Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Rundum gelungen

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Das winzige Quäntchen Unzufriedenheit, das das vollkommene, hundertprozentige Opernglück trübt, ist die Tatsache, dass Don Ottavios zweite Arie, Il mio tesoro intanto, zwar im viersprachigen (!) Libretto des Booklets, aber weder auf der Chateau de Versailles-DVD noch der -BLu-ray von Mozarts Don Giovanni zu finden ist . Nicht das Palais Garnier, schon gar nicht die Opéra Bastille oder die Opéra Comique bescheren ansonsten eine makellose Aufführung des drama giocoso im Schloss von Versailles, sondern die dort ansässige Opéra Royal mit dem dazu gehörigen Orchester, dem Chor und dem Ballett. Das Theater wurde unter Louis XV. in einem Seitenflügel des Schlosses eingerichtet und führt regelmäßig in einem im Wesentlichen gleich bleibendem Bühnenbild, nicht unähnlich dem Palladio-Opernhaus in Vicenza, vor allem Werke auf, die nicht nach der Einweihung  des Saals entstanden sind.

Was als erstes nicht nur überzeugt, sondern gerade entzückt ist die Optik, insbesondere die Kostüme von Christian Lacroix, höchst geschmackvoll, vielleicht ein wenig zu prächtig bunt für das Landvolk, aber ganz sicherlich in ihrer stilsicheren Eleganz den Sängern die Gewissheit verschaffend, durchgehend bella figura zu machen, was sich nicht selten auch auf eine optimale gesangliche Leistung auswirken kann. Die Regie von Marshall Pynkoski beschränkt sich auf sinnvolle Arrangements im Stil der commedia dell‘arte, wobei die Mitwirkung der Choreographin Jeanette Lajeunesse Zingg auch die tumultartigen Szenen wie den Schluss des ersten Akts zu choreographischen Kunstwerken werden lässt, was auch für das Auftischen des Mahls oder für die Prügelszene gilt. Dabei führt das Einhalten einer Etikette der Eleganz keineswegs dazu, den Zuschauer weniger am Schicksal der Figuren teilnehmen zu lassen, im Gegenteil, was auch das Herein- und Hinaustragen von Requisiten bei offenem Vorhang nicht tut, ein angenehmer Schwebezustand zwischen Realität und Illusion bleibt stets erhalten. Am Schluss dröhnt eine mächtige Lache Don Giovannis, der gerade zuvor in wild geschwenkten roten Tüchern den Flammentod erlitten hatte, durch den Saal, das gerade verklungene Sextett Lügen strafend.

Wie die optische, so ist auch die akustische Seite der Aufführung  (fast) ausnahmslos Freude spendend.  Gaétan Jarry kann bereits mit der Sinfonia eine nie nachlassende Spannung und Gespanntheit aufbauen, stilsicher ist Steve Bergeron als pianiste accompagnateur,  zu einer quirligen Einheit schmelzen Chorsänger und Balletttänzer  zusammen.

Nicht wie ein spanischer Grande in der Blüte seiner Jahre, sondern eher wie ein Cowboy mittleren Alters mit Rauschebart wirkt leider Robert Gleadow, eigentlich ein erfahrener Mozartsänger und doch hier auch akustisch recht grobschlächtig wirkend und als Einziger nicht ideal den Vorstellungen von der Partie entsprechend,  an einen Ruggero Raimondi darf man gar nicht denken, auch wenn das Wissen um die Bedeutung der Rezitative imponiert. Das ist aber der einzige Fast-Ausfall.  Überaus gewandt in Spiel wie Gesang zeigt sich Riccardo Novaro als Leporello, der die Registerarie nicht nur singt, sondern auch nicht nur bei „porta la gonella“ spielt. Angsteinjagend ist Nicolas Certenais als Komtur mit tatsächlich Grabesstimme. Elegant und geschmeidig in jeder Hinsicht ist Jean-Gabriel Saint Martin als ungewöhnlich charmanter Masetto. Zum Glück nicht als blässlichen Schwächling stellt Enguerrand de Hys den Don Ottavio dar, der auch akustisch gar nicht anämisch trocken, sondern in Dalla sua pace variationsverliebt und höhensicher ist.  Durchweg optisch höchst attraktiv, wobei die Kostüme hilfreich sind, zeigen sich die drei Damen. Die Donna Anna von Florie Valiquette macht viel aus den Rezitativen, erreicht jede Höhe mit Leichtigkeit und ist sicher in den Koloraturen. Ab und zu eine leichte Schärfe wirkt nicht wie ein Makel, sondern ist der intensiven Interpretation geschuldet. Etwas runder und wärmer klingt der Sopran von Arianna Vendittelli in schlanker Farbigkeit. Die Zerlina von Éléonore Pancrazi singt ihre zweite Arie mit schönen Verzierungen, ist mehr als eine Soubrette, ohne auf deren Charme zu verzichten, wozu allerdings nicht gehört, dass sie Geld von Don Giovanni nimmt.  Aber irgendwie muss sich die Regie schließlich profilieren.

Es gibt nicht nur das umfangreiche Booklet mit vielen Informationen und Fotos, sondern auch gleich außer der Blu ray eine DVD, so dass man sich davon überzeugen kann, ob die neuere Technik tatsächlich Vorteile bringt (CVS 115/ 13. 11. 24). Ingrid Wanja

Sportliches

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Wieder einmal hat das Label Château de Versailles sein angestammtes (französisches) Repertoire verlassen und sich einem italienischen Komponisten gewidmet. Gegenstand ist die Opera seria L´Olimpiade von Domenico Cimarosa. Kein Geringerer als der Barockspezialist Christophe Rousset steht an der Spitze seines Orchesters Les Talens Lyriques. Das Ergebnis ist nicht weniger als sensationell zu nennen. Der Klang evoziert rasante Sprints und mirakulöse Sprünge bei der Olympiade, wie man es zuletzt in Paris erlebt hatte. Schon die Sinfonia fegt wie ein Sturmwind vorüber und bis zum Schluss erlebt man spannungsreiches, farbiges Musizieren von eminentem Drive und überschäumender Verve.

Metastasios verworrenes, mehr als fünfzigmal vertontes  Libretto erzählt vom Brauch der antiken Olympiade, nach dem der Sieger der Wettkämpfe die Tochter des amtierenden Herrschers heiraten darf. Hier ist es der Athener Megacle, der Aristea, Tochter des  Clistene, König von Sikyon, liebt. Megacles Freund Licida liebt die Kreterin Argene, verliebt sich jedoch gleichfalls in den Siegerpreis Aristea. Nach vielen Verwirrungen wird am Ende mit einem Chor des Volkes das lieto fine gefeiert.

Die Besetzung ist exzeptionell und weist keine Schwachstellen auf. Vielleicht ist die Sopranistin Rocío Pérez an die Spitze zu setzen, die die halsbrecherische Partie der Aristea mit Bravour meistert. Bereits der Auftritt „Tu di saper procura“ erfordert geradezu artistische Koloraturläufe und ausgedehnte Töne in höchsten Regionen. Auch die in „Mi sento, oh Dio!“ geforderte Bravour ist enorm. Die Sängerin lässt hier die staccati in extremer Tessitura glitzern. Ihre Landsfrau Maite Beaumont ist dagegen eine gestandene Größe im barocken und Belcanto-Repertoire. Mit der Interpretation des Megacle beweist sie ihren noch immer unangefochtenen Ausnahmerang. Sogleich ihr Entree, „Superbo di me stesso“, lässt in seinem vehementen Zugriff aufmerken. Mit nobler Kultur wartet sie am Ende der Oper in der Arie „Nel lascarti“ auf. Im kantablen Duett mit Aristea „Ne´ giorni tuoi felici“ harmonieren die Stimmen beider Sängerinnen perfekt. Auch die Schweizer Sopranistin Marie Lys hat bereits einen Namen in der Opernwelt, ihre Argene nimmt schon in ihrer getragenen Eingangskavatine „O care selve“ mit delikaten Tönen und feiner Linie für sich ein. In der erregten Arie des 2. Aktes „Spiegar non posso“ zeichnet sie mit vehementer Tongebung plastisch eine dramatische Situation. Die französische Mezzosopranistin Mathilde Ortscheidt gibt dem Licida prägnante Kontur, berührt in ihrer Eingangskavatine Mentre dorrmimit innig warmer Tongebung. In der Arie des 2. Aktes „Torbida il ciel“ wird dagegen flexible Stimmführung gefordert, womit die Interpretin keine Probleme hat.

Zwei Tenöre komplettieren die Besetzung – der Kanadier Josh Lovell als König Clistene und der Brite Alex Banfield als Licidas Erzieher Aminta. Ihm fällt mit „Siam navi all´onde algenti“ die erste Arie des Werkes zu, die er in ihrem stürmischen Duktus mit entschlossener Attacke angeht und damit für einen gelungenen vokalen Auftakt sorgt. Auch „In un cor“ zu Beginn des 2. Aktes gelingt ihm vorzüglich. Ersterer führt sich mit der energischen Arie „Del destin non vi lagnate“ ein, die er nachdrücklich vorträgt. Mit sublimen lyrischen Valeurs wartet er bei „Non so donde viene“ im 2. Akt auf. In der Scène dernière vereinen sich alle sechs Interpreten zu einem stürmischen Abgesang und demonstrieren noch einmal den hohen Rang dieser Aufnahme, die im Dezember 2023 in Paris entstand und auf zwei CDs veröffentlicht wurde (CVS143/ 12. 11. 24). Bernd Hoppe

Uraufführung

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Mit gleich zwei Uraufführungen eigener Werke beschenkte der von 2008 bis 2022 in Freiburg wirkende Dirigent und Komponist Fabrice Bollon das dortige Publikum, inzwischen ist er seit 2022 Generalmusikdirektor der Staatskapelle Halle ist. Nach Oskar und die Dame in Rosa, der Geschichte eines krebskranken Jungen,  folgte 2021 The Folly, eine Oper, in deren Mittelpunkt der Reformator Erasmus von Rotterdam und seine Auseinandersetzungen mit Martin Luther und Ulrich von Hutten stehen, dazu kommt eine allegorische Figur, Stutitia, die Verkörperung der Torheit, die immer mal wieder triumphieren kann.  Im Zentrum des fünfaktigen Stücks steht im dritten Akt die Auseinandersetzung zwischen dem jede Art von Gewalt ablehnenden, zögerlichen Erasmus mit dem entschlosseneren Martin Luther, die in deutscher Sprache geführt wird, während neben dem Lateinischen für die drei unterschiedlichen Päpste, dem Baseldütsch für die Auseinandersetzung mit der Haushälterin Margarethe Büsslin, auch die englische und die niederländische Sprache Einzug in das Libretto von Clemens Bechtel gehalten haben.

Ebenso vielfältig ist die Instrumentierung mit einem klassischen Orchester und dazu Elektro-Violine, ebensolchem  Cello, Keyboard, das Einbauen von U-Musik und elektronischen Klängen. Die Erzdiözese Freiburg förderte übrigens das Projekt.

The Folly gibt es als Doppel-CD, aber viel mehr hätte man von einer DVD gehabt, denn egal ob Niederländisch oder Basler Deutsch, man kann dem Geschehen nur mit Mühe einigermaßen folgen, wird allerdings von einer sehr ausführlichen Inhaltsangabe  im Bemühen darum unterstützt und von einer Trackliste, mit deren Hilfe man erst einmal überhaupt die einzelnen Figuren identifizieren kann. Auch die vielen Fotos von der Uraufführung in Freiburg sind eine Hilfe beim Erfassen des Werks.  

Für ein relativ kleines Dreispartentheater wie Freiburg ist die Besetzung geradezu erstaunlich gut und auch das Philharmonische Orchester Freiburg, Chor und Extra- sowie Kinderchor unter der Leitung des Komponisten leisten Erstaunliches an, Präzision, Klangfülle und Straffheit. Den Erasmus singt Michael Borth mit so geschmeidigem wie sonorem Bariton,  Roberto Gionfriddo ist mit kraftvoll eiferndem Tenor Martin Luther, Ulrich von Hutten ist dem mit Nachdruck differenzierendem Mezzosopran von Inga Schäfer anvertraut und muss sich nur, was Kraft betrifft, gegenüber dem Erasmus geschlagen geben. Ihr „Deutschland muss frei  sein“ bleibt in Erinnerung. Vollmundig nimmt sich Anja Jung der Haushälterin Büsslin an, während John Carpenter einen würdig klingenden Petrus singt. Zvi Emanuel-Marials Countertenor wird desto präsenter, je höher er steigen darf. Einen feinen Sopran hat Agostina Migoni für die Mother, Stavros-Christos Nikolaou ist der sonore Priest, auch alle anderen enttäuschen keineswegs und legen Zeugnis ab für die hohe Qualität, die an einem Provinztheater erreicht werden kann (Naxos 8.660545-46). Ingrid Wanja     

Camille Erlangers „Sorciere“

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Im vergangenen Jahr, 2023, wäre die Chance gewesen, den weitgehend unbekannten Camille Erlanger neu zu entdecken. Das Wexford Festival, das sich gerne der großen Unbekannten annimmt, hatte Erlangers im Dezember 1911 in Rouen uraufgeführte L’aube rouge wiederbelebt. Keine Morgendämmerung. Kein Nachhall. Guillaume Tourniaire, der die irische Festspielentdeckung dirigiert hatte, erlahmte in seinem Enthusiasmus dennoch nicht und versammelte bereits am 12. Dezember 2023 in der Genfer Victoria Hall Orchestre et Choeur de la Haute École de Musique de Genève und zwei Dutzend Sänger, um Erlangers letzte zu Lebzeiten uraufgeführte Oper La Sorcière auf drei CDs zu bannen.

Das Ergebnis liegt nun in aufwendiger Taschenbuch-Ausgabe mit den CDs in der vorderen und hinteren Innenseite (B Records 3 CD LBM068) und in luxuriöser Gestaltung, aber schwer lesbarer Schrift vor. Das Schauspiel von Victorien Sardou, auf dessen Dramen u.a. Fedora und Tosca basieren, wurde von Erlangers Sohn André in ein Libretto verwandelt. Wie nicht anders zu erwarten bietet die Vorlage glutvolles Theater. Die Titelrolle der von Sarah Bernhardt 1903 kreierten Zauberin Zoraya ist reinster Virtuosinnenglimmer. Eine exotische Zauberin, Verführerin, Heilerin, die bereit ist, sich zu opfern, um den Geliebten zu retten. Erlangers Oper wurde am 18.12. 1912 an der Opéra-Comique uraufgeführt, Marthe Chenal, die als schönste Frau von Paris galt und in den Kriegsjahren bald als Interpretin der „Marseillaise“ berühmt wurde, sang die Titelrolle.

Camille Erlanger/Wikipedia

Das Libretto führt in das Toledo des Jahres 1507 mitten in die Konflikte zwischen Christen und Muslimen, wo die Inquisition verbotene interkonfessionelle Beziehungen mit dem Tod bestrafte. Kalem, „ein Moor“, wurde wegen der Verführung einer Christin gesteinigt. Sein Körper wurde gestohlen. Man bezichtigt die Zauberin Zoraya der Tat. Don Enrique, dem Anführer der städtischen Bogenschützen, gesteht sie die Tat, da sie Liebende unabhängig ihres Glaubens schützen wolle. Don Enrique muss sie dem Großinquisitor übergeben. Sie verlieben sich in einander. Beider Verliebtsein steigert sich zu großer Leidenschaft. Enrique ahnt, dass er überwacht wird. Inzwischen vertraut sich Fatoum Zoraya an. Sie ist eine Muslimin, die zum Christentum konvertierte, um ein ihr von seiner sterbenden Mutter übergebenes Mädchen, Joana, großzuziehen. Es ist die Tochter des Gouverneurs Padilla, „der Kämpfer gegen die Mooren“, wobei in diesem Zusammenhang die Muslime gemeint sind. Fatoum bittet Zoraya um Hilfe, da Joana, die an diesem Tag heiraten soll, immer wieder in seltsame Zustände verfalle. Zoraya versetzt die junge Frau in einen Schlaf. Sie erfährt, dass Joana Enrique heiraten solle. Enrique erklärt Zoraya, dass diese Heirat bereits arrangiert wurde, als sie noch Kinder waren. Er und Zoraya beschließen zu fliehen, werden aber von Spionen der Inquisition überrascht. Enrique tötet einen der Verfolger. Gouverneur Padilla und Großinquisitor Ximénés sind entsetzt über den Verrat von Enrique, wollen ihn aber als Anführer der Bogenschützen schonen. Zoraya, die von zwei gedungenen Frauen als Hexe beschuldigt wird, und Enrique werden gegeneinander ausgespielt. Zoraya wird zum Tode verurteilt. Vor der Vollstreckung erfährt Enrique, dass sie alle Schuld auf sich genommen hat. Padilla hält die Hinrichtung auf, als er verkündet, dass seine Tochter von der Zauberin in einen todesähnlichen Schlaf versetzt wurde. Joana wird herbeigeführt, Zoraya weckt sie auf. Vergebens versuchen Padilla und Enrique, Zoraya in Sicherheit zu bringen. Zoraya und Enrique sterben gemeinsam durch einen Kuss Zorayas, die eine mit vergifteten Wachs betriebene Nuss an ihre Lippen führte, „Un dernier baiser“.

