Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Glück mit Gluck

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Erst in jüngster Zeit ist das Interesse an selteneren Opern von Christoph Willibald Gluck erwacht, so dass außer dem populären Werk Orfeo ed Euridice auch andere Titel den Weg auf die CD finden. Jetzt hat das Label Signum ein Recital mit der schwedischen Mezzosopranistin Ann Hallenberg herausgebracht, welches den Titel Gluck Arias trägt und noch weit mehr unbekannte Musik offeriert. Zwei Nummern in der Arienauswahl sind sogar Weltpremieren auf Tonträgern. Das Album wurde im Juli 2024 in London aufgenommen (SIGCD921).

Die durchdacht zusammengestellte Auswahl beginnt mit einer Arie aus Il trionfo di Clelia („Resta, o cara“), geschrieben für die Einweihung des Teatro Comunale di Bologna 1763. Die Oper auf ein Libretto vom Metastasio behandelt die erfolgreiche Verteidigung Roms gegen einen Überfall der Etrusker, angeführt von der noblen Clelia und ihrem Verlobten Orazio. Später folgen aus diesem seltenen Werk noch zwei weitere Ausschnitte: „Saper, ti basti“ und „De´ folgori di Giove“. Alle drei Arien singt Orazio, die beiden ersten als Liebesgeständnisse für Clelia, die letzte als Aufruf zum Kampf. Die Stimme der Mezzosopranistin nimmt sogleich in der ersten Arie mit ihrem warmen, schmeichelnden Klang für sich ein. Perfekt ausgeführt sind die Koloraturläufe, das Da capo wird geschmückt mit zusätzlichen Verzierungen und einer virtuosen Kadenz. Purer Wohllaut auch in der zweiten Arie, und fulminant die dritte als heroischer Aufruf mit Trompeten und Schlagwerk. Sie steht am Ende der Auswahl und steht mit ihrem virtuosen Anspruch für einen brillanten Schlusspunkt.

Die Arie „O del mio dolce ardor“ ist das bekannteste Stück der 1770 im Wiener Burgtheater uraufgeführten Oper Paride ed Elena. Hier fließt die Stimme in nobler Linie und edler Empfindung. Noch immer eine Rarität ist die 1744 in Venedig herausgekommene Ipermestra, aus der die Arie des Linceo, „Io non pretendo“, erklingt. In diesem Stück von energischer Entschlossenheit fehlen nicht beherzte Koloraturen und resolut auftrumpfende Töne. Natürlich gibt es im Programm auch einen Titel aus Glucks populärster Oper Orfeo ed Euridice: „Che puro ciel“. Hallenberg wählte die Version von 1769 aus Parma, welche Gluck für den Kastraten Giuseppe Millico adaptierte, und findet zu betörenden Klängen. Auch Ezio existiert in mehreren Versionen, denn die Oper wurde 1750 in Prag uraufgeführt und vom Komponisten für die Aufführung in Wien 1763  bearbeitet. Die Arie der Fulvia „Ah, non son io che parlo“ stammt aus dem Original. Nach dem erregt deklamierten Rezitativ wird auch die Arie bestimmt von stürmischem Duktus und hastig hervorgestoßenen Wortfetzen.

Es folgen weitere seltene Titel – das sanft-kantable „Di questa cetra in seno“ aus Il Parnasso confuso (1765/Wien), das hochmütig-anmaßende „Maggior follia“ aus La Semiramide riconosciuta (1748/Wien) und das zärtliche, von Flöten und Oboen reich geschmückte „L´augellin da´ lacci sciolto“ aus Le nozze d´Ercole e d´Ebe“ (1747/Pillnitz). In diesen drei Stücken von ganz unterschiedlichem Charakter offenbart sich noch einmal die hohe Kunst der Sängerin im Vortrag und in der Charakterisierung.

Die Solistin wird vom Ensemble THE MOZARTISTS unter Leitung von Ian Page begleitet, der ihr lebhafte Impulse gibt, welche das Zusammenwirken von Sängerin und Orchester auf ein beglückendes Niveau heben. Im „Reigen seliger Geister“ aus Orfeo ed Euridice hat das Orchester auch Gelegenheit für einen solistischen Auftritt, den es mit nobler Kultur wahrnimmt.  Bernd Hoppe

Erika Grimaldi

 

Ein Gespräch über Entwicklung und die Lust, vertraute Rollen immer wieder neu zu vertiefen: Erika Grimaldi steht in Bonn vor einem wichtigen Rollendebüt: als Abigaille in „Nabucco“. Im Interview mit Beat Schmid spricht die Sopranistin unter anderem über die Faszination einer Rolle, in der Stärke und Zerbrechlichkeit unmittelbar nebeneinander stehen, warum für sie alles beim Libretto beginnt, und weshalb Respekt vor dem eigenen Instrument wichtiger ist als jeder Effekt.

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Frau Grimaldi, Sie geben in einer Neuproduktion von „Nabucco“ ihr Debüt in Bonn und in der Rolle der Abigaille. Was hat Sie an dieser Partie gereizt und wie haben Sie die Rolle vorbereitet? Da ich bereits Lady Macbeth interpretiert habe – eine Rolle, die mir großen Spaß gemacht hat -, hatte ich das Gefühl, dass mich diese Erfahrung in gewisser Weise auch Abigaille näherbringt. Sie ist eine Figur, die sehr weit von dem entfernt ist, wie ich im Alltag bin, und gerade deshalb bietet sie mir die Möglichkeit, über mich hinauszugehen, zu übertreiben und beim Spielen umso größeren Spaß zu haben. Der erste Schritt in der Vorbereitung der Rolle war die Frage, was für eine Frau Abigaille ist und woher ihre Bosheit und ihr Machtstreben kommen, der Wunsch, den Thron zu erobern und sich als Nummer eins durchzusetzen. Deshalb habe ich beim Wesentlichen begonnen: beim Libretto.

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Erika Grimaldi: Tosca am Teatro Regio di Parma, Credit: Roberto Ricci

Abigaille ist eine widersprüchliche Figur, letztlich die Antagonistin der Oper. Gibt es Momente, in denen Sie Mitgefühl für sie empfinden? Sicherlich ist Abigaille eine der widersprüchlichsten Gestalten der Opernliteratur. Sie ist eine äußerst kämpferische Frau, und trotz all ihrer Aggressivität glaube ich, dass ihre Wut daraus entsteht, dass ihr Liebe fehlt. In ihrem gewaltsamen Handeln steckt der tiefe Wunsch nach einer Art sozialer Rehabilitation.
Es gibt viele Seiten, die man berücksichtigen muss: Zum einen die intime, persönliche Dimension, die mit ihrer Vergangenheit zusammenhängt und der Entdeckung, die Tochter von Sklaven und adoptiert zu sein. Zum anderen ihre politische Ambition, um jeden Preis den Thron zu erobern. Und es fehlt auch nicht der Liebesaspekt: die nicht erwiderte Leidenschaft für Ismaele, die in ihr ein Rachegefühl auslöst, auch gegenüber der Schwester.
Aus diesem Grund weiß ich nicht, ob ich Mitgefühl für sie empfinde, außer am Ende der Oper, kurz vor ihrem Tod, wenn sie um Vergebung bittet und sich ihrer Fehler wirklich bewusst wird. In diesem Moment erwacht die Frau, die sie ursprünglich war, wie auch ihre Kavatine erzählt: einfach, gut, empathiefähig.

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Es handelt sich in Bonn um eine Neuproduktion: Wie wird Abigaille gezeigt, und wo setzen Sie Ihre persönlichen Akzente? Es ist eine moderne Inszenierung. Die Handlung ist in die Gegenwart verlegt, das Konzept eindeutig zeitgenössisch.
Meine interpretatorischen Akzente sind natürlich von den musikalischen und szenischen Entscheidungen dieser Produktion geprägt, die jedoch der Natur der Figur treu bleiben. Meine Abigaille bewahrt daher ihre gesamte dramatische Kraft und ihre Momente der Verletzlichkeit, so wie es Verdi und das Libretto vorsehen, lediglich in einen anderen Kontext übertragen als den ursprünglichen: in einen modernen, der heutigen Zeit nahen Rahmen.

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Aus technischer Sicht gilt Abigaille als extreme Partie (Lage, Registerwechsel, Koloraturen, Tiefe und Höhe). Wie gehen Sie diese Rolle stimmlich an? Ich muss sagen, es handelt sich wirklich um eine extreme Partie und meiner Erfahrung nach wahrscheinlich um eine der schwierigsten. Die Schreibweise ist in jeder Hinsicht heikel: Die Koloraturen zum Beispiel haben nichts Leichtes oder Schwebendes, sondern sind dramatisch. Dazu kommt der ständige Wechsel von einem äußerst tiefen in ein äußerst hohes Register, was eine zusätzliche technische und interpretatorische Herausforderung darstellt.
An Sanftem, Zartem oder Lyrischem gibt es fast nichts – abgesehen von wenigen Momenten wie der Kavatine und der finalen Todesszene, die ein intimeres, introspektiveres Intermezzo bieten. Ansonsten ist es eine Rolle, die keine Improvisation zulässt: Man muss sie von Anfang an mit äußerster Sorgfalt angehen, weil sie aus technischer Sicht gefährlich werden kann. Man muss Note für Note, Übergang für Übergang abwägen und sie sich nach und nach aneignen.

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Erica Grimaldi: Mimì am Teatro Regio di Torino, credit: Edoardo Pica

Seit 2022 haben Sie in fünf große Verdi-Rollen debütiert: Leonora in „Il trovatore“, Leonora in „La forza del destino“, Aida, Lady Macbeth und Amelia in „Un ballo in maschera“. Gab es eine Rolle, die Ihnen die Richtung der Entwicklung Ihrer Stimme besonders deutlich gezeigt hat? Und haben diese Debüts Ihren Blick auf Ihr Instrument verändert? Die erste wirkliche Repertoireveränderung kam mit Leonora im „Trovatore“. Im Nachhinein würde ich diesen Einstand jedoch nicht als echten Wendepunkt bezeichnen, denn es ist eine Rolle, die viel Lyrisches hat und nicht ausgesprochen dramatisch ist. Die wahre Offenbarung war Aida: eine lange, komplexe Rolle, die viele Nuancen vereint und für jeden, der sie zum ersten Mal angeht, einen wirklichen Meilenstein darstellt. Obwohl auch sie eine sehr lyrische Ader hat, hat mir Aida erlaubt, über mich hinauszugehen, und von dort aus kamen Rollen wie Leonora in „La forza del destino“, Lady Macbeth, Amelia in „Un ballo in maschera“ und weitere.
Diese Debüts haben jedoch nie meinen technischen Ansatz oder meinen Blick auf mein Instrument verändert. Ich glaube, jede Stimme durchläuft eine natürliche Entwicklung, die respektiert werden muss, ohne Zwang oder Abkürzungen. Meine Stimme war nicht von Anfang an dramatisch: Ich habe mich diesem Repertoire später genähert, mit mehr Erfahrung und Reife.
Mein Instrument hat sich sicherlich entwickelt und ist gereift, aber mein technischer Ansatz beim Erarbeiten dieser Rollen ist absolut derselbe geblieben. Wobei das Ziel selbst bei der Interpretation einer „schweren“ Partie immer darin besteht, eine gewisse Leichtigkeit und stimmliche Reinheit zu bewahren, ohne je zu übertreiben oder dem Wunsch nachzugeben, mehr zu geben, wenn das nicht zur eigenen physischen Stimmstruktur passt. Das ist sehr wichtig: der Respekt vor dem eigenen Instrument.

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Wie ordnen Sie Abigaille innerhalb Ihrer Verdi-Rollen ein: als vorläufigen Höhepunkt oder als Ausgangspunkt? Nach Lady Macbeth und Abigaille würden Rollen wie Odabella in „Attila“ oder Elvira in „Ernani“ naheliegen… Das ist eine schwierige Frage, denn Abigaille kann nicht als Ausgangspunkt gelten, sondern eher als Zielpunkt. Es ist eine Rolle, zu der man nur mit viel Erfahrung gelangt, die man nicht jeden Tag singen kann. Sie stellt die Stimme auf eine harte Probe, und um die stimmliche Gesundheit zu bewahren, sollte man sie nur bei entsprechender Gelegenheit und mit den richtigen Abständen angehen.
Natürlich kann man, blickt man in der Zukunft auf Rollen wie Odabella, sagen: Abigaille – zusammen mit Lady Macbeth – kann auch als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen gesehen werden. Persönlich finde ich Lady Macbeth leichter als Abigaille, während ich Odabella noch nicht beurteilen kann, da ich sie nie gesungen habe. Elvira in „Ernani“ hingegen würde ich nicht zu diesen „extremen“ Heldinnen zählen: Im Gegenteil, ich glaube, ich hätte sie auch vor Lady Macbeth oder Abigaille singen können.
Kurz gesagt: Abigaille ist eine Rolle, zu der man erst mit solider Erfahrung gelangt, die zugleich aber den Weg zu neuen Debüts öffnen kann. Sie ist also – je nach Perspektive – sowohl ein Ziel- als auch ein Ausgangspunkt.

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Gibt es in Bonn einen besonderen Ort, der während der Proben zu Ihrem Rückzugsort geworden ist? Ich muss sagen, ich kannte diese Stadt und das Theater nicht, ich war vorher noch nie dort. Sie hat mich sehr beeindruckt: Es ist keine große Stadt, aber gerade deshalb lebt es sich dort sehr gut. Ich habe eine herzliche Aufnahme und ein wirklich positives Umfeld gefunden. Auch das Theater war eine schöne Entdeckung für mich. Es gibt keinen konkreten Ort, der zu meinem Rückzugsort geworden wäre, aber ich habe die Stadt und das Theater als Ganzes als sehr entspannt erlebt.

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Im Juni kehren Sie als Tosca nach Bonn zurück, eine Rolle, die Sie erstmals im vergangenen Jahr gesungen haben. Wie hat sich die Rolle seit Ihrem Debüt entwickelt? Wie bei jeder neuer Rolle wächst mit der Zeit die Vertrautheit mit der Figur. Tosca ist ein Charakter, den ich besonders liebe und den ich mittlerweile mehrfach gesungen habe: Jedes Mal, wenn ich sie interpretiere, fühle ich mich ihr näher. Ich würde nicht sagen, dass sich meine Interpretation gegenüber dem Debüt radikal verändert hat, sie ist vielmehr gereift.
Das Schönste, wenn man eine Rolle mehrmals interpretiert, ist, dass Passagen und Intentionen, die man anfangs nur im Kopf klar hat, die aber nicht immer sofort zum Vorschein kommen, mit der Zeit natürlicher werden, mehr zu den eigenen werden. Diese wachsende Vertrautheit bringt eine größere Ausdrucksfreiheit mit sich: Die Interpretation an sich ändert sich nicht, aber die Art, sie zu vermitteln, weil man mehr Mittel hat, den Charakter lebendig und authentisch zu gestalten.

