino erscheint, das Jahr des Russlandfeldzugs Napoleons I., als dessen Lieblingsoper das Werk gilt. Unklar ist allerdings, ob man bei der Planung des Spielplans schon gewusst hat, dass dieser mit einem Fiasko für die Franzosen enden sollte, Preußen sich längst durch den Vertrag von Tauroggen aus dem erzwungenen Bündnis gelöst hatte, also nicht damit zu rechnen war, dass der Kaiser der Franzosen in Berlin Halt machen würde. Außerdem hätten sowie  die Lieblingssänger des Despoten, Giuseppina Grassini und Girolamo Crescentini, nicht zur Verfügung gestanden. Die Liste der Aufführungen bricht übrigens ganz plötzlich ab, was wohl auch daran liegt, dass mit Rossini ein neuer Stern am Opernhimmel erschienen war, der den wohl letzten Vertreter der Neapolitanischen Schule in der Gunst des Publikums ablöste. Übrigens wurde die Zuneigung Napoleons zu dessen Werken  vom Komponisten  nicht erwidert, was vor allem wohl wegen dessen enger Bindung an den Papst lag, der Napoleon zwar für die Rückkehr Frankreichs zur katholischen Kirche dankbar sein musste, nicht aber dafür, dass ihm der Empereur bei der Krönung zum Kaiser die Krone aus der Hand riss und sich selbst und seine Gattin Josephine Beauharnais krönte. Eine ältere Ausgabe mit Ausschnitten, wie die jetzige CD und DVD, trägt den Titel  L’opéra de Napoléon.  Zingarelli jedenfalls floh aus den Teilen Italiens, die von den Franzosen besetzt worden waren, unter die Fittiche der römischen Kirche.    

Die Quelle für das Libretto von Giulietta e Romeo ist weniger Shakespeare als italienische Fassungen des Schicksals der unglücklichen Liebenden, so kommt es, dass Lorenzo entfällt und Romeos Freund dessen Aufgabe, die Übergabe des Giftfläschchens, übernimmt, und anstelle der Amme gibt es eine Freundin namens Mathilde. Eine wesentlich wichtigere Rolle spielt der Vater Giuliettas, der anstelle des Oberhaupts der Stadt Verona den Schlussmonolog voller Reue zu singen hat. Auch werden den Liebenden die Freuden der Hochzeitsnacht versagt, an die Trauung schließt sich sogleich der Scheintod Giuliettas an.

Da das Bühnenbild von Roland Fontaine auch für Don Giovanni benutzbar sein musste, zeigt es keine spezifischen mittelalterlichen oder gar Veroneser Stilelemente, die Kostüme von Christian Lacroix (!) hingegen tragen der Vorliebe Napoleons für dieses Werk Rechnung und sind in schönstem Empirestil gehalten. Damit ist schon einmal der optische Genuss gewährleistet. Die Regie von Gilles Rico ist eine behutsame, die Akteure in jeder Hinsicht ins beste Licht stellende. Stefan Piewniak hält das Orchestre de l’Opéra Royal (Heimatbühne ist immerhin das Schloss Versailles) zu straffem, elegantem und bereits den vor der Tür stehenden Belcanto berücksichtigendem Spiel an, schließlich waren unter vielen anderen Bellini und Donizetti Schüler Zingarellis.

Für den heutigen Hörer ungewöhnlich, für die Zeit des Komponisten typisch ist die Rollenverteilung mit einem Mezzosopran für die junge Liebende, hier der Countertenor (natürlich Kastrat, Counter sangen damals sowas nicht/G.H.) für den Geliebten, den Tenor für den das Liebesglück verhindernden Intriganten, und auch der später dem Bariton gegönnte helfende Freund ist noch dem Countertenor zugeteilt. Das führt bei der vorliegenden Aufnahme, da die   auch optisch, dazu noch vokal von beeindruckenderer Statur ist, zu einer eher mütterlichen Giulietta, die den zierlichen, zarten Counter eher wie einen Sohn wirken lässt. Adéle Charvet erfreut durch viel Wärme und Geschmeidigkeit ihres Mezzos. Franco Fagioli verfügt über betont feine Farben, eine ungeheure Virtuosität und vokale Eleganz, für sich genommen sind beide Sänger vorzüglich, nur passen sie, zumindest nach heutigem Geschmack, nicht zueinander. Krystian Adam (Everado=Capulet) und Valentino Buzza (Tebaldo) sind die Tenöre und überzeugen vokal wie darstellerisch, der Vater mit schöner Klage, Tebaldo mit auch darstellerischer Agilität. Florie Valiquette gibt eine attraktive Matilde mit frischem Sopran. Noch zarter, feinstimmiger und fragiler als sein Freund Romeo ist in jeder Hinsicht der Gilberto von Nicolò Balducci, dem man den Strippenzieher nicht recht abnimmt, vielleicht hat ihn deswegen die Regie auch mit der nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Aura des Überirdischen versehen. Auf jeden Fall bereichert die DVD mit der vollständigen auch optischen Wiedergabe des Werks, nachdem zuvor nur Ausschnitte aus einer konzertanten Aufführung verfügbar waren (DVD CV 5181/ 24. 02. 25/). Ingrid Wanja       

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Zingarellis „Giulietta e Romèo“/ Grabstelle der Capulets/ Bühnenbild von Alessandro Sanquirico für das Teatro Carcano 1829/Ricordi Archives

Und  nun Matthias Käther zum älteren Konzert-Querschnitt, ebenfalls bei Chateau de Versailles: Nicolò Antonio Zingarelli ist wohl der von allen heute nicht gespielten Opernkomponisten am häufigsten in der Literatur erwähnte. Immer wieder stolpert man über seinen Namen. Er war nicht nur ein Lieblingskomponist der Generation zwischen Mozart und Rossini, er war auch ein hocheinflussreicher Lehrer und  unterrichtete eine ganze Belcanto-Komponisten-Generation, auch Donizetti und Bellini sind dabei. Er hat 37 Opern geschrieben, die in Europa rauf und runter gespielt wurden, vor allem seine Romeo-und Julia-Oper vom 1796.

Wolfgang Leonhardts These, dass die Revolution ihre Kinder frisst, gilt auch hier. Zingarelli hat als „Erfinder“ im Keim schon alles Folgende entwickelt. Er „erfand“ eine moderne, sehr sinnliche Sängeroper mit großen emotionalen Szenen und weit ausgreifenden Gesangslinien. Seine Schüler und Nachahmer haben diese Errungenschaften aufgegriffen und dann noch frappierender umgesetzt. Erst Vaccaj mit einer Neuvertonung des Stoffes und dann Zingarellis Lieblingsschüler Bellini mit einer noch erfolgreicheren Version (I Capuleti e i Montecchi). Zingarellis eher zurückhaltenderer  Stil war dann in dem blendenden Licht seiner auftrumpfenden Schüler nicht mehr zu erkennen.

Nach ersten Neu-Begnungen mit der Oper in Salzburg, Schwetzingen (Rezension nachstehend) und Venedig zeigt gerade diese CD- (bzw. DVD)-Erst-Einspielung auf historischen Instrumenten unter Stefan Plewiak, warum sich die Ausgrabung lohnt. Eine Würdigung Zingarellis war und ist heute eher möglich, das Werk wäre noch in den 90ern abgelehnt worden, weil man versucht hätte, es als eine Art Prequel zu Bellini zu servieren – also als Musik, die man schlicht als Vorläufermusik eingestuft hätte. Hier nun, in dieser sehr behutsamen, durchsichtigen instrumentalen Interpretation wird eher klar, was für ein großartiger Visionär Zingarelli war, wie er die Traditionen des 18. Jahrhunderts auf einen Höhepunkt zuführt und damit gleichzeitig etwas Neues schafft. Für 1796 ist das wirklich grandiose Musik.

Jedoch: Die Oper war für zwei damalige absolute Weltstars geschrieben, und die traten darin nicht nur bei der Uraufführung auf. Auch später waren sie ein gefeiertes Team: Giuseppina Grassini , eine der legendären Opernsängerinnen der Epoche, und der hochdekorierte Kastrat Girolamo Crescentini. Die Zeitzeugen beschreiben immer wieder das orgiastische Enzücken, das die Menge überkam, wenn sich diese Stimmen zum Duett in Zingarellis Oper vereinten. Das bekommt man im Konzert-Mitschnitt aus Versailles wahrhaftig nicht geboten; weder Adele Chavret noch Franco Fagioli als unhistorischer Counter können da mithalten. Dafür hätte es schon ein Paar wie Sutherland-Horne gebraucht.

Nun wird sich der Hörerkreis dieser Aufnahme dessen sicher nicht so bewusst sein, eher sich fragen, warum keine CD-Gesamtaufnahme, sondern nur ein großer Querschnitt aufgezeichnet wurde. Warum also? Mal wieder Corona? Egal: Wenn man seine Erwartung dämpft, wird man mit diesem Querschnitt sicher gut bedient. Vor allem überraschte mich Franco Fagioli. Ich bin nun wirklich der größte Countertenor-Muffel auf Erden, aber er hat mich hier überzeugt, denn er lässt sich auf die Sinnlichkeit und Opulenz der Komposition ein, spart nicht mit Kadenzen, und die enge Kehle mit den „katzenhaften“ Verzierungen, mit denen sonst so viele Countertenöre teure und hoffnungsvolle Barockproduktionen zerschreddern, fehlt hier Gottseidank. (Wobei man einräumen muss, dass ihm die Partie bis zum ersten Finale runder gelingt als danach). In weiteren Rollen hört und sieht man (auf der beiliegenden Konzert-CD) mit Gewinn den Tenor Philippe Talbot als Nebenbuhler Evardo und als Teobaldo

Zingarellis „Giulietta e Romèo“/ Gemach der Giulietta/ Bühnenbild von Alessandro Sanquirico für das Teatro Carcano 1829/Ricordi Archives

Erschienen ist das Ganze bei dem französischen Label Château de Versailles. Das Werk von 1796 war eine von Napoleons Lieblingsopern, vielleicht sogar die entscheidende Oper, die seine Liebe zu dem Genre für den Rest seines Lebens prägten. Als er 1796 als General siegreich in Mailand einzog lief an der Scala Zingarellis Roméo. Und der Rest ist eigentlich Stoff für eine 24teilige Netflix-Serie: Napoleon war so hingerissen von der Grassini, dass sich erst ein Flirt entspann und dann bald auch eine heftige Liebes-Affaire entwickelte. Die Sängerin folgte ihm später auch nach Paris und dürfte nicht nur seinen Musikgeschmack stark geprägt haben.

Den auf CD vorliegenden Querschnitt kann man auch auf der beiliegenden DVD, ebenfalls als Querschnitt, nacherleben, konzertant im schönen Theater von Versailles. Matthias Käther/G. H.

 

PS.: Wie bereits erwähnt ist diese Zingarelli-Oper mit dieser Neuaufnahme nicht erstmals zu hören.. Bereits in Salzburg wurde sie, ebenfalls mit Franco Fagioli und dann mit Ann Hallenberg, 2016 (radioübertragen) gegeben, Schwetzingen/Heidelberg folgte 2016 (dto) mit dem Counter Kangmin Justin Kim und Venedigs Fenice zog 2017 (inhouse dokumentiert) ebenfalls nach, dort sang den Roméo-Part die Mezzosopranistin Violeta Grecu, sehr viel überzeugender finde ich als hier ein Falsettist, aber das ist Geschmackssache – zumal sich natürlich wieder die Frage stellt, ob ein Falsettist überhaupt eine Wahl ist für eine so hochvirtuose Kastratenpartie, niemand hätte damals Falsettisten für diese anspruchsvollen Partien ausgesucht.

Im Film Farinelli hatte man die Stimmen von Derek Lee Ragin und Eva Godlewska digital kombiniert, ein überzeugendes Experiment. Als Bonus singt auf der beiliegenden DVD Counter Fagioli eine weitere Arie des Roméo aus Akt 3 der Oper. Allerdings schmunzelt man doch über den Satz „Franco Fagioli est Crescentini:, das ist schon recht verwegen und tres francais … Leider verstopft diese Aufnahme aus Versailles möglicherweise den Markt für eine vollstände Wiedergabe der tollen Oper auf CD; hoffen wir, dass vielleicht der Palazzetto oder andere sich besinnen (ohne Counter vielleicht) … G. H.

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Zuvor gab es die Oper also erstmals in moderner Zeit 2016 in Schwetzingen vom Theater Heidelberg – dazu der Bericht von Marcus Budwitzius: Mut gehört belohnt. Mutig ist der von Operndirektor Heribert Germeshausen auf sieben Spielzeiten angelegte Zyklus der Heidelberger Oper im Rahmen des „Winter in Schwetzingen“ mit Werken der neapolitanischen Schule, die im schönen, kleinen Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses als deutsche Erstaufführung oder erste Inszenierung der Neuzeit präsentiert werden, was auch von Publikum und Presse honoriert wird. In den vergangenen Jahren spielte man Alessandro Scarlattis „Marco Attilio Regolo“, Antonio Porporas „Polifemo“, Tommaso Traettas „Ifigenia in Tauride“, Niccolá Jommellis „Fetonte“ und Leonardo Vincis „Didone Abbandonata“. Zum Abschluss folgt in der kommenden Spielzeit eine weitere Oper von Porpora. In dieser Saison präsentierte in dieser Saison ein weiteres, aber spätes Werk der von Alessandro Scarlatti begründeten neapolitanischen Opernschule: Niccolà Antonio Zingarelli (1752-1837) komponierte Giulietta e Romeo in angeblich nur acht Tagen, am 30. Januar 1796 war die Premiere an der Mailänder Scala. Die Oper zwischen Rokoko und Belcanto erfuhr nach konzertanten Vorstellungen bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2016 im Schwetzinger Rokokotheater die erste szenische Neuproduktion seit 187 Jahren und erwies sich dabei vor allem sängerisch und musikalisch als schöne Entdeckung. (…)

Zingarellis „Giulietta e Romeo“ in Schwetzingen/ Foto Annemone Taake

Die Konzentration gehört den Sängern und die sind in Schwetzingen sehr gut besetzt. Der Romeo ist mit einem Countertenor besetzt: Kangmin Justin Kim begeistert durch ein sehr schönes Timbre, klare und unangestrengte Höhe und vor allem gelingt es ihm herausragend gut, seinem Gesang Emotionalität zu verleihen – Kim klingt nie pauschal oder blass, sondern stets farbig, abwechslungsreich und spannend. Mit dieser Rolleninterpretation empfiehlt sich Kim für Größeres. Als Giulietta hat man die britische Mezzosopranistin Emilie Renard verpflichtet und auch sie dürfte Karriere machen: sie ist bühnenpräsent und gestaltet mit souveräner und sicherer Stimme. Ihr Engagement wurde finanziell ermöglicht durch Produktionspaten – und das hat sich gelohnt. Renards und Kims Duette vermitteln ein wenig ein Aha-Erelebnis – von Zingarelli hat Bellini hörbar etwas gelernt.  Und dann ist da noch Zachary Wilder als Everardo, dessen ausdrucksstarker Tenor für Barockrollen prädestiniert scheint und nur durch leichte Einengungen in der Höhe beeinträchtigt klang, aber das kann bei einem kalten Winter auch naheliegende Ursachen haben. Drei sehr gute Routiniers ergänzen in den kleineren Rollen: den Gilberto singt als Gast Terry Wey, Teobaldo ist Namwon Huh, Julias Amme Matilda ist bei Rinnat Moriah bestens aufgehoben und die knapp 20 Sänger des Heidelberger Chors singen ohne Fehl und Tadel. Dirigent Felice Venanzoni und Philharmonischen Orchester Heidelberg spielen historisch informiert auf sehr gutem Niveau, ein routiniertes Originalklang-Ensemble werden nur sehr wenige vermissen. Die Fassung wurde aus verschiedenen Aufführungsjahren zusammengestellt (auch in Salzburg mit Fagioli und Hallenberg war nicht die Urfassung zu hören).

Die zurückhaltende Inszenierung der Regisseure Nadja Loschky und Thomas Wilhelm konzentriert sich auf das überraschungsfreie Geschehen und schafft es, überzeugende Figuren auf die Bühne zu stellen. (…) . In der Summe eine gelungene und schöne Produktion der Heidelberger Oper, bei der Einsatz und Aufwand sängerisch, musikalisch und szenisch überzeugen (Dezember 2016/ Foto oben: Zingarelli/ Schwetzingen/ Foto Annemone Taake 3). Marcus Budwitius

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Gipfelstürmer

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Vincenzo Bellinis letzte Oper I puritani gehört zu den Gipfelwerken des Belcanto und verlangt Interpreten von Ausnahmeformat. Die Neuaufnahme von EuroArts (2011121, 3 CDs)  muss sich gegen berühmte Dokumente der Vergangenheit behaupten. Für die Sopranpartie der Elvira ist Maria Callas noch immer der Maßstab, auch im Repertoire von Joan Sutherland spielte sie eine zentrale Rolle.

Lisette Opresa als Bellinis Elvira an der Opéra de Paris 2024/youtube/Foto wie oben Euroarts trailer

Jetzt hat die Amerikanerin Lisette Oropesa in der 2023 im Dresdner Kulturpalast eingespielten Aufnahme die Elvira übernommen und damit ihren Rang als derzeit international führende Koloratursopranistin eindrucksvoll behauptet. Ihre Interpretation ist heutig, entbehrt des altmodischen Pathos, welches man bei vielen Sängerinnen der Vergangenheit vernimmt. Die Stimme ist von reizvollem Timbre, sicher in den Spitzentönen und angemessener Bravour für die Bewältigung der schwierigen Skalen und Koloraturen. Ihr erstes Solo, die Polacca am Ende des 1. Aktes, „Son vergin vezzosa“, absolviert sie virtuos. Im Terzetto am Ende des 1. Aktes, „Oh, vieni  al tempio“, ist dagegen ein entrückter, somnambuler Klang gefordert, glaubt sich Elvira doch von ihrem Geliebten verraten. Callas hat diese Szene mit unvergleichlicher Melancholie  gesungen, so in einem Martini&Rossi-Konzert 1956 in Mailand, doch auch Oropesa trifft die Stimmung der Figur genau. Eine von Elviras berühmtesten Nummern ist die Aria im 2. Akt „Qui la voce“ mit der CabalettaVien, diletto“. Die Sängerin setzt hier ein Glanzlicht ihrer Interpretation mit perfekter Phrasierung und betörenden Tönen, ergänzt um stupende Brillanz im Schlussteil. Im letzten Akt vollendet sie ihre Interpretation im Duetto mit Arturo und lässt glanzvolle stratosphärische Töne von mirakulöser Sicherheit hören.

Elviras Geliebter Arturo ist mit dem amerikanischen Tenor Lawrence Brownlee besetzt, einem Spezialisten für die halsbrecherischen Belcanto-Partien, zu denen ja der Arturo in besonderem Maße gehört. Immerhin war er für den legendären Tenor Giovanni Battista Rubini komponiert, der über außerordentliche Fähigkeiten in der tenoralen Extremlage verfügte. Brownlees Stimme zeichnet sich durch stupende Flexibilität aus und brilliert vor allem in der Extremhöhe. Das tückische hohe F bei „Credeasi misera“ im 3. Akt ist stets ein Ton, bei dem man zusammenzuckt, aber hier gerät er spektakulär und fordert den Vergleich mit Salvatore Fisichella in der Bregenzer Aufführung von 1985 heraus. Bemerkenswert ist der totale vokale Einsatz des Sängers, was einen virilen Klang mit sich bringt. Der bei manchen  Rollenvertretern verzärtelte Ton ist hier nicht zu bemerken, dafür findet man bei Brownlee nicht die Weichheit und Eleganz anderer Tenöre. Schon im Quartett des 1. Aktes, „A te. o cara“, werden Arturo Töne in der exponierten Lage abverlangt, Gleiches ist gefordert in der Romanza zu Beginn des 3. Aktes, „A una fonte afflitto e solo/Son già lontani“ und noch stärker im Duetto mit Elvira „Vieni, vieni fra queste braccia“. Der Sänger zeigt sich all diesen Herausforderungen souverän gewachsen und bietet eine Modellinterpretation der Partie.