Das und manches mehr breitet sich über vier Akte und fünf Bilder als großes geschichtliches Panorama aus, dessen Fülle mich an La Gioconda erinnert, zieht aber in Erlangers duftig feiner Musik als gleichförmiger Strom vorbei, in dem maurische, iberisch-kastilische Weisen und Formen wie Barkarole, Siciliana und nächtliche Gesänge von Straßenmusikern eingewoben sind und immer wieder die aus der Ferne tönenden Glocken von Toledo für die couleur locale sorgen. Instrumentale Finessen der Geigen wie anderer Instrumente bilden eine leitmotivische Struktur, impressionistische Stimmungen, wie die Debussy-Zitate zu Beginn des zweiten Aktes, fangen die nächtliche Atmosphäre, Mondschein oder Morgenstimmungen mit einem Hauch von 1001 Nacht ein.

Die Leitmotive nennt Erlanger übrigens Sujets musicaux und erklärte, „für jede Figur möchte ich besonders ihre einzigartige Bedeutung, ihre Mentalität und sogar ihre Physis herausarbeiten, um ihnen eine ausdrucksstarke musikalische Persönlichkeit zu verleihen, und zwar so, dass alles, was sie umgibt, mit einem Wort, die Atmosphäre, diese Persönlichkeit, die sich darin entwickelt, auf echte und natürliche Weise umrahmt.“

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Konzert 2023 in Genf/ Andrea Soare in der Titelrolle und der Dirigent Guillaume Tourniare/Foto Carole Parodi/B-Records

Es ist die Musik eines Könners, der mit Farben und Orchesterklängen zaubert. Es fehlt jedoch jede Dramatik, jede theatralisch zupackende Pranke, wie wir sie von einer Sardou-Vertonungen erwarten würden. Nur kurz wird es zu Beginn des vierten Aktes im Orchester heftig. Melodische Ausbrüche und lyrische Leidenschaften und Steigerungen sucht man vergebens. Zu dramatischen Ballungen kommt es erst in den letzten Minuten der Oper. Kein Wunder, dass die zitierten Uraufführungskritiken eher verwirren als klären. Im stimmungsvollen zweiten Akt fällt als Zoraya, der quasi der gesamte zweite Akt gehört, Andrea Soare auf, die einen gepflegten und angenehmen, warmen Sopran mit schönen Mezzofarben ins Spiel bringt. Tenor Jean-François Borras ist der Sänger mit der vermutlich reichsten Erfahrung. Sein Don Enrique klingt matt, vielleicht ein wenig müde, zeigt Leidenschaft und Begehren nur verhalten. Alexandre Duhamel singt den Gouverneur Padilla mit ausgesprochen schön klingendem Bariton, der Bariton Lionel Lhote wirkt als Inquisitor Ximénés zu freundlich, aber das liegt sicher an Erlanger, Léa Fusaro fällt als Fatoum auf. Viele weitere Sänger treten in kleinen Partien auf, die nicht in Erinnerung bleiben (Alexandre Duhamel, Marie-Eve Munger, Sofie Garcia, Servane Brochard et al.).

Guillaume Tourniaire war mir erstmals in Prag aufgefallen, wo er Hélène von Saint-Saëns dirigierte als handele es sich um feinste französische Opernware. Auch diesmal kann man ihn nur ob seines unermüdlichen Elans bewundern, mit der er die 160 Minuten gliedert und formt und die Sorcière zu kurzem Leben wiedererweckt.

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Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Konzert 2023 in Genf/ Foto Carole Parodi/B-Records

Camille Erlanger (1863-1919) schrieb rund ein Dutzend Opern, darunter den Fünfakter Le fils de l’étoile (1904), der an der Grand Opéra uraufgeführt wurde und einen gewissen Erfolg erzielt, sowie der an der Opéra-Comique uraufgeführte und bis in die 1930er Jahre gezeigte Le Juif polonais (1900) nach einer Vorlage des elsässisch-lothringischen Autorenduos Erckmann-Chatrian; es war der zu seiner Zeit dauerhafteste Erfolg, den sich Mahler auch für Wien sicherte, wo er allerdings ein Misserfolg war. Erlanger wurde in Paris geboren, der Vater stammte aus dem Elsass. Die Eltern waren Juden und betrieben ein Modistengeschäft, der junge Camille wirkte als Chorknabe in der Synagoge der Rue des Tournelles in der Nähe der Place des Voges. Er studierte ab 1881 am Konservatorium bei Léo Delibes, gewann 1888 den Rom-Preis mit der Kantate Veléda, worauf mehrere Opernuraufführungen folgten, darunter auch Hannele Mattern nach Gerhart Hauptmann, deren Uraufführung durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unmöglich gemacht und erst 1950 in Straßburg nachgeholt wurde. Zudem entstanden Lieder, Klavierstücke und eine Filmmusik. Erlanger starb im April 1919 in Paris und geriet in Vergessenheit. Wie Alfred Bruneau, Xavier Leroux, Georges Hüe, Henry Février wird Erlanger der Kunstperiode zwischen fin-de-siècle und Erstem Weltkrieg zugerechnet, als sich die französische Oper in Strömungen wie Naturalismus unter dem Einfluss von Émile Zola, Wagnerisme und Symbolismus aufsplitterte. Rolf Fath (30. 11. 24)

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Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Dazu schreibt der eminente Schweizer Musikwissenschaftler und Champion für Camille Erlanger und seine Zeit, Jacques Tchamkerten, im Beiheft zur neuen Aufnahme bei B Records: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der französischen Oper drei Hauptrichtungen: Naturalismus, Regionalismus und Wagnersches symbolistisches oder legendäres Drama. Diese drei Kategorien schlossen sich keineswegs gegenseitig aus, wie Alfred Bruneaus naturalistische Dramen zeigen, deren Libretti von Emile Zola geschrieben wurden und stark symbolisch aufgeladen waren.
Die Komponisten, die zur letzteren Gruppe gehören, zeigen oft einen Eklektizismus, der sich sowohl in ihren Inspirationsquellen als auch in ihrem eigenen Stil widerspiegelt. Fast alle diese Musiker hatten den Prix de Rome erhalten, doch keines ihrer Werke hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen, obwohl sie alle Feinheiten des Schreibens für das Theater beherrschten und dramatische Musikformen den größten Teil ihres Repertoires ausmachten. Zu ihnen gehören Alfred Bruneau, Xavier Leroux, Georges Hue, Henry Fevrier und Camille Erlanger.
Erlangers Leben und Karriere sind von Geheimnissen umhüllt. Nur ein kleiner Teil seiner Archive und Manuskripte wird in Bibliotheken aufbewahrt, und es gibt kein vollständiges Werkverzeichnis. 1902 heiratete er Irene Hillel-Manoach, eine Verwandte der Familie Camondo und Autorin von Voyage
en kaleidoscope, einem esoterischen Roman, der das Interesse der Surrealisten weckte. Sie schrieb auch die Drehbücher für mehrere Filme von Germaine Dulac.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Der Nachname Erlanger wird von vielen jüdischen Familien deutscher und elsässischer Herkunft getragen. Mehrere nicht miteinander verwandte Musiker tragen ihn: die Komponisten Jules Erlanger, Gustav Erlanger und vor allem Frédéric d’Erlanger, der mehrere Opern schrieb. Erwähnenswert ist auch Frédéric d’Erlangers Bruder Rodolphe, ein Musikethnologe, der eine monumentale Studie über arabische Musik verfasste.
Auf den ersten Blick deutete nichts auf eine künstlerische Laufbahn von Camille Erlanger hin, dessen Eltern einfache Ladenbesitzer waren. Der am 24. Mai 1863 in Paris geborene Junge zeigte jedoch eine offensichtliche Begabung für Musik. 1881 trat er in das Conservatoire ein, wo er in die Kompositionsklasse von Léo Delibes aufgenommen wurde. 1888 gewann er vor Paul Dukas den Premier Grand Prix de Rome. Sein erstes großes Werk, die lyrische Legende Saint-Julien l’hospitalier, machte bei seiner Uraufführung im Jahr 1895 dank seines Umfangs und seiner harmonischen Kühnheit großen Eindruck. Obwohl sich Camille Erlanger hauptsächlich als Opernkomponist etablierte, umfasst sein Werkverzeichnis dennoch zahlreiche Melodien, einige Klavier- und symphonische Werke sowie eine Partitur für La Supreme Epopee, einen Film von Henri Desfontaines, der 1919 vom Service Cinématographique des Armées produziert wurde.
Erlangers Stil zeichnet sich durch eine Vorliebe für orchestrale Opulenz, zahlreiche treibende Motive und eine dichte Schreibweise aus. Seine harmonische Sprache scheut nicht vor überraschenden Kühnheiten zurück, die kurzzeitig an die Grenzen der Tonalität führen können. Als herausragender Orchestrator besitzt er eine offensichtliche Begabung für orchestrale Farben und weiß, wie man mit nur wenigen Takten eine eindrucksvolle Szene schafft.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Stark beeinflusst von Wagners Konzeption des Musikdramas, strukturierte er seine Partituren in ein dichtes Netz von Leitmotiven, die er „Musikalische Themen“ nennt, wie er selbst erklärt: „Diese musikalischen Themen entwickle, verflechte und verschmelze ich so, dass sie die verschiedenen Gemütszustände meiner Figuren darstellen, […] damit ein aufmerksamer Zuhörer durch sie alle Gefühlskonflikte in den verschiedenen dramatischen Situationen wahrnehmen kann […]. Lassen Sie mich das erklären: Für jede Figur möchte ich insbesondere ihre einzigartige Bedeutung, ihre Mentalität und sogar ihre Physis herausarbeiten, um ihnen eine ausdrucksstarke musikalische Persönlichkeit zu verleihen, und zwar so, dass alles, was sie umgibt, mit einem Wort, die Atmosphäre, diese Persönlichkeit, die sich in ihr entwickelt, auf echte und natürliche Weise umrahmt.“
Kermaria, Camille Erlangers erste Oper, ist eine Mischung aus Fantastischem und Legendenhaftem in einer bretonischen Umgebung. Das 1897 uraufgeführte Werk war ein mäßiger Erfolg.
Besser erging es dem Komponisten mit Le Juif polonais (Der polnische Jude), das auf dem Roman von Erckmann-Chatrian basiert und ein düsteres Drama über Schuld und Reue ist, das der naturalistischen Ästhetik entspricht, die zu dieser Zeit von Komponisten wie Alfred Bruneau und Gustave Charpentier vertreten wurde. Le Juif Polonais wurde 1900 erfolgreich an der Opera-Comique aufgeführt und bis in die späten 1930er Jahre hinein regelmäßig wiederaufgeführt.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Marthe Chénal in der Titelpartie auf dem Cover von Le Théâtre/BNF Gallica

Le Fils de 1’Etoile (Der Sohn des Sterns) seinerseits wurde bei seiner Premiere im Jahr 1904 im Palais Gamier aufgeführt. Dieses opulente Drama in fünf Akten verdankt sein Libretto Catulle Mendes und schildert in einem episch-wagnerianischen Fresko den Aufstand der Hebräer, der durch die Entscheidung Kaiser Hadrians, an der Stelle des Tempels von Jerusalem eine Stadt zu errichten, ausgelöst wurde.
Neben Le Fils de l’Etoile schrieb der Komponist das Werk, das sein größter Erfolg bleiben sollte: Aphrodite, deren Libretto von Louis de Grammont Pierre Louys‘ berühmten Roman für die Bühne adaptiert. Die Erotik des Arguments und die Pracht der Inszenierung bei der Premiere an der Opera-Comique im Jahr 1906 waren wichtige Faktoren für den großen Erfolg des Werkes. Aber Erlangers Musik mit ihrem angeborenen Sinn für dramatische Orchesterfarben, ihrer höchst persönlichen Behandlung treibender Motive und dem oft unerwarteten Profil ihrer melodischen Muster war für den Erfolg des Werkes ebenso wichtig, dessen „Hybridcharakter vielleicht mehr über die Anfänge des Modernismus verrät als andere stilistisch homogenere Partituren“, wie der Musikwissenschaftler Leslie Wright zu Recht feststellte. 1909 brachte Erlanger Bacchus in Bordeaux auf die Bühne – ein großes, populäres Spektakel zu Ehren von Wein und Reben. 1911 folgte L’Aube Rouge in Rouen, ein Drama, das in russischen Nihilistenkreisen spielt. Seine nächsten beiden Opern wurden teilweise zur gleichen Zeit produziert: Hannele Mattern und La Sorciere, die letzte seiner Opern, die zu seinen Lebzeiten uraufgeführt wurde.
Bei seinem Tod hinterließ der Komponist zwei unvollendete Werke. Forfaiture, eine seltene Verfilmung, die in eine Oper umgewandelt wurde, wurde 1921 uraufgeführt und schockierte das Publikum mit der leidenschaftlichen Gewalt seines Librettos; sie wurde von den Kritikern einhellig verrissen. Faublas hingegen wurde nie aufgeführt, und die von Paul Bastide fertiggestellte Partitur liegt heute in den Regalen der Bibliothèque nationale de France.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/der Tenor Léon Beyle sang in der Uraufführung/Malibran Records

1913 hatte Erlanger Hannele Mattern fertiggestellt, basierend auf einem Libretto des gleichnamigen Theaterstücks von Gerhard Hauptmann, das im folgenden Jahr gegeben werden sollte. Die Premiere wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert, und während des Krieges war es undenkbar, ein Werk eines zeitgenössischen deutschen Autors in Paris aufzuführen. Da die Musik von Erlanger, der am 24. April 1919 in Paris starb, nicht zu den ästhetischen Revolutionen der Goldenen Zwanziger passte, geriet sie allmählich in Vergessenheit und Hannele Matterns Chancen auf eine Aufführung schwanden dahin. Dennoch wurde das Werk 1950 in Straßburg gebracht, ohne dass es mehr als höfliche Gleichgültigkeit hervorrief. Es war sicherlich eines der letzten Male, dass eine Oper von Erlanger aufgeführt wurde.

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La Sorciere wurde zwischen 1909 und 1912 geschrieben. Sie bestätigt die Richtung, die mit Le Juif Polonais und dann L’Aube Rouge eingeschlagen wurde: eine Abkehr von Mythen und Legenden zugunsten eines direkteren, sogar abrupten musikalischen und dramatischen Ausdrucks. Das Libretto wurde von Camilles´ Sohn André nach dem gleichnamigen Theaterstück von Victorien Sardou, einem der berühmtesten Dramatiker der Belle Époque, bearbeitet. Sardou schrieb die Libretti für eine Reihe von Opern von so unterschiedlichen Komponisten wie Offenbach, Saint-Saens und Xavier Leroux. Vor allem schrieb er La Tosca, ein Drama in fünf Akten, aus dem Illica und Giacosa das Libretto für Giacomo Puccinis Oper schrieben. La Sorciere war eines der letzten Stücke Sardous, dessen Titelrolle für Sarah Bernhardt maßgeschneidert war, die bei der Premiere im Jahr 1903 einen großen Erfolg feierte.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Szenenfoto zum 3. Akt der Uraufführung an der Opéra-Comique/BNF Gallica

Bei der Uraufführung von Erlangers Oper am 18. Dezember 1912 im Théâtre de l’Opéra-Comique sang die Sopranistin Marthe Chenal (1881-1947), die bevorzugte Interpretin des Komponisten, die Titelrolle. Sie beeindruckte durch ihre volle Stimme und Bühnenpräsenz. Sie war es, die am 11. November 1918 in den Farben der Trikolore gehüllt auf den Stufen des Palais Gamier in Anwesenheit von Clemenceau die Marseillaise sang. Dieser scheinbare Akt des Patriotismus hinderte sie nicht daran, Francis Picabias´ Muse zu werden und sich an den Aktivitäten der Dada-Bewegung zu beteiligen.
Obwohl La Sorciere beim Publikum ein großer Erfolg war, waren die Kritiker geteilter Meinung. Die erschreckende Darstellung des Katholizismus und der Inquisition konnte bei einigen Kommentatoren nur negative Reaktionen hervorrufen, wie bei Jean Darnaudat von der rechtsextremen Tageszeitung L’Action Française, der mit widerlichen antisemitischen Untertönen sowohl das Werk als auch den Komponisten angriff.