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Erica Grimaldi: „La forza del destino“ in Bologna, Credit: Andrea Ranzi

In weniger als zwei Jahren haben Sie in drei großen Puccini-Rollen debütiert: Manon Lescaut, Madama Butterfly und Tosca. Was verbindet diese Figuren für Sie, und worin unterscheiden sich ihre stimmlichen Anforderungen? Ich würde sagen, alle drei sind sehr leidenschaftliche und zugleich tragische Frauen. Sie leben die Liebe absolut, doch wird die Liebe für sie zu einer zerstörerischen Kraft, geprägt von Betrug, Eifersucht oder, im Fall von Butterfly, gesellschaftlichen Zwängen. Und alle drei enden mit dem Tod: Tosca, die sich von der Engelsburg stürzt; Butterfly, die sich ersticht; und Manon, die in der Wüste stirbt. Drei unterschiedliche Schlüsse, aber alle mit einem fatalen Ausgang.
Ein weiteres verbindendes Element ist das Verhältnis zu dem Mann, den sie lieben und der auf unterschiedliche Weise die Ursache ihres Schmerzes und ihres Endes ist. Tosca mit Cavaradossi – und indirekt mit Scarpia; Butterfly mit Pinkerton; Manon mit Des Grieux. Diese Männer sind der Motor ihrer Geschichte, aber auch ihres Endes.
Natürlich gibt es wichtige psychologische Unterschiede. Tosca ist vielleicht die Stärkste: impulsiv, mutig, stolz, fähig, Scarpia die Stirn zu bieten. Butterfly hingegen ist das Gegenteil: zerbrechlich, ihrem Gefährten absolut treu, bereit, sich bis zum Äußersten zu opfern. Ihre Tragödie entspringt der Illusion, zu glauben, dass Warten und absolute Treue Sinn haben und sich lohnen könnten. Manon schließlich ist eine ambivalentere, komplexere Figur: Einerseits liebt sie Des Grieux aufrichtig, andererseits fühlt sie sich vom Luxus und vom Vergnügen angezogen, darin ist sie sehr viel irdischer. Man könnte sagen: Tosca ist eine Heldin, Butterfly ein Opfer und Manon die widersprüchlichste der drei.
Auch stimmlich gibt es grundlegende Unterschiede. Für mich ist Madama Butterfly die anspruchsvollste: eine sehr lange Oper, in der die Protagonistin die Bühne nie verlässt und keinen Moment zum Atemholen hat. Die Schreibweise verlangt eine kontinuierliche Intensität, große Bögen, die in die Höhe steigen und in den dramatischsten Momenten in die Tiefe gehen, ohne Möglichkeit, sich zu schonen. Manon Lescaut ist technisch etwas weniger heikel, aber sehr kompliziert wegen der ständigen Stilwechsel: Es gibt typisch puccineske, weite, leidenschaftliche Seiten, die sich mit fragileren, fast sogar „frühklassischen“ Momenten abwechseln. Und das führt dazu, dass man stimmlich und darstellerisch ständig umzuschalten muss. Tosca hingegen ist vokal geradliniger, gewiss nicht einfach, aber weniger strapaziös als die beiden anderen, während die größte Schwierigkeit darin besteht, ihrem feurigen, leidenschaftlichen Temperament stets Ausdruck zu verleihen.

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Im nächsten Jahr folgen Giorgetta („Il tabarro“) und Suor Angelica in Washington, D.C., und in der Carnegie Hall. Was fasziniert Sie an diesen beiden Frauen des „Trittico“, auch im Kontrast zu Tosca und Manon? Vorweg: Es handelt sich um zwei Debüts, das der Giorgetta und das der Suor Angelica. Rollen also, die ich noch nicht ganz als „meine“ empfinde. Was mich jedoch sofort beeindruckt hat, ist der Unterschied zwischen diesen beiden weiblichen Welten. Es sind sehr unterschiedliche Figuren, die beide zutiefst menschliche Aspekte des Lebens erzählen.
Giorgetta ist eine sehr leidenschaftliche Frau, die in ihrer Ehe gefangen ist und ihr Glück anderswo sucht. Suor Angelica hingegen ist eine transzendentalere Figur, die konstant im Schmerz lebt und im Finale Erfüllung findet, wenn sie ihren Weg mit totaler Hingabe beschließt. Giorgetta und Angelica leben intimere, alltäglichere Gefühle als etwa Tosca oder Manon.
Ich glaube, die große Besonderheit des „Trittico“ ist, dass Puccini sich dazu entscheidet, Frauenfiguren zu zeichnen, die vielleicht weniger heroisch, aber unseren Alltagserfahrungen näher sind. Frauen, die lieben, die Fehler machen, die leiden und die – auf unterschiedliche Weise – einen Weg suchen, sich vom Schmerz zu befreien.

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Die Rolle, die Sie am häufigsten gesungen haben, ist Mimì. Inwiefern hilft Ihnen diese lange Erfahrung, die dramatischeren Puccini-Figuren wie Butterfly oder Tosca anzugehen? Mimì war für mich – das sage ich jetzt und bestätige es im Rückblick – eine fundamental wichtige Rolle und ist es bis heute. Ich kann in der Gegenwartsform sprechen, weil ich sie weiterhin singe und mich ihr verbunden fühle. Es ist die Puccini-Rolle, die ich mit Abstand am häufigsten interpretiert habe, mit der ich am vertrautesten bin und die ich am besten kenne, und gerade deshalb ist sie auch die Partie, von der ich am meisten gelernt habe.
Aus stimmlicher Sicht ist die Schreibweise typisch für Puccini, die sich dann in Tosca und Butterfly weiterentwickelt. Mimì ist ein junges Mädchen, und deshalb verlangt ihre Interpretation Reinheit: Reinheit des Gesangs, Reinheit der Linie und eine große Fähigkeit, stets „auf dem Atem“ zu singen. Sie ist eine unschuldige Figur, und man muss ihre Emotionen mit größtmöglicher Natürlichkeit und Intimität wiedergeben.
Diese lange Beschäftigung mit Mimì hat mir solide technische Grundlagen gegeben, aber auch ein szenisches Bewusstsein, das ich dann in dramatischere Rollen wie Butterfly und Tosca mitnehmen konnte. Mit Butterfly gibt es sogar eine gewisse Kontinuität: Im ersten Teil finden wir dieselbe Zartheit und Unschuld von Mimì wieder, die sich dann aber ab dem zweiten Akt entwickelt. Tosca hingegen ist völlig anders: eine theatralische, stolze, dramatische Figur. Und doch hat mich auch hier die Erfahrung mit Mimì gelehrt, nie die Intimität und die emotionale Wahrheit zu verlieren, selbst in Momenten größter dramatischer Kraft.
Letztlich war Mimì für mich eine wertvolle Wegweiserin, weil sie mir geholfen hat, das Gleichgewicht zwischen rein lyrischem Gesang und szenischer Wahrheit zu finden, das man auch für die „heroischeren“ Puccini-Figuren braucht.

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Ein Blick in die Zukunft: Welche neuen Rollen würden Sie in den nächsten Jahren gern interpretieren? Was ich mir im Moment am meisten wünsche, ist, die Rollen weiter zu singen, die ich in letzter Zeit debütiert habe. Ich möchte sie oft singen, um sie wirklich zu vertiefen, sie mir vollständig zu eigen zu machen und zu hundert Prozent zu leben, natürlich einschließlich Abigaille. Das Debüt ist immer ein besonderer Moment, voller Energie und Adrenalin, aber ich glaube, die eigentliche Arbeit beginnt erst danach.
Deshalb ist mein großer Wunsch, diese Rollen, die ich zutiefst liebe und die zugleich jene sind, von denen jede Sopranistin träumt, sie mindestens einmal im Leben zu singen, häufig wiederholen zu können. Jetzt, da dieser Moment für mich gekommen ist, möchte ich ihn in vollen Zügen genießen, ohne zu sehr an die Zukunft zu denken, sondern im Hier und Jetzt zu leben.
Natürlich gibt es auch Rollen, die ich noch nicht gesungen habe und die ich gern angehen würde. Ein Beispiel? Elisabetta di Valois in Verdis „Don Carlo“. Eine Oper, die ich gut kenne und die mich immer gefesselt hat. Ich würde sie sehr gern interpretieren. Wir werden sehen, was die Zukunft bereithält.

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Sie singen regelmäßig auf den großen internationalen Bühnen. Gibt es dennoch ein Opernhaus oder Festival, auf dessen Bühne zu stehen Sie träumen? Oh ja, gewiss. Einer der großen Träume eines jeden Künstlers ist es, an der Metropolitan Opera in New York zu singen: Nun, da dieses Debüt in der Spielzeit 2026/27 endlich konkret auf dem Programm steht, empfinde ich einfach eine riesengroße Vorfreude. Ein weiterer Wunsch ist es, an eines der wichtigsten Theater nicht nur der Welt, sondern vor allem meines Landes zurückzukehren: an die Scala. Damit nehme ich den anderen Theatern nichts – ich liebe sie wirklich alle -, aber wenn ich einen besonderen Traum nennen soll, dann ist es genau dieser.

Welchen Rat würden Sie der jüngeren Erika Grimaldi am Beginn ihrer Karriere heute geben? Man darf die Dinge niemals als selbstverständlich hinnehmen – ein Grundsatz, den man sowohl in jungen Jahren als auch mit fortschreitender Karriere im Blick behalten sollte. Wenn man einen künstlerischen Weg einschlägt, gelangt man an einen Punkt der Vorbereitung, der es erlaubt, mit Bewusstsein auf die Bühne zu gehen. Das bedeutet aber nicht, dass damit alles für immer erworben wäre: Jede Rolle ist eine eigene Welt mit spezifischen Eigenschaften, die gemeinsam mit dem Künstler wachsen, unabhängig davon, ob es eine große oder kleine Rolle ist.
Deshalb gilt: Auch nach den ersten Erfolgen sollte man eine gewisse kritische Distanz zu dem bewahren, was man singt. Jede Partie hebt unterschiedliche Aspekte der Stimme hervor und bringt Schwierigkeiten mit sich, die angegangen, verinnerlicht und überwunden werden müssen. Kurzum: Man darf nie etwas als gegeben ansehen, sondern sollte jede Partitur mit Demut angehen und das Beste geben, mit den Kenntnissen, die man in diesem Moment hat. Es ist ein Beruf, der ständige Weiterentwicklung verlangt – die kontinuierliche Aneignung neuer Mittel, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Wer stehen bleibt, geht unweigerlich rückwärts. Deshalb sind Studium, Demut und die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu hinterfragen, grundlegend.

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Erica Grimaldi: In ihrer Garderobe während einer Vorstellung von „Un ballo in maschera“ am Opernhaus Zürich, Credit: Tim Weiler

Wenn Sie eine Opernfigur zum Abendessen einladen könnten: Wen würden Sie wählen und worüber würden Sie sprechen? Wen ich zum Abendessen einladen würde? Gute Frage. Für mich muss das Abendessen ein Moment der Entspannung und des Vergnügens sein – eine Gelegenheit, den Alltag hinter sich zu lassen. Vielleicht könnte ich andersherum antworten: Anstatt gleich zu sagen, wer es ist, beschreibe ich die Eigenschaften – und dann müssen die Leser raten.
Also… Ich würde eine sehr witzige Frau einladen, eine Buffofigur aus der Oper des 18. Jahrhunderts: schlau, äußerst pragmatisch, schlagfertig und vor allem Meisterin der Verkleidung. Eine echte Komplizin in ihrer Rolle, skeptisch gegenüber treuer Liebe, bereit, ohne allzu viele Skrupel Ratschläge zu erteilen… und fähig, mich das ganze Abendessen über zum Lachen zu bringen.
Wer könnte das wohl sein? [* Auflösung am Ende des Interviews]

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Welche Musik hören Sie privat, wenn Sie gerade keine Opernpartitur in der Hand haben? Ich habe kein bevorzugtes Musikgenre, sondern mag ein bisschen von allem. Ich höre auch einfach die Musik, die im Radio läuft, und verfolge, wenn ich kann, gern das Festival di Sanremo. Ich habe keine besonderen Vorlieben, obwohl ich Jazz sehr schätze.
Privat hängen meine Hörgewohnheiten ein wenig vom Moment ab, von dem, was im Fernsehen oder anderswo zufällig auftaucht: Ich suche nicht gezielt nach bestimmten Dingen. Anders ist es, wenn es um meine Arbeit geht: Da suche und höre ich mit besonderer Aufmerksamkeit, mit der Konzentration, die die professionelle Vorbereitung erfordert.
Ich würde also sagen, ich höre alles – mit einer einzigen Ausnahme: Ich mag keine Diskothekenmusik, dieses etwas „hämmernde“. Mir ist wichtig, dass Musik – auch in anderen Genres als meinem – eine Entwicklung hat, einen roten Faden, etwas Interessantes aus musikalischer Sicht oder zumindest einen erzählerischen Gehalt im Lied.

 

.Auf der Bühne interpretieren Sie oft Königinnen und tragische Heldinnen. Welche ganz „alltägliche“ Rolle im Leben bereitet Ihnen die meiste Freude? Es stimmt, auf der Bühne verkörpere ich oft Königinnen oder tragische Heldinnen. Aber im Alltag ist die wichtigste Rolle leicht zu benennen: die der Mutter. Sie ist zweifellos anstrengend, manchmal sehr fordernd, aber ohne Zweifel die schönste der Welt, denn sie holt mich sofort in die Realität und in die Spontaneität zurück. Es ist eine Rolle ohne Applaus – das stimmt -, aber voller Liebe. Beat Schmid

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* Despina in „Così fan tutte”

 

 

 

Verdienstvoll mit Fleck

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Wie viele Komponisten der Nach-Verdi-Zeit sind mit nur einem Werk dauerhaft auf den Opernbühnen der Welt präsent und hätten es doch verdient, dass auch ihre anderen, oft zahlreichen Werke noch auf den Spielplänen stünden. Neben Mascagni mit seiner Cavalleria, Ponchielli mit seiner Gioconda, Giordano mit seinem Andrea Chénier oder Zandonai mit seiner Francesca da Rimini gehört auch Francesco Cilea mit seiner Adriana di Lecouvreur dazu, dessen Lamento des Federico aus L‘Arlesiana es immerhin zur Zugabenummer für Tenöre geschafft hat. Gianandrea Gavazzeni, obwohl in der Donizetti-Stadt Bergamo geboren und gestorben, liebte den Verismo und setzte sich stets für ihn ein. Seine Gattin Denia Mazzola Gavazzeni folgt im darin und hat nun die einst sehr erfolgreiche Oper Cileas La Tilda nicht nur konzertant aufgeführt, sondern bei dem so altehrwüdigen wie rührigen Verlag Bongiovanni in Bologna als CD verlegen lassen. Derartige Neuerscheinungen erfüllen den Opernfreund immer mit gemischten Gefühlen, wenn er zwischen der Freude, die Bekanntschaft mit einem ihm bisher unbekannten Werk zu machen und der Besorgnis darüber, inwieweit die Sängerin, die sich natürlich stets der Titel- oder Hauptpartie annimmt, dieser noch gewachsen ist, hin-und herschwanken muss. Die jetzt erschienene Aufnahme von La Tilda entstand im Januar 2025 im Conservatorio „G.Verdi“ in Mailand.