Der junge amerikanische Bariton Anthony Clark Evans lässt als Riccardo, den der berühmte Antonio Tamburini kreierte,  mit markiger Stimme aufhorchen. Sein Auftritt mit „Ah! per sempre io ti perdei“ imponiert in der maskulinen Energie und kultivierten Linie. Der italienische Bass Riccardo Zanellato gibt mit samtiger Stimme Elviras Onkel Giorgio. Im Duett mit Elvira, „Sai com´arde in petto mio“, überzeugt er mit würdevollem Ton und idiomatischem Gesang, so auch in seiner kantablen Romanza im 2. Akt, „Cinta di fiori“. Spektakulär ist sein Duetto mit Riccardo im Finale II, „Il rival salvar tu dei/Se tra il buo un fantasma vedrai“, das der Bariton im Schlussteil „Suoni la tromba“ mit einem fulminanten Spitzenton krönt.

Die Besetzung komplettieren solide der Bassist Martin-Jan Nijof als Elviras Vater Lord Gualtiero, der Tenor Simeon Esper als Sir Bruno und die Mezzosopranistin Roxana Constantinescu als Enrichetta. Der MDR-Rundfunkchor (Einstudierung: Tilman Michael) und die Dresdner Philharmonie bieten unter Riccardo Frizza ein lebendig pulsierendes Klangbild mit vielen Instrumentalen Feinheiten und Farben. Bernd Hoppe    

Osteuropäische Spätromantik

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Wohl kaum jemand kennt die Werke des kroatischen Komponisten Blagoje Bersa (1873-1934). Dem hat jetzt hinsichtlich seiner Lieder das Label hänssler CLASSIC abgeholfen, indem es in einer Welt-Ersteinspielung eine Doppel-CD herausgebracht hat. Bersa studierte zunächst in Zagreb und von 1896 bis 1899 am Konservatorium der Gesellschaft der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bei Robert Fuchs und Julius Epstein.

Blagoje Bersa/Croation Institute of Music

Während seiner Dirigierverpflichtungen in  Sarajevo, Split, Graz und Osijek lebte er mit kurzen Unterbrechungen in Wien, bis er 1919 nach Zagreb zurückkehrte, wo er ab 1922 bis zu seinem Tod als Professor für Komposition und Instrumentation an der neu errichteten Musikakademie wirkte. Über seine Musik wird geschrieben, dass er den damaligen traditionellen Musikstil durch neue Nuancen in Harmonie und Klangfarben bereicherte. Bersa war in allen Bereichen schöpferisch tätig; außer Kammermusik und Liedern gibt es Orchester-, Chor- und Klavierwerke in seinem Gesamtwerk. Für die Bühne komponierte er das Musikdrama Feuer sowie die Opern Jelka, Oganj (Der Eisenhammer) und Der Schuster von Delft nach Hans Christian Andersen.

Die Doppel-CD mit dem Bassbariton Kresimir Strazanac und dem Pianisten Kresimir Starcevic ist eine ausgesprochen positive Überraschung. Denn die insgesamt 24 Lieder zeugen von großem Melodienreichtum und feinem Nachzeichnen der weitgehend  lyrischen Texte. Aber auch die hochdramatische Stimmung in Herders Ballade Edward, die den Vergleich mit der bekannten Brahms–Vertonung nicht zu scheuen braucht, erfährt eine beeindruckende Wiedergabe. Und damit sind wir bei den beiden kroatischen Interpreten, die bestens aufeinander abgestimmt sind. Besonders aber imponiert die geradezu vollendete Gestaltung durch den Sänger, der auch wegen der tadellosen Diktion und Intonationsreinheit für den Konzert- und Liedgesang wie geschaffen erscheint. CD 1 enthält neben der schon genannten Ballade Vertonungen von vier Heine-Gedichten, bei denen Schubertscher Einfluss unüberhörbar ist. In weiteren, deutsch gesungenen lyrischen Liedern nach Gedichten von Lermontow, Henrik Ibsen und Wilhelm Müller erfreut die technisch fundierte, bruchlose Führung des klaren, klanglich angenehm wirkenden Baritons durch alle Lagen. Auf CD 2 erklingen überwiegend Lieder, die durch kroatische Folklore beeinflusst sind. Hier und in der die CD abschließenden, auf italienisch gesungenen Goethe-Ballade Der König in Thule erweisen sich erneut die Vorzüge des Sängers, dem gemeinsam mit dem durchweg partnerschaftlich mitgestaltenden Pianisten jeweils überzeugende Liedinterpretationen gelingen (hänssler CLASSIC HC23010, 2 CD).

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Nikolai Medtner und seine Frau/Zoo

Nun hat Brilliant Classics mit Volume 5 die Ausgabe sämtlicher Lieder von Nikolai Medtner (1880-1951) abgeschlossen. Wieder sind die in Taschkent geborene Mezzosopranistin Ekaterina Levental aus den Niederlanden und der Piano-Professor Frank Peters aus Amsterdam am Werk, die die gefühlvollen, spätromantischen Lieder des hierzulande wenig bekannten russischen Pianisten und Komponisten ausdeuten. Neben über 100 Liedern ist dieser in erster Linie mit Kompositionen für Klavier hervorgetreten, was sich auch in den Liedern niedergeschlagen hat. Der Titel der CD Geweihter Platz geht auf ein Goethe-Gedicht zurück, dessen Vertonung mit einer langen Vokalise verbunden ist. In der Reihe Sieben Gedichte op.46 geht es um Gedichte von Goethe, Eichendorff und Chamisso. Außerdem interpretieren die Künstler fünf Lieder nach Friedrich Nietzsche und in op. 61 acht Lieder nach Gedichten von Eichendorff sowie – im russischen Original gesungen – Pushkin, Lermontov und Tyutchev; den Ausklang bildet Wie kommt es? von Hermann Hesse.

Insgesamt wirkt sich stets die Vorliebe Medtners für das Klavier aus, weil bei fast allen Liedern es deutlich im Vordergrund steht, so dass die Sängerin es nicht immer leicht hat, verständlich zu sein, was teilweise auch an ihrem nicht durchweg überzeugenden Umgang mit der deutschen Sprache liegen mag. Besonders in der Vokalise im Zusammenhang mit Goethes Geweihter Platz fällt dagegen die gute Führung ihres kräftigen Soprans durch alle Lagen positiv auf. Im Übrigen spüren die Künstler den Stimmungen in den Gedichten sorgfältig nach und erfassen so ihre jeweiligen unterschiedlichen Inhalte. Allerdings singt die Mezzosopranistin mit Ausnahme weniger klarer Spitzentöne mit recht starkem Vibrato, wodurch leider manche Unruhe entsteht. Jedenfalls ist es sehr verdienstvoll, dass die doch weitgehend unbekannten Lieder Medtners mit der Gesamtedition festgehalten sind (Brilliant Classics 98072).  Gerhard Eckels

Clémence de Grandvals „Mazeppa“

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Kaum jemand hat vor dem verdienstvollen Konzert des Münchner Rundfunk Orchesters am 19. Januar 2025 je etwas von der Komponistin Clémence de Grandval (* 21. Januar in Saint-Rémy-des-Monts – † 15. Januar 1907 in Paris) gehört, deren Oper Mazeppa nun zum ersten Mal in moderner Zeit (auch in der daraus resultierenden Aufnahme des Palazzetto Bru Zane) erklang. Aber man stutzt als Opernkenner sofort, denn Mazeppa? Mazeppa? Ist der nicht von Tschaikowsky/Puschkin, von 1884/Moskau? Dieser hier nicht, und zudem von 1892/Grandmoguin & Hartmann nach Puschkin/Paris. Wie dicht aufeinander – haben sie sich gekannt? Sie hat sicher von ihm gehört, war er doch auch in Paris gewesen und war sicher als Komponist dort bekannt. Gibt es Quellen dazu? Puschkin zumindest war die Inspiration für Grandval. Wie bekannt waren russische Komponisten in Frankreich damals überhaupt? Paris war ja stets ein Sehnsuchtsort des Ostens gewesen.

Der griechische Bariton Tassis Christoyannis singt den Mazeppa in Clémence de Grandvals Oper/Palazzetto

Der Palazzetto schreibt zu dieser Oper: Wie andere bedeutende Persönlichkeiten ihrer Zeit – wie ihr Lehrer Camille Saint-Saëns, der für die Aufführung von Étienne Marcel im Februar 1879 auf das Grand-Théâtre in Lyon zurückgreifen musste – wählte Clémence de Grandval Bordeaux für ihre Oper Mazeppa eher aus Zwang als aus Begeisterung für die musikalische Dezentralisierung. Die Pariser Oper, die noch intensiv Werke aus den Jahren 1830-1850 auf den Spielplan setzte, ließ damals wenig Raum für Neues. Nachdem Grandval das Präludium seiner Oper 1888 in Paris konzertant aufgeführt hatte, wartete er vier Jahre auf die erste Aufführung, die der Direktor von Bordeaux – Tancrède Gravière – zu einem nationalen Ereignis machte. Die Rolle der Matréna vertraute er seiner Frau Georgette Bréjan (-Silver) an. Das von Charles Grandmougin und Georges Hartmann verfasste Libretto basiert auf Puschkins düsterer Legende des ukrainischen Helden, die in Westeuropa von Lord Byron und Victor Hugo populär gemacht wurde. Diese Figur bietet den Librettisten vor allem die Gelegenheit, das Thema des Verrats umfassend zu behandeln: Liebe und kindliche Pflicht werden durch Ehrgeiz und Eifersucht auf die Probe gestellt. Die Überschreitung traditioneller Werte führt zu Wahnsinn und Tod. Die Oper wurde von den in Bordeaux anwesenden Journalisten gut aufgenommen – die Mazeppa in die Reihe der Produktionen Massenets stellten – und setzte ihre Karriere an anderen Theatern fort: Antwerpen (1896), Marseille (1897), Montpellier (1904) und Dijon (1905). Wie so oft bei Komponistinnen hielt ihre Verbreitung nach dem Tod der Autorin im Januar 1907 jedoch nicht mehr an.

Man erinnert dann die Dichtung von Lord Byron, dem umtriebigen englischen Tausendsassa, der sich in den griechischen Befreiungskriegen gegen die Osmanen einen Namen gemacht hatte. Der historische Mazeppa war zudem – wie aktuell heute – ein ukrainischer Edelmann und späterer, legendärer Nationalheld. Und prangt dort auf Geldscheinen und Münzen.

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Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Maurice de Vries war der erste Titelsänger/courtesy Charles Mintzer/Rudi van den Bulck Archive

Die Radioübertragung des Konzertes am 19. Januar (2025) erfüllte jede Erwartung und mehr. So sensationell habe ich eine (in diesem Falle große französische) Oper kaum je gehört, und das sage ich nach einem langen Opernerleben. Nicole Carr übertraf sich in der weiblichen Hauptrolle der Matréna um vieles, was ich von ihr kenne: solche leuchtenden Spitzennoten und dazu eine dramatische Kraft, unglaublich. Julien Dran war der umwerfende Tenor Iskra mit unglaublicher Höhe und schönem Ton – das ist eine französische Tenorstimme von schon heldischem Format. Dazu dann Tassis Christoyannis in Bestform als Mazeppa, leidend, empfindsam, auftrumpfend, sonor, sensationell. Und auch die Übrigen (Ante Jerkunica, Paweł Trojak) sowie Chor des Bayerischen Rundfunks (Stellario Fagone) und das Rundfunk Orchester unter Mihhail Gerts schufen ein Tongemälde von enormer Kraft, ohne die vielen, auch  gelegentlich russisch anmutenden lyrische Teile (wie zu Beginn des 3. Aktes) zu vernachlässigen (Tschaikowsky grüßte doch, dazu manche Assoziationen an Zeitgenössisches). Es war ein spannender Abend, der mich drei Stunden am Lautsprecher hielt.

Dazu kam (und kommt) der absolut fabelhafte Service des Bayerischen Rundfunks, online das zweisprachige Libretto (runterladen und aufheben, denn die deutsche Übersetzung von Maria Kohler wurde eigens für dies Konzert erstellt und findet sich im englisch-französischen Palazetto-Buch dann nicht mehr) und das komplette Programmheft zur Verfügung zu stellen (und wie das Konzert für einen Monat als Podcast!). Das ist beispielhaft!

Als Einführung zu dieser ungewöhnlichen Geschichte um Liebe und Rache in der Oper von Clémence de Grandval und zu jenem historischen Mazeppa äußern sich Florian Heurich sowie Natalia Mykhaylychenko zu Byron und Osteuropa, beide mit Dank nachstehend. G. H.

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Die Komponistin Clémence de Grandval/ resmusica

„Eine Prvilegierte des Himmels“: Clémence de Grandval und ihre Oper Mazeppa: „Sie wären sicherlich berühmt, wäre die Autorin nicht eine Frau, was für viele Menschen ein unabänderlicher Fehler ist“, schrieb Camille Saint-Saëns einst über die Lieder von Clémence de Grandval, die als Komponistin, Pianistin und Sängerin eine der vielseitigsten, produktivsten und auch angesehensten Persönlichkeiten des französischen Musiklebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war und dennoch bei der Nachwelt in Vergessenheit geriet. Zu einer Zeit, als das Komponieren, genauso wie Literatur, bildende Kunst und Politik, noch weitgehend eine Männerdomäne war, und komponierende oder musizierende Frauen vor allem als „Amateurinnen“ angesehen wurden, die Werke für den Hausgebrauch oder den semiprivaten Rahmen des Salons schufen, konnte sich Grandval als eigenständige Künstlerin behaupten. Ihr umfangreiches Œuvre umfasst kleine wie große Gattungen, von Kammermusik und Klavierliedern über Messen und sonstige geistliche und oratorische Werke bis hin zu groß besetzten symphonischen Arbeiten und mehreren Opern für verschiedene Pariser Konzertsäle und Theater.

Aber auch die aus adeligem Haus stammende und mit einem wohlhabenden Musikliebhaber verheiratete Grandval musste aufgrund ihrer gut situierten Lebensumstände gegen das Vorurteil einer Komponistin aus Liebhaberei ankämpfen. So schrieb der einflussreiche Musikkritiker und Biograph François-Joseph Fétis in seiner Biographie universelle des musiciens: „Obwohl Madame de Grandval wegen ihrer gehobenen Situation und ihres Vermögens nur als Amateurin angesehen werden kann, ist sie dennoch mit überaus bemerkenswerten Fähigkeiten und einer seltenen Schaffenskraft begabt, besonders für eine Frau, sodass man ihr ohne Gefälligkeit den Titel einer Künstlerin verleihen kann.“ Weniger gönnerhaft äußerte sich Saint-Saëns, der einer von Grandvals Lehrern war und den eine von gegenseitiger Wertschätzung geprägte Freundschaft mit ihr verband: „Es soll mir erlaubt sein zu bemerken, dass mit allen Werken Berlioz’ und Grandvals das französische Repertoire sich nicht zu verstecken braucht.“ Bei mehreren Gelegenheiten stellte Saint-Saëns seine einstige Schülerin und Freundin in eine Reihe mit Gounod, Massenet, Bizet, Delibes und weiteren bedeutenden Komponisten der Zeit.

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„Mazeppa & Theresa“, Postkarte, Illustration zu „The Poems of Lord Byron“, England 1908 Dover Press

Clémence de Grandval wurde am 21. Januar 1828 als Marie-Félicie-Clémence de Reiset auf Schloss Cour du Bois, dem Besitz der Familie Reiset, in Saint-Rémy-des-Monts im nordfranzösischen Département Sarthe geboren. Ihr Vater war ein hochrangiger Militär, ihre Mutter betätigte sich als Schriftstellerin. Früh zeichnete sich eine musikalische Begabung ab, und bereits ab dem Alter von sechs Jahren erhielt Clémence im privaten Rahmen eine fundierte Ausbildung in Gesang, Klavierspiel und später auch in Komposition. Chopin gab ihr Klavierstunden, ihr erster Kompositionslehrer war Friedrich von Flotow, ein Freund der Familie, bei dem sie ab 1842 Unterricht nahm. Mit 21 Jahren trat sie noch unter ihrem Mädchennamen Mademoiselle de Reiset erstmals öffentlich als Komponistin und Interpretin in Erscheinung. Bei einer Salonmatinee führte sie ein von ihr verfasstes Klaviertrio auf und sang einige eigene Lieder, worauf in der Revue et Gazette musicale de Paris zu lesen war, „dass eine Virtuosin mit dieser Stärke wie eine Privilegierte des Himmels erscheint“.

1851 heiratete sie den 15 Jahre älteren Charles-Grégoire Vicomte de Grandval, mit dem sie zwei Töchter hatte; eine starb bereits früh. Die Ehe hinderte sie allerdings nicht daran, weiterhin ihrer musikalischen Berufung zu folgen. Im Gegenteil, nun begann sie auf professioneller Ebene bei Camille Saint-Saëns Komposition zu studieren. Ihr Mann unterstützte ihr Talent und übernahm später sogar die Rolle eines Sekretärs, der mit Impresarios korrespondierte und Zeitungskritiken sammelte. Nach seinem Tod schrieb Clémence an ihre Freundin Pauline Viardot, Komponistin, Sängerin, Pianistin und Salondame wie sie: „Der Freund, den ich verloren habe, war mir so treu ergeben, wie es von nun an niemand mehr sein wird.“

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„Mazeppa“ von Eugène Delacroix, 1824/Wikipedia

Nach vielen Kammermusik- und Salonstücken schrieb Clémence de Grandval in den 1860er Jahren ihre ersten Bühnenwerke, zunächst jedoch noch unter Pseudonymen wie Caroline Blangy, Clémence Valgrand, Maria Felicita de Reiset oder Maria de Reiset Tesier. Für Frauen ihres Standes war das Komponieren für einen kleinen, elitären Kreis zwar durchaus akzeptiert, die Arbeit fürs Theater hatte hingegen immer einen fragwürdigen Beigeschmack, zumal Grandvals erste Bühnenstücke dem leichten Genre wie Operette, Vaudeville oder Opéra comique angehörten: Le sou de Lise wurde 1860 an den Bouffes-Parisiens uraufgeführt und Les fiancés de Rosa 1863 am Théâtre-Lyrique. Mit La Comtesse Eva, uraufgeführt 1864 in Baden-Baden, trat sie erstmals unter ihrem richtigen Namen als Opernkomponistin an die Öffentlichkeit. Es folgten noch La pénitente (Opéra-Comique, 1868), Piccolino (Théâtre-Italien, 1869) und wesentlich später Mazeppa, ihre umfangreichste Oper, die 1892 am Grand Théâtre de Bordeaux Premiere hatte. Nach vielen Jahren, in denen sich die Komponistin vor allem mit geistlicher und symphonischer Musik beschäftigt hatte, sprechen aus dieser Oper nun eine künstlerische Reife, eine emotionale Tiefe und eine Ernsthaftigkeit in Sujet und musikalischer Ausformulierung, die sie von den früheren Bühnenwerken abheben.

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Zu Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Illustration zum 4. Akt der Uraufführung/L’Univers illustré, 7 mai 1892/Wikipedia

Da sie selbst Sängerin war, lag Grandval die menschliche Stimme besonders am Herzen. Dies schlug sich nicht nur in ihren Opern und Liedern nieder, sondern auch in einer Reihe von geistlichen Werken mit Gesang, von denen das erfolgreichste ein Stabat mater (1870) war, sowie in den Oratorien Sainte Agnès (1876) und La fille de Jaïre (1880) oder dem Poème lyrique La forêt für Soli, Chor und Orchester (1874). Darüber hinaus schrieb sie ein Oboenkonzert (1878), das oft von dem berühmten Solisten und Musikpädagogen Georges Gillet aufgeführt wurde und ein beliebtes Prüfungsstück des Pariser Konservatoriums war.