Camille Erlangers Oper „La Sorciere“/Nelly Marty sang den zweiten Sopran, Joana, in der Uraufführung an der Opéra-Comique/hier ein Publicityfoto aus Le Théâtre/BNF Gallica

Die Kritiker waren sich insbesondere über das Libretto uneinig, das beschuldigt wurde, auf primitiver Psychologie zu basieren und gefährlich in Richtung des italienischen Verismo zu tendieren. Letzterer wurde in Frankreich äußerst schlecht angesehen, wo er als nichts anderes als ein vulgärer Schwindel angesehen wurde, mit simplen und trivialen Libretti und einer melodischen und vokalen Hyper-Expressivität, die darauf ausgelegt war, das am wenigsten kultivierte Publikum anzusprechen. Eine Reihe von Kommentatoren sind sich einig, dass nur Musik von Puccinis Kaliber für ein Drama mit solch plumpen Effekten geeignet sein könnte, und loben Erlanger dafür, dass er diese Falle vermieden hat. Einer von ihnen, Maurice Ravel, schrieb in seiner Kolumne in Comoedia illustré: „Herr Erlanger ist Musiker und kann dies zu keinem Zeitpunkt verbergen. Wenn er also nicht von vornherein entschlossen war, seine natürlichen Gaben den einfachen Effekten des veristischen Horrors zu opfern, können wir den Beweggrund nicht verstehen, der den Komponisten von Saint Julien 1’hospitalier dazu veranlasst haben könnte, ein Melodram in ein lyrisches Drama zu verwandeln, das zumindest als Vorwand für die veralteten Formeln der alten Oper hätte dienen können.“
Wie in seinen anderen Werken baut Camille Erlanger seine Partitur um ein dichtes Netz treibender Motive herum auf. Pierre Lalo gibt in Le Temps – abseits von Werturteilen – eine recht genaue Vorstellung von der musikalischen Konstruktion: „Die Harmonie wird immer durch die gefürchteten Akkorde behindert, die Herrn Erlanger seit langem am Herzen liegen; durch diese hartnäckigen, aggressiven Quinten, die uns durch Aphrodite von einem Ende zum anderen begleitet haben; sicherlich scheinen sie in La Sorciere weniger zahlreich zu sein als in früheren Werken [ …]. Die Entwicklungsprozesse haben sich nicht geändert; es gibt immer Wiederholungen; Wiederholungen von Abschnitten eines Takts, von zwei oder vier Takten desselben melodischen Entwurfs, derselben harmonischen Formel, auf die eine andere Formel oder ein anderer Entwurf folgt, der wiederum wiederholt wird. […]“

Camille Erlangers Oper „L’Aube Rouge“/Ausschnitt aus dem Frontespiece des Klavierauszugs/BNF Gallica

Andere waren sich der Originalität und der Qualitäten von La Sorciere mehr bewusst. Dies war der Fall bei Reynaldo Hahn, der in den Spalten der Tageszeitung Le Journal erklärte: „Herr Erlanger hat den Schauspielern in dem Stück eine sehr ausdrucksstarke Physiognomie und Haltung verliehen und sie ihrem Charakter entsprechen mit einem warmen Leben, einem aufrichtigen, wahren, kommunikativen Akzent beseelt, und in dieser Hinsicht scheint mir La Sorciere einen unbestreitbaren Fortschritt gegenüber seinen früheren Werken zu markieren […] Was ich wirklich sagen möchte, ist, dass La Sorciere […] ein interessantes, robustes, überzeugendes und musikalisches Werk ist. Ich bestehe auf diesem Wort. Man mag Herrn Erlangers musikalische Natur mögen oder nicht mögen, aber man kann nicht leugnen, dass er Musik schreibt.“
Der Journalist und Polemiker Julien Torchet äußerte sich in der Wochenzeitschrift Les Homes du jour in der gleichen Richtung: „Junge und alte Kirchenfürsten verweigern Herrn Erlanger die Freiheit, seiner Inspiration zu folgen, das Recht zu sagen, was er will. Glücklicherweise ist er kein Mann, der sich von diesen heuchlerischen Urteilen beeindrucken lässt. Im Gegenteil, sie wecken ihn und beschleunigen seinen Fortschritt. La Sorciere hat es bewiesen. […]. Sie werden darin dieselben Eigenschaften finden, die sein Talent auszeichnen, die Intensität seiner Leidenschaft, seine Robustheit, seine Gabe zur Beschwörung; Sie werden auch feststellen, dass diese Eigenschaften, die einst so deutlich voneinander getrennt waren, nun harmonisch miteinander verschmelzen und zu größerer Einheit und Einfachheit tendieren.“
Erlangers sehr individueller Stil hebt sich von dem der Opernkomponisten derselben Zeit ab, insbesondere von den Schülern und Nachfolgern Massenets. Große lyrische Ergüsse und schwelgerische melodische Ausbrüche gehörten selten zu seinem Vokabular. Seine Qualitäten als Dramatiker kristallisierten sich um seinen Sinn für Klangfülle heraus.

Der Autor, der Komponist und Musikwissenschaftler Jacques Tschamkerten/Lied & Mélodie

Durch die Einzigartigkeit eines melodischen Entwurfs oder einer harmonischen Abfolge gelingt es ihm, einen bemerkenswert wirkungsvollen musikalischen Rahmen zu schaffen, mit einer evokativen Kraft, die es ihm ermöglicht, seine Charaktere, ihre Persönlichkeiten und ihre Gemütszustände zu definieren. La Sorciere ist Teil dieses höchst theatralischen und doch unkonventionellen Ansatzes, der sowohl Liebhaber der traditionellen Oper, die in der Tradition von Gounod und Massenet verwurzelt ist, als auch Förderer einer „neuen Kunst“, die von Komponisten wie Debussy, d’Indy und Dukas repräsentiert wird, zu befremden scheint.
Heute haben sich unsere Wahrnehmung und Wertschätzung der Opernkunst verändert, und wir haben gelernt, dramatische Wahrheit und Emotion anderswo als in melodischem Überschwang zu erkennen. Aus dieser Perspektive ist es wahrscheinlich, dass sich unsere Herangehensweise an Erlangers Musik von der seiner Zeitgenossen unterscheidet, und vielleicht können wir Qualitäten und Spielraum darin finden, die die Zuhörer der „Belle Époque“ nicht erkennen konnten. Jacques Tschamkerten/ DeepL

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Großen Dank an Jacques Tschamkerten für die Erlaunis zur Übernahme seines Artikels im Beiheft zur neuen Aufnahme bei B Records, das allerdings Augenpulver für den Interessierten ist. Auch der Dirigent Guillaume Tourniaire hat einen sehr persönlichen Aufsatz zur Oper und seiner Liebe zu dieser Musikepoche im Booklet verfasst, operalounge.de-Lesern wird er wegen seines Ascanio (Die vergessene Oper 121) von Massenet in Erinnerung sein, zu dem sich bei uns ebenfalls ein Opernführer findet. Dank an beide Herren. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgten wir mit DeepL (mit Korrekturen). Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in der Reihe Die vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier. G. H.

Von Kanzonen und Kantilenen

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Mit acht CDs ist das neue Projekt von Opera Rara, DonizettiSongs, groß angelegt. Die ersten beiden Alben (ORR254&255) sind bereits erschienen, jeweils mit Carlo Rizzi, dem Artistic Director des Labels, am Flügel. Den Reigen eröffnet der im Donizetti-Repertoire namhafte Tenor Lawrence Brownlee, der auch bei dieser Auswahl seinen vitalen Gesang, seine gestalterische Emphase und die strahlende Höhe wirkungsvoll einsetzen kann. Im ersten Lied, „L´amante spagnuolo“, einer schwungvollen Tarantella, die vor allem in der Mittellage notiert ist, kann sich tenoraler Glanz in der exponierten Lage freilich noch nicht entfalten. Das ändert sich schon im nächsten Lied „Con le grazie“ und im folgenden. „Il donativo“, einem schwärmerischen Stück, das Brownlee perfekt in der Kehle liegt.

Donizettis Lieder, von denen es an die 200 gibt, können schwärmerische Kanzonen sein oder melancholische Kantilenen. Nicht selten vernimmt man die stürmische Verve einer Cabaletta oder den vehementen Rhythmus einer Stretta. Mehrfach erkennt man aus Donizettis Opern bekannte Motive, wie „Il sogno“, das Edgardos letzte Kavatine aus der Lucia zitiert. Viele Kompositionen entstanden auf Texte unbekannter Dichter, wie das populäre, übermütige „Amor marinaro“, einige Vorlagen stammen aus der Feder des berühmten Pietro Metastasio, wie „Trova un sol, mia bella Clori“, das sogar in zwei Versionen existiert, oder des von Bellini- und Verdi-Opern bekannten Librettisten Felice Romani. Dessen „Ella riposa“ ist mit Rezitativ, Cavatina und Cabaletta wie eine Opernszene angelegt und war dem polnischen Tenor Józef Michal Poniatowski gewidmet. Melodisch reizvoll sind die melancholische  Barcaruole „Sovra il remo“ und die Canzonetta „Or che la notte invita“ mit obligater Klarinette. Der Instrumentalist Jernej Albreht vereint sich hier mit dem Sänger zu einem innigen Duett. In doppelter Version existiert auch „Quando verrà sul colle“, wobei die zweite Fassung in ihrer elegischen, dem Konkurrenten Bellini verwandten Melodie opernnäher scheint, war sie doch dem legendären Tenor Giovanni Battista Rubini gewidmet. Brownlee kann hier seine glanzvollen Spitzentöne demonstrieren, welche dem berühmten Vorbild alle Ehre machen. Im nächsten Stück, „Il sospiro“, ist dagegen die tiefe Lage gefordert und auch hier zeigt sich der Sänger souverän. Die Sammlung der 28 Lieder endet mit der frühen  Komposition „Non giova il sospirar“, welche in ihren Ornamenten noch ganz den Einfluss Rossinis zeigt, aber auch schon Donizettis Energie aufweist, und die Platte heiter enden lässt.

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Giovanni Battista Rubini, Gaetano Donizetti, and Luigi Lablache, from the book The World of fashion and continental feuilletons, 1824. Internet Archive

Die zweite Ausgabe vereint 26 Lieder in der Interpretation des italienischen Baritons Nicola Alaimo, der seine Karriere beim Rossini Festival in Pesaro startete und dort beispielsweise Erfolge als Titelheld in Guillaume Tell feierte. Als Auftakt erklingt das heroische „La partenza del criocato“, dessen erste Zeile „Al campo della gloria“ bereits den Inhalt verrät. Donizetti übernahm die Melodie aus dem Duett Belisario/Alamiro seiner 1836 im Teatro La Fenice uraufgeführten Oper. Alaimo singt hier mit energischer Verve, um im nächsten Stück, „Ov´è la voce magica“, mit lyrischer Kantilene aufzuwarten.

In der Anthologie finden sich auch vier französische Kompositionen und eine deutsche. Letztere, „Auf dem Meere“ auf Worte eines unbekannten Dichters, stammt aus der Sammlung Das singende Deutschland. „J´aime trop pour être heureux“ in schmerzlichem Duktus wird von einer Soloviola (Abigail Fenna) begleitet. Die Stimme des Baritons ist keine noble, klingt eher robust und aufgeraut. Dadurch fehlen Liedern wie „Te dire adieu“ und „“L´amor funesto“ (mit Herry Snell am Cello) lyrische Valeurs und Eleganz. In „O Cloe“ evoziert er mit ganz leichter Tongebung eine Figur aus einer Buffa. Bei „Non v´è nume“ gibt es mit Daniel de Fry an der Harfe noch einen weiteren Instrumentalisten. Die Komposition erweckt die Stimmung von Lucias Auftrittskavatine und Alaimo nimmt sich hier stimmlich sehr zurück, überrascht mit weichen, warmen Tönen. Davon profitiert auch „Le Dernier Chant du Troubadour“. Das energische „Il crociato“ lässt nicht vermuten, dass es der namhaften Sopranistin Laure Cinti-Damoreau gewidmet, eher dass das urige „Il trovatore in caricatura“ dem bekannten Bariton Giorgio Ronconi zugedacht war. Einem anderen Vertreter dieser Stimmgattung, dem Franzosen Paul Barroihet, war „Un baiser pour espoir“ zugeeignet, das zwischen introvertierten und lebhaften Passagen wechselt. Die Platte endet mit „Quando mio ben t´adoro“, das bis vor kurzem als verloren galt und in einem österreichischen Kloster wiedergefunden wurde. Die beiden CDs machen neugierig auf die Fortsetzung des Projektes. Bernd Hoppe

 

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Donizetti-Songs: Roger Parker & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Der namhafte Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist, zudem Herausgeber dieser Sammlung, Roger Parker schreibt in den Beiheften zu den ersten zwei CDs von Opera Rara sehr ausführlich über die Zielsetzung des Projektes. Eines der ehrgeizigsten Projekte in der 50-jährigen Geschichte von Opera Rara ist die Aufnahme aller Sololieder von Gaetano Donizetti. Eine Handvoll dieser Lieder sind seit langem bekannt und werden oft in Konzerten aufgeführt; viele weitere sind in Fachkatalogen aufgeführt, werden aber nur sehr selten oder gar nicht aufgeführt; andere wiederum galten als verloren oder völlig unbekannt. Jüngste Forschungen im Zusammenhang mit diesem Projekt, die vom Autor dieses Artikels in Zusammenarbeit mit Ian Schofield durchgeführt wurden, haben ergeben, dass Donizetti im Laufe  seiner 30-jährigen Karriere insgesamt etwa 200 Sololieder geschrieben hat. Die Erstellung moderner Ausgaben dieses umfangreichen Korpus war eine mühsame Aufgabe:

Die Quellen für die Lieder sind in europäischen Bibliotheken und darüber hinaus verstreut, die Autographen des Komponisten wurden zum Zeitpunkt der Komposition oft versehentlich weitergegeben (in der Regel als Geschenk des Komponisten) an den Widmungsträger). In ihrer Gesamtheit sind diese Kompositionen jedoch ein schlagkräftiges Argument für Donizetti als Schlüsselfigur des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert: jemand, dessen Leistungen auf diesem Gebiet es verdienen, besser bekannt zu sein; ein Werk, das allein schon ein schlagkräftiges Argument für die Bedeutung der italienischen „Schule“ in einem Bereich, der lange Zeit von deutschen und französischen Komponisten dominiert wurde, ein starkes Argument darstellt. Das schiere Ausmaß des ursprünglichen Editionsprojekts war auf den ersten Blick eine extreme Herausforderung. Viele der bisher unbekannten Lieder sind in einer einzigen Manuskriptkopie erhalten, wenn auch oft in der oft hastigen Handschrift des Komponisten und manchmal unvollständig. Die populäreren Lieder – diejenigen, die im 19. Jahrhundert zumindest eine gewisse Verbreitung hatten – werden uns wahrscheinlich in einer Reihe verschiedener und oft widersprüchlicher Quellen überliefert Quellen überliefert: vielleicht (wenn wir Glück haben) in der autographen Partitur des Komponisten; vielleicht in Manuskriptkopien anderer; vielleicht in einer gedruckten Version (oft mit Änderungen und Ergänzungen, die die Zustimmung des Komponisten hatten oder auch nicht); vielleicht als Teil einer größeren veröffentlichten Sammlung; vielleicht übersetzt in eine andere Sprache.