La Tilda ist eine römische Straßensängerin, allerdings im Unterschied zur venezianischen Gioconda bereits mit einer halbwüchsigen Tochter namens Cecilia gesegnet. Sie verzehrt sich in Liebe zum französischen Offizier Gastone, der seinerseits mit der römischen Adligen Agnese verlobt ist. Als Gastone Tilda Geld für Liebesdienste anbietet, ist diese so empört, dass sie den römischen Polizisten Geld für die Freilassung eines Räubers anbietet. Das Geschäft findet statt, und der Bandit Gasparre revanchiert sich für seine Befreiung, indem er mit seinen Kumpanen Agnese und Gastone entführt. Tilda ist gerade gesonnen, die Rivalin Agnese zu ermorden, als Glockengeläut beide Frauen ins Gebet sinken lässt. Im dritten Akt behauptet Tilda gegenüber Gastone, seine Verlobte ermordet zu haben, und erreicht so, dass er sie ersticht. Sie findet gerade noch die Zeit, die Verlobten sterbend zu segnen. Wenigstens ist sie durch die Hand des geliebten Gastone gestorben.

Süße Melancholie oder melancholische Süße zeichnet die Musik Cileas auch in diesem Werk aus, in dem zwar der Sopran den Titel einnimmt, der Tenor aber das letzte Wort hat, wenn es auch nur ein „Morta, ,morta“ ist, dem Gastone im Unterschied zu Maurizio noch ein „O sciagurata amor“ hinzufügen darf.

Natürlich kann man Denia Mazzola Gavazzeni nur dankbar dafür sein, dass sie sich des über weiten Strecken hinweg Ohrwurm Qualitäten besitzenden Werks angenommen, hat, aber unüberhörbar sind auch die vokalen Schwächen wie die schrille Höhe, die substanzlose Tiefe, das manchmal ausufernde Vibrato, und nur in der oberen Mittellage lässt sich noch Angenehmes vernehmen. Auch mangelt es ihr, vergleicht man mit dem Booklet-Text,  an Textbeherrschung, und wenn der Chor ein „Eviva, canterà“ anstimmt, kann man kaum in den Jubel ein-, eher dem „Delirio, è follia“ zustimmen.  Ihre  Partnerin auf der Bühne und Rivalin im Werk ist die Agnese von Syuzanna Hakobyan mit reifem Mezzo, der im Duett der beiden mit Erfolg, was Stimmstärke und Durchschlagskraft betrifft, mithalten kann. Einen lieblichen, zarten Sopran setzt Wonjung Kim für die Tochter Cecilia ein. Womit wir bei der Tatsache wären, dass asiatische Kräfte immer mehr auch in Italien die einheimischen Sänger ersetzen. Sie sind oft technisch perfekt, beherrschen die Sprache ebenso perfekt, und doch vermeint man ein Defizit an dem, was man als Italianità bezeichnet, zu konstatieren, so dass auch der Gastone von Yan Wang mit einem frischen Timbre, mit Musikalität und guter Diktion erfreuen, aber doch nicht hundertprozentig überzeugen kann.  Giorgio Valerio ist markant der Brigante Gasparre, Fulvio Ottelli stützt als Mario und Bista und Qu Rui Jie als Locusta, die nicht nur mit Wein, sondern auch mit Gift handelt. Angenehmes lässt der aus asiatischen Sängern bestehende Coro Ab Harmoniae unter der Leitung von Hsiao Pei Ku vernehmen. In der Sinfonia und ganz besonders in dem sehr schönen Vorspiel zum dritten Akt brilliert das Orchestra Sinfonica Colli Morenici unter Nicola Ferraresi, der sich auch als nachsichtiger, zuverlässiger Begleiter der Gesangssolisten bewährt (Bongiovanni 2 CD GB 9616/17-2). Ingrid Wanja               

 

 Passionsgeschichte

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„Ich bin Maria von Buenos Aires, von Buenos Aires Maria, ich bin meine Stadt, Maria Tango, Maria Vorstadt, Maria Nacht, Maria fatale Leidenschaft, Maria der Liebe zu Buenos Aires bin ich!“ singt Maria, die der Geist durch einen Riss im Straßenasphalt beschwört. Sie ist ein Mysterium, geschaffen von dem uruguayischen Dichter Horacio Ferrer für seinen Freund Astor Piazzolla. 1955 lernte der 22jährige Ferrer den 12 Jahre älteren Piazzolla kennen, den er freilich schon lange, schon als Jugendlicher, bewundert hatte. Ferrer hatte seit Beginn der 1950er Jahre Texte für Tangos verfasst, Piazzolla, der quasi immer schon Tangos gespielt hatte, kehrte aus Paris zurück, wo er bei Nadia Boulanger ein richtiger Musiker werden wollte, denn „Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend“. Der Dichter und der Komponist begegneten sich, als Piazzollas Schiff auf der Rückreise nach Buenos Aires in Ferrers Heimatstadt Montevideo anlegte. Buenos Aires wurde zur Wohn- und Lebensort des in Mar del Plata geborenen Piazzolla, sein Seelenverwandter Ferrer nahm später die argentinische Staatsbürgerschaft an und erkor Buenos Aires zu seiner Wahlheimat.

1967 schuf Ferrer das Libretto zu Maria de Buenos Aires mit der Absicht für die verschiedenen Epochen und Existenzebenen der Maria „unterschiedliche Stilrichtungen des Tango (Traditionell, Romanze, Lied, modern), der Milongas, der Walzer und einige ländliche Weisen aus der Pampa zu verwenden“. 1968 gelangte die Tango-Operita im Sala Planeta in Buenos Aires zur Uraufführung mit einem Orchester von elf Musikern, mit Amelita Balfar als Maria, Hector de Rosas in den männlichen Gesangspartien und Ferrer als El Duende. Es folgten unmittelbar Hundertzwanzig Aufführungen sowie eine Schallplattenaufnahme. Wenige weitere folgten, darunter eine mit Gidon Kremer, bei der Ferrer 1998 nochmals die Sprechrolle übernahm.

Das Stück hat sich durchgesetzt, wurde ein internationaler Erfolg, wenngleich es geheimnisvoll bleibt wie die allegorische Titelgestalt, die als Verkörperung des Tangos seinen Aufstieg aus der Vorstadt in die glänzenden Zentren, Cabarets und Bordelle, seinen Niedergang und seine Wiedergeburt erlebt.

Die Faszination stellt sich direkt ein, auch bei der 2021 im kalabrischen Städtchen Cetraro entstandenen Aufnahme, bei der der unmittelbare Klang von Cesare Chiacchiarettas Bandoneon und die rau gesprochenen Einwürfe der wenigen Männer bei den Erzählungen des Geistes den Zuhörer in die Geschichte ziehen (2 CD Brillant Classics 96762). Filippo Arlia dirigiert das Orchestra Filarmonica della Calabria, das er 2011 als 22jähriger gründete und bis heute leitet, mit Verve und starker gestischer Eindringlichkeit. Die theatralischen Qualitäten der Vorlage bringt Arlia im zweien Teil, und da im 13 Bild, besonders stark und eindringlich zum Ausdruck, das instrumentale Allegro tangabile gegen Ende der Oper ist eine irrlichtende Großstadtsinfonie. Suarez Paz, kurz Ce genannt, eine renommierte Tango-Sängerin aus Buenos Aires, ist die Maria, deren szenische Präsenz und stimmliche Glut mitreißt und geradezu körperlich spürbar wird, sie trägt das Stück, in dem u.a. Alte Hurenmütter, Nudelwalzerinnen, Alte Diebe und Psychoanalytiker zu hören sind. Der Schauspieler Gualtiero Scola übernimmt die Rolle des Sprechers, Alberto Maria Munafò die anderen Gesangspartien, beide geben ihren Figuren ein Gesicht.. Rolf Fath

„L´Ancêtre“ (1906) von Saint-Saens

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„Nein!“, schreit Nunciata, die eigensinnige korsische Großmutter, als sie angefleht wird, die Fehde zwischen ihrer Familie, den Fabiani, und ihren Feinden, dem Clan Pietra-Nera, zu beenden.

Vor dem Hintergrund tragischer Todesfälle, unersättlicher Rachegelüste und leidenschaftlicher Liebe auf dem Höhepunkt der Napoleonischen Kriege wurde dieses 1906 von Saint-Saëns komponierte „lyrische Drama“ L´Ancêtre an der Opéra de Monte-Carlo uraufgeführt und dem Prinzen Albert I. gewidmet, der es in Auftrag gegeben hatte. Saint-Saëns zeigt hier die ganze Bandbreite seines Stils und verwebt Debussy’sche Akkorde, Melodielinien à la Massenet und aggressive Rhythmen, die Prokofjew würdig sind. Vor allem aber beweist er ein Gespür für das Theater, das für die französische Oper so charakteristisch ist, und man kann sich nur vorstellen, wie erfolgreich diese Partitur wäre, wenn sie wieder auf die Bühne käme.

Nicht ohne Grund wurde L’Ancêtre nach seiner triumphalen Premiere in Monte Carlo in mehreren Städten in Frankreich, Belgien, der Schweiz und Deutschland sowie in Algier (Februar 1911) und Kairo (Februar 1912) aufgeführt, bevor es im März 1915 zu zwei weiteren Aufführungen in dem Theater kam, in dem es entstanden war.. (Palazzetto Bruzane/DHL)

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Diese interessante späte Oper (die x.te im Katalog des Palazzetto Bru Zane, mit der etwas eingenwillige Liebe des Künstlerischen Directors Alexandre Dratwicki zum französischen Komponisten) wollen wir mit einer ausführlichen Rezension der neuen Aufnahme von Rolf Fath würdigen, dazu ein paar Worte des Prinzipalen. G. H.

 

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Die Zuschauer in der Opéra von Monte-Carlo dürften 1906 einigermaßen erstaunt gewesen sein, als sie der 70jährige Camille Saint-Säens mit einem völlig neuen Ton überraschte. Erstmals vertonte er einen fast gleichzeitigen Stoff, erstmals näherte sich seine Musik zaghaft dem Verismo. Vielleicht erklärt sich aus dieser Überraschung auch der Anfangserfolg seiner letzten Oper. Es folgte, ebenfalls in Monte-Carlo, nur noch die Adaption der Bühnenmusik zu Dejanire zur vollständigen gleichnamigen Oper.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kokettierte der alte Saint-Säens mit der Opernmode aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als der Verismo mit Cavalleria Rusticana, Pagliacci sodann mit Pierantonio Tascas Santa Lucia und Giordanos Mala Vita Triumphe feierte. In Frankreich hatte sich Alfred Bruneau mit L’attaque du moulin an dem Genre versucht, in Prag 1903 Eugène d’Albert mit Tiefland.

Massenet: « L’Ancêtre à l’Opéra-Comique ». Musica, mars 1911. Bibliothèque du conservatoire de Genève/Palazzetto

L’Ancêtre (Die Ahnin) ist eine ebensolch vor Rache, Hass, Mord und tödlichen Verkettungen strotzende Geschichte, die der Dichter, Librettist und Historiker Lucien Augé de Lassus im Ersten Kaiserreichs, also in den Jahren zwischen 1804 und 1815 auf Korsika verortet. Sie erzählt von den zerstrittenen Familien der Piétra Néra und Fabiani, die durch Zutun des Eremiten Raphael sich endlich dazu bereitfinden, ihren alten Zwist beizulegen. Die beiden Fabiani-Mädchen Vanina und ihre Pflegeschwester Margarita sind in den Piétra Négra-Sproß Tébaldo verliebt. Der junge Offizier aus Napoleons Armee liebt Margarita. Sie schwören sich Liebe. Die Fabiani-Großmutter Nunziata, die Ahnin, lehnt jegliche Versöhnung ab. In ihrer sturen Haltung wird sie bestärkt, als ihr Enkel Leandi von Tébaldo getötet wird. Nunziata zwingt Vanina den Tod ihres Bruders zu rächen. Als sich Tébaldo und Margarita heimlich von dem Eremiten trauen lassen, werden sich von Vanina und der Großmutter beobachtet. Nunziata will, dass Vanina den Gegner tötet. Vanina weigert sich. Nunziata greift selbst zum Gewehr und schießt. Versehentlich tötet sie dabei Vanina.

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Das Werk erklingt in gepflegter Meisterschaft. Da irritieren keine rauen und kantigen Töne, nichts Schroffes, korsisch Wildes. Der Verismo hatte sich totgelaufen. Mit schönen Auftritten des Eremiten Raphael, den Michael Arivony mit betörender baritonaler Eleganz singt, wird ein nobles Drama vorbereitet. Es folgen Szenen des Tébaldo, der Halbschwestern, das große von Raphael angestimmte Gebet und die Liebesszene Margarita und Tébaldo. Saint-Saens besinnt sich auf seine alten Tugenden und entwickelt alles sehr gefällig und kultiviert, vom stimmungsvollen, fast impressionistischen wispernden Prélude bis zu den schematischen Ensembleszenen.

Massenet: Félia Litvinne war die Hauptdarstellerin der Uraufführung, hier als Massenets Déjanire/Palazzetto

Wie stets bei Saint-Säens fehlt es jedoch an dramatischem Feuer, an musikalischem Bühneninstinkt, an Dringlichkeit und Spannung, an Gespür für Steigerungen. Alles ist allerfeinst ineinander gewoben, souverän abgetönt, wie man es kennt von dem 2017 an der Opéra Comique wiedererklungenen und dann von Palazzetto Bru Zane veröffentlichten Erstling Le timbre d’ argent, an dem er bis 1914 herumdokterte, bis zur Merowingeroper Frédégonde seines Freundes Ernest Guiraud, deren letzte Akte er nach dessen Tod fertigstellte und mit der er sich 1895 von der Bühne verabschieden wollte. Stets wird man den geschmackvollen Handwerker bewundern, der Stimmen und Orchester geschmeidig verbindet.

Stets kommt aber auch etwas Langeweile auf, was bei dem 90minütigen Dreiakter L’Ancêtre, von dem der Komponist sagte, er sei weder grand-opéra noch opéra-comique, etwas heißen will. Da kann auch die vorzügliche Wiederbelebung durch Palazzetto Bru Zane und die üppige Ausstattung nicht viel retten, so verdienstvoll sie natürlich gleichwohl bleibt. In der Stadt der Uraufführung leitet der Japaner Kazuki Yamada, der ab 2026 Chefdirigent des DSO sein wird, Anfang Oktober 2024 im Auditorium Rainier III mit dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo und dem Philharmonic Chorus of Tokyo eine umsichtige, geschlossene und etwas steife Aufnahme, bei der die kurzen, doch sehr elegant ausgewiesenen Préludes, insbesondere jenes zum dritten Akt, auffallen. Auch den ausgezeichneten Raphael des Michael Arivony wurde schon hingewiesen. Julien Henric singt den Tébaldo mit französischer Eleganz und italienischen Temperament, auch mit Heldenstrahl und subtiler Empfindung, beide Fabiani-Mädchen haben kleine dankbare Aufgaben, die markant aparte Mezzosopranistin Gaëlle Arquez (man hat sie noch als fulminante Carmen bei der René-Jacobs-Tournee in Erinnerung/G.H.) als Liebesschmerz leidende Vanina und Hélène Carpentier mit ihrem duftigen Sopran in der Micaela-Unschuld der Margarita. Ihr Terzett mit Tébaldo und das folgende Quartett (mit Nunziata) sind Höhepunkte der Oper, ein weiterer die ariosen Szenen der Ahnin.