Die Komponistin war mehr und mehr zu einer bestens etablierten Größe des Pariser Musiklebens geworden, ihre Werke wurden in vielen Kirchen und Konzertsälen dargeboten, für La fille de Jaïre erhielt sie den von der Académie des Beaux-Arts verliehenen Prix Rossini, und eine neue Konzertreihe mit dem Titel L’art moderne widmete Grandval 1878 das Eröffnungskonzert. Sie spielte eine wichtige Rolle in der gerade gegründeten Société nationale de musique, wo sich die Avantgarde der französischen Musik traf, und bei deren Konzerten in der Salle Pleyel. Zudem kam in ihrem Salon alles zusammen, was Rang und Namen hatte: Daniel-François-Esprit Auber, Ambroise Thomas, Charles Gounod, Georges Bizet, Pauline Viardot, Giacomo Meyerbeer und viele weitere Musiker, Literaten, Künstler und Persönlichkeiten der Gesellschaft.

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„Mazeppa in the Romantic Arts“ von Albert Brussee bei AB Music Productions & Editions ist eine spannende Abhandlung zum Thema (Amazon und andere)

1886 war der Tod ihres Mannes, der während der Ehe meist hinter seine komponierende Frau zurückgetreten war und im Hintergrund vieles organisiert hatte, ein schwerer Schlag für Clémence de Grandval. Dennoch ging sie auch danach weiterhin ihrer Berufung nach, die schon längst zu einem den Lebensunterhalt sichernden Beruf geworden war. Mit Mazeppa schuf sie einen letzten Höhepunkt in ihrem Gesamtwerk. Bereits die Uraufführung in Bordeaux fand großen Anklang, und eine weitere Aufführung zwei Jahre später in der Pariser Salle Pleyel in einer Fassung mit Klavierbegleitung, bei der Grandval selbst den Klavierpart übernahm, wurde in der Presse als Ereignis gefeiert: „Mme de Grandval hat es verstanden, persönlich zu bleiben, ohne irgendetwas von der jungen Schule mit ihren Übertreibungen zu übernehmen und ohne alte Traditionen und einen aus der Mode gekommenen Stil, mit dem sich der moderne Geschmack nicht vertragen würde, zu bewahren. […] Die Gesetze der Tonalität werden beachtet, und die Melodien heben sich mit Regelmäßigkeit, perfekter Symmetrie und großer Intensität ab.“ Nach diesem letzten großen Bühnenwerk war die Künstlerin zwar nach wie vor präsent im französischen Musikleben, schränkte ihre Konzertauftritte jedoch mehr und mehr ein und komponierte immer weniger. Sie starb am 15. Januar 1907 in Paris.

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Mit der fünfaktigen Oper Mazeppa auf ein Libretto von Charles Grandmougin und Georges Hartmann schuf Grandval ein groß dimensioniertes Bühnenwerk, dessen Musiksprache dem Stil des späten 19. Jahrhunderts voll und ganz entspricht – mit längeren, durchkomponierten Szenenkomplexen, aus denen sich solistische Passagen im Sinne von Arien, Duetten oder Terzetten herausschälen. Die Wahl eines osteuropäischen Sujets, nämlich die Geschichte des ukrainischen Kosakenhauptmanns Mazeppa, die bereits Tschaikowsky zu einer Oper inspiriert hatte, erscheint ungewöhnlich für die französische Musik. Zwar unterscheidet sich die Handlung wesentlich von Tschaikowskys Oper, das Libretto basiert aber auf denselben Vorlagen, etwa auf dem Gedicht Poltawa von Alexander Puschkin, in dem die historischen Begebenheiten um den im 17. Jahrhundert lebenden Iwan Mazeppa als Legende geschildert werden. Möglicherweise war Grandval durch Achille de Lauzières – Librettist ihrer Oper Piccolino, der bereits einen Mazeppa-Text verfasst hatte – auf dieses Sujet gestoßen.

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Zu Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Le Monde illustré, 23 avril 1892. Illustration reprise dans La Gironde illustrée (24 avril 1892) et dans le journal italien Il teatro illustrato/BNF/Gallica

In ihrer Musik greift Grandval das Nebeneinander einer historisch-politischen Handlung und einer Liebesgeschichte auf, mit effektvollen Ensembles und Massenszenen einerseits und intimen lyrischen Momenten andererseits. Die heroischen Taten des vom Volk gefeierten Mazeppa, der jedoch allmählich die Seiten wechselt, stehen neben der privaten Liebesbeziehung zwischen ihm und Matréna, wobei diese Verbindung schließlich zu einem Abhängigkeits-Verhältnis wird und im Wahnsinn Matrénas und der Verdammnis Mazeppas endet. Besonders wirkungsvoll sind das Finale des I. Akts, wenn Mazeppa dazu auserwählt wird, die Ukrainer zum Sieg zu führen, und vor allem das Finale des IV. Akts. Beginnend mit der Ankunft der gefangenen Ukrainer, unter denen sich auch der alte Kotchoubey, Matrénas Vater, befindet, entwickelt sich diese Szene in einer dramatischen Steigerung bis zum Fall und der Verfluchung des mittlerweile zum Verräter gewordenen Mazeppa.

„Mazeppa“: Die notorische amerikanischen Schauspielerin Ada Menken trat in England und Amerika als Mazeppa in einer Bühnenversion des Byron-Gedichtes mit großem Erfolg auf, hier das Poster zu eine Vorstellung im Londoner Adelphy 1886. Zu ihrem amerikanischen Wirken hiess es: „Her role in the melodrama Mazeppa (based on Lord Byron’s poem) which opened in 1861 in Albany, NY, created a sensation. Dressed in a flesh-colored body stocking which gave the illusion that she was nude, she appeared strapped to a horse which “galloped” down a ramp towards the audience.“/newyorkalmanack.com

Lyrisches Herzstück der Oper ist der III. Akt, der mit einer Arie der Titelfigur beginnt und zu einem ausgedehnten Duett mit Matréna wird. Auch in Matrénas Szene im II. Akt und im sich anschließenden Duett mit Iskra zeigt sich Grandval als eine Komponistin, die der Gesangsstimme dankbare Entfaltungsmöglichkeiten gibt. In den reinen Orchestersätzen wie dem Prélude, das Mazeppas wilden Ritt durch die Steppe schildert, dem Entracte zu Beginn des III. und dem Divertissement im IV. Akt, also der Ballettmusik mit ihren Anklängen an die osteuropäische Folklore, schreibt Grandval eine suggestive, farbenreiche und die Szenerie illustrierende Musik mit dezentem Lokalkolorit. Zudem werden die Hauptfiguren von Beginn an durch kurze, fast leitmotivische Themen charakterisiert, die immer wieder auftauchen. Die Oper endet in einer Art Wahnsinnsszene, in der Grandvals Gespür für Theatralik und musikdramatischen Effekt bestens zum Ausdruck kommt.

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In der Presse wurde der Wunsch laut, dass Mazeppa auch an der Pariser Opéra gespielt werden sollte, jedoch blieben Grandvals Versuche, ihr Werk an die führende Bühne der französischen Metropole zu bringen, erfolglos. Es wurde in den Jahren darauf noch in Antwerpen (1896), Marseille (1897), Montpellier (1904) und Dijon (1905) gezeigt, mit dem Tod Grandvals 1907 verschwand es jedoch von den Spielplänen. Aber auch wenn die Nachwirkung dieser Oper ausblieb, so ist sie doch das eindrucksvolle Hauptwerk einer vergessenen Komponistin des 19. Jahrhunderts, die sich neben Musikerinnen wie Louise Farrenc, Louise Bertin, Pauline Viardot oder Cécile Chaminade ihren Platz in einer Männerdomäne erkämpft hatte. Florian Heurich

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Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur und lebt in München. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, den MDR und andere ARD-Anstalten über Themen in den Bereichen Oper, Literatur, Neue Musik und Weltmusik. Er schreibt für die Publikationen der Staatstheater Stuttgart und produziert Videoformate für die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Osterfestspiele.

Legende und Wirklichkeit:  Iwan Mazeppa, ein Feldherr zwischen den Fronten. „Er rast, er fliegt, er fällt und steht als König wieder auf!“ Dies sind die letzten Worte in einem Gedicht von Victor Hugo, in dem er die Legende von Mazeppa schildert: Als Strafe für ein illegitimes Verhältnis mit einer Adligen wurde er nackt, Rücken an Rücken auf sein Pferd gebunden, das nun durch die Steppe galoppiert. Nach einigen Tagen stirbt das Tier, und auch Mazeppa ist dem Tode nah, als er von Kosaken aufgefunden wird, die ihn mit in die Ukraine nehmen und zu ihrem Anführer im Kampf gegen die Russen machen. Auch Lord Byron und Alexander Puschkin greifen diese Legende auf.

Aber wer war Mazeppa wirklich? Iwan Mazeppa wurde 1639 in der Ukraine geboren, war Page am polnischen Hof und stieg später zum Hetman (hochrangiger Feldherr) der Kosaken auf. Als Verbündeter des Zaren Peter I. kämpfte er zunächst für Russland, wechselte dann aber die Seiten und verbündete sich mit dem schwedischen König Karl XII., der versprach, die Ukraine zu beschützen. Mazeppa selbst beteuerte, dass seine Loyalität immer ausschließlich dem Kosakenheer und der ukrainischen Nation gelte, keinem König oder Zaren. Im Großen Nordischen Krieg zog er für Schweden in die Schlacht von Poltawa (Ukraine), verließ nach der Niederlage jedoch das Land, floh in Richtung Osmanisches Reich und starb 1709 im heutigen Transnistrien in Moldawien.

In der russischen Geschichtsschreibung gilt Mazeppa als negative Figur; Zar Peter I. ließ sein Bild am Galgen aufhängen, und die Russisch-orthodoxe Kirche belegte ihn mit dem Kirchenbann. In der Ukraine hingegen verehrt man ihn als Nationalhelden. So ist er etwa auf dem Zehn-Griwna-Schein abgebildet und wird von der Orthodoxen Kirche der Ukraine verehrt. Florian Heurich

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Jean-Pierre Norblin de la Gourdaine Mazeppa, 1775/ collections.artsmia.org

Zum Inhalt: In der Ukraine um 1700, mitten im Kosakenkrieg. 1.  Akt:  In der Steppe. 1. Szene. Im frühen Morgenrot liegt Mazeppa, ein polnischer Edelmann, ohnmächtig auf der Erde. Zu sich kommend, beklagt er sein schweres Los. Von weither sind Stimmen zu vernehmen, die Mazeppa aufgrund seiner Ermattung aber für Illusion hält. 2. Szene.  Matréna, die Tochter des Fürsten Kotchoubey, hat Mazeppas Hilfeschrei gehört und eilt herbei. Geblendet von ihrer Schönheit, fragt Mazeppa, wohin er sich verirrt habe. 3. Szene. Das Volk der Kosaken jubelt Kotchoubey, seinem Fürsten, zu. Dieser heißt Mazeppa willkommen und erkundigt sich nach seiner Herkunft und seinen Erlebnissen: Mazeppa, einst Page am polnischen Hof, ließ sich auf eine illegitime Liaison ein und zog dadurch die Eifersucht eines Nebenbuhlers auf sich. In dessen Machenschaften verstrickt, wurde er entführt und auf ein Pferd gebunden in die Steppe hinausgejagt. Kotchoubey lädt Mazeppa ein, sich dem ukrainischen Heer anzuschließen und gegen seine einstigen Landsmänner für die Freiheit der Ukraine zu kämpfen. 4. Szene.  Kotchoubey wird mit großer Zustimmung zum ukrainischen Anführer erkoren, doch er dankt Mazeppa zuliebe ab. Erbittert setzt sich Iskra dagegen zur Wehr. Seine Worte entfachen einen heftigen Zwist, den Kotchoubey aber zu beschwichtigen vermag. Unter allgemeinem Jubel, in den nun auch Matréna einstimmt, wird Mazeppa zum Feldherrn gekürt. Neidgetrieben gelobt Iskra Rache.

„Masepa und Karl XII. nach der Schlacht von Poltawa“ (Gustaf Cederström)/Wikipedia

2. Akt. 1. Bild. Im Haus von Kotchoubey. 1. Szene.Matréna ist von Mädchen umringt. Sie stimmen ein Gebet zur Jungfrau Maria an. Matréna bittet um die Rückkehr Mazeppas, der das ukrainische Heer in den Krieg geführt hat. 2. Szene.  Kotchoubey kommt hinzu und preist die Tapferkeit Mazeppas, der selbst den Tod nicht scheut. Sein heldenhaftes Opfer werde den ruhmreichen Sieg krönen. Matréna zuckt zusammen. Beschwichtigend weissagt Kotchoubey die glückliche Rückkehr Mazeppas. 3. Szene. Nachdem Kotchoubey sich entfernt hat, gesteht sich Matréna ihre Liebe zu Mazeppa ein. Verzückt wünscht sie ihn herbei. 4. Szene. Iskra, der sie unbemerkt beobachtet hat, ergeht sich in Liebesbeteuerungen. Kühl antwortet Matréna ihm, sie würden nie zusammenkommen – ihre Zuneigung ihm gegenüber sei die einer Schwester. Von Eifersucht durchdrungen, behauptet er, Mazeppa sei tot. Aus Verzweiflung bekennt sie gegenüber Iskra schließlich ihre Liebe zu Mazeppa. Von draußen ertönen Jubelrufe: „Es lebe Mazeppa.“

2. Akt. Platz in Poltawa. 1. Szene.  Volk und Heer bejubeln Mazeppa. Er wendet sich an Matréna: Ihr Bild habe ihm zum Sieg verholfen. Die Schar begibt sich zur Kirche. 2. Szene.  In finsteres Grübeln versunken, trauert Iskra seiner Liebe zu Matréna nach. Gegenüber Kotchoubey verdächtigt er Mazeppa des Verrats. Kotchoubey erliegt den Ränken Iskras, während aus der Kirche heraus das Volk noch dem neuen Anführer seine Ehre erweist. 3. Szene. Als das Volk aus der Kirche tritt, wirft Iskra Mazeppa Verrat vor. Mazeppa wiederum erinnert die wutentbrannte Menge an den Sieg, den er als Feldherr erkämpfte. Mit dem Volk nunmehr auf seiner Seite droht er Iskra, er werde sich für die Revolte rächen. Matréna erfleht Mazeppa zu Füßen Gnade für Iskra. Das Volk bricht abermals in Jubelrufe aus. Nur einer lässt sich nicht davon mitreißen: Kotchoubey.

Titelblatt zur Mazurka aus Themen der Oper „Mazeppa“ von Clémence de Grandval, Pauline Viardot gewidmet/Palazzetto Bru Zane

3. Akt. Kotchoubeys Garten. 1. Szene. Im Mondlicht wartet Mazeppa auf seine Geliebte. Von seinen Gefühlen beflügelt, gibt er der Furcht vor Iskra keinen Raum. 2. Szene.  Matréna erscheint und schwört Mazeppa ewige Liebe. Als das Paar beschließt zu fliehen, überkommt Matréna die Erinnerung an ihren Vater. Sie vernehmen Schritte und verbergen sich in einer Hütte. 3. SzeneKotchoubey befiehlt Iskra, den Zaren von Mazeppas Verrat – nämlich einem Bündnis mit den Schweden – zu unterrichten. Matréna hört im Verborgenen alles und bleibt dennoch unbeirrt in ihrem Vertrauen auf Mazeppas Unschuld. 4. Szene.  Nachdem Kotchoubey und Iskra sich entfernt haben, nötigt Mazeppa seiner Geliebten den Schwur zum Gehorsam ab.

4. Akt.  Im Palast von Baturyn. 1. Szene.  Im prunkvollen Palast von Baturyn wird reichlich getafelt. Mazeppa und seine Krieger stoßen auf das Volk und die Liebe an. Den Feierlichkeiten wohnt auch Matréna bei, die inmitten anderer Mädchen in Festtagskleidung erscheint. Sie besingt das Vaterland und die Liebe. Doch immer wieder beschleicht Wehmut ihr Lied. Ungeduldig heißt Mazeppa die Musikanten, einen beschwingten Tanz anzustimmen. Noch ehe dieser verklingt, ertönt von Weitem Trauermusik. Ungeachtet der bangen Fragen Matrénas gebietet Mazeppa der Kapelle weiterzuspielen. Im Hintergrund ist nun der Trauerzug zu sehen. Der zum Tode Verurteilte ist Kotchoubey. 2. Szene. Verzweifelt erfleht Matréna von Mazeppa Gnade für ihren Vater. Doch Kotchoubey weist seine Tochter grimmig ab und verflucht sie. Als der Trauerzug im Begriff ist, sich zu entfernen, stürmt Iskra mit seiner Eskorte herbei. Er tut das Urteil des Zaren kund: Mazeppa sei ein Verräter. Auf dessen nachdrückliche Anweisung, Iskra festzunehmen, reagieren die Wachen nicht. Der den Trauerzug anführende Archimandrit enthebt in seiner Funktion als Herold des Zaren Mazeppa seiner Stellung. Matréna fleht ihren Vater um Vergebung an. Unerbittlich verwünscht er sie samt Mazeppa. Iskra und das Volk stimmen in den Fluch ein.

5. Akt. In der Steppe. Mazeppa denkt an seine Abenteuer zurück und wünscht sich den Tod. Aus der Ferne ist Matrénas Stimme zu vernehmen. Vollkommen in sich gekehrt, erkennt sie ihn nicht. Mazeppa offenbart sich ihr und bittet um Vergebung, die sie ihm schroff versagt. Entseelt sinkt sie zu Boden. Mazeppa stürzt auf ihre Leiche. (Programmheft zum Konzert)

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„Mazeppa“: Lord Byron in albanischem Kostüm/ Ölbild von Thomas Philips, ca. 1835/Wikipedia

Dazu ein Einblick in die Geschichte Osteuropas durch Lord Byrons Gedicht Mazeppa: Im Jahr 1819 schrieb der bekannte englische Dichter der Romantik, Lord George Byron (1788-1824), ein erzählendes Gedicht über eine ukrainische historische Figur, Ivan Mazepa (1639-1709), die den Westeuropäern zu dieser Zeit kaum bekannt war. Im Laufe des 19. Jahrhunderts inspirierte Byrons Gedicht Mazeppa, von dem die Fisher-Bibliothek Toronto die erste Ausgabe besitzt, viele andere Künstler dazu, literarische, visuelle und musikalische Meisterwerke über ihn zu schaffen.

Ivan Mazepa (dies ist eine gebräuchlichere Schreibweise seines Namens im Gegensatz zu Mazeppa) war ein militärischer und politischer Anführer oder Hetman, der ukrainischen Kosaken-Hetmanate, einem autonomen Staat innerhalb Russlands zu dieser Zeit. Er war ein Adliger, ein geschickter und hochgebildeter Diplomat, polyglott, Förderer der Künste und Fürst des Heiligen Römischen Reiches. Mazepa ist für seine Rolle in der Schlacht von Poltawa im Jahr 1709 während des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) bekannt, als seine Kosakentruppen sich im Rahmen eines geheimen Austauschs für die Unterstützung der ukrainischen Unabhängigkeit durch Schweden auf die Seite der schwedischen Armee von König Karl XII. gegen Russland stellten. Die Schlacht und später der Krieg führten zum Sieg Russlands, wodurch das Land zu einem mächtigen Staat wurde und der Lauf der Geschichte in Osteuropa verändert wurde.

Lord Byrons Gedicht basiert auf einer legendären Episode aus Mazepas früherem Leben in Polen, wo er als Page am Hofe von Johann II. Kasimir Wasa diente. Der junge Mann verliebte sich in die Frau eines Grafen, und als ihr Ehemann von der Affäre erfuhr, ließ er Mazepa nackt an ein wildes Pferd binden und dieses loslassen. (Die Szene ist in einem Gemälde, Mazeppa, von Théodore Géricault dargestellt, siehe unten.) Das Pferd ritt ostwärts und brachte ihn zurück in den Kosakenstaat, wo Mazepa später Hetman wurde.