Donizetti-Songs: Recording session (c) Russell Duncan

Buchstäblich Tausende von einzelnen Quellen, eine verwirrende Mischung aus gedrucktem und Manuskriptmaterial, mussten in einem ersten Schritt gesammelt und zusammengestellt werden. Zu unserem großen Glück wurde ein großer Teil dieses Materials kürzlich digitalisiert und ist online verfügbar; dadurch geht das Zusammenstellen viel schneller als noch vor 20 Jahren; in der Tat ist die Tatsache, dass dieses Projekt Jahre statt Jahrzehnte gedauert hat, hauptsächlich auf diese Digitalisierung zurückzuführen. Erleichtert wird die Arbeit auch dadurch, dass sich Donizettis Werke sich vor allem auf drei Sammlungen konzentrieren (die Bibliothèque nationale de France in Paris, die Bibliothek des Conservatorio San Pietro a Majella in Neapel und verschiedene Bestände im Besitz des Komponisten). Heimatstadt Bergamo). Die Art der Liedproduktion – in der Regel häuslich, gelegentlich, feierlich – bedeutet jedoch, dass Donizettis Autogramme oft verschwunden sind und dass anderes Material weit verstreut ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein enorm wichtiger Fundus an Manuskriptmaterial, der etwa 20 Lieder enthält, von denen man bisher annahm, dass sie sich in Privatbesitz befinden und nicht erhältlich sind, tauchte im Musikarchiv des Benediktinerklosters Stift Kremsmünster in einer kleinen österreichischen Stadt zwischen Salzburg und Linz. Es ist leicht zu erraten, warum sich verschiedene unschätzbare antike Relikte in einem 777 n. Chr. gegründeten Kloster befinden; aber die Frage, wie solche Donizetti-Raritäten in seine Mauern gelangten, bleibt ein Rätsel.

Francesco Coghetti: Gaetano Donizetti/Wikipedia

Die Lokalisierung all dieses Materials war natürlich eine notwendige erste Forschungsphase. Die Bearbeitung – das Durchsuchen der Quellen für jedes Lied, um die zuverlässigste Version zu finden, die Ermittlung literarischer Quellen, die Übersetzung der Liedtexte, das Verfassen eines kritischen Kommentars, der auf wichtige Varianten aufmerksam macht und schwierige Textentscheidungen diskutiert – war dann ein fortlaufender Prozess, der am Ende mehr als 1500 Seiten Noten und 500 Seiten beigefügten Kommentar hervorbrachte, die alle mehrere Korrekturphasen durchliefen.

Was in den ersten Monaten des Jahres 2020 als „Lockdown-Projekt“ begann, wurde für eine gewisse Zeit zu einer alles verzehrenden Beschäftigung, an der Bibliothekare von Stockholm bis zur Westküste Amerikas und darüber hinaus beteiligt waren, ganz zu schweigen von der Zusammenarbeit mit Donizetti-Freunden an vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Orten.

Als die Arbeit fortgesetzt wurde und das volle Ausmaß des Korpus zutage trat, begannen eine Reihe von umfassenderen Fragen, die einer kritischen Betrachtung bedurften. Das erste, keineswegs einfache Problem war die Festlegung der Stimmtypen.  Gelegentlich gibt es Lieder im Tenor- oder Bassschlüssel, was bedeutet, dass offensichtlich Männerstimmen gemeint sind. Für den Rest der Lieder mussten jedoch Entscheidungen getroffen werden. In seiner frühen Karriere schrieb Donizetti die Melodielinien meist im sogenannten „Sopranschlüssel“, später verwendete er meist den Violinschlüssel; in beiden Fällen blieb unklar, ob ein bestimmtes Lied für eine Männer- oder Frauenstimme gedacht war. Bei unseren Aufnahmen gehen wir normalerweise davon aus, dass die „musikalische Stimme“ mit der „poetischen Stimme“ übereinstimmen sollte (d. h. mit der vom Dichter angenommenen Persona).

So wird beispielsweise das Klagelied eines Troubadours über seine verlorene Liebe von einer Männerstimme gesungen, während eine junge Frau, die an ihrem Fenster Fäden spinnt, von einer Frauenstimme gesungen wird. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass solche solche Fragen in der heutigen Zeit wahrscheinlich von größerer Bedeutung sind als im 19. Jahrhundert. Zu Donizettis Zeiten war die „Geschlechterverwirrung“ (das Singen von Männerrollen durch Frauen und umgekehrt) ein häufiges Merkmal auf der Opernbühne, und es gibt Belege dafür, dass sich diese Einstellung auf den häuslichen Gesangsbereich ausbreiten konnte, wobei junge Frauen – die häufigsten Darstellerinnen im familiären Umfeld – häufig eine männliche poetische Rolle annahmen, wenn sie für die versammelte Gesellschaft sangen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Stimmlagen wie Wir wissen, dass sie sich heute etwas von denen zu Donizettis Zeiten unterscheiden, wobei die Unterscheidung zwischen „Sopran“ und „Mezzo“ und – insbesondere – zwischen „Tenor“ und „Bariton“ häufig unsicher ist.

Donizetti-Songs: Lawrence Brownlee & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Unter den gegebenen Umständen haben wir die Lieder in überaus Donizetti-typischer Manier entsprechend den Fähigkeiten unserer einzelnen Sänger aufgeteilt, anstatt irgendwelche abstrakten Prinzipien von Stimmlage und Geschlecht anzuwenden.

Eine weitere Schwierigkeit betrifft die grundlegendere Frage, was ein „Lied“ ausmacht. Für die vorliegende Ausgabe haben wir uns entschieden, Sololieder von Duetten und größeren Ensembles zu trennen. Diese Entscheidung wurde in erster Linie aus praktischen Gründen getroffen (die Aufführungsmöglichkeiten für Sololieder sind heute so viel größer als die für Duette, Trios usw.), und dies trotz der Tatsache, dass eine solche Trennung uns von einigen der wichtigsten veröffentlichten Sammlungen von Donizetti-Liedern aus den 1830er Jahren entfernt, in denen Soli und Duette bewusst in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Es stellen sich jedoch auch größere Fragen: Wie kann in manchen Fällen ein „religiöses Werk“ auch Anspruch auf den Titel „Lied“ erheben (ein Ave Maria, das zur Klavierbegleitung gesungen wird, wäre ein Beispiel dafür)? Oder wie kann eine „Solokantate“ nach einem Manuskript in einem anderen ein ‚Lied‘ sein könnte; oder – vielleicht die größte Schwierigkeit – worin der Unterschied zwischen einem ‚Lied‘ und einer Opernarie besteht, die uns begleitet von einem Klavier überliefert wurde. Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten; es wird immer unscharfe Grenzen der einen oder anderen Art geben. In der vorliegenden Ausgabe haben wir uns weitgehend an die Taxonomie früherer Donizetti-Lieder-Katalogisierern gefolgt, aber wir haben – im Gegensatz zu ihnen – immer versucht, Opernnummern auszuschließen, die ohne die aktive Mitarbeit des Komponisten in nicht-opernhafte Texte eingebaut wurden.

Es gibt auch das Problem der Übersetzung. Lieder können in einer Sprache begonnen haben (entweder Italienisch oder, in Donizettis späteren Jahren zunehmend, Französisch) und dann in eine andere gewandert sein, wo sie vielleicht „Repertoire“-Status erlangte. Manchmal ist es aufgrund der Quellenlage unmöglich zu wissen, in welcher Sprache ein Lied ursprünglich konzipiert wurde. In einem Fall beginnt die Geschichte eines bestimmten Liedes (soweit wir wissen)mit einer gedruckten Quelle in italienischer Sprache (der natürlich eine heute verlorene autographe Partitur vorausgegangen sein muss); dann – zu einem späteren Zeitpunkt – verwendete Donizetti die Musik erneut, um einen französischen Text zu vertonen, wobei er diesmal eine Autograph, das erhalten geblieben ist; und noch später wurde dasselbe Lied in gedruckter Form weit verbreitet, allerdings in einer neuen italienischen Übersetzung des französischen Textes.

Donizetti-Songs: Daniel de Fry & Carlo Rizzi (c)Russell Duncan

Weitere Probleme betreffen die Urheberschaft des literarischen Textes (häufig nicht identifiziert) und die Identität der Widmungsträger (oft sowohl in Autographen als auch in gedruckten Partituren erwähnt), die beide stundenlange Recherchen erfordern können, aber – dank unserer internetgestützten Welt – oft überraschende Zusammenhänge und chronologische Besonderheiten aufdecken, die alle früheren Kommentatoren zwangsläufig außer Acht lassen mussten. Darüber hinaus können, wenn Donizetti vertonte jeden Text, sei es ein Libretto oder ein lyrisches Gedicht, und änderte die Worte routinemäßig, manchmal radikal: Ein Lied hat eine poetische Quelle, die tragisch endet, während seine Donizetti-Vertonung in Hoffnung und Wiedergeburt endet: Wir könnten an Opern erinnert werden, in denen manchmal im letzten Moment oder bei späteren Wiederaufnahmen, ein tragisches Ende in ein „Happy End“ verwandelt wird (oder umgekehrt). In all diesen Fällen folgen wir natürlich der Textversion des Komponisten, obwohl in extremen Fällen in den begleitenden kritischen Anmerkungen die alternative Richtung des Originalgedichts erwähnt wird.

Ein letztes Problem betrifft mehrere Versionen desselben Liedes. Es entspricht ganz dem Geist dieses Repertoires, dass Donizetti, wenn er später in seiner Karriere zu einem Lied zurückkehrte, fast immer eine Überarbeitung der Musik vorlegte, wobei er manchmal das, was er zuvor komponiert hatte, komplett neu schrieb. In vielen Fällen kann man sich vorstellen, dass es einen einfachen, praktischen Grund für diese kreative Verschwendung gab: Wenn er beschloss, ein Lied wiederzubeleben, vielleicht für einen Verleger, vielleicht für einen anderen häuslichen Anlass, war sein „Original“ nicht mehr zur , sodass er gezwungen war, die Worte und die Musik aus dem Gedächtnis neu zu erschaffen. Aber es gibt auch die Tatsache, dass ein solcher Erfindungsreichtum im Mittelpunkt seines Kompositionsprozesses stand: Selbst bei seinen berühmtesten Opern hat man selten das Gefühl, dass er ein bestimmtes Werk als „fertig“ betrachtete; wenn er zu einer Oper oder einem Lied zurückkehrte, brachte die Erfahrung fast immer neue Ideen, inspiriert von neuen Darstellern. In den meisten Fällen haben die vorliegenden Aufnahmen wurde aus Platz- und Zeitgründen eine Version gegenüber anderen bevorzugt; bei einigen Liedern waren die Alternativen jedoch so unterschiedlich, dass beide Versionen aufgenommen wurden.

Donizettis Grabmal in Bergamo/Wikipedia

Wie aus dieser ersten Aufnahme mit Liedern aus allen Lebensabschnitten des Komponisten hervorgeht, ist Donizettis kreatives Spektrum in diesem Repertoire bemerkenswert. In seiner frühen Karriere (bis ca. 1823) gibt es einige sehr einfache Erfindungen, oft „Canzonette“ genannt, die auf das 18. Jahrhundert zurückzugehen scheinen; und die stärker von der

Oper beeinflussten Nummern aus dieser Zeit ähneln in ihrer Verwendung von Vokalverzierungen unweigerlich Rossini.

In den späteren 1820er Jahren tauchen jedoch Lieder auf, die, obwohl ihre Poesie oft auf ein früheres Zeitalter zurückgeht, in ihrer Gestaltung und Ausführung offen experimentell sind, vielleicht auf konventionelle Weise beginnen, sich dann aber in unvorhersehbare melodische und harmonische Richtungen bewegen, oft als Reaktion auf Details im verbalen Text. In den 1830er Jahren, der Zeit von Donizettis größten italienischsprachigen Opern, lag sein Schwerpunkt auf Liedern für die Veröffentlichung, aufwendigeren Stücken, die für professionelle oder nahezu professionelle Darsteller und mit besonderem Schwerpunkt auf exotischen Stimmungen: der Troubadour, die Jungfrau im Turm, der liebeskranke Ruderer, der religiöse Einsiedler, der Kreuzritter, der leidenschaftliche romantische Außenseiter.

Und dann, in einer erstaunlichen späten Blütezeit, sah man in den 1840er Jahren Donizetti, der nun in Paris und Wien lebte, sich als „internationaler“ Komponist neu zu erfinden, indem er französische Gedichte in einem modernen Stil vertonte und sich in einer völlig anderen lyrischen Tradition fließend ausdrückte. Bei all diesen Stilen und Manieren bleibt ein Aspekt konstant: Wenn wir Donizetti und seine musikalische Sprache durch seine Opernwerke kennen, werden uns die Lieder weiterhin überraschen. Obwohl sie uns gelegentlich an die Manieren der Oper erinnern, beschreiten diese Kompositionen meistens einen anderen Weg: einen, bei dem die musikalische Reise in der Regel viel kürzer ist, bei dem eine Gefühlswelt in Momenten eingefangen werden muss und bei dem die raffinierte musikalische Sensibilität des Komponisten, seine Fähigkeit, poetische Stimmungen und Affekte einzufangen, auf jeder Seite offensichtlich ist.

Donizettis „Esule di Roma“, London 2023/Nicola Alaima und Albina Shagimuratova/Foto Russel Duncan/Opera Rara

Wie bereits zu Beginn dieses Essays erwähnt, sind die Lieder, die Donizetti während seiner Komponistenkarriere komponierte zu Unrecht vernachlässigt wurden. Diese Aufnahmen zielen in der Tradition von Opera Rara darauf ab, ihre Wiederbelebung bestmöglich zu fördern. Das Projekt hat aber auch ein größeres Ziel: Es soll ein neues Licht auf die gesamte italienische Tradition des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert geworfen werden, eine Tradition, die sich über die gesamte Halbinsel ausbreitete und einen enorm reichen Musikkörper hervorbrachte, der es verdient, einen Platz im internationalen Liedrepertoire einzunehmen. © 2024 Roger Parker/DeepL

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ROGER PARKER (operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter wegen seiner klugen Artikel zu einzelnen Belcanto-Opern bei uns)  ist der Repertoireberater von Opera Rara. Er ist zudem emeritierter Professor für Musik am King’s College London und unterrichtete zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Generaleditor der kritischen Donizetti-Ausgabe,  die bei Ricordi veröffentlicht wird. Seine neuesten Bücher sind Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last 400 Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Musik im London der 1830er Jahre. Von 2013 bis 2018 war er als Direktor des vom ERC finanzierten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College tätig. (Quelle Opera Rara/DeepL)

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Dank an Opera Rara und vor allem Roger Parker für seinen Text zur Ausgabe, den wir mit großem Dank in unserer Übersetzung/DeepL übernahmen. G. H.

Höhenflug mit tausend Gefühlen

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Mille affetti heißt das neue Album von Bruno de Sá bei seiner Stammfirma Erato (50544197995422). Der Titel lässt an die Worte „mille affani“ in einer Arie aus Luigi Carusos Oper Il fanatico per la musica denken, die sich in der Anthologie auch findet und zu deren sechs Weltersteinspielungen zählt – eine tour de force der sich fast überschlagenden Koloraturen und Spitzentöne.

Der Sopranist überrascht bei seinen CDs und Recitals immer wieder mit origineller Programmkonzeption und dem Spürsinn für Raritäten. Schon der Auftakt, „La gran vendetta ancora“ aus Luigi Cherubinis Mesenzio, re  d´Etruria ist eine solche und bestens geeignet, die stimmliche Bravour des Sopranisten in helles Licht zu rücken. Furiose Koloraturkaskaden, abenteuerliche Sprünge von der Tiefe in die Höhe und stratosphärische Extremtöne werden hier scheinbar mühelos bewältigt. Der nächste Titel, Sifares Arie „Lungi da te“ aus Mozarts Mitridate, findet sich dagegen öfter in Einspielungen, wie auch seine Motette „Exultate, jubilate“, die hier allerdings in der zweiten, der Salzburger Version erklingt. Bei Sifares Arie  kann der Sänger seine klangvolle Mittellage und das perfekte legato ausstellen. Bei der Motette imponieren das mit großer Innigkeit vorgetragene „Tu verginum corona“ und  der Jubel im finalen „Alleluja!“. Seltener zu hören ist das getragene Solo des Engels „Betracht dies Herz“ aus der Grabmusik des Salzburgers. Zu den Instrumentalstücken, welche das Programm ergänzen, gehören auch Mozarts Fuge in g-Moll in der Interpretation von Marcin Szelest sowie die Ouverture zu Franz Ignaz Becks L´isle déserte und die stürmische  Introduzione zu Josef Mysliveceks Il Tobia. Das Wroclaw Baroque Orchestra, das den Sänger unter Leitung von Jaroslaw Thiel aufmerksam begleitet, wartet hier mit musikantischer Frische und großem Farbenreichtum auf.