Massenet: Camille Saint-Saëns and the cast of L’Ancêtre at Monte Carlo. Musica, May 1906. Bibliothèque du Conservatoire de Genève/Palazzetto

Die Titelrolle wurde von der berühmten Félia Litvinne kreiert, die Mezzo- wie Sopranpartien sang, mit Wagner, Verdi und Ponchielli und zahlreichen Partien des französischen Repertoires Akzente setzte. Entsprechend wirkungsvoll hat Saint- Säens die Primadonna in Szene gesetzt, lässt sie nur kurz im ersten Akt auftreten, wo sie mit einem knappen „No“ jegliche Versöhnung ablehnt und in der großen Anathème-Szene von Raphael verflucht wird. Nunziata gehört aber der Mittelakt, wo sie in mehreren aufeinanderfolgenden Szenen, darunter die Déploration und Malédiction, glänzen kann. Jennifer Holloway, die in Bayreuth in diesem Jahr die Sieglinde war und 2025 Adriano in Rienzi singen wird, ist wie ihre berühmte Vorgängerin u.a. auch in Saint-Säens Henry VIII. aufgetreten. In der anfänglichen Traumszene „Je révais de mon fils“ besticht Holloway durch die samtene Schönheit und das umflorte Timbre ihres höhenstarken Mezzosoprans, in den leidenschaftlichen Passagen verhärtet sich die Stimme rasch, klingt dann etwas unattraktiv und schrill.   Rolf Fath

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Massenet: Raoul Gunsbourg, der mutige und schöpferische Intendant der Opéra de Monte-Carlo/Palazzetto

Besser heute als gestern? Die 2012 begonnene Reihe von Aufnahmen aller Opern von Saint-Saëns durch das Palazzetto Bru Zane wird nun mit der Veröffentlichung eines seiner geheimnisvollsten Werke fortgesetzt. Denn L’Ancêtre ist im Gegensatz zu Phryné oder La Princesse jaune eine Partitur, die von der französischen Musikgeschichte hartnäckig ignoriert wurde und deren Titel wenig über ihren Inhalt aussagt. Man ist immer wieder  überrascht über das allgemeine Desinteresse der Opernhäuser an Saint-Saëns‘ Werken für das Theater, obwohl seine Danse macabre, seine Konzerte für Klavier und Cello und das Bacchanal aus Samson et Dalila ständig zu hören sind. Lassen Sie uns untersuchen, ob die Qualität von L’Ancêtre seine spätere Vernachlässigung rechtfertigt. Anstatt eine Antwort auf diese Frage mittels musikwissenschaftlicher Analyse zu geben, wäre es vielleicht besser, die Musikkritiker unserer Zeit zu Wort kommen zu lassen, jene Journalisten, die sich beeilt haben, ihre Meinung nach dem Konzert in Monaco im Oktober 2024 zu äußern, aus dem diese Aufnahme stammt. Und schauen wir mal, ob der heutige Diskurs mit den – durchweg begeisterten – Reaktionen der Anwesenden bei der Weltpremiere (darunter Gabriel Fauré selbst) übereinstimmt. François Laurent (Diapason) ging sogar so weit, die Oper als „ein Wunderwerk” zu bezeichnen, in dem „nichts langatmig ist, die Handlung fließt. […] Der alte Saint- Saëns versucht, sein Publikum auf Schritt und Tritt zu überraschen”. Laurent Bury (Classica) nannte es ein „kurzes, aber kraftvolles Stück” mit „gut charakterisierten Protagonisten” und einem Libretto, das „in seinem tragischen Charakter vollkommen wirkungsvoll” ist. Für Damien Dutilleul (Olyrix) ist L’Ancêtre „musikalisch sehr reichhaltig. Es ist das Werk eines kühnen, reifen Komponisten. Mehrere Nummern, insbesondere Ensembles und Chöre, sind besonders beeindruckend“. Jany Campello (Resmusica) schätzte die „Prägnanz“ und „Üppigkeit“ einer Partitur, die „einen dramatischen Faden von seltener Spannung entwirrt, insbesondere ab dem zweiten Akt. […] Die Vielfalt der Effekte und Orchesterfarben, das Fehlen von Längen und die Vitalität seiner Musik verhindern Langeweile und bieten Momente von großer Schönheit […] bis hin zu einem Vokalquartett von überwältigender Lyrik“. Laut Clément Mariage (Forum Opéra) ist die Musik besonders „inspiriert“ und erzeugt „äußerst gelungene dramatische Episoden. […] Darüber hinaus ist die Orchestrierung des Werks äußerst sorgfältig“, insbesondere der finale „leidenschaftliche lyrische Ausbruch, der durch seine Sinnlichkeit und seinen Schmerz überwältigt“.

Massenets „L´Ancêtre“: die Opéra de Monte-Carlo um 1906/Palazzetto

Schließlich lobt Laurent Bury (wiederum, diesmal jedoch für Concertclassic) „eine bei Saint-Saëns seltene Prägnanz und Freiheit, der sich nicht verpflichtet fühlt, die strenge Drapierung der Antike zu übernehmen, und sich flexiblere Formen erlaubt”; der Kritiker bekannte sich „beeindruckt von bestimmten Motiven, deren dramatische Wirkung fast schon die Filmmusik von Bernard Herrmann vorwegzunehmen scheint”.

Was können wir aus diesem Chor des Lobes schließen, dessen Einstimmigkeit sogar die Kritiken zur Uraufführung übertrifft (die man durchaus auf die höfliche Wertschätzung für den betagten Saint-Saëns zurückführen könnte)? Erstens, dass die unermüdliche Arbeit von Institutionen, die nach verborgenen Schätzen suchen, Früchte tragen kann und nicht umsonst ist. Aber auch, dass solche schlummernden Werke mit Begeisterung und Talent von Künstlern gefördert werden müssen, die sich ihre Verantwortung in dieser Mission der Wiederbelebung bewusst sind. Denn alle oben genannten Kommentatoren lobten die Qualität eines Teams von Interpreten, die sich voll und ganz für die Wiederbelebung des Werks engagierten. Aus diesem Grund möchten wir den Instrumentalisten, dem Dirigenten und den Sängern, die sich bemüht haben, L’Ancêtre zu neuem Leben zu erwecken, unsere aufrichtige Anerkennung aussprechen.

Der Musikwissenschaftler Alexandre Dratwicki ist der wissenschaftliche Leiter beim Projekt Palazetto Bru Zane/ PBZ

Denn wenn die Partitur die Voraussetzung für die Entfaltung des Talents des Künstlers ist, so sind es dessen Sensibilität und sein Anspruch, die über diese Partitur hinausgehen und sie zu neuen Höhen führen. Und schließlich möchten wir den Interpreten, die sich für die Wiederbelebung von L’Ancêtre Denn wenn die Partitur die Voraussetzung für die Entfaltung des Talents des Künstlers ist, so sind es dessen Sensibilität und hoher Anspruch, die über diese Partitur hinausgehen und sie zu neuen Höhen führen.

Und schließlich möchten wir noch ein Wort über die Begeisterung unserer Zusammenarbeit mit dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo und seinem Dirigenten Kazuki Yamada, eine gemeinsame Initiative, die dank Didier de Cottignies ins Leben gerufen und fortgeführt wurde. Ihm gilt unser herzlicher Dank dafür, dass er dieses Abenteuer ermöglicht hat. Dank ihm wird es von nun an ein Vergnügen sein, unseren Vorfahren zuzuhören. Alexandre Dratwicki (Palazzetto Bru Zane)/DeepL

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Camille Saint-Saens (1835-1921): L’Ancetre (Deluxe-Ausgabe im Hardcover-Buch) Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada 2 CDs; Palazzetto  Bru Zane

 

 

Echter Verdi

Ein großartiges Unternehmen ist das der Opernfestspiele Heidenheim, die sich deswegen zu Recht mit einem großen roten OH! schmücken dürfen, sämtliche Opern Giuseppe Verdis in chronologischer Reihenfolge aufzuführen, wobei man in der Saison 2024 bereits bei Alzira, eingerahmt 2023 von Giovanna d´Arco und 2025 Attila und nun als CD auf dem Markt. Mit dem Inka-Drama nach Voltaire, aber ohne dessen Kolonialismuskritik und rein auf das Liebesdrama  reduziert, ist Alzira  das wohl unbekannteste Werk Verdis, das in Neapel bei der Uraufführung noch positiv aufgenommen, danach in Rom mit einem Achtungserfolg bedacht und in Mailand mit einem totalen Misserfolg abgestraft wurde.

Das innerhalb von vier Wochen komponierte und nur neunzig Minuten dauernde Werk spielt in Peru und handelt von der Rivalität zwischen dem Inkakönig Zamoro und dem spanischen Gouverneur Guzmano um die Liebe des Inkamädchens Alzira, folgt der „klassischen“ Gruppierung Sopran/Tenor gegen Bariton, aber mit dem überraschenden Schluss, dass Letzterer auf die Hand der Angebeteten verzichtet, das Zeitliche segnet und so dem Glück der Liebenden nicht mehr im Wege steht, wobei die Frage nach dem Schicksal des Inkavolkes völlig offen bleibt, ja nicht einmal gestellt wird. Das Stück könnte also überall und zu jeder beliebigen Zeit spielen. Trotzdem ist es auf jeden Fall anhörenswert, denn neben viel Umtata und Bandaklängen gibt es betörend schöne Stellen, so dass lange Duett zwischen Sopran und Bariton, das an das aus dem Troubadour erinnert, nur das an dessen Ende nicht der Sopran, sondern der Bariton den Tod wählt. Insgesamt allerdings bleibt die Titelheldin, zeitlich immerhin angesiedelt zwischen einer Giovanna und einer Odabella, recht uninteressant. 2026 wird man in der chronologischen Reihenfolge mit der Urfassung von Macbeth bleiben, und macht zusätzlich einen gewaltigen Satz zum Otello.

Die heiter-tänzerisch beginnende und damit das happy end vorwegnehmende Sinfonia wird von der Cappella Aquileia unter Marcus Bosch verspielt tänzerisch dargeboten, ehe die Faust des traurigen Inka-Schicksals dazwischen haut. Ebenso rasant wie das Orchester zeigt sich der auf Festivals stets sich bewährende Czech Philha rmonic Choir Brno und sorgt ebenfalls für Italianità. Der Star des Ensembles ist Ania Jeruc mit klarem, härtefreiem, geschmeidigem Sopran, der furchtlos die Intervallsprünge vollzieht und die Finali dominiert. Der Tenor Sung Kyu Park ist der Inkahäuptling Zamoro und stattet diesen mit einem eindringlichen „Ah! perchè non moro?“ und folgender rasant klingender Cabaletta aus. Die Höhe und die Phrasierung sind gut, dem Timbre fehlt es etwas an dolcezza und nobiltà, aber insgesamt ist dies eine beachtenswerte Leistung. Der Alvaro wird von einem Bass voll vokaler Autorität, dem von Marcell Bakonyi, verkörpert, Marian Pop ist der Gusmano mit eher Brunnenvergifter- als Nobelbariton, einen angenehmen Tenor hat Musa Nkuna für den Otumbo, Julia Rutigliano einen geschmeidigen Mezzo für Alziras Vertraute Zuma.

Man beginnt mit skeptischem Hören, das sich zunehmend in interessiertes und schließlich gebanntes wandelt: Der Beweis dafür, dass es sich um einen „echten“ Verdi handelt, ist erbracht und Coviello Classics dafür zu danken, ihn allgemein zugänglich gemacht und mit einem vorzüglichen Booklet versehen auf den Markt gebracht zu haben (Coviello COV92508). Ingrid Wanja

 

Ein anderer Imperator

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Händels Oper Giulio Cesare in Egitto gehört zu den bekanntesten und am häufigsten aufgeführten Barock-Opern. Wer aber kennt die Vertonung dieses Stoffes durch den 1692 geborenen Geminiano Giacomelli, der zunächst als Hofkomponist in Parma wirkte und dann an die Kirche S. Giovanni in Piacenza wechselte? Cesare in Egitto (der Vorname fehlt also im Titel) auf ein Libretto von Carlo Goldoni und Domenico Lalli ist seine einzige Oper, uraufgeführt 1735 in Mailand und noch im selben Jahr in Venedig nachgespielt. Alpha hat das Werk als Weltersteinspielung auf drei CDs in einer schmucken Schachtel mit altägyptischer Wandmalerei auf dem Cover veröffentlicht (ALPHA1141). Die Aufnahme stammt aus dem Innsbrucker Landestheater, wo sie im August des vergangenen Jahres live mitgeschnitten wurde. Dort ist Ottavio Dantone Musikalischer Leiter der Festwochen der Alten Musik und steht daher auch am Pult der Accademia Bizantina, die er seit 1996 leitet. Von ihm (und Bernardo Ticci) stammt die kritische Edition für die Aufnahme, welche Material aus den Versionen für Venedig und Mailand verwendet.

Ungewöhnlich ist die Besetzung, denn der Titelheld ist – anders als bei Händel – ein Sopran und Cleopatra ein Mezzo. Die Italienerin Arianna Vendittelli ist eine lyrische Sopranistin, der die erste Arie des Werkes, Cesares Auftritt „Cadrà quel disumano“, zufällt. Sie singt den lebhaften Titel mit Energie, ohne naturgemäß eine maskuline Stimmung evozieren zu können. Noch weniger gelingt ihr das im getragenen „Bella, tel dica amore“, einem Liebesbekenntnis der zärtlichen Art. Am überzeugendsten sind das mit heftiger Wucht vorgetragene „Col vincitor mi brando“ im 2. Akt, in dem auch die rasenden Koloraturläufe beeindrucken, und ihr finaler Auftritt mit „A un cor forte“.

Die Ungarin Emöke Baráth, renommiert in der Alte-Musik-Szene und früher selbst Sopran, hat nun in das Mezzo-Fach gewechselt. Ihr Klang ist freilich noch immer sopranig und die Auftrittsarie „Fier Leon di sdegno acceso“ von imposanter Virtuosität. Ähnlich bravourös und souverän präsentiert ist ihre Arie „Chiudo in petto un cor altero“, welche den 1. Akt beschließt.

Das Personal der Oper ist weitestgehend identisch mit Händels Dramma per musica, also finden sich hier auch Cornelia und Tolomeo. Erstere gibt Margherita Maria Sala mit expressivem Alt, der in seiner Vehemenz an den von Lucile Richardot erinnert, die Händels Cornelia in Salzburg gesungen hatte. Das ungestüm herausgestoßene „Oppressa, tradita“ zeigt die Figur im Ausnahmezustand. Tolomeo ist ein Tenor und in Gestalt von Valerio Contaldo ein robuster Vertreter seines Faches. Dennoch lässt er in seiner Arie „A quelle luci irate“ am Ende des 1. Aktes auch weichere Töne hören. Kontrastreich dazu sein heroischer Auftritt „Scende rapido spumante“ mit stürmischen Koloraturläufen, der den 2. Akt beschließt. Die Riege der Countertenöre vertreten Filippo Mineccia als General Achilla und der junge Federico Fiorio (er sogar ein Sopranist) als Cornelias Liebhaber Lepido. Mit seiner kindlichen Stimme wirkt er in dieser Rolle etwas unglaubhaft – passender besetzt war er als Cornelias Sohn Sesto in der Aufführung von Händels Oper bei den diesjährigen Salzburger Festspielen. Gleichwohl sorgt er in seinen Arien „Vibrano i Dei talora“ im 1. und „Vendetta mi chiede“ im 2. Akt für begeisternde Meisterschaft. Auch sein letztes Solo, „Scorre per l´onde ardito“ am Ende der Oper, ist ein Bravourstück par excellence. Mineccia bringt sich mit seinem charaktervollen Timbre und vehementem Vortrag vorteilhaft ein. Eindrucksvoll trumpft er in „Al vibrar della mia spada“ zu Beginn des 2. Aktes auf und hat im 3. mit „Nel sen mi giubila“ eine melodisch reizvolle Nummer.