Iwan Masepa/russ./Wikiwand

Wie die meisten romantischen Gedichte konzentriert sich Mazeppa auf die emotionale Erfahrung und die innere Welt des Helden, die durch die Darstellung der Landschaften, die der junge Mann durchquert, anschaulich zum Ausdruck gebracht werden. Die tiefe Symbolik des Werkes trägt dazu bei, das Bild Mazepas zu enthüllen. Die lange und strapaziöse Reise auf dem Rücken des Pferdes durch die Wildnis der ukrainischen Steppen, Wälder und reißenden Flüsse ist eine farbenfrohe Metapher für Mazepas entschlossene und leidenschaftliche Natur. Wie in seinem wirklichen Leben musste Mazepa Hindernisse und Gefahren überwinden, die durch die Wölfe und Krähen verkörpert werden, denen er begegnete. Das ausdauernde Wildpferd, das den jungen Mann in seine Heimat trägt, spielt auf das Streben nach Freiheit an:

Away, away, my steed and I, /Upon the pinions of the wind, /All human dwellings left behind; /We sped like meteors through the sky, /When with its cracking sound the night/Is chequer’d with the northern light.

In der romantischen Literatur ist das Pferd ein Symbol für Glück und Schicksal. Die Darstellung des wilden Pferdes, das Mazepa durch Wälder und Steppen von Polen in die Ukraine trägt, veranschaulicht die Beharrlichkeit auf dem schwierigen Weg zwischen Leben und Tod.

„Mazeppa“ als Film: „Mazeppa, or the Wild Horse of Tartary „(1910)/ Selig Polyscope Company; 1919 findet sich zudem ein deutscher Film von Helmut Berger/B Z Film GmbH: „Mazeppa, Volksheld der Ukraine“, wie auf dem Poster für das Berliner Marmorhaus angezeigt.

Byron schrieb sein Gedicht Mazeppa während einer Reise durch Italien, das sich mitten in der Befreiungsbewegung gegen Österreich befand. Als begeisterter Anhänger des Unabhängigkeits-Kampfes europäischer Nationen, insbesondere Italiens und Griechenlands, könnte der Dichter aus diesem Grund motiviert worden sein, über den Anführer des Kosakenstaates zu schreiben, der ebenfalls darum kämpfte, sich von der kaiserlichen Herrschaft zu befreien. Lord Byron war nicht der einzige Künstler, dessen Fantasie vom außergewöhnlichen Schicksal Iwan Masepas gefesselt wurde.

Tatsächlich wurde Byron selbst dazu inspiriert, sein Gedicht über den dramatischen Vorfall aus dem Leben des jungen Hetmans zu schreiben, nachdem er in Voltaires Geschichte Karls XII., König von Schweden (1731) davon erfahren hatte. Nach Byron nahm Victor Hugo in seiner Sammlung Les orientales (1828) sein eigenes Gedicht Mazeppa als seine poetische Interpretation der Episode auf.

Die Legende über das Pferd, das mit dem zukünftigen Hetman ausgesetzt wurde, faszinierte viele französische Maler der Romantik – Géricault, Eugène Delacroix, Horace Vernet, Nathaniel Currier, Théodore Chassériau und Louis Boulanger. Die Geschichte fand auch Eingang in Musikwerke wie die symphonische Dichtung Mazeppa des ungarischen Komponisten Franz Liszt sowie in Theaterstücke (z. B. das Drama Mazepa des polnischen Dichters der Romantik Juliusz Słowacki). Diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig.

Das erzählende Gedicht Mazeppa zeigt die Kraft der Poesie, einer prägnanten und doch eloquenten Kunst, die es uns ermöglicht, in der Geschichte zurückzugehen und die geopolitische Lage der Zeit, die wichtigsten Entwicklungen und Persönlichkeiten der Staatsführer in nur wenigen tausend Worten zu erkunden. Durch symbolische Vergleiche, rhythmische Verse und eine lebendige Darstellung von Charakteren und Atmosphäre kann man leicht dazu verleitet werden, mehr über die Geschichte und den Aufbau der Nationen der heute existierenden Staaten zu erfahren. (…)  Natalia Mykhaylychenko, Akquisitionsspezialistin/Fisher Library Toronto

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Und schließlich noch ein Beitrag von der chinesischen KI-Datenbank DeepSeek zu Russischen Opern im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts:  In den 1870er und 1880er Jahren waren russische Opern in Paris noch relativ unbekannt, aber es gab einige bemerkenswerte Ereignisse, die dazu beitrugen, das Interesse an russischer Musik in der französischen Hauptstadt zu wecken.

Weltausstellung 1878 in Paris: Die Weltausstellung von 1878 in Paris war ein wichtiges Ereignis, bei dem auch russische Kultur und Musik präsentiert wurden. Russische Komponisten wie Nikolai Rimski-Korsakow und Alexander Borodin waren vertreten, und es gab Aufführungen russischer Musik, darunter auch Ausschnitte aus Opern. Dies war eine der ersten Gelegenheiten, bei der ein breiteres Pariser Publikum mit russischer Opernmusik in Kontakt kam.

Zu Grandvals „Mazeppa“: Ivan Korsow in der Titelrolle von Tschaikowskys gleichnamiger Oper in der Uraufführung des Werkes/Ipernity

Einfluss von Tschaikowsky: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, einer der bekanntesten russischen Komponisten, begann in den 1870er und 1880er Jahren international anerkannt zu werden. Seine Werke, darunter auch Opern wie Eugen Onegin (1879), wurden jedoch in Paris in dieser Zeit noch nicht regelmäßig aufgeführt. Tschaikowsky selbst besuchte Paris mehrfach und seine Musik wurde dort gelegentlich gespielt, aber seine Opern waren noch nicht Teil des regulären Repertoires.

Russische Gastspiele: In den 1880er Jahren gab es vereinzelte Gastspiele russischer Künstler und Ensembles in Paris, die auch Opernaufführungen beinhalteten. Diese Veranstaltungen waren jedoch eher selten und richteten sich oft an ein spezialisiertes Publikum, das bereits ein Interesse an russischer Kultur hatte.

Einfluss der „Mächtigen Häuflein“: Die Gruppe der „Mächtigen Häuflein“ (auch bekannt als „Das mächtige Häuflein“ oder „Die Fünf“), zu der Komponisten wie Modest Mussorgski, Alexander Borodin und Nikolai Rimski-Korsakow gehörten, begann in den 1870er Jahren, eine eigenständige russische Musiktradition zu entwickeln. Ihre Werke, darunter Opern wie Mussorgskis Boris Godunow (1874), wurden in Russland aufgeführt, fanden aber nur langsam den Weg nach Westeuropa. In Paris waren diese Opern in den 1870er und 1880er Jahren noch kaum bekannt.

Kultureller Austausch: Der kulturelle Austausch zwischen Russland und Frankreich nahm in dieser Zeit langsam zu, insbesondere durch die Bemühungen von Musikverlegern und Kritikern. Einige französische Musiker und Intellektuelle begannen, sich für die russische Musik zu interessieren, was in den folgenden Jahrzehnten zu einer stärkeren Präsenz russischer Opern in Paris führte.

Fazit: In den 1870er und 1880er Jahren waren russische Opern in Paris noch nicht weit verbreitet, aber es gab erste Anzeichen eines wachsenden Interesses. Die Weltausstellung von 1878 und vereinzelte Gastspiele russischer Künstler trugen dazu bei, das Pariser Publikum mit russischer Musik vertraut zu machen. Die eigentliche Popularität russischer Opern in Paris sollte jedoch erst in den folgenden Jahrzehnten, insbesondere im frühen 20. Jahrhundert, mit den Ballets Russes und den Aufführungen von Werken wie Boris Godunow und Der goldene Hahn, zunehmen.

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Zu Grandvals „Mazeppa“: Georgette Silver-Bréval war die erste Matréna/Ipernity

Gibt es Hinweise darauf dass Tschaikowkis Oper Mazeppa damals in Westeuropa bekannt war? Tschaikowskis Oper Mazeppa, die 1884 uraufgeführt wurde, war in den 1880er Jahren in Westeuropa, einschließlich Frankreich, noch nicht sehr bekannt. Es gibt jedoch einige Hinweise darauf, dass das Werk langsam an Aufmerksamkeit gewann, insbesondere in Kreisen von Musikern und Musikliebhabern, die sich für russische Musik interessierten.

Begrenzte internationale Präsenz: Mazeppa wurde am 15. Februar 1884 in Moskau uraufgeführt und später im selben Jahr in St. Petersburg aufgeführt. Obwohl die Oper in Russland erfolgreich war, dauerte es einige Zeit, bis sie außerhalb Russlands bekannt wurde. In den 1880er Jahren gab es nur wenige Aufführungen von Tschaikowskis Opern in Westeuropa, und Mazeppa war keine Ausnahme.

Tschaikowskys wachsender internationaler Ruf: Tschaikowsky selbst begann in den 1880er Jahren international anerkannt zu werden, vor allem durch seine symphonischen Werke und Ballette wie Schwanensee (1876) und Dornröschen (1890). Seine Opern, darunter Mazeppa, waren jedoch weniger bekannt. Tschaikowsky unternahm in den 1880er Jahren mehrere Reisen nach Westeuropa, darunter nach Paris, wo er seine Musik dirigierte und Kontakte zu westlichen Musikern knüpfte. Dies trug dazu bei, sein Gesamtwerk bekannter zu machen, aber Mazeppa blieb zunächst im Hintergrund.

Veröffentlichungen und Kritiken: Es gibt Hinweise darauf, dass Partituren und Klavierauszüge von Tschaikowskys Werken, darunter auch Mazeppa, in den 1880er Jahren in Westeuropa veröffentlicht wurden. Dies ermöglichte es Musikern und Kritikern, sich mit dem Werk vertraut zu machen, auch wenn es nicht häufig aufgeführt wurde. Einige westliche Musikkritiker begannen, sich für Tschaikowskys Opern zu interessieren, und es gab vereinzelte Erwähnungen von Mazeppa in Fachzeitschriften.

Erste Aufführungen außerhalb Russlands: Die erste Aufführung von Mazeppa außerhalb Russlands fand 1888 in Prag statt, was ein wichtiger Schritt für die internationale Verbreitung der Oper war. In Westeuropa, insbesondere in Frankreich, gab es jedoch in den 1880er Jahren noch keine nennenswerten Aufführungen. Die Oper wurde erst später, im frühen 20. Jahrhundert, in westeuropäischen Ländern bekannter.

Kultureller Austausch: Der kulturelle Austausch zwischen Russland und Westeuropa nahm in den 1880er Jahren zu, und Tschaikowsky spielte dabei eine wichtige Rolle. Seine Bekanntschaft mit westlichen Komponisten wie Antonín Dvořák und Edvard Grieg sowie seine Auftritte in Westeuropa trugen dazu bei, dass seine Musik, einschließlich seiner Opern, langsam auch im Westen bekannt wurde.

Fazit: In den 1880er Jahren war Tschaikowskis Oper Mazeppa in Westeuropa, einschließlich Paris, noch nicht weit verbreitet. Es gab jedoch erste Anzeichen eines wachsenden Interesses, insbesondere durch die Veröffentlichung von Partituren und die zunehmende internationale Anerkennung Tschaikowskys. Die eigentliche Popularität von Mazeppa in Westeuropa sollte erst in den folgenden Jahrzehnten zunehmen, als Tschaikowskys Werk insgesamt bekannter wurde und seine Opern häufiger auf internationalen Bühnen aufgeführt wurden. DeepSeek

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Dank an Florian Heurich und an Doris Sennefelder vom Rundfunk Orchester des Bayerischen Rundfunks sowie an Natalia Mykhaylychenko von der Fisher Library Toronto; das Konzert von Clémence de Grandvals Mazeppa wurde am 19. januiar 2025 auf BR gesendet und ist als Podcast einen Monat lang zu hören. Besetzung: Nicole Car/Matréna, Tochter von Kotchoubey; Julien Dran/Iskra; Tassis Christoyannis /Mazeppa; Paweł Trojak/Der Archimandrik; Ante Jerkunica/Kotchoubey; Chor des Bayerischen Rundfunks/Stellario Fagone; Münchner Rundfunkorchester/Mihhail Gerts.

Koproduktion mit Palazzetto Bru Zane – Centre de musique romantique française; Livemitschnitt für die Reihe der CD-Bücher „Opéra français“ unter dem Bru Zane Label; Liveübertragung im Radio auf BR-KLASSIK am 19. Januar 2025: rundfunkorchester.de/audio-video brklassik.de/programm/radio: Französisch-deutsches (!) Libretto: rundfunkorchester.de/mazeppa.

Dank auch an meinen Kollegen und Freund Matthias Käther für seinen Blick in die chinesische KI-Platform DeepSeek, die sich bei allen Vorbehalten als außerordentlich kompetent erweist.-

Abbildung oben/Ausschnitt: Gemälde von Iwan Mazeppa, Pawliszak, Wacław (1866-1905); Nationalmuseum Warschau, Public Domain

Lieder aus zwei Heimaten

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Mit ihrem Debütalbum Heimwee schlägt die südafrikanische Sopranistin Linda van Coppenhagen eine aufschlussreiche Brücke zwischen den Kulturen, wenn hier die deutsche Romantik ausgesuchten Liedern eines südafrikanischen Komponisten begegnen. Linda Van Coppenhagen und ihre Mitmusikerin, die Klarinettistin Friederike von Oppeln-Bronikowski sowie der Pianist David Grant schaffen hier in symbiotischer Interaktion ein berührendes Ganzes mit Entdeckungswert.

Als einer der wenigen hat Louis Spohr in seinen Sechs Deutschen Lieder op. 103 das Potenzial der Kombination Stimme plus Klarinette plus Klavier erkannt. Bereits im ersten Lied Sei still mein Herz wird die Dialogstruktur zwischen Klarinette und Gesang deutlich: Die Klarinette agiert als „zweite Stimme“, die das Unaussprechliche hinter den Worten weiter verstärkt, was auch für die weiteren Stücke in diesem Zyklus so wirkt.

Kaum hierzulande bekannt ist Kammermusik aus Südafrika, deren Tradition trotz der historischen Konnotationen der Apartheid hohen Respekt verdient. Das beweisen nicht zuletzt die Werke von Stephanus Le Roux Marais (1896-1979), dessen Liedkompositionen durch die Interpretation auf dieser CD wie echte Kostbarkeiten funkeln. Insbesondere das titelgebende Stück Heimwee – so die Schreibweise dieses Wortes in Linda Coppenhagens Muttersprache afrikaans -spiegelt das große, brennende Gefühl der Sehnsucht wider – ein Thema, das van Coppenhagen besonders während der Pandemie erlebte, als die Reiseverbote sie physisch von ihrem Herkunftsland trennten und was letztlich zur vorliegenden CD-Produktion den ersten Anstoß lieferte. Die darstellerische Intensität ihres Gesangs, besonders in den melancholischen Untertönen, unterstreicht diese Involviertheit eindrucksvoll. Im Gegensatz dazu steht das kraftvolle Mali die slaaf se Lied, das die Geschichte von Sklaverei und Unterdrückung in Südafrika thematisiert und als musikalischer Kommentar zur sozialen Ungerechtigkeit der Vergangenheit und Gegenwart gehört werden kann. Lebensbejahung und die Hoffnung auf einen Neuanfang finden sich in dem Lied Geboorte van die Lente (Geburt des Frühlings),  das durch seine sprudelnden Melodien und dynamische Rhythmik das Thema der Erneuerung feiert.

In den nun folgenden Liedern von Richard Strauss zeigt die Sopranistin noch mehr interpretatorische Versiertheit: Die dramatischen Ausbrüche in Schlechtes Wetter, zu denen David Grants virtuoses Klavierspiel die hämmernden Regentropfen plastisch abbildet, nimmt man der Südafrikanerin, die hier in Deutschland die sonnendurchflutete Weite ihrer Heimat vermisst, ohne weiteres ab. Silbrig-leicht lässt sie die Höhen im Ständchen leuchten. Schlagende Herzen überzeugt durch die präzise Darstellung innerer Aufgewühltheit, während Ich trage meine Minne von zarter Hingabe geprägt ist. In Die Nacht beeindruckt van Coppenhagen durch subtile dynamische Abstufungen und die Fähigkeit, düster-meditative Stimmungen zu kreieren.

Abschließend greift Franz Schuberts Der Hirt auf dem Felsen als dramatisches Finale noch einmal den „Trialog“ zwischen Sopran, Klarinette und Klavier auf überzeugende Weise auf. Entstanden im Frühling 1828, kurz vor Schuberts Tod, beschwört dieses Stück das Bild eines Hirten, der auf einem Felsen sitzt und auf die Ferne blickt. Van Coppenhagen und ihre Mitmusiker fühlen sich hier tief in die innige Verbindung zwischen Natur und Liebe ein, wie sie dieses Schubert-Lied thematisiert.

Fazit: Diese Sopranistin aus Südafrika beherscht mit ihren beiden Begleitern die hohe Kunst, im knappen Format eines Liedes emotional und atmosphärisch auf den Punkt zu kommen. Ihre Debüt-CD ist auf jeden Fall eine künstlerische Visitenkarte mit Gewicht (Monarda Music 2024/ Foto oben/Ausschnitt: Die Drakensberge in Südafrika/Foto Royal Natal). Stefan Pieper

Vielbeiniges

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Bei OPUS ARTE: Showcase for the Royal Ballet. Vom Royal Ballet London bringt OPUS ARTE eine Blue-ray Disc mit dem Ballett Don Quixote heraus, die im Oktober/November 2023 gefilmt wurde (OABD7279D). Es ist Carlos Acostas Choreografie (nach Marius Petipa) aus dem Jahre 2013, welche OPUS ARTE bereits im Entstehungsjahr aufgezeichnet und veröffentlicht hatte. Der Superstar der Company, der mit dieser Produktion sein Debüt als Choreograf gab, tanzte damals selbst die Rolle des Basilio –  an der Seite von Marianela Nuñez, der unvergleichlichen Ausnahmetänzerin des Ensembles. Es spricht für die Bedeutung dieser Produktion, dass das Label sie nun zum zweiten Mal als Bilddokument veröffentlicht.

Angetreten ist eine junge Besetzung, die derzeit das Niveau des Royal Ballet mitbestimmt. Der junge Matthew Ball, erfolgreich als Romeo und in den Prinzen-Rollen, hat das schier übermenschliche Amt übernommen, als Basilio gegen Carlos Acosta anzutreten. Seine Trümpfe sind Jugendlichkeit, Eleganz und Bravour, die strotzende Kraft und virile Energie seines Vorgängers sind ihm nicht gegeben. Dafür wirken seine Variationen leicht und spielerisch. Glanzvoll gerät der Pas de deux am Ende des 1. Aktes, wo Ball spektakuläre einarmige Hebungen gelingen. Dazu ist beider Tanz im 2. Akt in neoklassischem Stil ein starker Kontrast und stellt den beiden Interpreten ein schönes Zeugnis für Empfindsamkeit und lyrische Noblesse aus.

Auch die brasilianische Tänzerin Mayara Magri als Kitri hat es schwer, gegen die Nuñez zu bestehen. Aber sie schlägt sich achtbar mit solider Technik und schöner Präsenz. Freilich hat sie nicht das südländische Temperament und das rasante Tempo ihrer Konkurrentin, wirkt gemäßigter und kontrollierter in ihren Auftritten. Zu großer Form gelangt sie mit ihrem Partner im Grand pas de deux des Finales, den beide, weiß/gold kostümiert, in hoheitsvoller Attitüde absolvieren. Sie imponiert mit sicheren Balancen und einer kapriziösen Variation, er mit bravourösen Sprüngen und Pirouetten. Bei der Live-Übertragung in die Kinos geschah Magri ein Lapsus im letzten Solo, der hier korrigiert ist.