Zu den CD-Premieren zählen auch Selims Arie „Girate quel guardo“ in extremer Lage aus Franz Seydelmanns Il turco in Italia und Perseos Rondo „Deh! soccorri“ aus Johann Friedrich Reichardts Andromeda, das sich im Gesang von de Sá in schönstem Ebenmaß verströmt. Ebenfalls erstmals auf Tonträgern zu hören ist die fünfteilige Motette „Salve Regina“ von Niccolò Antonio Zingarelli. Hier wirkt der  NFM Choir mit und findet mit dem Solisten zu gemeinsamen vokalen Glücksmomenten. Mehrere Male vertont wurde Metastasios Libretto Alessandro nell´ Indie, aber hier gibt es  mit der Komposition von Felice Alessandri eine Wiederentdeckung. De Sà singt Poros Arie „Se possono tanto due luci vezzose“ und setzt damit einen bravourösen Schlusspunkt unter sein anspruchsvolles und spannendes  Programm. Die Platte, welche  im August des vergangenen Jahres in Warschau entstand, hat alle Chancen für einen Preis in der Gattung Vokal-Recitals. Bernd Hoppe

Sicher verdienstvoll

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Hätte er doch lieber auf die Einwände seiner Gattin gegenüber dem Libretto für seine letzte Oper Die Eifersüchtigen gehört, der Schweizer Komponist Joachim Raff hätte vielleicht die erfolgreiche Uraufführung seiner letzten Oper noch erleben und dieselbe eine lange Bühnenlaufbahn durchschreiten können. So aber erleidet man als Hörer, was zwar auf vier umfangreichen Spalten Text im Booklet mit wenig Handlung und vorwiegend Erzählungen, Meinungsäußerungen, Spekulationen, Pläneschmieden und Beklagen des eigenen und fremder Schicksale, mit Rückblicken und Spekulationen über die Zukunft fast den gesamten Raum der Inhaltsangabe einnimmt, aber fast jeglicher Handlung, geschweige denn Spannung auf das Kommende entbehrt. Lediglich ein kurzer Gefängnisaufenthalt für den Tenor bringt etwas Abwechslung in die Langatmigkeit. Es geht um zwei Hohe Paare samt altem Onkel und ein Dienerpaar, die erst falsch, d.h. mit dem vom Hausherrn gewählten Partner, vermählt werden sollen, um am Schluss doch den Richtigen in die Arme schließen zu dürfen. Die Musik dazu will das Booklet im italienischen Belcanto und in den Mozart-Opern auf Da-Ponte-Libretti verorten, man könnte sie aber auch in der Nähe von Lortzing, eher biedermeierlich  als romantisch,  ansiedeln, die Musik für das Dienerpaar unterscheidet sich von der für die Adligen, für den Tenor gibt es genau in der Mitte des Werks eine schöne Arie, deren Melodie mehrfach unverändert wiederholt wird, eine Besonderheit, die das Booklet als die Absicht des Komponisten deutet, die Unbeirrbarkeit der Gefühle des Helden zu verdeutlichen.

Obwohl Raff zu seinen Lebzeiten ein vielgespielter, mit berühmten Komponisten in engem Kontakt stehender Komponist war, wurden seine Opern, die bekannteste Dame Kobold nach Calderon de la Barca,  und seine zahlreichen Orchesterwerke nach seinem Tode nicht mehr gespielt und Die Eifersüchtigen erlebten so durch das Opernkollektiv Zürich erst im September 2021 zum zweihundertsten Geburtstag des Komponisten bei Zürich ihre Uraufführung, die beiden CDs entstanden ein Jahr später.

Interessant ist über weite Strecken hinweg die Instrumentierung, die für die Arien manchmal mehr erwarten lässt, als der überwiegende Parlandostil schließlich einhalten kann. Geschickt konstruiert sind die Finali, die mit mancher Länger innerhalb der Akte wieder versöhnen und mit Dialogen à la „Da bist du ja“, „Da bin ich nun.“  Dirigent Joonas Pitkänen und das Orchestra of Europe  bemühen sich mit Erfolg um Zügigkeit und Elan.

Viel Freude bereiten die jungen Stimmen, so der schöne lyrische Tenor von Benjamin Popson als Don Claudio, der durch Klarheit und Empfindsamkeit besticht. Balduin Schneeberger als Don Giulio gibt seinen vermeidlichen Rivalen mit feinem Kavaliersbariton für sein Arioso. Etwas derber, aber auch noch präsenter ist Matthias Bein, der die Handlungsfänden in der Hand haltende Diener Peppino mit eines Leporello würdiger vokaler Präsenz. Als Spielbass stellt sich polternd,  aber textverständlich und Temperament ins Geschehen bringend der Don Geronimo von Martin Roth dar. Zart und zierlich und in der Höhe aufblühend gibt Serafina Giannoni die Donna Rosa, während Raisa Ierone als Donna Bianca mehr Mezzofarbe vertragen könnte, Mirjam Fässler als Ninetta da schon reicher und vollmundiger klingt. Insgesamt ein zwar spätes, aber verdientes und Respekt verdienendes Geburtstagsgeschenk (Naxos 8.660561-62). Ingrid Wanja

Buntes Markttreiben

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Wenn’s der Sache dient. Heißt, wenn es dazu führt, dass Mussorgskys komische Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy häufiger aufgeführt wird. Neben den herrlichen Volksszenen auf dem Jahrmarkt und den deftigen, prallen, komischen und kauzigen Figuren, die wie eine Weichzeichnung ähnlicher Szenen im Boris klingen, besitzen die zweieinhalb Akte eine unverwechselbare groteske Komik.  Mussorgsky arbeite zwischen 1874 und 1881 an der komischen Oper, die einen Gegenpol zu den beiden Volksdramen bilden sollte, zum 1874 fertiggestellten Boris und der 1872 begonnenen Chowanschtschina. Bei seinem Tod war der Jahrmarkt unvollendet.

Mehrere Versuche der Komplettierung wurden unternommen, u.a. von César Cui und Nicolai Tscherepnin. Durchgesetzt bzw. am häufigsten gespielt wurde die 1931 in St. Petersburg erstmals gespielte Fassung von Wissarion Schebalin und Pawel Lamm, die Riccardo Chailly anlässlich des 100. Todestag Mussorgskys 1981 an der Mailänder Scala dirigierte und die 1983 auch am Gärtnerplatztheater gespielt wurde. Mit den Fassungen wollen wir uns nicht befassen, schließlich haben wir jetzt eine neue von Fabrice Bollon, der sich an Mussorgskys Szenarium orientiert und wichtiger noch ausschließlich Mussorgskys Musik verwendet. Fabrice Bollon hatte bereits im Vorjahr eine Covid-19-Fassung des Schlauen Füchsleins (2 CD 8.660526-27) für zwölf Instrumente vorgestellt und jetzt bei Mussorgsky ebenso mustergültige Arbeit geleistet. Zumindest erweckt die im September 2023 in Baden-Badener SWR-Studio entstanden Aufnahme nie den Eindruck, dass es sich bei dieser Fassung um einen Notbehelf handelt.

Die Sänger mögen weniger individuell und leichter als in alten russischen Aufnahmen klingen, doch die armenische Mezzosopranistin Greta Bagiyan ist ausgezeichnet als ebenso zänkische wie verliebte und lockende Chiwrja, der schmale Charaktertenor Jumbum Lee singt das Objekt ihrer Begierde, den Popensohn Afanasil, mit entsprechend verklemmtem Tenor, Carina Schmieger und Nutthaporn Thmmanthi geben ein hübsch klingendes junges Paar mit sehr ansprechenden Arien im 3. Akt ab, die tiefen Stimmen von Tair Tazhi und Hans Gröning klingen nicht ausgesprochen charakteristisch. Wie bei seiner Aufnahme des Schlauen Füchsleins haben sich um Fabrice Bollon wieder die Musiker von The Lily‘s Project versammelt, die zusammen mit dem Cantus Juvenum Karlsruhe und Mitgliedern des Freiburger Opernchors die skurrile und kauzige Dorf- und Märchenwelt beschwören, vielleicht nicht ganz den knorrig knurrigen und knarzig rauen Duktus von Mussorgsky einfangen, aber ausreichend schwungvoll. Das ist eine elegante Salonfassung für junge Sänger.

Ein wenig kompliziert ist auch die Handlung, zu der Mussorgsky selbst den Text auf der Basis von Nikolai Gogols Erzählung Der Sorotschinsker Jahrmarkt (1831) aus dem ersten Teil seiner Sammlung Abende auf dem Weiler bei Dikanka. Auf dem Mark des ukrainischen Dorfes Sorotschinzy begegnen sich der Bauernbursche Gritzko und Parasja, die mit ihrem Vater Tscherewik gekommen ist. Sie verlieben sich in einander. Tscherewik gibt seinen Widerstand gegen die Heirat auf, als er erfährt, dass Gritzko der Sohn seines Freundes ist. Währenddessen warnt der Zigeuner die Leute vor dem „roten Kittel“ und Schweinerüsseln. Als Tscherewik abends trunken die Kneipe verlässt und seiner Frau Chiwrja von dem Schwiegersohn berichtet, ist diese entsetzt, da Gritzko sie nachmittags beleidigte. Dem traurigen Gritzko verspricht der Zigeuner seine Hilfe. Am nächsten Tag hat sich Chiwrja mit ihrem Geliebten Afanasil, dem Sohn des Popen verabredet. Sie bereitet ihm ein üppiges Mahl, das von Tscherewik, Kum, Gritzko und einen Nachbarn gestört wird, die von der Erzählung des Zigeuners berichten. Tatsächlich öffnet sich plötzlich die Erde und ein Teufel erscheint. Alle sind angesichts der satanischen Messe im höchsten Maß verängstigt, nur Gritzko glaubt zu träumen. Es folgt im dritten Akt die Hochzeit des jungen Paares, die mit einem Hopak gefeiert wird.

Ebenfalls unvollendet blieb Mussorgskys erst in den 1980er Jahren komplettierter und uraufgeführter Opernerstling Salammbo nach Flauberts quasi noch druckfrischem Roman. In der von ihm erstellten fünfteiligen Suite hat Bollon 2021 sehr geschickt zentrale Momente der Oper mit u.a. den Chören der Libyer, Karthager und der Priesterinnen der Salammbo sinfonisch verarbeitet, die einen schönen Eindruck von der Exotik der Handlung und Mussorgskys frühem Zugriff vermitteln.   Rolf Fath

Gottfried Pilz

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Gottfried Pilz (* 21. September 1944 in Salzburg; † 3. Oktober 2024 in Berlin) studierte an der Kunstakademie in Wien, war 4 Jahre Assistent an der Wiener Staats­­op er. Seine erste Bühnenbildassistenz führt ihn zu Wieland Wagner. Seit 1969 assi­stierte mehrere Jahre bei Rudolf Heinrich Filippo Sanjust. Zeitweise war er auch als Illustrator tätig. Seine Bühnenbild-Debüts waren in Amsterdam und Berlin. Festanstellungen verbanden in mit Bielefeld, Augsburg und Kiel. Von 1980 bis 1990 arbeitete er erfolgreich mit dem Regisseur John Dew zusammen und war maßgeblich am „Bielefelder Opernwunder“ mit seinen bemerkenswerten Ausgrabungen vergessener Werke beteiligt. Daneben war er europa-, ja weltweit freier Bühnenbilder für diverse Produktionen in Oper und Schauspiel mit auch eige­nen Insze­nierungen.

Jetzt ist im Verlag Theater der Zeit ein opulentes Buch erschienen, das seinem Werk ein würdiges Denkmal setzt „Gottfried Pilz. Bühne. Kostüm. Regie“ Herausgegeben wurde es von der Bielefelder Grafikerin Kerstin Schröder, die Gottfried Pilz seit seinen Bielefelder Jahren (1982-1992) kennt.

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Gottfried Pilz hat Wagners „Ring“ insgesamt vier Mal inszeniert. Zu Wagner hatte er denn auch eine besondere Beziehung. In einem Gespräch, das ich vor Jahren einmal mit ihm führte, sagte er mir: „Faszinierend bei Wagner ist nicht nur dass er Siegmund Freud eigentlich antizipiert hat, sondern dass er noch über Strindberg weit über unsre zeit hinausgeht, bis hin zu Bergmanns ‚Szenen einer Ehe‘.“ Die Äußerung ist typisch für Gottfried Pilz, denn der psychoanalytische Weg ist für ihn eigentlich in fast allen Opern aller Epochen der entscheidende Zugang.

Dekorationen ist seine Sache nicht. „Mir geht es eher um die Sichtbarmachung dessen, was hinter einer Wand steht, was auf der Bühne steht, was jenseits der Grenzen liegt. Grenz­überschreitungen sind mein Thema“ hat er einmal unmissverständlich erklärt. Theater ist für ihn immer ein „Umsetzen ins Heute!“ Fern allerdings von allem unverantwortlich bearbeitenden, selbstverliebt egomanischen, kommentierenden oder gar destruierenden … Regietheater.

Zur Erinnerung liest man: „1980 begann eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Regisseur John Dew. Pilz gelang in den 1990er-Jahren eine innovative Weiterentwicklung des Bühnen- und Kostümbildes. Er schuf faszinierende Bilder, die die Musik visuell übersetzen und in die Operngeschichte eingegangen sind. Zu seinen Ausstattungen gehörten Welturaufführungen wie Alexander von Zemlinskys ‚Der König Kandaules‘ in Hamburg 1996 sowie die Wiederentdeckung selten gespielter oder in Vergessenheit geratener Werke wie Giacomo Meyerbeers Die Hugenotten‘, Berlin 1987 und Jacques Fromental Halévys ‚Die Jüdin‘, Bielefeld 1989. Neben seiner internationalen Karriere arbeitete Gottfried Pilz immer wieder mit Regisseur Gotz Friedrich an der Deutschen Oper Berlin zusammen. Dem legendaren ‚Rosenkavalier‘-Auftakt in Berlin 1993 folgten 15 gemeinsame Projekte einschließlich der ersten Gesamtaufführung ‚Der Ring des Nibelungen‘ in Helsinki 2000.“

Das jetzt erschienene Buch verblüfft vor allem mit seinen Fotografien. Es zeigt einen Ausschnitt aus dem umfangreichen Schaffen von Gottfried Pilz. „15 von rund 250 Arbeiten werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt“ nach dem Motto „Last Bilder sprechen.

Man liest darin das Bekenntnis: „Für das Theater zu Arbeiten heißt reflektiertes Umsetzen eines Textes, der Musik oder beider zusammen in einem Aktionsraum, der die Darstellung von zwischenmenschlichen Beziehungen ermöglicht oder umfasst.“

Peter Brook hat sehr faszinierendes Buch mit dem Ti­tel „Der leere Raum“ geschrieben. Pilz kennt es natürlich, denn auch er zeigt oft leere Räume. „Es ist aber die Frage, wie leer ist der Raum wirklich oder wie verschieden kann leerer Raum sein?“

Als beispielhaft darf die Leipziger Inszenierung (der deutschen Erstaufführung) von Olivier Messiaens „Saint Francois D’Assise“ aus dem Jahre 1998 gelten, die in dem Buch in beeindruckenden Fotos dokumentiert ist.

Ein staub- und qualmvernebelter, verwüsteter Kirchenraum, in dem nur noch nackte Stühle übriggeblieben sind, nach dem Einsturz der Franziskuskirche in Assisi, der bei einem Erdbeben 1997, was von einem Amateurfilmer auf Video gebannt und vor Beginn der eigentlichen Inszenierung gezeigt wurde. Im Hintergrund klafft ein großes Loch, das Fragen evoziert und Durchblicke auf Uneindeutiges gestattet. In diesem qualmgeschwängerten Raum, der von immer neuen Lichtstrahlen, Lichtreflexen und -Stimmungen durchdrungen wird, entwickelte Gottfried Pilz die Geschichte des Glaubensreformators, die er kondensiert hat zur Allegorie der Menschwerdung an sich. Wenn man so will eine durch Nietzsches Atheismus gefilterte Heiligenlegende als humane Entwicklungsgeschichte des Individuums. Statt Soutanen und Mönchsgewänder sieht man schlichte Anzüge. Statt Kirchenplunders wird mit wenigen Kreuzprojektionen und einer simplen, aber einsichtigen Kleidermetapher das Aufbauen und Zerstören von Glauben, Illusionen und Hoffnungen angedeutet. Kleiderhaufen liegen auf dem Boden des zerstörten Gotteshauses. Die Mönche falten sie nach und nach, schichten sie auf zu wackligen Türmen, die wieder zusammenfallen. Am Ende ist der Boden dieses säkularisierten Glaubensraumes leergefegt und steril, die Phalanx der Mönche tritt dem erleuch­teten, erlöschenden Außenseiter Franziskus proper und adrett in Mantel und Hut entgegen. Diese Versinnbildlichung hat Methode, sie ist konsequent, sie vermeidet jede Art von Peinlichkeit und Unbehagen, und sie lenkt nicht ab von der unglaublich beredten und gesti­schen Musik, die ihrerseits so viel zu erzählen und zu kommentieren hat.