Ottavio Dantone bemüht sich, die Längen des Werkes, bedingt auch durch ausgedehnte Rezitative und die Häufung der Gleichnis-Arien, mit Affekt geladenem und an Farben reichem Musizieren auszugleichen. Die einleitende zweiteilige Sinfonia ist ein rasanter Einstieg, doch hält sich.  dieser Eindruck nicht durchgängig, was eher am Werk als an der Interpretation liegt. Ob es sich als Repertoire-Stück halten wird, ist fraglich. Aber viele Arien sind reizvoll und taugen durchaus für Arien-Alben von Sängern oder deren Konzertprogramme (02.10.25). Bernd Hoppe

Meilenstein

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Johann Adolf Hasses Namen verbinden wir heute fast immer mit dem Dresdner Barock. Er war dort sehr lange der führende Hofkomponist und er war berühmt für seine opulenten großen (und langen!) Opern. Jetzt finden wir ihn plötzlich ganz woanders wieder, nämlich in der Wiener Klassik. Das Label Harmonia Mundi France hat seine kleine Wiener Oper Piramo e Tispe von 1768 aufgenommen, also ein Spätwerk. Josef Haydn war da schon 36 Jahre alt, Beethoven noch nicht geboren, erst 1770. Mozart war zwölf Jahre alt.

Passt diese Oper in das übliche Bild von Johann Adolf Hasse? Eigentlich nicht, weil diese kurze Oper in jeder Hinsicht ungewöhnlich ist. Überraschend ist vor allem, dass es eben diese aufregenden Spätwerke von ihm gibt, die wir so gar nicht zur Kenntnis nehmen. Hasse ist sehr alt geworden, 84 Jahre, für die damalige Zeit eine Leistung. Er hat Mitte 60 noch diese großen Reformbewegungen der Oper erlebt, vor allem in Wien. Das fand er  sehr inspirierend und hat hier eine Musik geschrieben, bei der man schon spürt, dass die Veränderungen dieser Musik-Szene in Wien ihn sehr erreichten.

Seine kleinbesetzte Drei-Personen-Oper ist so innovativ, dass er in Wien wahrscheinlich kein großes Haus dafür finden konnte oder wollte. Der Tenor des Abends war auch der Librettist. Wien als Schauplatz war Hasse neue Heimat. Er hatte diesen schrecklichen Siebenjährigen Krieg in Dresden erlebt. Dort ist sein Haus abgebrannt. Er zog nach Wien um und erlebte nun diese gluckischen Reformbestrebungen. Piramo e Tisbe ist seine Reaktion darauf. Drei Personen, eine ganz eng zusammengedrängte Handlung, ganz viele Orchesterrezitative, Accompagnato. Nicht nur Arien, sondern auch Duette. Und die Melodien sind auch konziser als in seinen vorangegangenen Opern. Oft gibt es nur wenige Verzierungen. Hasse hat Gluck nicht direkt imitiert, aber man spürt schon dessen Einfluss.

Johann Adolph Hasse (italianisiert Giovanni Adolfo, darauf basierend verbreitet auch Johann Adolf Hasse; getauft am 25. März 1699 in Bergedorf; † 16. Dezember 1783 in Venedig)/Wikipedia

Der Plot ist ja bekannt. Es geht um ein Liebespaar, dessen Vater nicht will dass sie sich kriegen. Die Familien sind verfeindet, beide Liebenden planen die Flucht. Piramo glaubt aber durch ein groteskes Missverständnis, dass Tisbe von einem Löwen gefressen wurde und bringt sich um. Die arme Tisbe tötet sich neben dem sterbenden Piramo. Sie finden sterbend zusammen. Der hinzukommende Vater ist so erschüttert, dass er sich auch ersticht. Alle tot. Alle tot! Das klingt fast wie eine Parodie. Aber das stammt von Ovid, bei dem sich auch Shakespeare bedient hat.  Die damalige opera seria kannte bis aus wenige Ausnahmen keine tragischen Schlüsse. Hier nun sterben dann wirklich alle drei.

Die beiden Liebenden dieser Aufnahme sind wirklich superb, zwei Soprane übrigen. Sie hauchen sehr anrührend ihr Leben aus, fast schon wie bei Bellini später. Adieu, adieu, adieu. Ach, zum Sterben schön dieses Duett. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist doch  erstaunlich, dass Hasse noch in so hohem Alter diese Verwandlung oder diese so sinnliche Wandlung mitgemacht hat. Wirklich erstaunlich. Denn es gibt ja auch ganz andere Komponisten, die ihren Stil gnadenlos beibehalten haben, während alles um sie herum sich veränderte.

Hasse war, soweit wir wissen, sehr, sehr stolz auf seine späte Oper.  Er hat das Ganze als ein Hauptwerk betrachtet. Und wenn man die übliche Länge der frühen Hasse-Opern betrachtet ist dies schon ein Instant-Hasse.

Warum wird es so selten oder so gut wie nie gespielt? Die Musikwelt ignoriert diese Epoche zwischen 1750 und 1800 ist immer noch zu sehr. Man hat den Eindruck, dass wir aus den 1710er bis -40er Jahren unendlich viel serviert bekommen, zum Teil auch Drittrangiges. Das überschwemmt den Markt, während eben diese spannende Szene nach 1750, ab der es dann erst so richtig losgeht in der Oper und wo dann wirklich die großen Reformen-Bewegungen kommen, vernachlässigt werden. Traetta, Piccini, Sarti, Salieri, Johann Christian Bach spielen kaum eine Rolle auf dem Aufnahme- oder Festival-Markt. Und deshalb sind solche Produktionen wie diese aus Berlin bei dem verdienstvollen Label cpo absolut hilfreich und wichtig, weil sie auf Geniales jenseits von Gluck und Mozart hinweisen.

Diese Oper ist wirklich ein Meilenstein. Die Akademie für Alte Musik unter Bernhard Forck hat das erkannt und glücklicherweise eingespielt. Die Aufnahme macht überstreckend glücklich. Das hat nicht nur mit der Einfühlsamkeit und Leidenschaft zu tun, mit der sich hier die Ackermus an die Wiederentdeckung der Oper macht. Das Werk hat es wirklich in sich. Es erfordert relativ junge, frische Stimmen, damit die Handlung plausibel sein soll. Und zugleich müssen diese Sänger aber auch wirklich was leisten. Sie haben eine enorme Skala an Ausdrucksfacetten zu stemmen. Beide, Piramus und Tispe, haben im zweiten Akt riesige Solonummern, fast schon kleine Solokantaten, wo sie Schmerz, Trauer, Hoffnung ausdrücken müssen. Beide, Annett Fritsch und Roberta Mamelli, machen das sehr packend und eben auch sehr nuanciert und filigran.

Bei den Aufführungen letzten Sommer in Berlin, die dieser Aufnahme vorangingen, hat sofort gespürt, dass beide sich mochten, dass sie harmonierten, dass ihnen die Oper einen riesigen Spaß machte. Und eben diese Harmonie, diese Lust ist mit Geld nicht zu kaufen. Das ist dann eben einfach Glück. Und dies Glück hört man eben. Jeremy Oden als Vater manchmal ein bisschen zu introvertiert, und es gibt auch Momente, wo es in den Szenen der Sängerinnen auch ein bisschen an Opulenz fehlt. Aber bei Hasses Wiener Premiere in beengten Umständen haben ja auch keine Megastars gesungen. Insofern bildet die Aufnahme das gut ab. Dieser intime, schlanke Ton ist mit diesen kleineren Stimmen recht authentisch. Zusammen genommen ist dies hier Instant-Hasse mit hoher Qualität (harmonia mundi france 905393.94). M. K./G. H.

Vielbeiniges

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Bei OPUS ARTE: The Wayne McGregor Collection: In einem Schuber mit drei DVDs bringt OPUS ARTE mehrere Arbeiten des Choreografen Wayne McGregor heraus, die zwischen 2006 und 2021 entstanden sind und bisher als Einzelausgaben erhältlich waren (OA138080). Der Brite ist Resident Choreographer des Royal Ballet London, für das all seine Stücke entstanden sind und dort auch uraufgeführt wurden.

Die älteste Kreation ist ein Dreiteiler mit dem Titel Chroma/Infra/Limen aus den Jahren 2006, 2008 und 2009. Erste Solisten der Compagnie, darunter Federico Bonelli, Sarah Lamb, Steven McRae, Tamara Rojo, Edward Watson, tanzen in Chroma zu einer Kombination aus der Originalmusik von Joby Talbot und musikalischen Arrangements von Jack White. Die weiße Bühne des Architekten John Pawson zeigt eine Box, aus der drei Tänzerpaare auftreten. Danach wechseln Gruppenformationen, Pas de deux und solistische Auftritte.

Für Infra schuf Max Richter die Klangfolie. Hier kommen Leanne Benjamin und Ricardo Cervera sowie Marianela Nuñez und Eric Underwood auf der Bühne von Julian Opie in emotionalen Pas de deux zum Einsatz.

In Limen wird zu Kaija Saariahos Cello-Konzert Notes on Light getanzt, begleitet von Tatsuo Miyajimas und Lucy Carters Lichtinstallationen. Die Bewegungen sind abrupt und gekrümmt. McGregor wollte einen Schwellenzustand, einen Übergang von Licht und Dunkelheit, ja Leben und Tod darstellen.

2015 kam das Tanzstück Woolf Works heraus, welches in drei Teilen Bezug nimmt auf Virginia Woolf´s Romane Mrs. Dalloway, Orlando und The Waves. Einbezogen sind Ausschnitte aus Briefen, Tagebüchern und Essays der Schriftstellerin, die der Sprecherin Gillian Anderson übertragen wurden. Es war das erste abendfüllende Ballett des Choreografen für die Londoner Compagnie. Die Musik von Max Richter interpretiert das Orchestra of the Royal Opera House unter Leitung von Koen Kessels. Die Bühne mit Video-Installationen ist eine Gemeinschaftsarbeit des Choreografen mit Ciguë und We Not I. Moritz Junge kreierte die Kostüme.

In der Besetzung findet sich mit Alessandra Ferri eine Ikone der Tanzwelt. Erste Londoner Kräfte – Federico Bonelli, Natalia Osipova, Matthew Ball, Steven McRae, Sarah Lamb, Francesca Hayward – stehen ihr zur Seite und sorgen für starke Eindrücke. Auffallend bei I Now, I Then (aus Mrs. Dalloway) sind die homoerotischen Passagen in den Frauentänzen, was an die Affinität der Schriftstellerin zum eigenen Geschlecht erinnert. Auch emotionale Beziehungen in den Männer-Duos sind zu sehen.

In Becomings (aus Orlando) sind die Kostüme von historischer Pracht und vorwiegend in Goldtönen gehalten. Die hämmernde Musik ist strapaziös, die Choreografie von raffinierter Extravaganz. Sie endet in einem wilden Wirbel aller beteiligter Tänzer. In Tuesday (aus The Waves) hat die Ferri Federico Bonelli als Partner in einem sensiblen Duo. Über ihnen sieht man das tobende Meer in einem schwarz/weiß Foto. Später steht Sarah Lamb im Zentrum, umgeben von einer Schar jugendlicher Tänzer beiderlei Geschlechts.

The Dante Project entstand 2021 im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Musik von Thomas Adès tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean schuf für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird, und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Stimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der die Rolle des Dante als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere betrachtet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt Marcelino Sambé als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Viele Mitglieder der Gruppe haben neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sieht man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Showcase for the Royal Ballet. Vom Royal Ballet London bringt OPUS ARTE eine Blue-ray Disc mit dem Ballett Don Quixote heraus, die im Oktober/November 2023 gefilmt wurde (OABD7279D). Es ist Carlos Acostas Choreografie (nach Marius Petipa) aus dem Jahre 2013, welche OPUS ARTE bereits im Entstehungsjahr aufgezeichnet und veröffentlicht hatte. Der Superstar der Company, der mit dieser Produktion sein Debüt als Choreograf gab, tanzte damals selbst die Rolle des Basilio –  an der Seite von Marianela Nuñez, der unvergleichlichen Ausnahmetänzerin des Ensembles. Es spricht für die Bedeutung dieser Produktion, dass das Label sie nun zum zweiten Mal als Bilddokument veröffentlicht.

Angetreten ist eine junge Besetzung, die derzeit das Niveau des Royal Ballet mitbestimmt. Der junge Matthew Ball, erfolgreich als Romeo und in den Prinzen-Rollen, hat das schier übermenschliche Amt übernommen, als Basilio gegen Carlos Acosta anzutreten. Seine Trümpfe sind Jugendlichkeit, Eleganz und Bravour, die strotzende Kraft und virile Energie seines Vorgängers sind ihm nicht gegeben. Dafür wirken seine Variationen leicht und spielerisch. Glanzvoll gerät der Pas de deux am Ende des 1. Aktes, wo Ball spektakuläre einarmige Hebungen gelingen. Dazu ist beider Tanz im 2. Akt in neoklassischem Stil ein starker Kontrast und stellt den beiden Interpreten ein schönes Zeugnis für Empfindsamkeit und lyrische Noblesse aus.

Auch die brasilianische Tänzerin Mayara Magri als Kitri hat es schwer, gegen die Nuñez zu bestehen. Aber sie schlägt sich achtbar mit solider Technik und schöner Präsenz. Freilich hat sie nicht das südländische Temperament und das rasante Tempo ihrer Konkurrentin, wirkt gemäßigter und kontrollierter in ihren Auftritten. Zu großer Form gelangt sie mit ihrem Partner im Grand pas de deux des Finales, den beide, weiß/gold kostümiert, in hoheitsvoller Attitüde absolvieren. Sie imponiert mit sicheren Balancen und einer kapriziösen Variation, er mit bravourösen Sprüngen und Pirouetten. Bei der Live-Übertragung in die Kinos geschah Magri ein Lapsus im letzten Solo, der hier korrigiert ist.

Das zweite Paar Espada/Mercedes ist mit dem flamboyanten Calvin Richardson und der aufreizenden Leticia Dias sehr wirkungsvoll besetzt. Beider Auftritt in der Taverne ist Aufsehen erregend. Schon 2013 war Gary Avis als Lorenzo dabei und er – ein Urgestein der Company – gibt nun höchstselbst den wunderlichen  Titelhelden mit Würde und Charme. Köstlich ist James Hay als exaltierter, effeminierter Gamache, der sich vergeblich um Kitris Gunst bemüht. Im Weißen Bild des Zaubergartens brillieren Annette Buvoli als Königin der Dryaden und Isabella Gasparini als Amour. Hinreißend ist das Corps de ballet, für das Acosta noch einige zusätzliche Tänze erdacht hat, die spanisches Flair und südliches Temperament einbringen.