Das zweite Paar Espada/Mercedes ist mit dem flamboyanten Calvin Richardson und der aufreizenden Leticia Dias sehr wirkungsvoll besetzt. Beider Auftritt in der Taverne ist Aufsehen erregend. Schon 2013 war Gary Avis als Lorenzo dabei und er – ein Urgestein der Company – gibt nun höchstselbst den wunderlichen  Titelhelden mit Würde und Charme. Köstlich ist James Hay als exaltierter, effeminierter Gamache, der sich vergeblich um Kitris Gunst bemüht. Im Weißen Bild des Zaubergartens brillieren Annette Buvoli als Königin der Dryaden und Isabella Gasparini als Amour. Hinreißend ist das Corps de ballet, für das Acosta noch einige zusätzliche Tänze erdacht hat, die spanisches Flair und südliches Temperament einbringen.

Nicht zuletzt trägt Tim Hatleys stimmungsvolle Ausstattung zum Fest für das Auge bei. Und für das Ohr sorgt Valery Ovsyanikov am Pult des Orchestra of the Royal Opera House, das die Musik von Ludwig Minkus mit Esprit und Verve serviert. Bernd Hoppe

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Bei NAXOS: Tschaikowsky-Lieder szenisch. An der Oper Frankfurt hat Christof Loy an einem Abend Tschaikowsky-Lieder szenisch arrangiert – unter dem Titel NONE BUT THE LONELY HEART ist dieses Programm jetzt bei NAXOS auf einer Blu-ray Disc erschienen, gefilmt zwischen dem 24. und 26. Februar 2021 (NBD0181V). Herbert Murauers Ausstattung wurde von Loys Stockholmer Inszenierung der Fedora Giordanos übernommen, die nach Frankfurt wechseln sollte, was sich wegen der Pandemie nicht realisieren ließ. Der Bühnenraum ist ein multifunktionales Zimmer, tapeziert und gediegen  möbliert, welches an einen bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert, wo man sich zum gemeinsamen Singen oder Musizieren traf. Die szenische Atmosphäre erinnert an die intimen Szenen in Eugen Onegin. An der  hinteren Wand befindet sich ein prachtvoller mattgoldener Bilderrahmen, in den mehrfach die Köpfe der Sänger als schwarz/weiß Aufnahmen projiziert werden (Video: Ruth Stofer).

Die 24 Romanzen, die aus über 100 Liedern ausgewählt wurden, interpretieren fünf Sänger, die von den Pianisten Mariusz Klubczuk und Nikolai Petersen begleitet werden. Ein Instrumentalstück aus der Feder Tschaikowskys – das Adagio cantabile. aus dem Sextett d-Moll, Souvenir de Florence, op. 70 – spielen Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters.

Zentrales Motiv der Handlung ist ein Glas Wasser, zu dem der Protagonist (der Bariton Vladislav Sulimsky) immer wieder greift, womit an Tschaikowskys möglichen Suizid erinnert werden soll. Freilich sind die Umstände vom Tod des Komponisten bis heute ungeklärt – niemand weiß, ob eine Infektion mit der Cholera vorsätzlich oder unbewusst geschah. Sulimsky, dessen Physiognomie entfernt an die Tschaikowskys erinnert, eröffnet mit dem schwermütigen „Reconcilation“. Sein Bariton ist aufgeraut und vibrierend, doch stark im Ausdruck. Für das bekannte „Amid the din of the ball“ fehlt es ihm an Eleganz, das düstere „On yellow fields“ bekommt dagegen packende Kontur. In „Final“ schwingt er sogar das Tanzbein, geht das Lied doch auf ein Motiv aus dem Ballett The Sleeping Beauty zurück. Ausgelassen und lärmend beteiligen sich alle Sänger an dieser körperlichen Aktion. Ein leichterer, jugendlicher Bariton ist Mikolai Trabka eigen, der sich mit „I never spoke to her“ vorstellt. Ihm gehört die schönste Stimme, die sich in „The Night“ schwärmerisch verbreitet. „To forget so soon“ gehört zu den bekannteren Liedkompositionen des Meisters – dem Tenor Andrea Carè anvertraut, der es recht grobschlächtig vorträgt und in der darstellerischen Vehemenz Lenski mit seinen Zornesausbrüchen gleicht. Auch bei „Why?“ gerät er nach maßvollem Beginn ins Forcieren. Im Hosenanzug aus schwarzer Seide und im weißen Tüllrock geben die beiden Damen ein elegantes Bild ab – Olesya Golovneva/Sopran und Kelsey Lauritano/Mezzo vereinen ihre Stimmen mit strengem Vibrato anfangs zu Duetten mit herbem Klang. In ihrem Tutu und Ballettschuhen posiert die Sopranistin mit Figuren des klassischen Balletts und geht sogar auf die Spitze (Choreografie: Andreas Heise), stimmlich ist sie ein dramatischer Typ, der eine Lisa gut anstehen würde. Auch die Tatjana, an die das Lied „He loved me so“ erinnert, würde in ihr Repertoire passen. Das Lied, welches dem Programm den Titel gab, ist der Mezzosopranistin anvertraut, die es gemessen und auf Linie bedacht vorträgt. Auch „Frenzied nights“ profitiert von ihrer kulturvollen Interpretation.  Der Schluss, „Again as before alone“, gehört dem imaginären Tschaikowsky, der dem Lied die gebührende Melancholie gibt. Bernd Hoppe

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The Christopher Wheeldon Collection bei Opus Arte. Einen Schuber mit drei Blu-ray Discs veröffentlicht OPUS ARTE, welche einen Einblick in das Schaffen des britischen Choreografen Christopher Wheeldon, Artistic Associate des Royal Ballet, ermöglichen (OABD73198D). Drei seiner bekanntesten Ballette werden vorgestellt, deren ältestes (und bekanntestes) Alice´s Adventures in Wonderland von 2011 ist. Seit seiner umjubelten Uraufführung wird es weltweit gespielt, auch das Bayerische Staatsballett München hat die Choreografie in seinem Repertoire. Hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahre 2017 zu sehen, die viele Principals der Londoner Compagnie vereint, angeführt von der bezaubernden Lauren Cuthbertson in der Titelrolle und Federico Bonelli als ihrem Freund Jack und später verwandeltem Herzbuben. Eine Glanzrolle in diesem Stück ist die exzentrische Herzkönigin, der Laura Morera einen gebührend extravaganten Umriss gibt. Auch die Doppelrolle des Zauberers und verrückten Hutmachers ist ein Fest für einen Tänzer von Ausnahmeformat – einfach wie geschaffen für den unvergleichlichen Steven McRae. Neben der tänzerischen Pracht sorgt auch die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley für optische Freuden und nicht zuletzt trägt Joby Talbots schwungvolle Musik zum stimmigen Gesamteindruck bei.

Ähnlich erfolgreich ist das im April 2014 herausgekommene Shakespeare-Ballett The Winter´s Tale, das hier in einer Aufzeichnung aus der Uraufführungsserie zu sehen ist. Wieder waren Wheeldons regelmäßige Mitarbeiter – der Komponist Joby Talbot und der Designer Bob Crowley – mit am Werk. Erzählt wird die Geschichte des eifersüchtigen Königs Leontes (Edward Watson in psychopathischer Intensität bis zum Wahnsinn), der seine schwangere Gattin Hermione (Lauren Cuthbertson mit viel Liebreiz und tiefer Empfindung) des Ehebruchs mit seinem Freund Polixenes (Federico Bonelli mit sinnlicher Aura) bezichtigt. 17 Jahre später spielt der 2. Akt in Böhmen, wohin die Tochter des Paares Perdida (Sarah Lamb von bezaubernder Anmut) mit ihrem Geliebten Florizel (Steven McRae mit hinreißender Vitalität und starker Ausstrahlung) fliehen konnte. Zurück nach Sizilien führt der 3. Akt, welcher die Versöhnung von Leontes und Hermione schildert. Zum Erfolg der Produktion, die inzwischen auch beim Hamburg Ballett gezeigt wurde, tragen auch das Orchestra of the Royal Opera House und der Dirigent David Briskin bei.

Das dritte (und aktuellste) Ballett trägt den Titel Like Water for Chocolate und ist eine Koproduktion mit dem American Ballet Theatre. Sie wurde im Juni 2022 im Royal Opera House London uraufgeführt, wovon auch der DVD-Mitschnitt stammt. Wieder ist das Trio Christopher Wheeldon (Choreografie), Joby Talbot (Musik) und Bob Crowley (Ausstattung) künstlerisch verantwortlich. Das Ballett wurde durch den mexikanischen Roman „Bittersüße Schokolade“ von Laura Esquivel inspiriert – eine Familiensaga von magischem Realismus in Mexiko um 1910. Die zentrale Figur ist Tita, verliebt in den Nachbarn Pedro, den sie jedoch nicht heiraten darf gemäß einer Familientradition, sich um die alte Mutter, Mama Elena, sorgen zu müssen. Statt ihrer ist Pedro die Hand Ihrer Schwester Rosaura versprochen. Dieser hofft, durch die Heirat näher bei seiner einzigen Liebe Tita zu sein. Ein Jahr ist vergangen und Rosaura hat Probleme, ihr neu geborenes Baby zu stillen. Wie durch ein Wunder kann Tita dieses Amt übernehmen, was Pedros Liebe zu ihr noch verstärkt. Ein nächtliches Treffen mit Tita wird gestört von Elena und Rosaura – Pedro muss mit seiner Frau und dem Baby die Farm verlassen. Die Magd Chenca übermittelt die Nachricht vom Tod des Kindes, Tita beschuldigt ihre Mutter als die Verursacherin des Unglücks. Ihren emotionalen Kollaps will Doktor John Brown in seinem Haus in Texas heilen. Er liebt Tita und will sie heiraten. Sie willigt ein trotz ihrer fehlenden Gefühle für diesen Mann, bei dem sie sich aber Frieden und Sicherheit verspricht. Die inzwischen verstorbene Mutter wird aufgebahrt, unter den Trauernden sind Pedro und Rosaura mit ihrer neuen Tochter Esperanza. In einer Kassette entdeckt Rosaura ein Tagebuch ihrer Mutter, welches ihre Liebe zu einem Mann namens José enthüllt, doch bestimmten die Eltern eine Heirat mit Juan de la Garza, Titas Vater. Die Liebenden wollten fliehen, doch Juan wird von Elenas Brüdern getötet. Dr. John gibt seine Verlobung mit Tita bekannt, aber Pedro erklärt ihr seine unverbrüchliche Liebe. Beider leidenschaftliche Verbindung endet in einer schrecklichen Vision – dem Erscheinen von Elenas Geist. Tita offenbart Dr. John ihre anhaltende Liebe zu Pedro und gibt ihm den Ring zurück.

Rosauras gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr, verursacht durch ihre Eifersucht. Ihre Tochter Esperanza, die mit Johns Sohn Alex scherzt, ruft sie gebieterisch zu sich und wiederholt damit das Verhalten ihrer Mutter. Bald hält Pedro seine tote Frau im Arm. 20 Jahre wird eine weitere Hochzeit gefeiert – die von Esperanza und Alex. Endlich sind die Familien in Liebe vereint.

Für diese vielschichtige Saga erdachte Christopher Wheeldon eine facettenreiche Tanzsprache, die ihre starke Wirkung ebenso aus den intimen Momenten der Protagonisten bezieht wie aus mitreißenden Gruppenszenen. Tita und Pedro tanzen am Ende einen neoklassischen Pas de deux von ekstatischer Hingabe als apotheotisches Bekenntnis zur Macht der Liebe.

Führende Solisten der Compagnie verzeichnet die Besetzungsliste. An ihrer Spitze zwei Principals: Francesca Hayward als Tita und Marcelino Sambé als Pedro. Die in Kenia geborene Britin und der Portugiese sind längst das neue Traumpaar in London. Beider Tanzduos sind aufgeladen von überschäumendem Temperament und erotischer Leidenschaft. Sambé ist ein Ausbund an Vitalität und jugendlichem Übermut, hinreißend in den fulminanten Sprüngen und virtuosen Hebefiguren. Hayward ist bezaubernd und anmutig, aber sie vermag auch den. Schmerz und die Trauer zu vermitteln, beginnend bei Pedros Hochzeit mit Rosaura, später beim Tod der Mutter und beim leidenschaftlichen Wiedersehen mit Pedro.

Laura Morera ist faszinierend als strenge, hartherzige Mama Elena – fanatisch, unnachgiebig und grausam. Rasant und hocherotisch ist sie in einer Rückblende mit ihrem Geliebten José  (Joseph Sissens von animalischer Sinnlichkeit), grotesk und fast eine Nachfolgerin der Herzkönigin als ihre eigene Geistererscheinung. Matthew Ball als fürsorglicher und großherzig liebender Dr John Brown ist ein Sympathieträger. Wheeldon hat für ihn und Tita zu Beginn des 2. Aktes ein inniges Duett erdacht, das beider Gefühle anschaulich schildert.

Bob Crowleys Ausstattung ist inspiriert von mexikanischer Kunst und Folklore, besitzt Strenge und Abstraktion, aber auch Naivität. Joby Talbots Musik lässt gleichfalls die Einflüsse mexikanischer Musiktradition hören, ist sehr rhythmisch betont und mit viel Schlagwerk instrumentiert. Am Ende rauscht sie hymnisch auf und bezieht auch noch die Gesangssolistin Sian Griffith ein. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt unter Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra mit südländischem Schwung und Temperament. Bernd Hoppe

Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Harold Woetzel ist auch der Autor des Films Marcia Haydée – The Seduction to Danse. Man nennt die 1937 in Niterói geborene und in Rio de Janeiro aufgewachsene Brasilianerin auch „die Maria Callas des Tanzes“. Nach ihrem Studium in London engagierte John Cranko die damals noch unbekannte Tänzerin 1961 nach Stuttgart (trotz des Einspruchs von Generalintendant Walter Erich Schäfer), wo er für sie fast alle großen Rollen seiner Ballette kreierte. Sie wurde zu seiner Muse und Assoluta und später auch seine Nachfolgerin als Intendantin der Compagnie.

Auch andere berühmte Choreografen inspirierte sie mit ihrer Kunst und Persönlichkeit, vor allem John Neumeier, der für sie seine Kameliendame kreierte, die sie 1978 zum triumphalen Erfolg führte, oder Maurice Béjart, der für sie seine Isadora schuf.

Unter den Ballettausschnitten ist gleich der erste eine Rarität – 1985 tanzte Haydée Béjarts Bolero in der deutschen Erstaufführung dieser legendären Choreografie. Es gibt natürlich auch Szenen aus Crankos Klassikern, The Taming of the Shrew oder  Romeo and Juliet, und man sieht zudem einen Ausschnitt aus Dornröschen, ihrer erfolgreichsten eigenen Choreografie. Bei den beliebten Stuttgarter Veranstaltungen Ballett im Park gehört diese Produktion zu den Höhepunkten. Zu Wort kommen Reid Anderson, Egon Madsen, Tamas Detrich, Friedemann Vogel und Alicia Amatriain – also Partner und Weggefährten aus ihren 35 Stuttgarter Jahren.

Auch Einblicke in Haydées Privatleben werden gewährt – ihre 16jährige Beziehung mit Richard Cragun, dem Partner auf der Bühne in vielen Stücken, der sie wegen einer neuen Liebe verließ und dessen Aids-Tod sie zutiefst erschütterte, oder die mit ihrem Ehemann, dem Yoga-Lehrer Günther Schöberl, die schon seit fast 30 Jahren glücklich verläuft. Der gleichfalls vom SWR Fernsehen initiierte Film stammt von 2017 und ist eine willkommene Würdigung der großen Tanzlegende.

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Mit dem dritten Film, Friedemann Vogel – Incarnation of Danse, findet sich ein Beitrag aus der aktuellen Stuttgarter Tanzszene. Er stammt von Katja Trautwein und entstand als Koproduktion des SWR mit der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit der Saison 1998/99 ist Vogel Mitglied der Stuttgarter Compagnie, wo er 2002 zum Ersten Solisten und 2015 auch zum Kammertänzer ernannt wurde. Der Untertitel dieses Streifens lautet „Internationaler Ballett-Superstar“, was sich auf die ausgedehnte Gastspieltätigkeit des Tänzers bezieht, der seit Jahren regelmäßig in den größten Ballettzentren der Welt – Moskau, St. Petersburg, London, Paris, Tokyo – auftritt.

Als erster Ausschnitt wurde Béjarts Bolero gewählt – ein cavallo di battaglia für jeden Superstar der Ballettwelt. Bei einem Gastspiel beim Royal Swedish Ballet  Stockholm, zu dem ihn dessen neuer Ballettdirektor Nicolas Le Riche eingeladen hatte, zeigt er Marcia Haydées Dornröschen-Version. In Tokyo tanzt er mit Alicia Amatriain einen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame im Rahmen des World Ballet Festivals, bei dem er schon Dauergast ist. Auf Einladung von Polina Semionova tritt er beim Berliner Staatsballett in der Gala Polina and Friends auf und tanzt mit der Starballerina einen Pas de deux aus Kenneth MacMillans Manon. Ähnlich berühmt ist Olga Smirnova (die ihr Heimatland inzwischen verlassen hat), mit der Vogel am Bolshoi Ballett einen Pas de deux aus Crankos Onegin interpretiert. Als eine exzentrische Filmchoreografie ist die Arbeit Cadavre Exquis von Guillaume Côté vom Kanadischen Staatsballett Toronto zu sehen. Seit einigen Jahren posiert der Tänzer, ähnlich wie der italienische Star Roberto Bolle, auch für die Modebranche. Für Arbeiten seines Lebensgefährten in der Branche Tanzfotografie steht er Modell und hat mittlerweile sogar Kontakte zur Filmbranche geknüpft. Erhellend ist ein Gespräch mit dem Regisseur Volker Schlöndorff.

In vielen Posen, zum Teil verfremdet als grafische Puzzles oder als slow motion-Aufnahmen, wird die Schönheit seines Körpers herausgestellt, in vielen Figuren seine exquisite Technik. Befremdlich wirken die vielen Tanzszenen auf Straßen, Plätzen, Treppen und Dächern, an Seen und in Gärten sowie vor internationalen Sehenswürdigkeiten vom Eiffelturm bis zum Brandenburger Tor. Bernd Hoppe

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Aus dem Jahre 2012 stammt ein Schuber mit zwei DVDs aus dem Royal Opera House London, den OPUS ARTE jetzt neu aufgelegt hat. An Evening with The Royal Ballet and The Royal Opera ist die Ausgabe betitelt, dürfte also für Liebhaber beider Gattungen von Interesse sein (OA 1261 BD).