Die Räume von Gottfried Pilz sind – nicht nur in „Saint Francois D’Assise“ – von magischer und suggestiver Wirkung, es sind stets feinfühlige und doch starke Licht- und Farbräusche, optische Stimmungen, traumhafte Welten. Zurecht werden sie als „Freiräume für die eigene Fantasie“ bezeichnet.

Die Fotografin Karen Stuke, die seit den 1980er Jahren Gottfried Pilz begleitet und viele seiner faszinierenden Produktionen fotografierte, hat insbesondere mit ihren Camera-obscura-Aufnahmen seine Inszenierungen in besonderer Weise eingefangen. Sie gesteht, diese Form der Fotografie sei „keine dokumentarische, sondern eher verfremdende.“ Gottfried Pilz hat sie in ihrem fotografischen Verfahren, das in besonderer Weise seine Bühnenbilder hervorhebt, bestärkt. Sie belichtete das jeweils gesamte Theaterstück auf einem einzigen Bild mit einer Lochkamera. Die Belichtungszeit des Negativs entspricht exakt der Dauer der Inszenierung. Es sind traumhaft verschleierte Fotografien, die etwas von der suggestiven Wirkung der Pilzschen Bühnenereignisse vermitteln, Davon kann der Leser sich überzeugen, denn Karen Stuke liefert den Großteil des Bildmaterials.

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Mit dem Bonmot „Pilzblau mit einem Schuss Neonrot“ bringt die Herausgeberin des Buches, das einen repräsentativen Ausschnitt der Vorlasses (Fotografien, Plakate, Zeichnungen und Entwürfe) zeigt, den Gottfried Pilz der Theatersammlung des Stadtmuseums Berlin 2011 übergab, dessen Ästhetik auf den Punkt.

Für die Anfangsphase seiner bühnenbildnerischen Laufbahn, die noch sehr konkret und gegenständlich verspielt, nicht selten ironisch gebrochen  war, ist in dieser schön ausgestatteten Publikationen leider kein Platz. Sie ist ein Buch über den reifen Gottfried Pilz. Er „hat von 1970 bis 2021 als Bühnen- und Kostümbildner größtenteils für das Musiktheater gearbeitet. Seine im Laufe der Jahre zunehmend abstrakte und minimalistische Bildsprache entwickelte er durch das intensive Studium von Libretto und Partitur konstant weiter. Während er die Musik hörte, und die Texte las, kamen die Ideen. Es sind Bühnenbilder und Entwürfe von 1985-2003, die zu sehen sind. Allerdings ist eine Liste sämtlicher seiner Inszenierungen (mit präzisen Orts- und Theaterangaben) sowie ein Werkverzeichnis beigefügt, die den enormen Wirkungsradius des Ausstatters und Regisseurs) dokumentieren, er formulierte es so: ‚Es muss aus der Hand herauskommen und nicht aus dem Kopf‘.“

Handwerkliche Präzision zeichnen denn auch seine Figurinen und skizzenhafte Entwurfszeichnungen ebenso aus, wie die sinnliche Wirkung der phantasievollen Bühnen-Realisierungen des großen Theaterzauberers.

Der mittlerweile achtzigjährige Gottfried Pilz, der zu den weltweit renommiertesten Bühnenbildnern zählt, hat sich in den letzten Jahren aus gesundheitlichen Gründen vom Theater zurückgezogen. Am 3. Oktober ist er nun verstorben. Er hat zweifellos ein Stück Theater- und Inszenierungsgeschichte „der letzten Jahrzehnte des 20 Jahrhunderts und desbeginnenden 21.Jahrhunderts“ geschrieben, wie Bärbel Reißmann vom Stadtmuseum Berlin schreibt. Das Buch, aber auch das Museum will „Gedächtnis für die Theatermacher und das Publikum“ sein.  „Ein nützliches Register, ein Verzeichnis aller Pilz-Inszenierungen und eine biografische Zeittafel ergänzen das äußerst verdienstvolle Buch (Foto Deutsche Oper Berlin Archiv). Dieter David Scholz

Halber Kunstgenuss

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Wer seine erste Bekanntschaft mit Leoš Janáček durch seine Oper Katja Kabanova machte, der vermeinte im Aufrauschen des Orchesters den gewaltigen russischen Strom Wolga, in dem sich die unglückliche Titelheldin ertränkt, seine Bahn ziehen zu vernehmen, aber ganz ähnlich hört sich der Beginn von Die Ausflüge des Herrn Brouček an, ein ganz anderes Thema und dazu eine Geschichte mit nicht  tragischem, sondern heiterem Ausgang. Auch ein aus der Ferne  tönender, geisterhafter Chor stellt eine Verbindung zwischen beiden Werken her. Es geht um den geizigen, übellaunigen Hausbesitzer gleichen Namens, dem der Schriftsteller Svatopluk Čech zwei Romane widmete, deren erster den Titelhelden auf den Mond entführte, während der zweite ihn nicht räumlich, sondern zeitlich versetzt in das 15. Jahrhundert, als in Böhmen Hussiten und Kaiserliche einander bekämpften.  Ausgangspunkt des Geschehens ist eine Prager Kneipe, in der Herr Brouček so fleißig dem Bier zuspricht, dass seine Phantasie beflügelt und die jeweilige abenteuerliche Reise erst möglich gemacht wird. Verflochten in das vielseitige Geschehen ist ein junges Liebespaar, dem Broucek zu Beginn die Wohnung kündigt, die er ihm, wohl durch seine Abenteuer geläutert, am Schluss doch wieder überlässt. Natürlich wird die einer Aufführung des Prager Nationaltheaters entnommene Aufzeichnung in tschechischer Sprache dem dieses Idioms unkundigen Hörer nicht gerade leicht zugänglich gemacht, denn es gibt lediglich einen digitalen Zugang zum Libretto in tschechischer und in englischer Sprache. So nützt die gute Diktion, der sich alle Mitwirkenden befleißigen, nicht wirklich etwas, eher schon die ausführlichen Inhaltsangaben in tschechischer und englischer Sprache im Booklet, die aber nicht wirklich eine Textverständlichkeit gerade auch bei einem so sehr dem einem ausgeprägten Parlandostil zuneigenden Werk ersetzen können. Lediglich dem Liebespaar, das nicht nur in der Rahmenhandlung, sondern auch auf dem Mond wie im Prag der Hussiten handlungstreibend präsent ist, werden lyrische Ergüsse gestattet. Die Titelfigur hat natürlich ihre großen Auftritte, ansonsten  ist jeder der Mitwirkenden mit der Darstellung jeweils dreier  Personen betraut, jeweils einer aus der Rahmenhandlung und zweier aus den Traum- oder besser Rauschhandlungen

Die Titelfigur wird von Jaroslav Březina mit durchdringendem Charaktertenor facettenreich und komiksprühend gesungen. Malinka und die entsprechenden Figuren Etherea auf dem Mond und Kunka im mittelalterlichen Prag finden in Alžbĕta Poláčková eine muntere Vertreterin mit warmem, geschmeidigem und ausgesprochen frisch wirkendem Sopran. Ihr Liebhaber ist als Mazal, Azurean und Petrik, der Sieger der von den Hussiten gewonnenen historischen Schlacht, mit herbem Tenor Aleš Briscein. Ein weiterer, hellerer und leichterer  Sopran wird mit dem von Doubravka Součková für drei jugendliche Herren eingesetzt. Das dunkle, schwere Fach vertritt František Zabradniček, auch Jiři Brückler (u.a. Svatopluk Cech) legt mit diesem viel Ehre ein, aber den meisten Gewinn zieht der nicht der Librettosprache  mächtige Zuhörer aus dem Wirken des Orchesters unter Jaroslav Kyslink, das die Musik, insbesondere auch in den Interludi  atmen, aufblühen und den Hörer verzaubern lässt.

Auf jeden Fall Appetit gemacht auf die bevorstehende Produktion der Staatsoper Berlin in dieser Saison unter Simon Rattle hat die Aufnahme dieser Oper, die mehr als die meisten anderen des Komponisten zum vollkommenen Kunstgenuss auch ihrer optischen Seite bedarf (Supraphon SU 4339-2). Ingrid Wanja      

Erfreulich

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Neu auf dem großen CD-Markt gibt es bei MDG (Musikproduktion Dabringhaus und Grimm) eine Silberscheibe aus diesem Jahr mit Gustav-Mahler-Liedern aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“. Katharina Kammerloher und Arttu Kataja, begleitet von Eric Schneider, haben zwanzig teils kürzere, teils längere Lieder und Gesänge zusammengestellt, die grob in vier Gruppen aufgeteilt sind und abwechselnd von beiden Künstlern mit Klavierbegleitung vorgetragen werden. Dazu geben instruktive Texte im gelungenen Beiheft interessante Einblicke in die Lieder. Mit immenser Technik und intensiver Gestaltung weiß die Mezzosopranistin von Beginn an zu überzeugen: Humorvoll kommt das Lob des hohen Verstands rüber, hoffnungsfroh Ablösung im Sommer. Die köstliche Fischpredigt deutet der finnische Bariton differenziert aus. Nach dieser ersten Gruppe „Fabeln und Parabeln“ folgen in der zweiten Gruppe „scheinbare Kinderlieder“: Katharina Kammerloher gefällt mit schlanker Stimmführung in Um schlimme Kinder artig zu machen und im heiteren Koloraturlied Wer hat dies Liedlein erdacht?. In Verlorne Müh’ gibt der harte Bursche dem zarten Begehren des Mädchens entsprechen robust herrlich kontra; Katajas Selbstgefühl kommt passend ironisch daher. In der dritten Gruppe dreht sich alles um „unverschuldete Krisen in Beziehungen“: Da bietet der Bariton ein fein differenziertes Scheiden und Meiden, die Sängerin ein gefühlvolles Rheinlegendchen. Stark gestalten die Beiden Aus! Aus! und Trost im Unglück. Schon bei dieser Gruppe wie auch bei der folgenden der „Kriegs- und Soldatenlieder“ vermisst man jedoch den farbigen Orchesterklang der Begleitung. Da werden vom Pianisten Höchstleistungen gefordert, die Eric Schneider mit größter Fingerfertigkeit und Musikalität sowie Eingehen auf die Solisten wirklich sehr gut einlöst. Da überzeugt Kataja mit bestens herausgearbeiteten Stimmungen und mit endlosen Rufen in Der Schildwache Nachtlied sowie weichen Melodiebögen in Zu Straßburg auf der Schanz. Eindrucksvoll wiedergegeben wird die Ballade eines jungen Knaben Nicht Wiedersehen! von Katharina Kammerloher wie auch intensiv Wie die schönen Trompeten blasen. Gelungen ist der Dialog der beiden Künstler im Lied des Verfolgten im Turm mit von Kataja opulent ausgesungener Schlussphrase „die Gedanken sind frei“. Beim ruhig ausmusizierten Gang zum Galgen des Tambourg’sell und dem eindrüciklichen Antikriegslied Revelge zieht Arttu Kataja zu Eric Schneiders aufbrausendem Klavierpart noch einmal alle Register seiner farbenreichen Stimme. Die albtraumartige Liedparabel bedrohter Existenz Das irdische Leben und die auch in der Auferstehungssinfonie von Mahler verwendete schlichte Melodie des Urlichts finden in Kammerlohers Interpretation eine ausdrucksstarke Wiedergabe (MDG 908 2322-6). Marion Eckels

You’ll Never Walk Alone

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Das waren noch andere Zeiten, als Cowboys breitbeinig durch die Prairie tanzten, Cowboyhüte zu den smartesten Kopfbedeckungen gehörten, pausbäckige Mädchen vor endlosen Horizonten Rundtänze vollführten und das Jungvolk gemeinsam Heuballen auftürmte. Es war die goldene Zeit des amerikanischen Musicals, zu deren herausragendsten Vertretern Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II gehörten, die sich mit Oklahoma unsterblich machten. Gemeinsam mit dem keineswegs unbekannteren Lorenz Hart hatte der 1902 in New York geborene Richard Rodgers bereits ab den 1920er Jahren die Broadway-Bühnen beliefert, doch der überragende Erfolg stellte sich erst durch die Zusammenarbeit mit Oscar Hammerstein II. ein. Oklahoma bildete 1943 den Auftakt zu einer kleinen Reihe von Erfolgsmusicals, zu denen bis Ende der 1950er Jahre u.a. Carousel, South Pacific, The King and I und The Sound of Music hinzukamen, die allesamt in Deutschland nie Fuß fassten. Auch nicht Carousel, das immerhin auf einem Stoff des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár basiert, nämlich der „Vorstadtlegende“ Liliom, die sich seit 1912 auch in Deutschland bleibender Beliebtheit erfreute. Puccini hatte übrigens vergeblich versucht, von Molnár die Rechte für eine Oper zu erhalten. Carousel (1945) reichte mit knapp 900 Aufführungen nicht ganz an den immensen Oklahoma Erfolg heran – die deutsche Erstaufführung in der Übersetzung des unermüdlichen Robert Gilbert folgte erst 1972 in Wien – doch die Hymne You’ll Never Walk Alone sichert Carousel Unsterblichkeit.

Die auf dem Rummelplatz im Budapester Stadtwäldchen vor dem Ersten Weltkrieg spielende Handlung ist bittersüß und schön. Benjamin Glazer verlegte sie an die Küste Neuenglands, wo der Karussellarbeiter Billy seinen Job verliert, einen Raub begeht und sich vor seiner Verhaftung umbringt. Seine Freundin Julie bleibt mit Tochter Louise allein zurück. 15 Jahre später darf Billy für einen Tag auf die Erde zurück. Als Geschenk für Louise lässt er einen Stern mitgehen. Louise will den Stern nicht annehmen, worauf ihr Billy einen Schlag versetzt. Louise berichtet der Mutter von der eigentümlichen Begegnung mit dem Fremden. Julie erkennt die Zusammenhänge und weiß, dass ihrer Tochter immer ein Stern leuchten wird.

Ihre im Juli 2022 begonnene Oklahoma Erfolgsgeschichte setzten auch John Wilson, die Sinfonia London und Chandos im April 2023 wieder im Sainsbury Theatre der Royal Academy of Music in London mit der Musical Comedy Carousel fort (2 CDs CHSA 5342/2). Rodgers und Hammerstein, die zwischenzeitlich mit anderen Projekten ihre dramatischen Fähigkeiten zugespitzt hatten, gelang eine bis dahin für das Genre unübliche Dichte und Dringlichkeit, die Text und Musik, Drama und Lieder quasi zu opernhaft durchkomponierten Passagen zusammenfassten, die weit über den von Sinatra über Garland bis zu Presley interpretierten You’ll Never Walk AloneHit, der durch Gerry and the Pacemakers seit 60 Jahren die Hymne von Liverpool FC ist, hinausreicht. Beispielsweise Billy und Julies 11minütige Szene oder Billys sehr lange „Soliloquy“, eine ausdruckvolle Selbstreflektion, in der Nathaniel Hackmann mit einem leichten Bariton wie aus geschliffenem Ebenholz eine komplexe Figur gestaltet. Er gehört quasi zum Stammensemble, das wirklich ein Ensemble in dem Sinn ist, dass man kaum individuelle Leistungen herausheben kann, darunter Mikaela Bennett als Julie, Julian Ovenden als Enoch Snow, vor allem Francesca Chiejina als Nettie Fowler. Timing, Rhythmus, Drive gibt Dirigent John Wilson vor, der schwärmt, „Carousel is Rodger‘s and Hammstein’s greatest achievement. In it Rodgers menages to create a score with operatic aspirations and dimensions. … The drama is amplified by what’s happening in the music“. Durchgehend ist das riesige Vergnügen an dieser dichten Musik zu spüren. Und „we hear everthing that was written rather than highlights.“, also a world premiere complete recording. Rolf Fath 

 

Trüber Stand der Dinge

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Offensichtlich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, welche Art Publikum den Freischütz in Bregenz auf der Seebühne besuchen würde, hat Regisseur Philipp Stölzl, weder an den Urlauber, der einen schönen Tag auf angenehme Art beschließen, die Familie, die die Kinder zum ersten Mal in die Oper ausführen möchte,  nicht an den Selten-, Zum-ersten-Mal – ,aber nun sicher Nie-Wieder-Gänger, gedacht, die er allesamt mit einer Inszenierung verschreckt und vielleicht für immer verscheucht haben dürfte, die das Stück lediglich zum Anlass genommen hatte, sein ironisierendes Mütchen daran zu kühlen. Das happy end scheint ihm generell ein Gräuel zu sein, wie zuletzt die Turandot in Berlin bewies, dem Freischütz wird ein Schluss vorangestellt, der ausmalt, welche Tragödie sich ohne göttliches Einwirken abgespielt hätte: Agathe wird zu Grabe getragen und Max erst erhängt und dann noch ersäuft. Insgesamt kommt aber weit mehr als der Freischütz der Teufel oder vielmehr Samiel zum Einsatz mit Texten, die Jan Dvorak dem Libretto, das wesentlich verändert wurde, noch hinzugefügt hat, aus der fast stummen Figur wird ein Gustaf Gründgens nachahmender Mephisto mit mal altertümelndem, mal gossensprachenhaftem Text, der auch mal in Agathes große Arie eingreift, aus Ännchen, der man  die zweite Arie gestrichen hat, eine gern angetrunkene lesbische Feministin, der Agathe nur widerstehen kann, weil sie einen Vater für ihr ungeborenes Kind braucht, Max ist ein Schreiber und Ottokar eine Witzfigur von Ludwig II.. Alle Mitwirkenden konnten froh über den überheißen Sommer sein, denn pausenlos geht es vom Land ins Wasser und wieder zurück, und das betrifft nicht nur das kitschige Wasserballett à la Esther Williams anstelle des Brautjungferntanzes. War es des Regisseurs erklärte Absicht, den Freischütz „mit Eisenbesen“ von Unerwünschtem zu befreien, ihn ordentlich „durchzulüften“, dann ist das auf fatale Weise gelungen. Dabei hat er sich, auch als Bühnenbildner tätig, durchaus eine romantische Kulisse geschaffen, ein noch die Kriegsschäden zeigendes Dorf, zwar im Winter, was  zu Jagd und Volksfest nicht passt, aber seinen ganz eigenen Reiz entfaltend. Dieser Eindruck wird aber immer wieder zunichte gemacht, sei es durch den überdimensionierten Eremiten à la Rauschgoldengel, den teilweise obszönen Dialog, die grellen Farben oder die lächerlichen Erscheinungen in der Wolfsschlucht.