Nicht zuletzt trägt Tim Hatleys stimmungsvolle Ausstattung zum Fest für das Auge bei. Und für das Ohr sorgt Valery Ovsyanikov am Pult des Orchestra of the Royal Opera House, das die Musik von Ludwig Minkus mit Esprit und Verve serviert. Bernd Hoppe

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Bei NAXOS: Tschaikowsky-Lieder szenisch. An der Oper Frankfurt hat Christof Loy an einem Abend Tschaikowsky-Lieder szenisch arrangiert – unter dem Titel NONE BUT THE LONELY HEART ist dieses Programm jetzt bei NAXOS auf einer Blu-ray Disc erschienen, gefilmt zwischen dem 24. und 26. Februar 2021 (NBD0181V). Herbert Murauers Ausstattung wurde von Loys Stockholmer Inszenierung der Fedora Giordanos übernommen, die nach Frankfurt wechseln sollte, was sich wegen der Pandemie nicht realisieren ließ. Der Bühnenraum ist ein multifunktionales Zimmer, tapeziert und gediegen  möbliert, welches an einen bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert, wo man sich zum gemeinsamen Singen oder Musizieren traf. Die szenische Atmosphäre erinnert an die intimen Szenen in Eugen Onegin. An der  hinteren Wand befindet sich ein prachtvoller mattgoldener Bilderrahmen, in den mehrfach die Köpfe der Sänger als schwarz/weiß Aufnahmen projiziert werden (Video: Ruth Stofer).

Die 24 Romanzen, die aus über 100 Liedern ausgewählt wurden, interpretieren fünf Sänger, die von den Pianisten Mariusz Klubczuk und Nikolai Petersen begleitet werden. Ein Instrumentalstück aus der Feder Tschaikowskys – das Adagio cantabile. aus dem Sextett d-Moll, Souvenir de Florence, op. 70 – spielen Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters.

Zentrales Motiv der Handlung ist ein Glas Wasser, zu dem der Protagonist (der Bariton Vladislav Sulimsky) immer wieder greift, womit an Tschaikowskys möglichen Suizid erinnert werden soll. Freilich sind die Umstände vom Tod des Komponisten bis heute ungeklärt – niemand weiß, ob eine Infektion mit der Cholera vorsätzlich oder unbewusst geschah. Sulimsky, dessen Physiognomie entfernt an die Tschaikowskys erinnert, eröffnet mit dem schwermütigen „Reconcilation“. Sein Bariton ist aufgeraut und vibrierend, doch stark im Ausdruck. Für das bekannte „Amid the din of the ball“ fehlt es ihm an Eleganz, das düstere „On yellow fields“ bekommt dagegen packende Kontur. In „Final“ schwingt er sogar das Tanzbein, geht das Lied doch auf ein Motiv aus dem Ballett The Sleeping Beauty zurück. Ausgelassen und lärmend beteiligen sich alle Sänger an dieser körperlichen Aktion. Ein leichterer, jugendlicher Bariton ist Mikolai Trabka eigen, der sich mit „I never spoke to her“ vorstellt. Ihm gehört die schönste Stimme, die sich in „The Night“ schwärmerisch verbreitet. „To forget so soon“ gehört zu den bekannteren Liedkompositionen des Meisters – dem Tenor Andrea Carè anvertraut, der es recht grobschlächtig vorträgt und in der darstellerischen Vehemenz Lenski mit seinen Zornesausbrüchen gleicht. Auch bei „Why?“ gerät er nach maßvollem Beginn ins Forcieren. Im Hosenanzug aus schwarzer Seide und im weißen Tüllrock geben die beiden Damen ein elegantes Bild ab – Olesya Golovneva/Sopran und Kelsey Lauritano/Mezzo vereinen ihre Stimmen mit strengem Vibrato anfangs zu Duetten mit herbem Klang. In ihrem Tutu und Ballettschuhen posiert die Sopranistin mit Figuren des klassischen Balletts und geht sogar auf die Spitze (Choreografie: Andreas Heise), stimmlich ist sie ein dramatischer Typ, der eine Lisa gut anstehen würde. Auch die Tatjana, an die das Lied „He loved me so“ erinnert, würde in ihr Repertoire passen. Das Lied, welches dem Programm den Titel gab, ist der Mezzosopranistin anvertraut, die es gemessen und auf Linie bedacht vorträgt. Auch „Frenzied nights“ profitiert von ihrer kulturvollen Interpretation.  Der Schluss, „Again as before alone“, gehört dem imaginären Tschaikowsky, der dem Lied die gebührende Melancholie gibt. Bernd Hoppe

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The Christopher Wheeldon Collection bei Opus Arte. Einen Schuber mit drei Blu-ray Discs veröffentlicht OPUS ARTE, welche einen Einblick in das Schaffen des britischen Choreografen Christopher Wheeldon, Artistic Associate des Royal Ballet, ermöglichen (OABD73198D). Drei seiner bekanntesten Ballette werden vorgestellt, deren ältestes (und bekanntestes) Alice´s Adventures in Wonderland von 2011 ist. Seit seiner umjubelten Uraufführung wird es weltweit gespielt, auch das Bayerische Staatsballett München hat die Choreografie in seinem Repertoire. Hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahre 2017 zu sehen, die viele Principals der Londoner Compagnie vereint, angeführt von der bezaubernden Lauren Cuthbertson in der Titelrolle und Federico Bonelli als ihrem Freund Jack und später verwandeltem Herzbuben. Eine Glanzrolle in diesem Stück ist die exzentrische Herzkönigin, der Laura Morera einen gebührend extravaganten Umriss gibt. Auch die Doppelrolle des Zauberers und verrückten Hutmachers ist ein Fest für einen Tänzer von Ausnahmeformat – einfach wie geschaffen für den unvergleichlichen Steven McRae. Neben der tänzerischen Pracht sorgt auch die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley für optische Freuden und nicht zuletzt trägt Joby Talbots schwungvolle Musik zum stimmigen Gesamteindruck bei.

Ähnlich erfolgreich ist das im April 2014 herausgekommene Shakespeare-Ballett The Winter´s Tale, das hier in einer Aufzeichnung aus der Uraufführungsserie zu sehen ist. Wieder waren Wheeldons regelmäßige Mitarbeiter – der Komponist Joby Talbot und der Designer Bob Crowley – mit am Werk. Erzählt wird die Geschichte des eifersüchtigen Königs Leontes (Edward Watson in psychopathischer Intensität bis zum Wahnsinn), der seine schwangere Gattin Hermione (Lauren Cuthbertson mit viel Liebreiz und tiefer Empfindung) des Ehebruchs mit seinem Freund Polixenes (Federico Bonelli mit sinnlicher Aura) bezichtigt. 17 Jahre später spielt der 2. Akt in Böhmen, wohin die Tochter des Paares Perdida (Sarah Lamb von bezaubernder Anmut) mit ihrem Geliebten Florizel (Steven McRae mit hinreißender Vitalität und starker Ausstrahlung) fliehen konnte. Zurück nach Sizilien führt der 3. Akt, welcher die Versöhnung von Leontes und Hermione schildert. Zum Erfolg der Produktion, die inzwischen auch beim Hamburg Ballett gezeigt wurde, tragen auch das Orchestra of the Royal Opera House und der Dirigent David Briskin bei.

Das dritte (und aktuellste) Ballett trägt den Titel Like Water for Chocolate und ist eine Koproduktion mit dem American Ballet Theatre. Sie wurde im Juni 2022 im Royal Opera House London uraufgeführt, wovon auch der DVD-Mitschnitt stammt. Wieder ist das Trio Christopher Wheeldon (Choreografie), Joby Talbot (Musik) und Bob Crowley (Ausstattung) künstlerisch verantwortlich. Das Ballett wurde durch den mexikanischen Roman „Bittersüße Schokolade“ von Laura Esquivel inspiriert – eine Familiensaga von magischem Realismus in Mexiko um 1910. Die zentrale Figur ist Tita, verliebt in den Nachbarn Pedro, den sie jedoch nicht heiraten darf gemäß einer Familientradition, sich um die alte Mutter, Mama Elena, sorgen zu müssen. Statt ihrer ist Pedro die Hand Ihrer Schwester Rosaura versprochen. Dieser hofft, durch die Heirat näher bei seiner einzigen Liebe Tita zu sein. Ein Jahr ist vergangen und Rosaura hat Probleme, ihr neu geborenes Baby zu stillen. Wie durch ein Wunder kann Tita dieses Amt übernehmen, was Pedros Liebe zu ihr noch verstärkt. Ein nächtliches Treffen mit Tita wird gestört von Elena und Rosaura – Pedro muss mit seiner Frau und dem Baby die Farm verlassen. Die Magd Chenca übermittelt die Nachricht vom Tod des Kindes, Tita beschuldigt ihre Mutter als die Verursacherin des Unglücks. Ihren emotionalen Kollaps will Doktor John Brown in seinem Haus in Texas heilen. Er liebt Tita und will sie heiraten. Sie willigt ein trotz ihrer fehlenden Gefühle für diesen Mann, bei dem sie sich aber Frieden und Sicherheit verspricht. Die inzwischen verstorbene Mutter wird aufgebahrt, unter den Trauernden sind Pedro und Rosaura mit ihrer neuen Tochter Esperanza. In einer Kassette entdeckt Rosaura ein Tagebuch ihrer Mutter, welches ihre Liebe zu einem Mann namens José enthüllt, doch bestimmten die Eltern eine Heirat mit Juan de la Garza, Titas Vater. Die Liebenden wollten fliehen, doch Juan wird von Elenas Brüdern getötet. Dr. John gibt seine Verlobung mit Tita bekannt, aber Pedro erklärt ihr seine unverbrüchliche Liebe. Beider leidenschaftliche Verbindung endet in einer schrecklichen Vision – dem Erscheinen von Elenas Geist. Tita offenbart Dr. John ihre anhaltende Liebe zu Pedro und gibt ihm den Ring zurück.

Rosauras gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr, verursacht durch ihre Eifersucht. Ihre Tochter Esperanza, die mit Johns Sohn Alex scherzt, ruft sie gebieterisch zu sich und wiederholt damit das Verhalten ihrer Mutter. Bald hält Pedro seine tote Frau im Arm. 20 Jahre wird eine weitere Hochzeit gefeiert – die von Esperanza und Alex. Endlich sind die Familien in Liebe vereint.

Für diese vielschichtige Saga erdachte Christopher Wheeldon eine facettenreiche Tanzsprache, die ihre starke Wirkung ebenso aus den intimen Momenten der Protagonisten bezieht wie aus mitreißenden Gruppenszenen. Tita und Pedro tanzen am Ende einen neoklassischen Pas de deux von ekstatischer Hingabe als apotheotisches Bekenntnis zur Macht der Liebe.

Führende Solisten der Compagnie verzeichnet die Besetzungsliste. An ihrer Spitze zwei Principals: Francesca Hayward als Tita und Marcelino Sambé als Pedro. Die in Kenia geborene Britin und der Portugiese sind längst das neue Traumpaar in London. Beider Tanzduos sind aufgeladen von überschäumendem Temperament und erotischer Leidenschaft. Sambé ist ein Ausbund an Vitalität und jugendlichem Übermut, hinreißend in den fulminanten Sprüngen und virtuosen Hebefiguren. Hayward ist bezaubernd und anmutig, aber sie vermag auch den. Schmerz und die Trauer zu vermitteln, beginnend bei Pedros Hochzeit mit Rosaura, später beim Tod der Mutter und beim leidenschaftlichen Wiedersehen mit Pedro.

Laura Morera ist faszinierend als strenge, hartherzige Mama Elena – fanatisch, unnachgiebig und grausam. Rasant und hocherotisch ist sie in einer Rückblende mit ihrem Geliebten José  (Joseph Sissens von animalischer Sinnlichkeit), grotesk und fast eine Nachfolgerin der Herzkönigin als ihre eigene Geistererscheinung. Matthew Ball als fürsorglicher und großherzig liebender Dr John Brown ist ein Sympathieträger. Wheeldon hat für ihn und Tita zu Beginn des 2. Aktes ein inniges Duett erdacht, das beider Gefühle anschaulich schildert.

Bob Crowleys Ausstattung ist inspiriert von mexikanischer Kunst und Folklore, besitzt Strenge und Abstraktion, aber auch Naivität. Joby Talbots Musik lässt gleichfalls die Einflüsse mexikanischer Musiktradition hören, ist sehr rhythmisch betont und mit viel Schlagwerk instrumentiert. Am Ende rauscht sie hymnisch auf und bezieht auch noch die Gesangssolistin Sian Griffith ein. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt unter Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra mit südländischem Schwung und Temperament. Bernd Hoppe

Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Spannende Übernahme

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Das muss ein spannender Abend gewesen sein, als im April 2024  in Wuppertal Schönbergs Frau auf der Suche nach ihrem Geliebten durch den Wald irrt, wo Ethel Smyths Holzfäller Heinrich um das Zustandekommen seiner Heirat mit Röschen bangen muss. Mit dem nahezu zeitgleich entstandenen Mondram Erwartung und dem Music Drama Der Wald treffen Expressionismus auf Spätromantik.

Die Bilder von Manuel Schmitts Inszenierung, die die beiden kurzen Werke zu einem 1 ½ stündigen Opernabend verschränkten, sehen gut aus. Im Frühjahr 2026 soll der Abend in Wuppertal nochmals aufgenommen werden. Bereits jetzt hat cpo die CD von Ethel Smyths zweiter Oper veröffentlicht (1 CD 555650-2). 2024 war ein sensationell erfolgreiches Jahr für Smyth, die mit wankendem Erfolg ihre Opern stets für deutschen Bühnen vorbereitet hatte: Karlsruhe und Meiningen spielten The Wreckers, einmal in englischer, einmal in deutscher Sprache, im Februar 2025 folgte Schwerin mit Strandrecht, also der originalen deutschen Fassung der Wreckers. Die Begeisterung war stets groß.

Nun also der im April 1902 unter Karl Muck an der Berliner Hofoper uraufgeführte Der Wald, der anschließend an Covent Garden gespielt wurde und im folgenden Jahr als erste Oper einer Frau sogar an die Metropolitan Opera kam. Es sangen an der Met Johanna Gadski und Georg Anthes, also allererste Kräfte des deutschen Faches, das junge Liebespaar. Anschließend gab es Il Trovatore mit Lillian Nordica und Louise Homer. Bei der zweiten und letzten Aufführung an der Met wurde dem Smyth-Einakter La fille du régiment mit Marcella Sembrich vorangestellt.