Die Ballett-DVD präsentiert Höhepunkte aus dem Repertoire des Royal Ballet, beginnend mit der Ballszene aus Prokofjevs Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan. Carlos Acosta und Tamara Rojo sind die Protagonisten, die später noch die Balkonszene aus dieser Produktion zeigen. Carlos Acosta brilliert, gemeinsam mit seiner Partnerin Leanne Benjamin, auch im Pas de deux Voices of Spring auf Musik von Johann Strauß II – ein virtuoses Glanzstück von Frederick Ashton, welches das Paar sprungstark und tempobetont absolviert.  Und der gefeierte Principal der Compagnie glänzt auch als Colas  in La Fille mal gardée im Pas de deux mit Marianela Nuñez und als Franz in Coppélia – beides Zeugnisse seiner enormen Vielseitigkeit. Nicht fehlen im Programm darf Alina Cojocaru – eine Assoluta, die noch heute aktiv ist und oft beim Hamburg Ballett auftritt. Hier ist sie in ihren Glanzrollen als Prinzessin Aurora mit dem fordernden Rosen-Adagio in The Sleeping Beauty und als ätherische Giselle mit Johan Kobburg als Albrecht im Pas de deux des 2. Aktes zu sehen – Beispiele von singulärer Tanzkunst. Eine gleichfalls bedeutende Ballerina war Darcey Bussell, die heute als charmanter und sachkundiger Host in TV-Übertragungen des Royal Ballet tätig ist. Sie zelebriert in aristokratischer Manier gemeinsam mit dem Startänzer Roberto Bolle einen Pas de deux aus Sylvia in der Choreografie von Frederick Ashton. Zwei Tschaikowsky-Klassiker in den Choreografien von Lev Ivanov bilden den Ausklang des Programms: der Pas de deux Zuckerfee/Prinz aus The Nutcracker mit Miyako Yoshida und Steven McRae sowie die Schluss-Szene aus Swan Lake mit Marianela Nuñez, Thiago Soares und Christopher Saunders. Beide Szenen demonstrieren eindrücklich das hohe Niveau des Ensembles mit seinen überragenden Solisten. Bernd Hoppe

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In der internationalen Tanzszene hat der Name Jean-Christophe Maillot einen ganz besonderen Klang, zählt seine Compagnie Les Ballets de Monte-Carlo, welche er seit 1993 leitet, doch weltweit zu den renommiertesten und innovativsten Ensembles. Jetzt legt die UNITEL EDITION seine Choreografie von Léo Delibes’ Ballett Coppelia auf Blu-ray Disc vor (808804). Die Aufzeichnung erfolgte 2022 im Grimaldi Forum – Salle des Princes von Monte-Carlo.

Das Stück basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und erlebte seine Weltpremiere 1870 in Paris in der Choreographie von Saint-Léon. Weitere bekannte Deutungen stammen von Marius Petipa, der seine Fassung   an mehreren Bühnen herausbrachte, Ninette De Valois (für das Royal Ballet London) und George Balanchine (für das NYC Ballet). Die Besonderheit von Maillots Version, betitelt Coppél-I.A., liegt in ihrer futuristischen Anlage. Coppelia ist bei ihm keine mechanische Puppe, sondern ein außerirdisches Weltraumwesen. Bertrand Maillot, der Bruder des Choreografen, arrangierte die Musik unter Verwendung synthetischer Klänge, was ihr einen zeitgenössischen Anstrich verlieh. Ausstatterin Aimée Moreni hat der Titelfigur ein Ganzkörpertrikot mit einzelnen Lederriemen und Metallelementen verordnet. Der Prologue zeigt ihre Geburt mit ihrem Schöpfer Coppélius, den Matèj Urban als Outlaw zeichnet. Seine Kleidung ist zerschlissen und trägt die Spuren des Straßenlebens. Dem von ihm erschaffenen Wesen ist er gänzlich verfallen, betet es in trancehafter Steigerung an und ist untröstlich über dessen mangelndes Interesse. Phänomenal setzt Lou Beyne die vom Choreografen erdachten abgehackten, zuckenden und schüttelnden Bewegungen für die künstliche Frau um. Das abstrakte Einheitsbühnenbild, von Maillot und Samuel Thery lediglich in unterschiedliche Lichtstimmungen getaucht, könnte die Linse eines Fotoapparates darstellen.

Die Eingangsszene des 1. Aktes spielt am Hochzeitstag von Swanilda und Franz, ganz in Weiß gekleidet, inmitten ihrer Freunde, die mit ungemein rasanten, temporeichen Tänzen aufwarten. Anna Blackwell und Simone Tribuna geben das junge Paar in jugendlich-vitaler Ausgelassenheit mit wirbelnden Drehungen und bravourösen Sprüngen. Coppélius führt sein Geschöpf in spektakulärer Glitzerrobe und Strahlenkranz beim Fest ein, womit er Franz’ reges Interesse an der schönen Unbekannten erweckt. Er wird später Coppélius bis in dessen Werkstatt folgen und seine Hochzeit mit Swanilda absagen, so sehr ist er Coppél-I.A. verfallen. In der Werkstatt finden sich mehrere Androiden, die von Coppélius’ gescheiterten Versuchen, eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, künden. Swanilda erscheint mit ihren Freunden in der Werkstatt und tauscht ihr Kleid gegen das von Coppél-I.A. aus. In dieser Verkleidung täuscht sie nicht nur Coppélius, der ein furioses Solo hat, welches dem des Rotbart in Schwanensee nicht nachsteht, sondern auch Franz. Am Ende aber ist zwischen den jungen Leuten alles wieder im Lot und es wird doch geheiratet. Bernd Hoppe

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NAXOS setzt seine verdienstvolle Reihe mit Ballettmusiken fort. Neu erschienen ist eine Platte mit dem Titel Dances and Ballet Music von Camille Saint-Saëns (8.574463), die Jun Märkl mit dem Residentie Orkest The Hague im März/April 2022 im niederländischen Den Haag aufgenommen hat.  Eine Naxos-CD vereint eine Sammlung von Gelegenheitsarbeiten des Komponisten Saint-Saens und zwei Ausschnitten aus seinem Hauptwerk Samson et Dalila. Das Programm eröffnet das sechsteilige Ballett des 3. Aktes aus Ètienne Marcel. Die 1879 in Lyon uraufgeführte Oper (als vierte von insgesamt 13) war ein Versuch, die französische Grand opéra wieder zu beleben. Einer lebhaften Introduktion schließt sich die wiegende Musette guerrière an, der eine sanfte Pavane folgt. Eine elegante Valse und der rhythmisch betonte Entrée des  Bohémiens et Bohémiennes beschließen die Suite. Schon hier zeigt sich die Vielfalt der Musik, welcher Dirigent und Orchester mit großem Einfühlungsvermögen und einem an Esprit reichen Spiel gerecht werden.

Auch der 1883 an der Pariser Opéra erstmals gezeigte Henry VIII diente zur Etablierung des Genres der Grand opéra. Daraus gibt es mehrere Ausschnitte – zum einen aus dem 2. bis 4. Akt in origineller melodischer Erfindung und sehr reizvoller Instrumentierung und danach das Divertissement „Fete populaire“. Abwechslungsreiche Szenen, wie eine Idylle écossaise, die Fête du houblon, eine Danse de la gipsy und eine irische Gigue garantieren ein hohes Maß an Unterhaltung. Zwischen diesen beiden Abschnitten gibt es mit den vier Airs de ballet aus Parysatis eine veritable Rarität. Mit ihren kontrastierenden Tempo-Bezeichnungen bieten sie dem Orchester Gelegenheit für ein an Farben und Stimmungen vielfältiges Spiel.

Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt der Anthologie sind die zwei Szenen aus der 1877 uraufgeführten Oper Samson et Dalila – die Danse des prêtresses de Dagon und der Bacchanale. Letzterer zählt zu den unvergänglichen Hits des Komponisten und wird hier mit opulenter Klangpracht und orientalischer Sinnlichkeit geboten.

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Schon im August 2018 entstand für NAXOS in Malmö die Aufnahme des 3. Aktes von Camille Saint-Saëns’ Ascanio, ergänzt um Ouvertures und Vorspiele. Hier spielt, wieder unter Leitung von Jun Märkl, das Malmö Symphony Orchestra (8.574033).

Ascanio wurde 1890 in der Pariser Opéra uraufgeführt, dann noch einmal 1921 am selben Ort anlässlich des Todes seines Schöpfers gezeigt und ist seither der Vergessenheit anheim gefallen. Im 3. Akt der Oper entfaltet sich ein großes Divertissement in den Gärten von Fontainebleau, welches der Komponist Reynaldo Hahn als „Triumph von Geschmack und Eleganz“ pries. Die elf Teile bedienen mythologische Themen. Unter den Göttern und Göttinnen finden sich Venus, Juno und Pallas Athene. Den Auftritt der Diana begleiten Dryaden und Najaden. Bacchus ist umgeben von Bacchanten. Nicht fehlen dürfen Amor und Psyche, dem Liebesgott ist sogar eine eigene Variation gewidmet, deren flirrende Bläser-Töne eine reizvolle Stimmung einbringen. Am Ende des Programms gibt es dieses Stück sogar in einer Alternativ-Version.

Pompös entfaltet sich zu Beginn „L’Entrée du Maître des Jeux“, während die folgende Danse ancienne mit Vénus, Junon und Pallas einen heiter beschwingten Duktus hat. Auch die Gavotte mit Diane ist spielerisch. Das Bacchanale beginnt in stampfendem Rhythmus und geht dann in einen wilden orientalischen Taumel über. In seiner Ekstase ähnelt es dem berühmten Tanz aus dem Samson. Einen lyrischen Kontrast bringt das träumerische „L’Amour fait apparaître Psyché“ ein. Das schwelgerische Finale ist ein beschwingter Kehraus. Mit feinen Valeurs und einer reichen Palette von Stimmungen malt das Orchester die unterschiedlichen Sätze eindrucksvoll aus.

Die Ouvertures aus verschiedenen Werken (Les Barbares, La Jota aragonese, Andromaque, La Princesse jaune) bieten neben ihren klanglichen Idiomen auch Gelegenheit, Bekanntschaft mit unbekannten französischen Werken zu machen. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: The Dante Project aus London. OPUS ARTE erweitert ihre bedeutende Reihe von Produktionen des Royal Ballet London um das neue Stück des Resident Choreographer Wayne McGregor. Es trägt den Titel The Dante Project und entstand im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Uraufführung im Oktober 2021 in einer Koproduktion mit dem Ballett der Pariser Oper erschien nun als Blue-ray Disc (OABD7278D).

Die Bedeutsamkeit des Werkes resultiert auch aus dem Beitrag des Komponisten Thomas Adès, der dafür eine spannungsreiche, vielfältige Musik schuf. Sie tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch und französisch inspiriertem Esprit. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean, die vorwiegend abstrakt arbeitet, lieferte für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer zeigt. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Lichtstimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die einzelnen Szenen sind sogar schwierig zu dechiffrieren und den einzelnen Kapiteln der Divina Commèdia zuzuordnen. Wie aber Musik und Tanz eine Einheit bilden und sich einander bedingen, ist von enormer Faszination. Die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der seit 27 Jahren der Company angehört und schon lange mit dem Choreografen zusammen arbeitet. Als Principal hat er den Mayerling von Kenneth MacMillan und den Leontes in Christopher Wheeldons The Winter’s Tale getanzt. Die Rolle des Dante betrachtet er als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere und gleichzeitig als Abschluss seines Wirkens beim Royal Ballet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt der junge Marcelino Sambé, ein neuer Star des Ensembles, als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Bemerkenswert ist, dass viele Mitglieder der Gruppe neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen haben und dabei glänzende Figur machen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Sie gehört zu den führenden Mitgliedern der Company. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sah man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Hommage bei Unitel: 2023 jährt sich John Crankos Todestag zum 50. Mal. Der in Südafrika geborene Choreograf wurde 1961 zum Stuttgarter Ballettdirektor berufen und führte die Compagnie in kürzester Zeit zur Weltspitze. Der Durchbruch gelang 1962 mit Romeo und Julia – von Unitel in einer Aufführung von 2017 veröffentlicht und auch auf diesen Seiten besprochen. Danach folgten weitere große Handlungsballette, wie Onegin (den Unitel unlängst in einer Aufführung ebenfalls von 2017 herausbrachte und der gleichfalls hier rezensiert wurde) sowie Der Widerspenstigen Zähmung. Jetzt erscheint die Ballettkomödie nach Shakespeares berühmten Stück unter dem Originaltitel The Taming of the Shrew als Blu-ray Disc (808204) bei derselben Firma. Die Aufführungen für die Veröffentlichung wurden im Mai 2022 in Stuttgart aufgezeichnet. Sie ist für alle Ballettfreunde, insbesondere Cranko-Verehrer, eine willkommene Bereicherung des auf Bilddokumenten verfügbaren Oeuvres des Choreografen. Denn bislang existierte nur ein Fernsehmitschnitt von 1971 (in bescheidener technischer Qualität) mit der legendären Besetzung der Uraufführung – Marcia Haydée als Katherina, Richard Cragun als Petruchio und Birgit Keil als Bianca.

Jetzt nehmen aktuelle Stars des Ensembles diese Rollen wahr. Elisa Badenes, die schon als empfindsame Julia bezaubert hatte, zeigt nun als Katherina eine ganz andere Facette ihrer Persönlichkeit. Fulminant ihr Auftritt, wenn sie wie ein Wirbelwind aggressiv, furios in den Pirouetten und Sprüngen, hereinstampft. Auch ihre erste Begegnung mit Petruchio geht klar zu ihren Gunsten aus. Für den Petruchio hätte es keine bessere Besetzung geben können als Jason Reilly, der nach seinem noblen Gremin im Onegin nun gleichfalls einen vollkommen konträren Charakter zu porträtieren hat. In einer Taverne imponiert er bei seinem Entrée mit übermütig prahlerischem Macho-Gehabe, natürlich garniert mit bravouröser Technik. Der erste Pas de deux mit Katherina, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, ist geradezu eine Kampfszene zwischen beiden. Leise Momente der Annäherung unterbricht sie stets mit spöttischen Reaktionen und höhnischer Verachtung. Vor der Heirat hat er ein Solo als betrunkener Bräutigam, wo er gleichermaßen als Komödiant wie als virtuoser Ballerino gefordert ist.

Katherinas liebenswerte Schwester Bianca, die von dem Gecken Hortensio (skurril: Fabio Adoriso), dem Studenten Lucentio (jungmännlich-verliebt, doch leicht effeminiert: Martì Fernández Paixà) und dem alten Gremio (urkomisch: Alessandro Giaquinto) angebetet  wird, ist in der Verkörperung von Veronika Verterich ein anmutiges Geschöpf – zierlich, leichtfüßig und bezaubernd. Köstlich ist das Aufeinandertreffen mit ihrer Schwester, wenn Katherina wie eine Furie hereinstürmt und ihr eine Blume entwendet.

Das Corps de ballet kann vor allem in der turbulenten Hochzeitsszene am Ende des 1. Aktes sowie in den belebten Karnevalsbildern und bei Biancas Hochzeit im 2. Akt brillieren. Dieser beginnt mit der Reise des jung vermählten Paares in Petruchios Haus, wo er Katherina durch seine Diener ärgern und sie zudem hungern und frieren lässt. Hier sieht man den zweiten Pas de deux des Paares, nun in schon stärkerer Zuwendung, denn sie überzeugt sich mittlerweile von seinem liebenswerten Naturell. Schwierige Hebe- und Schleuderfiguren belegen den Ausnahmestatus des Balletts, das in seinen technischen Anforderungen sogar noch den Onegin übertrifft. Katherina und Petruchio haben sogar noch einen Pas de deux mehr zu zeigen als Tatjana und Onegin, der bei Biancas Hochzeit platziert und nicht weniger anspruchsvoll ist. Im mitreißenden Finale hat jeder der beiden Protagonisten noch ein bravouröses Solo zu absolvieren, denen die Jubelstürme des Publikums folgen.

Die Ausstattung von Elisabeth Dalton in rostroter Renaissance-Architektur mit einer Empore (was an Crankos Romeo erinnert) ist werkdienlich und elegant. Die Kostüme sind bis auf die des Protagonistenpaares nahe der Karikatur, charakterisieren die Personen aber liebevoll und mit Witz.

Die Musik von Kurt-Heinz Stolze, der Sonaten für Cembalo von Domenico Scarlatti arrangiert hatte, ist bei Wolfgang Heinz am Pult des Württembergischen Staatsorchesters in den besten Händen. Denn unter seiner Leitung hat sie Esprit, Dynamik und Tempo. Der Dirigent scheut weder harsche Akkorde noch das Gefühl, was wichtig ist für die Tanzduette zwischen Katherina und Petruchio.

Der Bonus hält eine Konversation zwischen den Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Dietrich und Reid Anderson sowie dem Stellvertretenden Musikdirektor Wolfgang Heinz über dieses Ballett fest – seine Entstehung im Probensaal, die Anforderungen an die Protagonisten, die triumphale Aufnahme beim Publikum (in Stuttgart und beim Gastspiel in New York). Per Video wird Marcia Haydée aus Berlin eingespielt, die gerade mit dem Staatsballett ihr Dornröschen einstudiert und nun lebhaft über die Kreation ihrer Katherina berichtet.

Mit dieser Veröffentlichung, mit der nun die drei großen Handlungsballette von John Cranko auf DVD vorliegen, hat Unitel (in Kooperation mit arte, dem SWR und NHK) eine Großtat vollbracht. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Muntagirov at his best. Von Zeit zu Zeit würdigt OPUS ARTE herausragende Tänzer mit der Veröffentlichung eines Schubers von mehreren DVDs. Jüngstes Beispiel ist Vadim Muntagirov, Principal Dancer beim Royal Ballet London seit 2014, wo er viele der klassischen Ballerino-Rollen interpretiert hat und dabei Partner der gefeierten Startänzerinnen der Compagnie war. Mit zahlreichen Preisen geehrt, auch dem prestigereichen Benois de la Danse, ist der Russe eine Ausnahmeerscheinung in der aktuellen Tanzwelt, vor allem wegen seiner exzellenten Technik, die derzeit kaum Vergleiche hat.

Der Schuber „ The Art of Vadim Muntagirov“ mit vier DVDs (OA13598D) hält vier Auftritte des Tänzers zwischen 2016 und 19 fest, beginnend mit dem Albrecht in Adolphe Adams Giselle in der Choreographie von Marius Petipa/Jean Coralli/Jules Perrot. Die Produktion ist ein Juwel im Repertoire des Royal Ballet London. Peter Wrights Produktion (mit eigenen Zusätzen) wurde nach ihrer Erstaufführung 1985 bereits mehrfach auf DVD veröffentlicht. Die erste Ausgabe stammt aus dem Jahre 2006, in der Marianela Nuñez noch die Myrtha tanzte – in der Wiederaufnahme am 5. April 2016 wurde ihr nun die Titelpartie  anvertraut. Die argentinische Ausnahmetänzerin präsentiert sich damit in einer weiteren Paraderolle. Im Auftritt lebhaft und kokett, bravourös auf Spitze in der Diagonalen und in den wirbelnden Pirouetten, zeigt sich bei Giselles Erkennen von Albrechts Betrug und in der Wahnsinnsszene die erfahrene Tänzerin mit ihrer mimischen und gestischen Ausdruckskraft. Mirakulös das Erwachen im nächtlichen Waldbild, die wie in slow motion zelebrierten Figuren, die fliehenden Arabesquen, die überirdische Schwerelosigkeit. Vadim Muntagirov fehlt vielleicht die aristokratische Aura für den Herzog, aber tänzerisch ist er erstklassig mit stupenden battements und weiten grand jetés. Im 2. Akt gewinnt er in seinem Schmerz an romantischer Aura und ist tänzerisch wiederum über jede Kritik erhaben.

Als Myrtha sieht man die strenge, in ihrer Eiseskälte geradezu erstarrte Itziar Mendizabel, Bennet Gartside als männlich-reifen Hilarion sowie die beiden ätherischen Solo-Wilis Olivia Cowley und Beatriz Stix-Brunell. John MacFarlanes stimmige Ausstattung mit ihren wunderbaren Sepia- und Rosttönen sowie den aquarellierten Prospekten ist eine Augenweide. Barry Wordsworth dirigiert das Orchestra of the Royal Opera House und verhilft der Aufführung auch musikalisch zum Erfolg.

Ein Jahr später, am 28. 2. 2017, zeichnete OPUS ARTE eine Aufführung von Tschaikowskys The Sleeping Beauty auf. Die Choreografie von Marius Petipa mit Zusätzen von Frederick Ashton, Anthony Dowell und Christopher Wheeldon hatte 2006 ihre Premiere, auch nach mehr als zehn Jahren hat sie nichts von ihrem Zauber eingebüßt, was auch ein Verdienst von Oliver Messels atmosphärischer Ausstattung (mit Ergänzungen von Peter Farmer) ist.