Alles Akustische, abgesehen von den hinzugefügten Dialogen, hätte eigentlich etwas besseres Optisches verdient, denn Enrique Mazzola beweist mit den Bregenz-erprobten Wiener Symphonikern, dass er nicht nur italienische Oper kann. Die beiden Chöre, Bregenzer Festspielchor und Prague Philharmonic Choir  geben ihr Bestes, auch wenn die Regie alles daran gesetzt hat, den Jägerchor zu sabotieren.  Mauro Peter hat einen für das deutsche Zwischenfach bestens geeigneten Tenor, Franz Hawlata imponiert einmal mehr mit hochpräsentem Bassbariton als Kuno, ebenfalls prachtvoll ist die vokale Leistung von Maximilian Krummen als Kilian, der hier Agathe an die Wäsche geht (Oder ist er vielleicht sogar der Kindsvater?). Christof Fischesser lässt Bassesschwärze wie gewandte Koloraturen hören. Etwas blass bleibt Liviu Holender als Ottokar. Einen hellen, schlanken Sopran setzt Nikola Hillebrand für die Agathe ein, deren Sopran man sich eigentlich auch wärmer und runder denken kann. Katharina Ruckgaber hat die notwendige vokale Entschlossenheit für das Ännchen. Vorzüglich ist der Schauspieler Moritz von Treuenfels als Samiel, aber in dieser Produktion leider ein Ärgernis (C Major768404). Ingrid Wanja   

Nicht nur noble Rebellen

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In Mode zu kommen scheint es, und das wäre auch gut so, keine reinen Arien-CDs, beginnend mit Nessun dorma und endend mit E lucevan le stelle mehr aufzunehmen, sondern längere, wenn auch  nicht so prominente Szenen, die dem Hörer nicht bereits bis zum Überdruss bekannt sind. So verfuhr unlängst Jonas Kaufmann mit seiner Puccini-CD, und so auch Charles Castronovo, der noch einen Schritt weitergeht, indem er sich auf seiner Verdi-CD mit weniger bekannten Opern wie Luisa Miller befasst oder sogar mit solchen, die so gut wie nie auf der Bühne zu sehen sind wie Il Cosaro. Das Booklet der von Delos herausgegebenen CD beweist, dass der amerikanische Tenor mit italienischen und südamerikanischen Wurzeln auch optisch den Vorstellungen von einem Verdi-Helden entspricht.

Castronovos Karriere begann vor fast einem Vierteljahrhundert mit Mozart- und Belcantopartien, inzwischen hat er eine Verdi angemessene Stimme, die dem französischen Don Carlos in der einleitenden Fontainebleau-Szene ebenso gerecht wird wie dem Gaston aus der französischen Fassung des Kreuzfahrer-Dramas Jérusalem, aus dem auch eine solche aus den italienischen Lombardi sulla prima crociata  vertreten ist. Nichts lässt mehr daran denken, dass seine erste Verdi-Partie der Gastone in Traviata war. Es überzeugen ein dunkles, melancholisches Timbre, eine perfekte Diktion, eine elegante messa di voce und eine schlanke Stimmführung, die dem Tenor nichts an Farbe nimmt, in einem herzzerreißenden „Ah! laissez moi mourir!“ mündet. Aus den Lombardi singt Catsronovo das gern als Zugabe genutzte La mia letizia infondere , begnügt sich aber nicht nur damit, sondern führt die Szene unter Einsatz einer sehr hellen, sehr leichten Mutter Sofia über das „Come poteva un angelo“ hinaus.

Auch dem unseligen Jacopo Foscari werden Rezitativ, Arie und Cabaletta zuteil, erfreuen mit  ausgeprägter Legatokultur, mit großzügiger Phrasierung und nicht nachlassender Spannung. Lediglich einen siegreichen Squillo vermisst man in dieser Szene etwas. Einen höchst angenehmen Eindruck hinterlassen bei Macduffs Klage der wunderschöne Schmerzenston und die gut gedeckten Höhen. Des Ballo-Riccardos große Arie aus dem letzten Akt überzeugt bei Castronovo durch Eleganz, kaum wahrnehmbare, nur angedeutete colpi di glottide und ein tatsächlich sehr intim sehr verinnerlicht klingendes „Nell‘ intimo del cor“.

Es folgt fast ein ganzer Akt Luisa Miller mit Rezitativ, Arie und Cabaletta des Rodolfo, bei dem sich sonst mit Quando le sere als placido begnügt wird, während auf dieser CD auch mit Contadino, Wurm und Walter nicht gespart wird. So können tatsächlich ein Charakter, eine Situation, der vielfache Stimmungswechsel perfekt nachvollzogen werden mit einem bis zum „estatico“ innigem Beginn und sogar einer Wiederholung der Cabaletta und einem Bass wohl aus dem Ensemble des Theaters von Kaunas für beide Intrigantenpartien, mit Tadas Girninkas, während das Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian die zuverlässige Begleitung liefert.

Den Abschluss bildet die große Tenorszene aus IL Corsaro, tatsächlich einem Noble Renegade, welches Attribut die CD für alle Tenorrollen beansprucht, und  die mit einem so kompetenten Tenor Lust darauf macht, das arg vernachlässigte Werk auch einmal in seiner Gänze zu erleben, wozu man allerdings Partner wie die auf Gesamtaufnahmen mit Renato Bruson, Katia Ricciarelli oder die mit  Caballé und Norman –tempi passati (Delos 3605). Ingrid Wanja

Vielbeiniges

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Bei NAXOS: Tschaikowsky-Lieder szenisch. An der Oper Frankfurt hat Christof Loy an einem Abend Tschaikowsky-Lieder szenisch arrangiert – unter dem Titel NONE BUT THE LONELY HEART ist dieses Programm jetzt bei NAXOS auf einer Blu-ray Disc erschienen, gefilmt zwischen dem 24. und 26. Februar 2021 (NBD0181V). Herbert Murauers Ausstattung wurde von Loys Stockholmer Inszenierung der Fedora Giordanos übernommen, die nach Frankfurt wechseln sollte, was sich wegen der Pandemie nicht realisieren ließ. Der Bühnenraum ist ein multifunktionales Zimmer, tapeziert und gediegen  möbliert, welches an einen bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert, wo man sich zum gemeinsamen Singen oder Musizieren traf. Die szenische Atmosphäre erinnert an die intimen Szenen in Eugen Onegin. An der  hinteren Wand befindet sich ein prachtvoller mattgoldener Bilderrahmen, in den mehrfach die Köpfe der Sänger als schwarz/weiß Aufnahmen projiziert werden (Video: Ruth Stofer).

Die 24 Romanzen, die aus über 100 Liedern ausgewählt wurden, interpretieren fünf Sänger, die von den Pianisten Mariusz Klubczuk und Nikolai Petersen begleitet werden. Ein Instrumentalstück aus der Feder Tschaikowskys – das Adagio cantabile. aus dem Sextett d-Moll, Souvenir de Florence, op. 70 – spielen Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters.

Zentrales Motiv der Handlung ist ein Glas Wasser, zu dem der Protagonist (der Bariton Vladislav Sulimsky) immer wieder greift, womit an Tschaikowskys möglichen Suizid erinnert werden soll. Freilich sind die Umstände vom Tod des Komponisten bis heute ungeklärt – niemand weiß, ob eine Infektion mit der Cholera vorsätzlich oder unbewusst geschah. Sulimsky, dessen Physiognomie entfernt an die Tschaikowskys erinnert, eröffnet mit dem schwermütigen „Reconcilation“. Sein Bariton ist aufgeraut und vibrierend, doch stark im Ausdruck. Für das bekannte „Amid the din of the ball“ fehlt es ihm an Eleganz, das düstere „On yellow fields“ bekommt dagegen packende Kontur. In „Final“ schwingt er sogar das Tanzbein, geht das Lied doch auf ein Motiv aus dem Ballett The Sleeping Beauty zurück. Ausgelassen und lärmend beteiligen sich alle Sänger an dieser körperlichen Aktion. Ein leichterer, jugendlicher Bariton ist Mikolai Trabka eigen, der sich mit „I never spoke to her“ vorstellt. Ihm gehört die schönste Stimme, die sich in „The Night“ schwärmerisch verbreitet. „To forget so soon“ gehört zu den bekannteren Liedkompositionen des Meisters – dem Tenor Andrea Carè anvertraut, der es recht grobschlächtig vorträgt und in der darstellerischen Vehemenz Lenski mit seinen Zornesausbrüchen gleicht. Auch bei „Why?“ gerät er nach maßvollem Beginn ins Forcieren. Im Hosenanzug aus schwarzer Seide und im weißen Tüllrock geben die beiden Damen ein elegantes Bild ab – Olesya Golovneva/Sopran und Kelsey Lauritano/Mezzo vereinen ihre Stimmen mit strengem Vibrato anfangs zu Duetten mit herbem Klang. In ihrem Tutu und Ballettschuhen posiert die Sopranistin mit Figuren des klassischen Balletts und geht sogar auf die Spitze (Choreografie: Andreas Heise), stimmlich ist sie ein dramatischer Typ, der eine Lisa gut anstehen würde. Auch die Tatjana, an die das Lied „He loved me so“ erinnert, würde in ihr Repertoire passen. Das Lied, welches dem Programm den Titel gab, ist der Mezzosopranistin anvertraut, die es gemessen und auf Linie bedacht vorträgt. Auch „Frenzied nights“ profitiert von ihrer kulturvollen Interpretation.  Der Schluss, „Again as before alone“, gehört dem imaginären Tschaikowsky, der dem Lied die gebührende Melancholie gibt. Bernd Hoppe

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The Christopher Wheeldon Collection bei Opus Arte. Einen Schuber mit drei Blu-ray Discs veröffentlicht OPUS ARTE, welche einen Einblick in das Schaffen des britischen Choreografen Christopher Wheeldon, Artistic Associate des Royal Ballet, ermöglichen (OABD73198D). Drei seiner bekanntesten Ballette werden vorgestellt, deren ältestes (und bekanntestes) Alice´s Adventures in Wonderland von 2011 ist. Seit seiner umjubelten Uraufführung wird es weltweit gespielt, auch das Bayerische Staatsballett München hat die Choreografie in seinem Repertoire. Hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahre 2017 zu sehen, die viele Principals der Londoner Compagnie vereint, angeführt von der bezaubernden Lauren Cuthbertson in der Titelrolle und Federico Bonelli als ihrem Freund Jack und später verwandeltem Herzbuben. Eine Glanzrolle in diesem Stück ist die exzentrische Herzkönigin, der Laura Morera einen gebührend extravaganten Umriss gibt. Auch die Doppelrolle des Zauberers und verrückten Hutmachers ist ein Fest für einen Tänzer von Ausnahmeformat – einfach wie geschaffen für den unvergleichlichen Steven McRae. Neben der tänzerischen Pracht sorgt auch die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley für optische Freuden und nicht zuletzt trägt Joby Talbots schwungvolle Musik zum stimmigen Gesamteindruck bei.

Ähnlich erfolgreich ist das im April 2014 herausgekommene Shakespeare-Ballett The Winter´s Tale, das hier in einer Aufzeichnung aus der Uraufführungsserie zu sehen ist. Wieder waren Wheeldons regelmäßige Mitarbeiter – der Komponist Joby Talbot und der Designer Bob Crowley – mit am Werk. Erzählt wird die Geschichte des eifersüchtigen Königs Leontes (Edward Watson in psychopathischer Intensität bis zum Wahnsinn), der seine schwangere Gattin Hermione (Lauren Cuthbertson mit viel Liebreiz und tiefer Empfindung) des Ehebruchs mit seinem Freund Polixenes (Federico Bonelli mit sinnlicher Aura) bezichtigt. 17 Jahre später spielt der 2. Akt in Böhmen, wohin die Tochter des Paares Perdida (Sarah Lamb von bezaubernder Anmut) mit ihrem Geliebten Florizel (Steven McRae mit hinreißender Vitalität und starker Ausstrahlung) fliehen konnte. Zurück nach Sizilien führt der 3. Akt, welcher die Versöhnung von Leontes und Hermione schildert. Zum Erfolg der Produktion, die inzwischen auch beim Hamburg Ballett gezeigt wurde, tragen auch das Orchestra of the Royal Opera House und der Dirigent David Briskin bei.

Das dritte (und aktuellste) Ballett trägt den Titel Like Water for Chocolate und ist eine Koproduktion mit dem American Ballet Theatre. Sie wurde im Juni 2022 im Royal Opera House London uraufgeführt, wovon auch der DVD-Mitschnitt stammt. Wieder ist das Trio Christopher Wheeldon (Choreografie), Joby Talbot (Musik) und Bob Crowley (Ausstattung) künstlerisch verantwortlich. Das Ballett wurde durch den mexikanischen Roman „Bittersüße Schokolade“ von Laura Esquivel inspiriert – eine Familiensaga von magischem Realismus in Mexiko um 1910. Die zentrale Figur ist Tita, verliebt in den Nachbarn Pedro, den sie jedoch nicht heiraten darf gemäß einer Familientradition, sich um die alte Mutter, Mama Elena, sorgen zu müssen. Statt ihrer ist Pedro die Hand Ihrer Schwester Rosaura versprochen. Dieser hofft, durch die Heirat näher bei seiner einzigen Liebe Tita zu sein. Ein Jahr ist vergangen und Rosaura hat Probleme, ihr neu geborenes Baby zu stillen. Wie durch ein Wunder kann Tita dieses Amt übernehmen, was Pedros Liebe zu ihr noch verstärkt. Ein nächtliches Treffen mit Tita wird gestört von Elena und Rosaura – Pedro muss mit seiner Frau und dem Baby die Farm verlassen. Die Magd Chenca übermittelt die Nachricht vom Tod des Kindes, Tita beschuldigt ihre Mutter als die Verursacherin des Unglücks. Ihren emotionalen Kollaps will Doktor John Brown in seinem Haus in Texas heilen. Er liebt Tita und will sie heiraten. Sie willigt ein trotz ihrer fehlenden Gefühle für diesen Mann, bei dem sie sich aber Frieden und Sicherheit verspricht. Die inzwischen verstorbene Mutter wird aufgebahrt, unter den Trauernden sind Pedro und Rosaura mit ihrer neuen Tochter Esperanza. In einer Kassette entdeckt Rosaura ein Tagebuch ihrer Mutter, welches ihre Liebe zu einem Mann namens José enthüllt, doch bestimmten die Eltern eine Heirat mit Juan de la Garza, Titas Vater. Die Liebenden wollten fliehen, doch Juan wird von Elenas Brüdern getötet. Dr. John gibt seine Verlobung mit Tita bekannt, aber Pedro erklärt ihr seine unverbrüchliche Liebe. Beider leidenschaftliche Verbindung endet in einer schrecklichen Vision – dem Erscheinen von Elenas Geist. Tita offenbart Dr. John ihre anhaltende Liebe zu Pedro und gibt ihm den Ring zurück.