Smyth (1858-1944) hatte am Leipziger Konservatorium studiert, bald eine Anhängerschaft gefunden, darunter Bruno Walter und Arthur Nikisch, und Freundschaft und Bekanntschaft mit Grieg, Brahms und Tschaikowsky geschlossen und ihren Erstling Fantasio 1889 in Weimar auf die Bühne gebracht. Sie war durch Ausbildung und Wirken eine deutsche Komponistin und erlag der Faszination des deutschen Waldes und der deutschen Romantik, die in ihm Abgründiges, Geheimnisvolles und Mythisches sah. Das wenig anspruchsvolle Libretto bastelte sie selbst zusammen. Muster dazu dürfte sie bei Weber, Marschner und Wagner gefunden haben: Die Hochzeit des Holzfällers Heinrich mit Röschens steht bevor. Röschen hat böse Vorahnungen. Tatsächlich erscheint Jolanthe, die Geliebte des Landgrafen Rudolf, der die Dorfleute nicht über den Weg trauen. Jolanthe will auch Heinrich für sich gewinnen: wenn er ihr Geliebter wird, will sie ihn vor der Todesstrafe wegen Wilderei eines Rehs bewahren. Heinrich bleibt seinem Röschen treu – und fällt. Röschen wirft die Arme ekstatisch nach oben und bricht über Heinrichs Leiche zusammen, „Gesiegt hat die Liebe, Liebe und Tod, Tod und Liebe. Heilger Wald, nimm uns auf!“

Das Stück beginn dramatisch wirkungs- und geheimnisvoll mit dem Prolog und Chor der Waldgeister, die im kurzen Epilog mit den gleichen Worten wiederkehren, „Vergänglich ist der Sterblichen Leid, vergänglich der Sterblichen kurze Lust. Wir aber leben uralt wie der Himmel und jung wie des Frühlings sich ewig erneuende Zauberpracht“.

Smyth findet für die Waldgeister sowie für die anschließenden Szenen des Hausierers, der Dorfleute und der Burschen einen frisch sprudelnden Ton wie von Mendelssohn, Weber, Schumann, Brahms abgeguckt. Alles handwerklich sauber illustriert, allerdings gelingt es ihr nie, das Dämonische, Finstere und Gefährlich musikalisch zu benennen, eine dramatische Entwicklung nachzuzeichnen, selbst bei dem Hornrufen begleiteten Erscheinen Jolanthes, als Röschen Vater bereits das drohende Unheil ahnt, oder den geschlossenen Nummern bleibt Smyth gräulich konventionell. Bald stellt sich Langeweile ein.

Patrick Hahn, Wuppertals junger GMD (*1995 Graz), der bereits im kommenden Jahr sein Amt aufgeben wird, nutzt die reichen instrumentalen Möglichkeiten. Seine Wiedergabe mit der dem Sinfonieorchester Wuppertal ist tadellos, besser kann man das vermutlich nicht machen. Die Besetzung der gegensätzlichen weiblichen Hauptfiguren mit der kindlich klingenden Mariya Taniguchi als Röschen und der kraftvoll dramatischen Mezzosopranistin Edith Grossmann als Jolanthe ist gut. Sangmin Jeon ist nicht der jugendliche Heldentenor, den es für den Heinrich bräuchte, Samueol Park unauffälliger Bariton besitzt zu wenig Gewicht für den Landgrafen Rudolf, bemerkenswert der Hausierer, den Zachary Wilsons mit frischem Bariton sang. Rolf Fath          

Thy hand, Joyce

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An Tondokumenten von Henry Purcells Dido & Aeneas besteht kein Mangel auf dem Musikmarkt, doch die Neuaufnahme bei ERATO ist mit einer exemplarischen Besetzung absolut konkurrenzfähig (5021732284884). Mit Joyce DiDonato und Michael Spyres in den Titelrollen sind zwei Sänger von Weltrang aufgeboten – beide singulär in der Vielfalt des Repertoires, in der technischen Vollkommenheit und Einzigartigkeit ihrer Timbres. Auch das begleitende Orchester, Il Pomo d´Oro, hat unter seinem Leiter Maxim Emelyanychev hohen Anteil am Ausnahmerang dieser Veröffentlichung. Sie wurde im Februar des vergangenen Jahres in der Philharmonie Essen aufgenommen und nun auf einer CD herausgebracht. Im Booklet findet sich neben den Künstlerfotos das Libretto von Nahum Tate im englischen Original sowie in französischer und deutscher Übersetzung.

Als Dido wartet DiDonato mit einer noblen Gestaltung auf, bleibt stets schlicht und diskret, sogar in der berühmten Schluss-Szene „When I am laid in earth“. Gerade weil sie in diesem Lamento auf jedes Pathos verzichtet, ist die Wirkung so stark, gipfelnde im ergreifenden „Remember me“. Danach singt Il Pomo d´Oro Choir (Einstudierung: Giuseppe Maletto) mit „With drooping wings“ einen nicht minder berührenden Abgesang. Dass die Partie des Aeneas so schmal ausgefallen ist. bedauert man angesichts der Ausnahmestimme des Baritenors Michael Spyres. Ihr dunkler, sinnlicher Klang ist erregend, im Auftritt bei „If not for mine“ auch von machtvoller Autorität. Bezaubernd singt Fatma Said die Belinda; ihre Soli am Ende des 1. Aktes, „Pursue thy conquest, Love“, und „Haste, haste to town“ im 2. sind hinreißend in ihrem stürmischen Jubel. Beth Taylor ist eine Sorceress mit üppigem Kontraalt, die bei „Wayward sisters“ furchterregend auftrumpft. Der Choir imponiert danach mit seinem Hohnlachen. Hugh Cutting ist der Spirit mit potentem Countertenor, Laurence Kilsby der Sailor mit frischem Tenor, der gemeinsam mit dem Chor bei „Come away“ für eine ausgelassene Szene sorgt.

Das Ensemble Il Pomo d´Oro lässt schon in der Overture aufhorchen mit gravitätischer Einleitung und dann rhythmisch federndem Klang. Der tänzerische Duktus des „Triumphing Dance“ am Ende des 1. Aktes und das folgende „Prelude for the Witches“ in seinem Dollergrollen sowie der „Echo Dance of Furies“ und „The Witches´ Dance“ sind weitere markante Szenen von orchestraler Pracht. Bernd Hoppe

Beachtlich

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Ein gutes Jahr für das alljährlich im Herbst stattfindende Donizetti-Festival in Bergamo war 1822, denn da wurde in Neapel des Sohnes der Stadt melodramma eroico Zoraida Di Granata uraufgeführt und stellte so nach 2022 beim Partner Wexford mit Tenor 2024 mit Mezzosopran für die Liebhaberpartie im restaurierten Teatro Sociale einen der Höhepunkte der Festspiele. Das zunächst mit großem Erfolg bedachte Werk, für dessen Tenorpartie der Komponist wegen plötzlicher Erkrankung des Sängers die Mezzofassung hatte komponieren müssen, sieht die Reconquista einmal nicht durch die Augen der christlichen Spanier, sondern die der ihren Staat auf iberischem Boden verteidigenden Mauren, die allerdings mehr mit Liebeshändeln als kriegerischen Aktionen befasst sind. Nachdem er ihrem Vater den Thron und das Leben entrissen hat, will Almuzir auch dessen Tochter heiraten, die allerdings bereits mit Abenamet verlobt ist. Dieser soll ausgeschaltet werden, indem er zwar eine Schlacht gegen die Spanier gewinnen darf, dabei aber durch Intrigen das heilige Banner der Mauren verliert. Um ihn vor dem Vollzug der Todesstrafe zu bewahren, verspricht Zoraida dem Tyrannen die Ehe, wird bei einem Treffen mit Abenament überrascht und wegen Untreue zum Tode verurteilt. Vor diesem rettet sie der in Lohengrin-Manier herbeigeeilte Abenament, und alles kann in Frieden und Freude enden, indem der Sieger zwar die Braut gewinnt, auf das Reich aber zugunsten des Gegners verzichtet. Das abschließende Rondo ist nicht der Titelfigur Zoraida vorbehalten, sondern wird vom Mezzosopran gesungen.

Trist und trübe ist trotz des glücklichen Ausgangs die Bühne von Gary McCann, der den Chor in Kostüme steckte, die  an Israelis oder Ukrainer  aus der abendlichen Tagesschau erinnern, in modernster Militärausrüstung, aber sich zwischen antiken Ruinen bewegend, die auch einen idyllischen Garten mit Erinnerungen wachrufendem Rosenstock in Form einer angeknabberten Säule darstellen müssen. Die Damen sind mit 50er-Jahre-Kleidchen plus Strickjacke auch nicht glamouröser bedacht, aber jeder Einwand gegen die Aufführung schwindet zunehmend, wenn der akustische Eindruck die Herrschaft übernimmt, beginnend mit der spannungs-, variations- und farbenreich die vorstellungseinleitenden Sinfonia unter Alberto Zanardi, der das Orchestra Gli Originali souverän durch die Partitur führt. „La regia funziona“, sie ist Bruno Ravella zu verdanken, und das ist schon viel.

Die eigentliche Sensation aber sind die Sänger, die die sich auf dem Anspruchsniveau einer Lucia di Lammermoor, man höre sich nur das Sextett an, bewegen, selbst die der „kleineren“ Partien, die der Tradition entsprechend von Mitgliedern der Bottega Donizetti gesungen werden. Dazu gehört immerhin die Basspartie des bösen Strippenziehers  Ali, dem Valerio Morelli einen fulminanten Auftritt im zweiten Akt verschafft und dem er durchgehend vokale Geschmeidigkeit und Durchschlagskraft verleiht. Ohne Asiaten auf der Opernbühne kommen auch die Italiener nicht mehr aus, und Konu Kim  verleiht dem intriganten, erst zum Schluss geläuterten Almuzir einen hellen Trompetenton, bejubelte Spitzentöne und einen insgesamt  instrumental geführten Tenor.  Schlank, hell und koloraturgewandt ist der Sopran von Zuzana Marková, sie singt ihre Partie voll lyrischer Emphase und bestreitet mit dem Tenor ein höchst anspruchsvolles Duett.  Ganz und gar wunderbar ist Cecilia Molinari als Abenamet mit dunkel getöntem, schön gerundetem, geschmeidigem Mezzosopran, der auch zur ungefährdeten heldischen Attacke fähig ist und im Rondo funkelt und leuchtet. Angenehmes steuert Lilla Takács als Ines bei, schüchtern bleibt Tuty Hernández als Almanzor. Markant sind die Herren vom Coro dell’Accademia Teatro alla Scala und insgesamt würde man bedauern, dass dieses wirklich zu Unrecht vergessene Werk wieder für zwei Jahrhunderte in der Versenkung verschwindet.  Immerhin hat Dynamic nun für die erste Video-Aufnahme gesorgt (Dynamic 58068). Ingrid Wanja           

90 Minuten Unterhaltung

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Durchaus keine Garantie dafür, die Lachmuskeln des Hörers zu strapazieren, gibt die Gattungsbezeichnung farsa, nach deren einer Uraufführung der Mutter Rossinis vom aufführenden Impresario sehr nachträglich zur Geburt des gerade seinen Ruhm beginnenden Komponisten gratuliert wurde. Es geht um L’inagnno felice mit durchaus ernstem Inhalt, der Wiederzusammenführung eines edlen Paares, das einst durch höfische Intrigen voneinander getrennt wurde, indem der Gatte die des Ehebruchs beschuldigte Gattin auf hoher See aussetzen ließ, ein Steiger sie rettete und als „Nichte“ in seinen Haushalt aufnahm und im Verlauf der Handlung erlebt, wie die beiden Liebenden einander wiederfinden, alle Missverständnisse aufgeklärt werden und dem lieto fine nichts mehr im Weg steht. Das der Doppel-CD beiliegende Booklet berichtet ausführlich über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Stücks, das etwa gleichzeitig mit dem frivolen und deshalb bald auf den Index gesetzten L’equivovo stravagante  komponiert wurde.

Nicht nur Pesaro und Bad Wildbad nahmen und nehmen sich unbekannterer Werke des Schwans von Pesaro an, sondern in diesem Fall auch das Reate Festival von Rieti, einer kleinen Stadt im nördlichen Lazio, nahe Umbrien, wo auch in diesem Herbst wieder ein Festival, allerdings für zeitgenössische Musik, stattfindet, während die vorliegende Aufnahme aus dem Jahre 2023 stammt. Das Verdienst der vorliegenden Doppel-CD gebührt dem Label cpo, das einen Vertrag mit dem die Sänger begleitenden Orchester THERESIA abgeschlossen hat.

Dirigent der Aufnahme ist der rossinierfahrene Alessandro De Marchi, der das mit leicht metallischem Klang aufwartende Orchester zügig vorantreibt, für ein sehr poetisch klingendes Finale sorgt und den der Partitur innewohnenden Esprit sehr schön zur Geltung bringt. Gut aufgehoben konnten sich hörbar die Sänger fühlen, die es in der auch für eine personen- und damit kostensparende Farsa ungewöhnlichen Zusammenstellung Sopran, Tenor, drei Bässe gibt.

Lieblich, weich und angenehm gerundet ist der Sopran von Miriam Albano, der sich schillernd zwischen Sopran- und Mezzoqualitäten bewegt, facettenreich die anspruchsvolle Partie der Isabella durchmisst und der dem Tenorpartner an Ausdrucksmöglichkeiten und Facettenreichtum weit überlegen ist. In der großen Arie „Al più dolce e caro oggetto“ überzeugt die Sängerin auch durch eine großzügige Phrasierung. Am besten in den markant dargebotenen Rezitativen macht sich der Tenor Antonio Garés, dessen Timbre ihn eher in Richtung Charaktertenor weist und der einen einmal gefundenen gerundeten Klang der Stimme nicht bis zum Ende einer Phrase durchhalten kann.

Angemessen unterschiedlich ist das Hörbild, das die drei Bässe vermitteln. Dem Bösewicht Ormondo wird von Giuseppe Toia dunkle Geschmeidigkeit verliehen, während der harmlosere Batone durch Luigi De Donato eher mit vokalen Buffoqualitäten ausgestattet wird. Mit sehr guter Diktion, mit Farbe und Buffo-Schalk in der Stimme, eher wie ein Bassbariton klingend, steuert Matteo Loi als Tarabotto  nachdrücklich eine dritte Variation einer tiefen Stimme bei.

Neunzig Minuten guter Unterhaltung werden durch die CDs garantiert, durch den einführenden gehaltvollen Text von Rossini-Spezialist Reto Müller bereichert durch mehr Wissen über Rossini und die Gattung Farsa (cpo 555 222-2). Ingrid Wanja              

Dostojewski-Schwerpunkt

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Dostojewski-Schwerpunkt beim Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2024: Der Spieler von Sergej Prokofjew nach dem gleichnamigen, quasi biografischen Roman (Unitel Bluray 811704) Dostojewskis, sodann Mieczyslaw Weinbergs Der Idiot nach seinem weitaus umfangreicheren, ebenfalls gleichnamigen Roman. Beide Aufführungen waren große Erfolge. Weinbergs mit der Zueignung an seinen Freund und Förderer „Im Angedenken an Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch“ versehene Oper der größere (Unitel Bluray 811504), weil unerwartet und künstlerisch bestechend.