Wieder ist das Traumpaar aus Giselle in den zentralen Rollen zu erleben. Marianela Nuñez ist eine bezaubernde Aurora, von jugendlicher Anmut und Eleganz. Die schwierigen Balancen im Rosen-Adagio meistert sie souverän, ebenso die anspruchsvollen Variationen. Mit Vadim Muntagirov als Prinz Florimund, der einen bestechenden Auftritt bei seinem Solo im Jagdbild hat, führt sie den Grand pas de deux im Hochzeitsbild in aristokratischer Manier zum Höhepunkt der Aufführung. Zum Tanzfest beim Divertissement im letzten Akt tragen vor allem Akane Takade als Princess Florine und Alexander Campbell als The Bluebird bei. Mit der festlichen  Apothéose beendet Koen Kessels mit dem Orchestra of the Royal Opera House eine glanzvolle Aufführung.

Kenneth MacMillans Manon zählt zu den wichtigsten im 20. Jahrhundert geschaffenen Handlungsballetten. Die Uraufführung fand 1974 beim Royal Ballet London statt. Von dieser Inszenierung in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis existieren bereits zwei Aufführungen auf DVD – 2018 kam eine weitere Aufzeichnung, was den Stellenwert dieses Werkes beim Royal Ballet unterstreicht. Sie erfolgte vor allem deshalb, um Vadim Muntagirovs Interpretation des Des Grieux festzuhalten. Seine Manon ist die junge Sarah Lamb, der man die mondäne Kurtiane weniger zutraut, eher das jugendliche Mädchen, das ins Kloster geschickt wird. Und sie ist in der Tat bezaubernd und anmutig in ihrem ersten Auftritt, schwebend leicht im Tanz mit ihrem Bruder Lescaut (viril: Ryoichi Hirano) und entzückend in der Begegnung mit Des Grieux. Muntagirov beginnt mit einem anspruchsvollen Solo von fließender Eleganz und dann folgt der erste von den vier großen Pas de deux der Choreografie, die deren singuläre Bedeutung ausmachen. Lamb und Muntagirov sind ein ideales Paar – jede Figur, ob Drehung oder Hebung, funktioniert perfekt. Die Vollkommenheit im Zusammenspiel ist besonders wichtig beim zweiten Tanzduo, dem Bedroom’ pas de deux, im Liebesnest des Paares, wo sie ihm die Schreibfeder aus der Hand nimmt und zu einem verführerischern Tanz animiert, der in seiner Sinnlichkeit ohne Vergleich ist. Beim Erscheinen auf der Abendgesellschaft in Madames Hotel particulier überrascht Lamb mit einer mondänen Aura, die man von ihr nicht erwartet hätte. Ihr Solo ist aufreizend und ganz für Des Grieux bestimmt. Muntagirov zeichnet ihn, der Manon nach der Trennung erstmals wieder sieht, verzweifelt und sehnsuchtsvoll. Sein Solo, in dem er Manon um Rückkehr zu ihm  bittet, ist ein existentieller Hilfeschrei – technisch in Vollendung ausgeführt. Wieder vereint in der Wohnung von Des Grieux, findet sich das Paar in einem innigen Pas de deux, der beider neu erwachte Liebe anschaulich zeigt. Aber kokett weist sie auf ihre Juwelen – ihr gespaltenes Ich zwischen Glück und Reichtum führt in die Katastrophe. Deportiert in die Sümpfe von Louisiana, hat Manon vor ihrem Tod einen letzten Pas de deux mit ihrem Geliebten, der zu den anspruchsvollsten der gesamten Ballettliteratur zählt. In seinem geradezu artistischen physischen Anspruch mit spektakulären Hebungen und Würfen sowie der existentiellen Ausdrucksdimension hat er kaum einen Vergleich. Lamb und Muntagirov krönen ihre Interpretation mit diesem Atem beraubenden Finale. Der russische Tänzer findet hier zu einer ungeahnten Dramatik und Leidenschaft.

Das Parfum von Massenets Musik lässt Martin Yates, der die Musik auch arrangierte, mit dem Orchestra of the Royal Opera House gebührend duften und schwelgerisch aufrauschen, was die Aufführung auch zu einem sinnlichen Hörerlebnis macht.

Jüngstes Zeugnis ist Léo Delibes’ Coppélia – ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Alina Cojocaru and Vadim Muntagirov in the roles of Medora and Conrad of Le Corsaire produced by the English National Ballet/ Wikipedia

In neuer Besetzung kehrte die Produktion 2019 ins Repertoire zurück und bezog ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei Principals:  Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der Mitschnitt gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel. Der russische Tänzer gibt mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Musik mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung. Bernd Hoppe

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Eine Besonderheit für Ballettomanen. BelAir hat eine (sehr) besondere Blu-ray Disc herausgebracht mit dem Titel Opéra de Paris – une saison (très) particulière (BAC496). Der Film von Priscilla Pizzato beschreibt die Rückkehr der Tänzerinnen und Tänzer in die Probensäle und auf die Bühnen des Palais Garnier und der Opéra Bastille nach monatelanger Abwesenheit im Pandemie-Jahr 2020. Geprobt wird Rudolf Nurejews legendäre Choreografie von La Bayadère von 1992, mit der die Compagnie ihr Comeback feiern will. Gefordert für diese Produktion sind nicht weniger als 90 Tänzer.

Wie alle Theater in Frankreich mussten auch die Opernhäuser in Paris im März 2020 ihre Pforten schließen. Nach einer Proben- und Aufführungspause von drei Monaten konnte das Ballettensemble am 15. Juni in den berühmten Probensaal unter der Coupole (Kuppel) der Opéra Garnier zurückkehren – niemals in seiner traditionsreichen  Geschichte hatte es eine derart lang Pause überstehen müssen. Unter Anleitung mehrerer Ballettmeister und der Directrice de la Danse Aurélie Dupont beginnen die Tänzer mit den Aufwärmübungen (préparations) und dem Technik-Training.

Zu sehen sind der Premier Danseur Paul Marque, die Danseuse Ètoile Amandine Albisson, der Danseur Ètoile Mathieu Ganio und der Danseur Ètoile Germain Louvet, die über die besonderen Herausforderungen der langen Probenpause und die Schwierigkeiten des Wiederbeginns berichten. Am 15. Oktober konnten die Proben für die Wiederaufnahme der Bayadère beginnen. Vor allem der 3. Akt mit dem Schattenreich („Les Ombres“) ist für das Corps de Ballet eine enorme Anforderung, da 32 Tänzerinnen mit unzähligen Arabesquen scheinbar zu einer einzigen Figur verschmelzen müssen. Danach begann die Probenarbeit mit den Solisten: Der Danseur Ètoile Hugo Marchand versucht sich mit Erfolg an der extrem schwierigen Variation des Solor im Schattenreich, Amandine Albisson probt die Nikiya und deren Solo vor dem Biss der Schlange. Am 19. November fand die erste Probe mit dem gesamten Ensemble statt. Hier ist die Danseuse Ètoile Dorothée Gilbert als Nikiya zu sehen, Paul Marque gibt das Goldene Idol. Am 27. November begannen die Proben auf der Bühne der Opéra Bastille. Hier kommen Marchand und die Danseuse Ètoile Ludmila Pagliero zum Einsatz. Am 4. Dezember findet die Generalprobe in Kostümen und mit Orchester statt. Der Danseur Ètoile Mathias Heymann spricht über die psychische Belastung dieses Abends, aber auch die Vorfreude auf die Premiere mit einem gefüllten Saal und dem Applaus des Publikums. Am 11. Dezember, vier Tage vor dem mit Spannung erwarteten Ereignis, erfahren die Tänzer, dass die Theater in Frankreich nicht öffnen dürfen und alle Vorstellungen annulliert sind. Die Aufführung findet ohne Zuschauer statt und wird live übertragen mit einer unterschiedlichen Besetzung der Danseurs Ètoiles pro Akt. Einer davon, Francesco Mura, macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung.

Die Aufführung ohne Publikum hat am Ende noch einen bewegenden Moment, denn Aurélie Dupont ernennt Paul Marque nach seiner Interpretation des Goldenen Idols zum Danseur Ètoile – stets ein Höhepunkt in der Karriere eines Tänzers. Am 10. Juni 2021, nach einer Schließzeit von 18 Monaten, öffnet die Opéra Bastille erneut ihre Pforten – und diesmal mit Publikum für die Wiederaufnahme von Rudolf Nurejews Roméo et Juiette. Hier tanzt Marque den Roméo und damit seine erste Hauptrolle als neuer Etoile. Und am Ende der Vorstellung wiederholt sich der feierliche Moment einer Ernennung zum Star, denn Aurélie Dupont macht die Juliette des Abends, Sae Eun Park, zur neuen Danseuse Ètoile.

Ein Bonus der Ausgabe bringt ein Interview mit Aurélie Dupont sowie Ausschnitte von den Proben zur Bayadère mit Hugo Marchand, Amandine Albisson, Mathias Heymann und der Ballettmeisterin Clotilde Vayer. Bernd Hoppe

Bach-Wohlklang

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Beim Label APARTÉ hat der junge ungarische Countertenor  Zoltan Darago 2023 in Paris ein Debütalbum aufgenommen, das den Titel Arias for Alto trägt (AP336). Sie stammen sämtlich aus dem Kantaten-Kosmos von J. S. Bach, aus dem der Sänger elf Arien ausgewählt hat. Das Album wird geadelt durch die Mitwirkung von Les Talens Lyriques unter ihrem Leiter Christophe Rousset. Man bedauert, dass das Ensemble keinen instrumentalen Beitrag beigesteuert hat. Aber der Sänger sorgt mit seiner warmen, wohllautenden Stimme für einen großen Hörgenuss. Zu bemängeln ist allerdings die mangelnde Textverständlichkeit – an seiner Artikulation müsste der Altus unbedingt arbeiten.

Unter den elf Arien sind so bekannte wie „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ (BWV 170) und „Geist und Seele wird verwirret“ (BWV 35). Das Programm beginnt mit einer seltener zu hörenden Arie („O Mensch, errette deine Seele“) aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ (BWV 20). Darago singt sie mit wunderbarer Sanftheit und lässt sogleich seine Affinität zu Bachs Musik spüren. Es folgen zwei gleichfalls weniger bekannte Arien: „Wie furchtsam wankten meine Schritte“ aus „Allein zu dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 33) und  „Wohl euch, ihr auserwählten Seelen“ aus „O ewiges Feuer“ (BWV 34). In diesen getragenen Stücken mit ihren ruhig fließenden Passagen kommt die Schönheit der Stimme besonders zum Tragen.

Koloraturen gibt es in Bachs Kantaten nur selten. Zu hören sind sie in „Gott hat alles wohl gemacht“ aus „Geist und Seele wird verwirret. In der Interpretation des Altus verschwimmt jedoch die Kontur in der Stimmführung. Festlich wird die Arie „Erfreute Zeit“ aus der gleichnamigen Kantate (BWV 83) eingeleitet. Auch sie verlangt dem Interpreten jubelnde Koloraturen ab. Die Anthologie endet mit der Arie „Sei bemüht in dieser Zeit“ aus „Barmherziges Herze der ewigen Liebe“ (BWV 185 ), in welcher der Sänger noch einmal mit dem Wohlklang seiner Stimme besticht. Bernd Hoppe

100 Jahre Operngeschichte für die Bass-Stimme

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„Fra  l´ombre e gl´orrori“ heißt ein Album des argentinischen Bassisten Nahuel Di Pierro bei Audax Records, das im Februar 2023 in Paris entstand (ADX 11210). Der Titel entspricht der Arie gleichen Namens aus Händels Kantate Aci, Galatea e Polifemo von 1708. Es ist dies eine der anspruchsvollsten Nummern des gesamten Bass-Repertoires wegen des geforderten immensen Stimmumfangs von über 2 1/2 Oktaven. Di Pierro meistert diese Herausforderung mit seiner sonoren Stimme, die auch in der Extremtiefe noch Wohlklang besitzt,  bewundernswert, so wie er auch die Tessitura in Argantes triumphierender Arie „Sibillar gli angui d´aletto“ aus Händel Rinaldo stupend bewältigt. Sie steht am Schluss des Programms und beendet dieses bravourös. Einen Interpreten von Ausnahmeformat verlangt auch  Claudios Arie „Cade il mondo“ aus Händels Agrippina mit ihren orgelnden tiefen Tönen und großen Sprüngen. Ein weiterer Beitrag aus Händels Oeuvre stammt aus Orlando. Es ist die mit Koloraturen gespickte Arie des Zauberers Zoroastro „Sorge infausta una procella“, in welcher Di Pierro sein virtuoses Vermögen beweist. Mit ihr ergibt sich ein interessanter Vergleich zu Vivaldis gleichnamiger Oper, aus der Di Pierro allerdings eine Arie des Titelhelden („Ah sleale, ah spergiura“) ausgewählt hat. Es ist eine spannungsgeladene Wahnsinnsszene von deklamatorischem Charakter, weil Orlandos angebetete Prinzessin Angelica sich dem heidnischen Soldaten Medoro zugewandt hat. Von Vivaldi gibt es zudem die dramatisch aufgewühlte Arie des Tito Manlio „Se il cor guerriero“ aus dem gleichnamigen Dramma per musica. Ähnlich anspruchsvoll, was den geforderten Stimmumfang betrifft, ist die Arie des Titelhelden „Occhi belli“ aus Giovanni Bononcinis Il ritorno di Giulio Cesare, in der er Calpurnia, seiner letzten Ehefrau, eine überschwängliche Liebeserklärung macht. Der Sänger lässt hier eine ganz sanfte, schwärmerische Stimme hören.

Das Programm des Albums umfasst das Repertoire für die Bass-Stimme von den Anfängen der Oper bis zu ihrer Blüte im Hochbarock, also um die 100 Jahre. Es beginnt – nach dem instrumentalen Einstieg mit der Sinfonia aus Michelangelo Rossis Erminia  sul Giordano – mit Senecas Abschiedsszene „Amici, è giunta l´ora“ aus Monteverdis Poppea. Der Philosoph ist die erste große Bass-Partie der Oper und der Sänger überzeugt hier mit großer Autorität. Auch Francesco Cavallis Ercole amante stammt aus den Anfängen des Genres. Die Arie des Titelhelden „Ma qual pungente arsura“ zeigt ihn kurz vor seinem Selbstmord, weil er, um Schmerzen zu entgehen, ins Feuer springt. Die existentielle Situation der Figur schildert der Interpret mit intensiver Klangrede ungemein plastisch.

Die insgesamt 13 interpretierten Szenen stammen auch von weniger bekannten Komponisten wie Antonio Sartorio (La Prosperità di Elio Seiano), Marc´Antonio Ziani (Alba Soggiogata da´Romani) und Antonio Giannettini (L´ingresso alla gioventù di Claudio Nerone). Einige davon sind Weltersteinspielungen.

Zudem enthält die Anthologie mehrere Instrumentalstücke (aus Zianis Il duello d´amore e di vendetta, Bononcinis Giulio Cesare und Alessandro Scarlattis La caduta de´ decemviri), in denen das klangschön begleitende Ensemble Diderot unter Leitung des Geigers Johannes Pramsohler von kammermusikalischer Durchsichtigkeit bis zu barocker Prachtentfaltung brilliert. Bernd Hoppe

Im Zwielicht

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Die Neuaufnahme von Händels Rinaldo bei GLOSSA, entstanden im August 2023 in London, dürfte es schwer haben, sich gegen die derzeit existierenden Einspielungen zu behaupten. Man denke nur an Carolyn Watkinson bei Sony, Marilyn Horne bei Nuova Era oder David Daniels bei Decca. Bei GLOSSA ist eine höchst divergente Besetzung versammelt, die in einigen Fällen dem musikalischen Anspruch der Kompostion nicht genügt. Die Aufnahme beginnt verstörend mit dem Auftritt des Heerführers Goffredo, den unverständlicherweise der Dirigent Marco Angioloni übernommen hatte. Sein Tenor klingt dilettantisch, eng und strapaziert in der Höhe und meckernd in den Koloraturen. In der Arie „Siam prossimi al porto“, welche den 2. Akt einleitet, muss die Stimme regelrecht. kapitulieren. Die doppelte Verpflichtung ist umso befremdlicher, da er mit dem Ensemble IL GROVIGLIO für ein farbenreiches, akzentuiertes Spiel mit spannenden Kontrasten und Effekten sorgt, seine Meriten also eher als Orchesterleiter hat. Ungenügend ist zudem der Bassist Michele Mignone als Mago cristiano und Araldo, der sich mit brummiger Stimme durch die Arie „Andate, o forti“ im 3. Akt quält.

Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt auch Filippo Mineccia als Titelheld, bei dem die Tendenz zu heulenden Tönen sich verstärkt hat. Darunter leiden besonders der Auftritt mit „Ogn´ indugio“ und gegen Ende des 1. Aktes „Cor ingrato“. Ihm fallen einige Hits des Werkes zu – „Cara sposa“ als getragenes, inniges Liebesbekenntnis und „Venti, turbini, prestate“ als entfesselter Sturm der Leidenschaft. Das erste Solo zeichnet er mit Tönen zwischen Wehmut und Larmoyanz, das zweite mit vehementen Koloraturläufen. An seine frühere Form erinnert der Sänger in „Abbruggio avvampo e fremo“.

So avanciert die renommierte Sopranistin Roberta Mameli als Almirena zum Star der Aufnahme. Die Stimme ist delikat, leuchtend und anmutig – und das nach jahrelanger Karriere. Mit feinen Tönen absolviert sie ihren Auftritt „Quel cor che mi donasti“ und bezaubert in der Arie „Augelletti, che cantate“, welche Vogelstimmen imitiert, mit Süße und Empfindung. Für ihren Hit „Lascia ch´io pianga“ findet sie ganz neue Varianten mit individuellen Verzierungen. Die beiden Arien am Ende des 2. Aktes, „Ah! crudel!“ und „Parolette, vezzi e sguardi“, gehören zu den Höhepunkten der Einspielung – erstere mit tiefer Empfindung vorgetragen, die zweite beherzt und kokett.

Eine Überraschung ist der belgische Countertenor Logan Lopez Gonzalez als König von Jerusalem Argante mit warmem, noblem Timbre, das vielleicht nicht dem Charakter der kriegerischen Figur entspricht, in seiner Kultiviertheit aber besticht. Die zärtliche Arie „Per salvarti, idolo mio“ im 2. Akt entspricht seinem stimmlichen Naturell perfekt.

iAls Zauberin Armida, Argantes Geliebte, ist Vivica Genaux zu erleben, eine Veteranin der Barockszene, die mit dramatischem Aplomb singt und schon bei ihrem Auftritt, „Furie terribili“, mit enormer Attacke fasziniert. Die Szene wird vom Orchester rasant eingeleitet, was die Sängerin aufnimmt und sich furchtlos in extreme Ausdrucksaffekte stürzt. Beeindruckend auch ihr letztes Solo „Fatto è Giove un dio d´inferno“ mit dem Ausdruck geschuldeten

Verfärbungen und Brüchen der Stimme. Francesca Martini komplettiert als Donna und Sirena die Besetzung, hat mit der Arie „Il vostro maggio“ eines der reizendsten Stücke. des Werkes zu singen, was ihr ansprechend gelingt.

Trotz aller Einschränkungen ist die Neuaufnahme interessant wegen der gewählten Fassung. 1711 wurde das Werk als erste italienische Oper Händels für London im dortigen King´s Theatre in the Haymarket uraufgeführt, aber GLOSSA bietet die Version von 1731. Händel hatte dafür einige Arien aus seinen Opern Lotario, Partenope und Admeto eingefügt, die Musiknummern neu geordnet und den Schluss geändert. Armida und ihr Geliebter werden nun von einem Drachenwagen entführt, statt sich zum katholischen Glauben zu bekehren.   Bernd Hoppe    

Edith Mathis

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Wenn das Publikum eine Sängerin oder einen Sänger ins Herz schließt, liegt das oft nicht nur an ihren vokalen Künsten, sondern auch daran, dass dieser Mensch auf der Bühne in Auftreten und Stimme einen Typ verkörpert, der den Geist seiner Zeit spiegelt. So dürften etliche Besucher, die am 1. Februar 1963 das Hausdebüt von Edith Mathis an der Deutschen Oper Berlin erlebten, an Audrey Hepburn gedacht haben, die kurz zuvor mit Filmen wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Ein Herz und eine Krone“ ein neues, mädchenhaftes Frauenideal etabliert hatte. Denn Mathis, die nach einer ersten Karrierestation in Köln mit ihrem Auftritt als Zerlina in DON GIOVANNI zum Ensemble der Deutschen Oper stieß, verkörperte dieses Ideal einer mädchenhaften, zugleich übermütigen wie verletzlichen Unschuld nicht nur optisch mit großen dunklen Augen, kurzen dunklen Haaren und filigraner Erscheinung – die Schweizer Sopranistin besaß auch genau die Stimme für solche jungen Opernfrauen wie Susanna im FIGARO, Sophie im ROSENKAVALIER und Ännchen im FREISCHÜTZ. All diese Partien meisterte Edith Mathis mit unaffektierter Eleganz, deren Ausdrucksspektrum von quecksilbriger Munterkeit bis zu der anrührenden Traurigkeit von Mozarts Pamina, einer weiteren ihrer Paradepartien, reichte. Nur zu verständlich, dass Edith Mathis in den sechziger Jahren nicht nur in Berlin zum Publikumsliebling wurde, sondern schnell eine Weltkarriere machte, bei der sie von Dirigenten wie Karajan und Böhm immer wieder gefördert wurde. Die Deutschen Oper Berlin konnte den jungen Weltstar bis 1971 halten – später kehrte Mathis nur noch Ende der achtziger Jahre als Pamina an ihr einstiges Stammhaus zurück. Doch nicht nur diese insgesamt 170 Abende verbinden Edith Mathis mit der Deutschen Oper Berlin. Ihr Wirken an diesem Haus ist auch durch einige bis heute maßstäbliche Aufnahmen dokumentiert, vor allem Mozarts DIE HOCHZEIT DES FIGARO unter Karl Böhm und Henzes DER JUNGE LORD.

Kurz vor ihrem 87. Geburtstag ist Edith Mathis nun in ihrer Wahlheimat Salzburg verstorben. Die Deutsche Oper Berlin wird ihr ein ehrendes Andenken bewahren. (Quelle Deutsche Oper Berlin)

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Edith Mathis wurde am 11. Februar 1938 in Luzern geboren und starb am 9. Februar 2025 in Salzburg. Sie galt als eine der profiliertesten Mozart-Interpretinnen ihrer Zeit.

Edith Mathis studierte an den Konservatorien Luzern und Zürich (bei Elisabeth Bossart). Ihre ersten Bühnenerfahrungen sammelte sie in ihrer Heimatstadt. Dort gab sie 1957 ihr Debüt als 2. Knabe in Mozarts Zauberflöte. Von 1959 bis 1963 war die junge Sopranistin vier Jahre Ensemblemitglied des Opernhauses in Köln, ab 1963 der Deutschen Oper Berlin. Gleichzeitig führten Edith Mathis Gastspiele an die Staatsoper Hamburg, zum Glyndebourne Festival und immer wieder zu den Salzburger Festspielen. Weitere wichtige Stationen ihrer Karriere waren unter anderem: Covent Garden Opera London, Bayerische Staatsoper München, Metropolitan Opera New York, Wiener Staatsoper, Gran Theatre del Liceu Barcelona, Opéra de Paris. Besondere Höhepunkte ihrer künstlerischen Laufbahn waren ihre Teilnahme an den Uraufführungen der Opern Der Zerrissene von Gottfried von Einem am 17. September 1964 an der Hamburgischen Staatsoper, Der junge Lord von Hans Werner Henze am 7. April 1965 am Deutschen Opernhaus Berlin und Hilfe, Hilfe, die Globolinks von Gian Carlo Menotti am 21. Dezember 1968 an der Hamburgischen Staatsoper.

Edith Mathis’ Repertoire erstreckte sich von den leichten lyrischen Partien Mozarts (Despina, Cherubino, Susanna, Zerlina) bis zum jugendlichen Fach (Agathe / Der Freischütz, Marschallin / Der Rosenkavalier, Contessa / Die Hochzeit des Figaro). Sie sang unter Herbert von Karajan, Karl Böhm sowie Karl Richter einige ihrer bedeutendsten Schallplatteneinspielungen (DGG, EMI, Philips usw.). Sowohl ihr Ännchen im Freischütz als auch ihre Susanna in Le Nozze di Figaro gelten als maßstäblich. Auch als Kunstlied- und Oratoriensängerin machte sich Edith Mathis einen Namen. Besonders am Herzen lag ihr die geistliche Musik von Johann Sebastian Bach. Ihr Vortrag bestach vor allem durch musikalische Ausdruckskraft und Stimmschönheit.

1979 wurde Edith Mathis zur bayerischen Kammersängerin ernannt.[2] Von 1992 bis 2006[2] war sie Professorin für Lied- und Oratorieninterpretation an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 2001 trat sie von der Bühne zurück.[3] Sie leitete zahlreiche Meisterkurse in Europa, Japan, Korea, Kanada und in den USA. Eine ihrer Schülerinnen war Diana Damrau.

Edith Mathis war lange Zeit mit dem Dirigenten Bernhard Klee verheiratet, und zuletzt mit dem Kunstsammler Heinz Slunecko. Im Februar 2025 starb sie zwei Tage vor ihrem 87. Geburtstag in Salzburg. (Quelle Wikipedia/Foto Dacapo August Everding ZDF)

Vielstimmig Lobendes aus München

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Im September 2023 trat Simon Rattle sein Amt als Chefdirigent von Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an. Dazu hatte er sich als ausgewiesener Joseph-Haydn-Fan dessen Oratorium Die Schöpfung ausgewählt, das er mit den beiden Klangkörpern im Herkulessaal der Residenz in München und in der Basilika des Klosters Ottobeuren im Unterallgäu aufführte. Von Rattle ist bekannt, dass er das Oratorium besonders wegen seines optimistischen Menschenbildes liebt; er soll augenzwinkernd behauptet haben:  Wer sich nach diesem Stück nicht automatisch besser fühlt, braucht dringend Hilfe. Diese positive Sicht kommt in der von BR KLASSIK mitgeschnittenen Aufführung durchweg zum Tragen.

Das in allen Instrumentengruppen ausgezeichnete Symphonieorchester beschreibt zunächst unter der souveränen Leitung ihres Chefs die Haydn-Sicht des vor der Entstehung der Welt bestehenden Chaos‘, das unter Vermeidung klarer Tonarten durch den fahlen Gesang des Solo-Basses und sogar manch Dissonantes charakterisiert wird. Dann kommt es nach knapp zehn Minuten zu und es ward Licht zu dem immer wieder überwältigenden, von Trompeten überstrahlten Fortissimo-C-Dur-Akkord mit ungeheurer Leuchtkraft und Intensität. Im Folgenden fallen die von Rattle bevorzugten zügigen Tempi auf, wobei häufige Tonmalerei (Sternenhimmel, Regen und Schnee oder Meereswogen bis zur vielfältigen Tierwelt) genüsslich ausgekostet wird. Der Chor des Bayerischen Rundfunks zeigt sich in der Einstudierung von Peter Dijkstra sorgfältig vorbereitet, indem er wunderbar ausgewogene Klänge hören lässt und dabei auch in der Polyphonie einiger Chöre stets transparent bleibt. Angemessen wird der starke Jubel in den Jubelchören zum Lob Gottes ausgedeutet, bis der technisch anspruchsvolle Schlusschor von allen glänzend präsentiert wird.

Die Gestaltungskraft und gute Diktion des niveauvollen Solistentrios sind über jeden Zweifel erhaben. Es wird von der englischen Sopranistin Lucy Crowe angeführt, die mit blitzsauberer Führung ihrer schlanken Stimme, glasklaren Läufen und Verzierungen begeistert. Auch der Tenor Benjamin Bruns gefällt mit klarer Stimmführung und bester Textverständlichkeit.  Schließlich sind die Partien des Raphael und Adam dem Bariton Christian Gerhaher anvertraut, der vor allem als Adam überzeugt, wenn er mit der Sopranistin z.B. das Liebesduett im 3.Teil in schönstem Legato aussingt; für die tiefere Tessitura des Raphael fehlt ihm einiges an nötiger Bassgrundierung.

Insgesamt ist den hochkarätigen Musikern eine wirklich hörenswerte Aufnahme des beliebten Oratoriums gelungen (BR KLASSIK 900221). Gerhard Eckels

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Mit Vater, Großvater und Urgroßvater als Organist und Komponist für Kirchenmusik schien auch für den jungen Giacomo Puccini die Bestimmung, sich der geistlichen Musik zu widmen, eine gesicherte zu sein, betätigte sich zunächst mit seinem Wirken als Organist und der Komposition seiner Messa di Gloria, die eigentlich viel mehr als eine solche ist, die eigentlich nur aus Kyrie und Gloria bestehen sollte, während der einundzwanzigjährige Puccini die gesamte Liturgie vertonte. Auf der von BR Klassik herausgegebenen CD sind außerdem noch ein Preludio sinfonico und die beliebten Crisantemi, in Italien die Blumen für die Toten, zu finden, und zwar in der Fassung für Streichorchester. Dem Opernfreund wird vieles bekannt vorkommen, so verwendete der Komponist das Agnus Dei für das Madrigal in Manon Lescaut, das Kyrie in Edgar und Motive der Crisantemi gleich in mehreren Opern.

Seit 2017 ist der kroatische Dirigent Ivan Repušic´ Chef des Münchner Rundfunkorchesters,   seit 2014 ständiger Gastdirigent der Deutschen Oper Berlin und designierter Generalmusikdirektor des Leipziger Gewandhausorchesters ab der Spielzeit 2025/26. Mit den Münchnern hat er sich besonders mit der Aufführung verschiedener Verdi-Opern hervorgetan.

Die Messa di Gloria beginnt mit süßem Streicherklang, der eher an eine zarte Liebesgeschichte denken lässt als an ein Flehen um Erbarmen, der spätere Opernkomponist ist bereits in diesem geistlichen Werk zu vernehmen und es lässt nicht verwundern, dass sich Puccini bald ganz der Opern widmen wird. Auch der Chor des Bayerischen Rundfunks wirkt im Kyrie wie weichgespült, solange nur die Damen zu Wort kommen, eher wird Baden in Wohlklang als Glaubensgewissheit verkündet. Angemessen machtvoll erklingt das Gloria. Im geradezu kämpferisch erscheinenden Credo werden insbesondere die Kontraste wirkungsvoll herausgestellt, bei Crucifixus beeindruckt die Steigerung in der Wiederholung. Die Bitterkeit des Todes scheint wie mit Süße überzogen, die Fülle des Wohlklangs ist schier überwältigend. Die beiden Solisten sind Tomislav Mužek und George Petain, der Tenor frisch, keusch und höhensicher, der Bariton warm und geschmeidig. Sie lassen Cavaradossi und Sharpless vor dem geistigen Auge des Hörers erscheinen (BR Klassik 900354). Ingrid Wanja    

Orgelndes barockes Monster

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Ein Album von origineller Konzeption hat der italienische Bassist Luigi De Donato 2022 bei ACCENT aufgenommen (ACC 24392). Es ist dem einäugigen Unhold Polifemo gewidmet, dessen Mythos viele Komponisten des Barock zu einem Tongemälde angeregt hat. Die Platte fokussiert das Geschehen auf den Riesen, der die Nymphe Galatea begehrt und aus Eifersucht seinen Rivalen, den Schäfer Acis, umbringt. Zur bekanntesten Komposition wurde Händels Kantate Aci, Galatea e Polifemo, die 1708 in Neapel uraufgeführt wurde. Die beiden anspruchsvollen Soli  des Ungeheuers bilden dann auch den Einstieg und Abschluss des Programms der CD. „Sbillar gli angui d´ Aletto“ ist die bewegte Eingangsarie, „Fra l´ombre e gl´ orrori“ markiert im Anspruch für den Interpreten, einen Umfang von 2 x1/2 Oktaven bewältigen zu müssen, eine besondere Herausforderung. Der Sänger meistert diese sicher und scheinbar mühelos. Bei zwei Komponisten, Giovanni Bononcini und Nicola Porpora, avanciert Polifemo sogar zur Titelfigur. Aus der Oper des Ersteren, die 1702 in Berlin herauskam und den Helden eher als komische Figur charakterisiert, seine gewalttätigen Eigenschaften also negiert, stammen die Arien „Vanarella, pazzarella“ und „Dieci vacche“. in denen De Donato mit buffoneskem Ausdruck und extrem tiefen Tönen aufwartet. Porporas Werk enthält die virtuose Arie „M´accendi in sen col guardo“, in welcher der Sänger brillieren kann.

Mehrere Komponisten rückten dagegen Galatea ins Zentrum und benannten ihre Komposition nach der Nymphe – so Domenico Alberti in seiner Serenata von 1737 La Galatea. Daraus wählte De Donato „Sanno l´onde“ und die furiose Arie „Se scordato il primo amore“, in der Jagdhörner reizvolle Akzente setzen und der Sänger gebührend auftrumpft, aus. Den identischen Arien-Titel findet man in Johann Georg Schürers Vertonung aus Dresden von 1746. Der Sänger trumpft hier angemessen auf und lässt ein reiches Farbspektrum hören. Schließlich gibt es in einer Cantata in kleiner Besetzung von Antonio Cesti noch einen neuen Titel: Amante gigante. Daraus stammt das gleichnamige Trio, bei dem Polifemo zwei Soprane (Tereza Zimkovà und Pavla Radostovà) assistieren und das eher sakralen Charakter aufweist.

Engagiert begleitet das Ensemble Collegium 1704 unter Václav Luks und hat in der dreisätzigen Sinfonia in C.Dur von Antonio Caldara sowie einer munteren Sinfonia von Schürer auch noch Gelegenheit für instrumentale Beiträge, die es souverän und Affekt betont absolviert. Bernd Hoppe

Im Zauberwald

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Die letzte CD-Aufnahme von Händels Oper Alcina mit Joyce DiDonato bei der DG erschien vor 15 Jahren, die Neueinspielung bei PENTATONE ist daher mehr als willkommen – umso mehr, da sie unter der Leitung von Marc Minkowski entstand, der mit seinem Ensemble Les Musiciens du Louvre eines der spannendsten Händel-Dokumente der letzten Zeit vorlegt. Das Album wurde im Februar 2023 in Bordeaux produziert und auf drei CDs mit einem mehrsprachigen Booklet veröffentlicht (11689581). Spektakulär ist die Besetzung, angeführt von Magdalena Kozená in der Titelrolle. Die tschechische Mezzosopranistin ist bei dem Label regelmäßig besetzt, sorgt aber hier für einen absoluten Höhepunkt ihrer Aufnahmetätigkeit. Die Intensität ihrer Interpretation ist überwältigend, das Spektrum der Emotionen und Farben schier unerschöpflich. Schon in ihrer zweiten Arie, „Sì, son quella!“, verdeutlicht sie mit umflorten Ton den Wechsel im Gefühlszustand der Figur. Bei ihrem „Ah, mio cor!“ im 2. Akt verstärkt sich die existentielle Situation noch und Kozená gelingt mit bebender Stimme und einem Ausdruck von höchster Intensität ein ergreifender Moment in ihrer Interpretation. In „Ombre pallide“ am Ende des 2. Aktes schafft sie einen Zustand von Trance und Verzweiflung, während sie bei „Ma quando tornerai“ im 3. Akt noch einmal ihr virtuoses Vermögen demonstrieren kann. Und ihr letzter Auftritt mit „Mi restano le lagrime“ ist ein ergreifendes Zeugnis ihres tragischen Scheiterns.

Die zweite Sopranpartie des Werkes, Morgana, nimmt Erin Morley wahr und überzeugt mit jugendlichem, süßem Timbre und hoher Sicherheit bei den exponierten Koloraturen. Ihr Bravourstück am Ende des 1. Aktes „Tornami a vagheggiar“ singt sie mit jubilierender Stimme und lässt die Koloraturen glitzern. Im lieblich von der Viuoline umspielten „Arna, sospira“ im 2. Akt bezaubert sie mit Tönen von anrührender Innigkeit, die beim „Credete al mio dolore“ im 3. Akt an Intensität noch gewinnen.

Die Partie des Ruggiero, komponiert für den namhaften Kastraten Giovanni Carestini, ist eine Herausforderung für jeden Interpreten, sei es ein Countertenor oder eine Mezzosopranistin. Hier sorgt Anna Bonitatibus für eine Sternstunde des Barockgesangs mit beglückender Stimme. Energisch trumpft sie in ihrer Auftrittsarie „Di te mi rido“ auf  und demonstriert schon hier ihr virtuoses Vermögen. Im wiegenden „Mi lusinga il dolce affetto“ setzt sie einen intimen Gefühlsmoment und mit dem lyrischen Glanzstück der Partie, „Verdi prati“, das die Schönheit der Natur preist, krönt sie mit sublimen Tönen und feinsten Nuancen ihre Darbietung. Natürlich imponiert sie auch mit ihrem Bravourstück „Sta nell´ ircana pietrosa“ im letzten Akt, einem cavallo di battaglia aller Händel-Mezzosoprane, mit Verve, Geläufigkeit und Emphase.

Version 1.0.0

Konkurrenz hat sie nur in Elizabeth DeShong, die als Ruggieros Braut Bradamante einen dunklen Mezzo von satter Fülle und phänomenaler Virtuosität hören lässt. Schon ihr Auftritt „È gelosia“ imponiert im energischen. Aplomb und der behänden Koloraturläufe. Höhepunkt ihrer Interpretation ist „Vorrei vendicarmi“ im 2. Akt, wo sie wie ein Wirbelsturm durch die Koloraturrouladen rast – ihr gebührt die Siegestrophäe im Wettstreit der Sängerinnen.  Der Countertenor Alois Mühlbacher gibt den Knaben Oberto mit gebührend androgynem Timbre, doch steifen Tönen in der Höhe, der Tenor Valerio Contaldo den in Morgana verliebten Oronte, der in seiner Arie „Semplicetto! A donna credi?“ zwar resoluten Ausdruck, doch auch grobschlächtige Tongebung vernehmen lässt. Einen günstigeren Eindruck hinterlässt er mit dem auftrumpfenden „È un folle“ und vor allem dem kultivierten „Un momento di contento“ im letzten Akt, doch bleibt er der Schwachpunkt der sonst hochkarätigen Besetzung. Alex Rosen komplettiert sie als Melisso mit virilem Bass, der in der großen Arie im 2. Akt, „Penso a chi geme“, mit nobler Tongebung besticht.

Sie alle führt Minkowski mit erfahrener, kundiger Hand und lässt mit seinem Orchester Händels Musik mit ihrem Farbenreichtum und all ihren Affekten erstrahlen. Seine Tempovorgaben sind zuweilen höchst riskant und verlangen den Interpreten das Äußerste an Einsatz und Virtuosität ab. Aufregend sind die Kontraste, welche der Dirigent in seiner Deutung setzt – wenn er am Ende des 2. Aktes bei Alcinas ,,Ah, mio cor!“, das den Verlust ihrer Macht anzeigt, das Orchester geradezu einfriert und klirrende staccati hören lässt. Im Ballet am Ende des 2. Aktes differenziert er deutlich zwischen dem lieblichen Entrée des Songes agréables und dem bedrohlichen Entrée des Songes funestes, macht im Klangbild die beiden unterschiedlichen Welten deutlich. Mit dem Schlusschor „Dopo tante amare“ lässt er das Werk jubilierend ausklingen. Bernd Hoppe