Der 1919 Warschau geborene und 1996 in Moskau gestorbene Jude Weinberg gehört zu den großen (Wieder)Entdeckungen des Musiktheaters unseres Jahrhunderts. Von seinen zentralen, posthum uraufgeführten, doch Jahrzehnte zuvor entstandenen Opern Die Passagierin von 2010 und Der Idiot von 2013 erwies vor allem erste ihre Repertoiretauglichkeit, der Idiot gelangte nur wenige Male auf die Bühne. Mit seinem Idiot führt Weinberg auf frappierende Weise die große Traditionslinie der russischen Oper von Mussorgsky Dramen über Tschaikowskys Puschkin-Vertonungen und Prokofjews Krieg und Frieden und Der Spieler bis zu Schostakowitschs Werken zu einem Ende. Zweifellos ist Fürst Myschkin, der Idiot, ein Nachfahre des geheiligten Gottesnarren und hellsichtigen Schwachsinnigen, der die Wahrheit verkündet und in Mussorgskys Boris Godunow um das Vaterland weinen.  Myschkins Gegenspieler Rogoschin sagt zu ihm „Wahrhaftig, Fürst, du bist ja ganz und gar ein Jurodivyi“ – also ein Gottesnarr – „Und solche hat Gott der Herr lieb!“. Vielleicht ist damit zu erklären, weshalb sich Mieczyslaw Weinberg 1985 entschloss, die liebeswerte und rätselhafte Titelfigur von Dostojewskis umfangreichem Roman Der Idiot zum Helden seiner neuen, gleichfalls sehr umfangreichen Oper zu machen. Auf der riesigen Bühne der Felsenreitschule gestaltet Bogdan Volkov den charismatischen Fürsten, der in Russland ständig friert, mit keuscher Inbrunst, anmutig und liebeswert im Spiel, überzeugend im epileptischen Anfall wie in den langen philosophischen Ergüssen, die ihm Alexander Medvedev aufbürdet, der den 800-Seiten-Roman auf vier lange Akte eindampfte. Der an Mozart- und Belcanto-Partien geschulte Volkov singt mit feiner Artikulation und einem zarten lyrischen, doch silbrig zentrierten Ton, der im teilweise strapaziösen Dauereinsatz angesichts der kraftvollen Orchestrierung auch kernige Kraft zeigt und elastisch alle Stadien der Zerrissenheit aufgreift. Medvedev hat auch die weiteren Libretti Weinbergs geschrieben. Die Autoren bilden keine Gesellschaft der 1860er Jahre ab, sondern konzentrieren sich auf den unerschütterlich gutherzigen Fürsten, einen Epileptiker wie Dostojewski selbst, und seinen Gegenspieler Rogoschin. Die beiden lernen sich während einer ausgedehnten Zugfahrt kennen, als der Fürst nach längerem Sanatoriumsaufenthalt aus der Schweiz nach St. Petersburg zurückkehrt. Rogoschin erzählt von seiner Besessenheit für Natassja Filippowna. Beide buhlen fortan um Nastassja und wollen die Ehrlose durch Heirat aus den Fängen ihres ehemaligen Liebhabers Totsky befreien – Der Fürst aus Nächstenliebe und Menschlichkeit, Rogoschin aus Leidenschaft. Zwischenzeitlich glaubt der Fürst eine Leidenschaft für Aglaja, eine entfernte Verwandte, zu spüren. Am Ende ersticht Rogoschin Nastassja. Ausrine Stundyte setzt die Pracht ihres dramatischen Soprans ein, um die Widersprüchlichkeit der kapriziösen wie leidenschaftlichen Nastassja zu zeigen. Düster und roh, dann wieder versöhnlich gibt Vlasilav Sulimsky den Rogoschin mit bedrohlichem Bariton. Festspielwürdig und ausgezeichnet das gesamte Ensemble, darunter Margarita Nekrasova als lebenskluge Yepachina, Xenia Puskarz Thomas als Aglaja, der baritonal ungemein wandlungsfähige Iurii Samoilov als mephistophelischer Erzähler Lebedev, Pavol Breslik als Ganya. Es ist eine großartige Musik, in der Weinberg das polnische Erbe von Szymanowki bis Górecki leuchten lässt und russische Traditionen vom trocken Sprechgesang in Mussorgskys früher Heirat bis zu Schostakowitschs Ironie aufgreift. Das litauische Ausnahmetalent Mirga Gražinytė-Tyla entwirft diese höchst individuelle Theatermusik am Pult der Wiener Philharmoniker mit Eleganz und Bravour, weist nebst den spröde aufgeschichteten Textmassen auch den vokalen Inseln prägnante Wirkungen zu und entfacht in den verflochtenen Vokallinien Glut und Sinnlichkeit, verbindet eloquent beherzt Jazz-Elemente mit Klassizität.

Ebenso virtuos nutzt Krzysztof Warlikowski die schier unbespielbare breite Bühne der Felsenreitschule aus, die auf der DVD selten in der gnadenlosen Vierzig-Meter-Totale zu sehen ist, setzt gekonnt Video- und die wie auf einer großen altmodischen Schultafel gekritzelten Texteinblendungen ein. In dieser gefeierten und auch auf DVD sehenswerten Inszenierung verliert sich Warlikowski nicht in seine beliebten Assoziationen und Privatmytholgien, sondern bleibt dicht am Stück und setzt auf eine spannende und eindrucksvolle, geradezu virtuos lebendige Führung der Personen und scharfe psychologische Analyse. Mit wenigen prägnanten Strichen zeichnet er die kaltherzig und gierige St. Petersburger Gesellschaft und zeigt den Fürsten als einen Mann aus der Welt der Mathematik und Physik, der wie ein Doppelgänger von Holbeins Christus-Figur seiner brutalen Umgebung ausgeliefert ist. Die zahlreichen erdachten Nebenfiguren und Statisten unterstützen die Dichte der Aufführung, für die Malgorzata Szczęśniak die Felsenreitschule mit Paneelen verkleidet und Möglichkeiten für die Projektionen (Kamil Polak) geschaffen und die Bühne in fahrbare Raumsegmente aufgeteilt hat, darunter eine großzügige rote Sitzgruppe, die anfangs auch das Zugabteil darstellt .

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Ganz erstaunlich, wie es Sergej Prokofjews Oper Der Spieler plötzlich zu neuer und allgemeiner Wertschätzung bringt. Als ich den Spieler erstmals auf der Bühne sah, galt er als noch absolute Rarität, eher für ein Festival denn für den Normalbetrieb tauglich: Beim Maggio Musicale in Florenz gab man ihn 1986 als Il giocatore (immerhin mit Dessi und Souliotis). Ende der 1990er Jahre brachte Gergiev die Oper ins Festspielhaus nach Baden-Baden und bald wurde sie in Amsterdam, Basel, Mannheim und Frankfurt, sogar an der Mailänder Scala sowie an der Berliner und Wiener Staatsoper und im Frühjahr 2025 in Stuttgart gespielt. Als seien die Bühnen von einem Taumel erfasst wie der Hauslehrer Alexej, der im imaginären Roulettenburg sein Geld und Glück verspielt. Sogar bei den Salzburger Festspielen, wo im August 2024 der junge Timur Zangiev sein viel beachtetes Debüt mit Peter Sellars routiniert bildgewaltige Produktion in der Felsenreitschule gab und Asmik Grigorian das Werk dem Festspielpublikum schmackhaft zu machen versuchte. Das ist jetzt (Unitel Edition Bluray 811704) nachzuerleben.

Die Werkgeschichte ist, wie stets bei Prokofjew, kompliziert. Der Spieler ist Prokofjews erste Oper, die auf eine Bühne fand. Die während eines London-Aufenthaltes 1914 ins Auge gefasste Oper nach Dostojewskis autobiografisch verbrämten Roman Der Spieler war 1917 weitgehend fertig. Da die avisierte Aufführung am Mariinski Theater unrealistisch schien, entschloss sich Prokofjew zu einer Umarbeitung, die „im Wesentlichen eine völlige Neufassung wurde“ und 1929 in französischer Sprache als Le joueur in Brüssel zur Uraufführung gelangte. Der zuvor entstanden Einakter Maddalena erlebte seine erste Bühnenaufführung erst 1981 beim Festival Steirischer Herbst in Graz. Erst 1974 wurde Der Spieler am Bolschoi Theater aufgeführt, 1991schließlich in St. Petersburg, wo die Uraufführung ursprünglich hätte stattfinden sollen.

Tempo, Tempo, Tempo, ein atemloses Tempo herrscht in dieser Oper. Ein fiebriger Strudel des dialogischen Schlagabtauschs, der vom Orchester mit wütender Bravour unter Hochspannung gehalten wird und wozu Prokofjews Kommentar, er strebe nach Einfachheit und versuche es den Sängern nach Möglichkeit nicht schwer zu machen, wie Hohn klingt. Diesem hitzigen Tempo entspricht die bunte, dekadente Spielhallenwelt mit den darin wie Lampions oder außerirdische Flugkörper schwebenden Roulettetischen von George Tsypin und die heutigen bunten, abgerissenen und eleganten Outfits samt Handys, die Camille Assaf für diese Betrüger, Hochstapler, Heiratsschwindler und Fratzen geschaffenen hat: der General, der auf das Ableben der Babuschka spekuliert, hat sich das Flittchen Blanche geangelt, während seine Stieftochter Polina sich mit dem Marquis eingelassen hat, obwohl sie den Hauslehrer Alexej, den „Spieler“, liebt, den sie demütigt und quält.

Die Felsenreitschule ist zu groß. Und sie bleibt in ihren Dimensionen weitgehend ungenutzt. Sellars hat sich auf eine revuehaft großzügige Bebilderung verlassen, einen Teil der Bühne mit Rasenteppich bedeckt, stumme Nebenfiguren erdacht und die letzte Szene im Casino mit durch den Raum schwebenden Gestalten und öliger Schickeria aufgeputzt. Doch letztlich kapituliert er vor dem Stück und dem zur Karikatur verkommenen Personal. Als Video Director rückt er den Figuren im schummrigen Licht und immer neuen Blickwinkeln dicht auf die Pelle, so dass wir die aufgeheizte Atmosphäre und Schwüle bis zu den Schweißbächen des Protagonisten nachfühlen können. Sean Panikkar ist großartig als Andrej, der aus Sri Lanka stammende Amerikaner bewältigt diese ständig auf Hochtouren laufende Partie und die expressive Deklamation stimmlich geradezu leichtfüßig und mit lyrischer Geschmeidigkeit, er verleiht dem Polina in liebender Abhängigkeit ergebenen Glücksritter Tiefe und Leidenschaft, dazu eine Aufrichtigkeit, wodurch Andrej neben Polina zur einzigen Figur des Stückes wird, für die man ein wenig Mitgefühl aufbringt. Asmik Grigorian ist die geheimnisvolle wissende Polina. Mehr lässt sich aus der Figur nicht rausholen. Der bassgewaltige Peixin Chen ist ein eherner General, der seine Verzweiflung „Sie hat meine Erbschaft verspielt“ wie Peitschenhiebe knallen lässt, Juan Francisco Gatell ein spitztenoral schmeichelnder Marquis, der madagassische Bariton Michael Arivony fällt als Mr. Astley auf. Doch die geschliffenen Konversationsszenen bleiben vorerst nur artistisch. Leben haucht ihnen erst Violeta Urmana als Antonida Tarasevicheva ein. Die totkranke Großmutter, auf deren Ableben alle spekulieren, kommt offenbar direkt aus dem Duty-free-Shop, zwar im Rollstuhl, doch quicklebendig und mit einem Furor wie ein feuerspeiender Vulkan. Niveau erhält die Aufführung auch durch die Wiener Philharmoniker und Timur Zangiev, die Prokofjews knapp charakterisierende, durchkomponierte und in Kurzzeit hingeworfene Oper und ihre geschliffene Artistik virtuos umsetzen.  Rolf Fath

 

 

 

 

Biblische Träume

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Voll und ganz dem spätbarocken Wiener Imperialstil verpflichtet und damit ein Fest für die Ohren ist Antonio Caldaras Oratorium Gioseffo che interpreta i sogni, zumindest wenn es in einer so hochkarätigen Besetzung wie der vom November 2024, als das Werk in Turin im Tempio Valdese mit Chor und Orchester Consort Maghini unter Alessandro De Marchi aufgeführt wurde. Kaiser Karl VI. hatte sich an den Werken des zunächst in Venedig, dann in Mantua und Rom tätigen Komponisten in Barcelona erfreut und holte ihn deswegen nach seiner Krönung zum Deutschen Kaiser als Vizekapellmeister der Kaiserlichen Hofkapelle hinter Johann Joseph Fux  nach Wien. Oratorien verschönerten mit dem Alibi geistlicher Erbauung die ansonsten trübe Fastenzeit, standen aber, und dafür ist Gioseffo ein gutes Beispiel, an musikalischem Prunk den Opern in nichts nach.

Die „Handlung“ von Gioseffo allerdings weiß nichts von dem Verführungsversuch der Gattin des Potifar an Joseph, dem Sohn von Isaak und Rachel, sondern sieht ihn wegen der falschen Anschuldigung durch die Verschmähte bereits im Kerker, zusammen mit einem Bäcker und einem Mundschenk, denen er den Gehalt ihrer Traumphantasien erläutert. Als er den Pharao dessen Träume als die Prophezeiung der sieben fetten und sieben mageren Jahre deutet, befreit ihn dieser nicht nur aus dem Kerker, sondern setzt ihn zudem als König über Ägypten ein. Interessant ist die Figur des Testo, der erläutert, was den Rezitativen und Arien nicht zu entnehmen ist. Außerdem hat Caldara die Figur des untreuen Dieners Sedecia der biblischen Erzählung hinzugefügt. Das viersprachige Booklet liefert eine sehr ausführliche und erkenntnisfördernde Beschreibung des Inhalts, nicht nur den Text, sondern auch die musikalischen Formen betreffend.

Interessant ist das Oratorium nicht zuletzt durch den Einsatz so selten zu hörender Instrumente  wie dem Psalterium, einer Art Zither, und dem Chalumeau, eines Holzblasinstruments.

Bereits die Sinfonia vermeidet jegliche Fastendürrheit, sondern lässt den Hörer über die Entfaltung weltlichen Glanzes staunen, über den Farbenreichtum, die Üppigkeit des Klangs, den das Orchester jubelnd oder trauernd erzeugt. Mit einem Alt ist die Titelfigur besetzt. Margherita Maria Sala hat für sie einen satten, stets engagiert klingenden Klang, kostet die Raffinessen der Partitur aus, klingt manchmal etwas affektiert, eher aber raffinert, so beim Ritardando und dem bewegten und bewegenden „Libertà cara“. Einen körperreichen Bariton hat Mauro Borgioni für den Testo, der mit einem breiten Farbspektrum aufwartet,  sich in gewagte Verzierungen schmiegt und in bemerkenswerte Tiefen hinabsteigt. Den unglücklichen Panatiere singt Lorrie Garcia mit entsprechend tränenreichem Timbre, den glücklicheren Coppiere Eleonora Bellocci mit mädchen- bis jungenhaftem Sopran, der in seiner Jubelarie mit dem zitierten „dolce suono“ tatsächlich aufwarten kann. Autoritätsheischend und in „Non, più di me nun può“ Schärfen nicht vermeidend überzeugt Arianna Vendittelli ganz besonders mit einer fulminanten Kadenz. Viel vokale Autorität strahlt der Faraone von Luigi De Donato aus, gewagte Variationen auskostend und einen irrwitzig schwierigen Arienschluss nicht nur bewältigend, sondern hörbar genießend. So engagiert wie die Solisten und das Orchester lässt sich auch der Coro Maghini unter Claudio Chiavazza vernehmen und setzt einen leuchtenden Schlusspunkt (GCD 923543). Ingrid Wanja