Rosauras gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr, verursacht durch ihre Eifersucht. Ihre Tochter Esperanza, die mit Johns Sohn Alex scherzt, ruft sie gebieterisch zu sich und wiederholt damit das Verhalten ihrer Mutter. Bald hält Pedro seine tote Frau im Arm. 20 Jahre wird eine weitere Hochzeit gefeiert – die von Esperanza und Alex. Endlich sind die Familien in Liebe vereint.

Für diese vielschichtige Saga erdachte Christopher Wheeldon eine facettenreiche Tanzsprache, die ihre starke Wirkung ebenso aus den intimen Momenten der Protagonisten bezieht wie aus mitreißenden Gruppenszenen. Tita und Pedro tanzen am Ende einen neoklassischen Pas de deux von ekstatischer Hingabe als apotheotisches Bekenntnis zur Macht der Liebe.

Führende Solisten der Compagnie verzeichnet die Besetzungsliste. An ihrer Spitze zwei Principals: Francesca Hayward als Tita und Marcelino Sambé als Pedro. Die in Kenia geborene Britin und der Portugiese sind längst das neue Traumpaar in London. Beider Tanzduos sind aufgeladen von überschäumendem Temperament und erotischer Leidenschaft. Sambé ist ein Ausbund an Vitalität und jugendlichem Übermut, hinreißend in den fulminanten Sprüngen und virtuosen Hebefiguren. Hayward ist bezaubernd und anmutig, aber sie vermag auch den. Schmerz und die Trauer zu vermitteln, beginnend bei Pedros Hochzeit mit Rosaura, später beim Tod der Mutter und beim leidenschaftlichen Wiedersehen mit Pedro.

Laura Morera ist faszinierend als strenge, hartherzige Mama Elena – fanatisch, unnachgiebig und grausam. Rasant und hocherotisch ist sie in einer Rückblende mit ihrem Geliebten José  (Joseph Sissens von animalischer Sinnlichkeit), grotesk und fast eine Nachfolgerin der Herzkönigin als ihre eigene Geistererscheinung. Matthew Ball als fürsorglicher und großherzig liebender Dr John Brown ist ein Sympathieträger. Wheeldon hat für ihn und Tita zu Beginn des 2. Aktes ein inniges Duett erdacht, das beider Gefühle anschaulich schildert.

Bob Crowleys Ausstattung ist inspiriert von mexikanischer Kunst und Folklore, besitzt Strenge und Abstraktion, aber auch Naivität. Joby Talbots Musik lässt gleichfalls die Einflüsse mexikanischer Musiktradition hören, ist sehr rhythmisch betont und mit viel Schlagwerk instrumentiert. Am Ende rauscht sie hymnisch auf und bezieht auch noch die Gesangssolistin Sian Griffith ein. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt unter Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra mit südländischem Schwung und Temperament. Bernd Hoppe

Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Harold Woetzel ist auch der Autor des Films Marcia Haydée – The Seduction to Danse. Man nennt die 1937 in Niterói geborene und in Rio de Janeiro aufgewachsene Brasilianerin auch „die Maria Callas des Tanzes“. Nach ihrem Studium in London engagierte John Cranko die damals noch unbekannte Tänzerin 1961 nach Stuttgart (trotz des Einspruchs von Generalintendant Walter Erich Schäfer), wo er für sie fast alle großen Rollen seiner Ballette kreierte. Sie wurde zu seiner Muse und Assoluta und später auch seine Nachfolgerin als Intendantin der Compagnie.

Auch andere berühmte Choreografen inspirierte sie mit ihrer Kunst und Persönlichkeit, vor allem John Neumeier, der für sie seine Kameliendame kreierte, die sie 1978 zum triumphalen Erfolg führte, oder Maurice Béjart, der für sie seine Isadora schuf.

Unter den Ballettausschnitten ist gleich der erste eine Rarität – 1985 tanzte Haydée Béjarts Bolero in der deutschen Erstaufführung dieser legendären Choreografie. Es gibt natürlich auch Szenen aus Crankos Klassikern, The Taming of the Shrew oder  Romeo and Juliet, und man sieht zudem einen Ausschnitt aus Dornröschen, ihrer erfolgreichsten eigenen Choreografie. Bei den beliebten Stuttgarter Veranstaltungen Ballett im Park gehört diese Produktion zu den Höhepunkten. Zu Wort kommen Reid Anderson, Egon Madsen, Tamas Detrich, Friedemann Vogel und Alicia Amatriain – also Partner und Weggefährten aus ihren 35 Stuttgarter Jahren.

Auch Einblicke in Haydées Privatleben werden gewährt – ihre 16jährige Beziehung mit Richard Cragun, dem Partner auf der Bühne in vielen Stücken, der sie wegen einer neuen Liebe verließ und dessen Aids-Tod sie zutiefst erschütterte, oder die mit ihrem Ehemann, dem Yoga-Lehrer Günther Schöberl, die schon seit fast 30 Jahren glücklich verläuft. Der gleichfalls vom SWR Fernsehen initiierte Film stammt von 2017 und ist eine willkommene Würdigung der großen Tanzlegende.

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Mit dem dritten Film, Friedemann Vogel – Incarnation of Danse, findet sich ein Beitrag aus der aktuellen Stuttgarter Tanzszene. Er stammt von Katja Trautwein und entstand als Koproduktion des SWR mit der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit der Saison 1998/99 ist Vogel Mitglied der Stuttgarter Compagnie, wo er 2002 zum Ersten Solisten und 2015 auch zum Kammertänzer ernannt wurde. Der Untertitel dieses Streifens lautet „Internationaler Ballett-Superstar“, was sich auf die ausgedehnte Gastspieltätigkeit des Tänzers bezieht, der seit Jahren regelmäßig in den größten Ballettzentren der Welt – Moskau, St. Petersburg, London, Paris, Tokyo – auftritt.

Als erster Ausschnitt wurde Béjarts Bolero gewählt – ein cavallo di battaglia für jeden Superstar der Ballettwelt. Bei einem Gastspiel beim Royal Swedish Ballet  Stockholm, zu dem ihn dessen neuer Ballettdirektor Nicolas Le Riche eingeladen hatte, zeigt er Marcia Haydées Dornröschen-Version. In Tokyo tanzt er mit Alicia Amatriain einen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame im Rahmen des World Ballet Festivals, bei dem er schon Dauergast ist. Auf Einladung von Polina Semionova tritt er beim Berliner Staatsballett in der Gala Polina and Friends auf und tanzt mit der Starballerina einen Pas de deux aus Kenneth MacMillans Manon. Ähnlich berühmt ist Olga Smirnova (die ihr Heimatland inzwischen verlassen hat), mit der Vogel am Bolshoi Ballett einen Pas de deux aus Crankos Onegin interpretiert. Als eine exzentrische Filmchoreografie ist die Arbeit Cadavre Exquis von Guillaume Côté vom Kanadischen Staatsballett Toronto zu sehen. Seit einigen Jahren posiert der Tänzer, ähnlich wie der italienische Star Roberto Bolle, auch für die Modebranche. Für Arbeiten seines Lebensgefährten in der Branche Tanzfotografie steht er Modell und hat mittlerweile sogar Kontakte zur Filmbranche geknüpft. Erhellend ist ein Gespräch mit dem Regisseur Volker Schlöndorff.

In vielen Posen, zum Teil verfremdet als grafische Puzzles oder als slow motion-Aufnahmen, wird die Schönheit seines Körpers herausgestellt, in vielen Figuren seine exquisite Technik. Befremdlich wirken die vielen Tanzszenen auf Straßen, Plätzen, Treppen und Dächern, an Seen und in Gärten sowie vor internationalen Sehenswürdigkeiten vom Eiffelturm bis zum Brandenburger Tor. Bernd Hoppe

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Aus dem Jahre 2012 stammt ein Schuber mit zwei DVDs aus dem Royal Opera House London, den OPUS ARTE jetzt neu aufgelegt hat. An Evening with The Royal Ballet and The Royal Opera ist die Ausgabe betitelt, dürfte also für Liebhaber beider Gattungen von Interesse sein (OA 1261 BD).

Die Ballett-DVD präsentiert Höhepunkte aus dem Repertoire des Royal Ballet, beginnend mit der Ballszene aus Prokofjevs Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan. Carlos Acosta und Tamara Rojo sind die Protagonisten, die später noch die Balkonszene aus dieser Produktion zeigen. Carlos Acosta brilliert, gemeinsam mit seiner Partnerin Leanne Benjamin, auch im Pas de deux Voices of Spring auf Musik von Johann Strauß II – ein virtuoses Glanzstück von Frederick Ashton, welches das Paar sprungstark und tempobetont absolviert.  Und der gefeierte Principal der Compagnie glänzt auch als Colas  in La Fille mal gardée im Pas de deux mit Marianela Nuñez und als Franz in Coppélia – beides Zeugnisse seiner enormen Vielseitigkeit. Nicht fehlen im Programm darf Alina Cojocaru – eine Assoluta, die noch heute aktiv ist und oft beim Hamburg Ballett auftritt. Hier ist sie in ihren Glanzrollen als Prinzessin Aurora mit dem fordernden Rosen-Adagio in The Sleeping Beauty und als ätherische Giselle mit Johan Kobburg als Albrecht im Pas de deux des 2. Aktes zu sehen – Beispiele von singulärer Tanzkunst. Eine gleichfalls bedeutende Ballerina war Darcey Bussell, die heute als charmanter und sachkundiger Host in TV-Übertragungen des Royal Ballet tätig ist. Sie zelebriert in aristokratischer Manier gemeinsam mit dem Startänzer Roberto Bolle einen Pas de deux aus Sylvia in der Choreografie von Frederick Ashton. Zwei Tschaikowsky-Klassiker in den Choreografien von Lev Ivanov bilden den Ausklang des Programms: der Pas de deux Zuckerfee/Prinz aus The Nutcracker mit Miyako Yoshida und Steven McRae sowie die Schluss-Szene aus Swan Lake mit Marianela Nuñez, Thiago Soares und Christopher Saunders. Beide Szenen demonstrieren eindrücklich das hohe Niveau des Ensembles mit seinen überragenden Solisten. Bernd Hoppe

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In der internationalen Tanzszene hat der Name Jean-Christophe Maillot einen ganz besonderen Klang, zählt seine Compagnie Les Ballets de Monte-Carlo, welche er seit 1993 leitet, doch weltweit zu den renommiertesten und innovativsten Ensembles. Jetzt legt die UNITEL EDITION seine Choreografie von Léo Delibes’ Ballett Coppelia auf Blu-ray Disc vor (808804). Die Aufzeichnung erfolgte 2022 im Grimaldi Forum – Salle des Princes von Monte-Carlo.

Das Stück basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und erlebte seine Weltpremiere 1870 in Paris in der Choreographie von Saint-Léon. Weitere bekannte Deutungen stammen von Marius Petipa, der seine Fassung   an mehreren Bühnen herausbrachte, Ninette De Valois (für das Royal Ballet London) und George Balanchine (für das NYC Ballet). Die Besonderheit von Maillots Version, betitelt Coppél-I.A., liegt in ihrer futuristischen Anlage. Coppelia ist bei ihm keine mechanische Puppe, sondern ein außerirdisches Weltraumwesen. Bertrand Maillot, der Bruder des Choreografen, arrangierte die Musik unter Verwendung synthetischer Klänge, was ihr einen zeitgenössischen Anstrich verlieh. Ausstatterin Aimée Moreni hat der Titelfigur ein Ganzkörpertrikot mit einzelnen Lederriemen und Metallelementen verordnet. Der Prologue zeigt ihre Geburt mit ihrem Schöpfer Coppélius, den Matèj Urban als Outlaw zeichnet. Seine Kleidung ist zerschlissen und trägt die Spuren des Straßenlebens. Dem von ihm erschaffenen Wesen ist er gänzlich verfallen, betet es in trancehafter Steigerung an und ist untröstlich über dessen mangelndes Interesse. Phänomenal setzt Lou Beyne die vom Choreografen erdachten abgehackten, zuckenden und schüttelnden Bewegungen für die künstliche Frau um. Das abstrakte Einheitsbühnenbild, von Maillot und Samuel Thery lediglich in unterschiedliche Lichtstimmungen getaucht, könnte die Linse eines Fotoapparates darstellen.

Die Eingangsszene des 1. Aktes spielt am Hochzeitstag von Swanilda und Franz, ganz in Weiß gekleidet, inmitten ihrer Freunde, die mit ungemein rasanten, temporeichen Tänzen aufwarten. Anna Blackwell und Simone Tribuna geben das junge Paar in jugendlich-vitaler Ausgelassenheit mit wirbelnden Drehungen und bravourösen Sprüngen. Coppélius führt sein Geschöpf in spektakulärer Glitzerrobe und Strahlenkranz beim Fest ein, womit er Franz’ reges Interesse an der schönen Unbekannten erweckt. Er wird später Coppélius bis in dessen Werkstatt folgen und seine Hochzeit mit Swanilda absagen, so sehr ist er Coppél-I.A. verfallen. In der Werkstatt finden sich mehrere Androiden, die von Coppélius’ gescheiterten Versuchen, eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, künden. Swanilda erscheint mit ihren Freunden in der Werkstatt und tauscht ihr Kleid gegen das von Coppél-I.A. aus. In dieser Verkleidung täuscht sie nicht nur Coppélius, der ein furioses Solo hat, welches dem des Rotbart in Schwanensee nicht nachsteht, sondern auch Franz. Am Ende aber ist zwischen den jungen Leuten alles wieder im Lot und es wird doch geheiratet. Bernd Hoppe

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NAXOS setzt seine verdienstvolle Reihe mit Ballettmusiken fort. Neu erschienen ist eine Platte mit dem Titel Dances and Ballet Music von Camille Saint-Saëns (8.574463), die Jun Märkl mit dem Residentie Orkest The Hague im März/April 2022 im niederländischen Den Haag aufgenommen hat.  Eine Naxos-CD vereint eine Sammlung von Gelegenheitsarbeiten des Komponisten Saint-Saens und zwei Ausschnitten aus seinem Hauptwerk Samson et Dalila. Das Programm eröffnet das sechsteilige Ballett des 3. Aktes aus Ètienne Marcel. Die 1879 in Lyon uraufgeführte Oper (als vierte von insgesamt 13) war ein Versuch, die französische Grand opéra wieder zu beleben. Einer lebhaften Introduktion schließt sich die wiegende Musette guerrière an, der eine sanfte Pavane folgt. Eine elegante Valse und der rhythmisch betonte Entrée des  Bohémiens et Bohémiennes beschließen die Suite. Schon hier zeigt sich die Vielfalt der Musik, welcher Dirigent und Orchester mit großem Einfühlungsvermögen und einem an Esprit reichen Spiel gerecht werden.

Auch der 1883 an der Pariser Opéra erstmals gezeigte Henry VIII diente zur Etablierung des Genres der Grand opéra. Daraus gibt es mehrere Ausschnitte – zum einen aus dem 2. bis 4. Akt in origineller melodischer Erfindung und sehr reizvoller Instrumentierung und danach das Divertissement „Fete populaire“. Abwechslungsreiche Szenen, wie eine Idylle écossaise, die Fête du houblon, eine Danse de la gipsy und eine irische Gigue garantieren ein hohes Maß an Unterhaltung. Zwischen diesen beiden Abschnitten gibt es mit den vier Airs de ballet aus Parysatis eine veritable Rarität. Mit ihren kontrastierenden Tempo-Bezeichnungen bieten sie dem Orchester Gelegenheit für ein an Farben und Stimmungen vielfältiges Spiel.

Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt der Anthologie sind die zwei Szenen aus der 1877 uraufgeführten Oper Samson et Dalila – die Danse des prêtresses de Dagon und der Bacchanale. Letzterer zählt zu den unvergänglichen Hits des Komponisten und wird hier mit opulenter Klangpracht und orientalischer Sinnlichkeit geboten.

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Schon im August 2018 entstand für NAXOS in Malmö die Aufnahme des 3. Aktes von Camille Saint-Saëns’ Ascanio, ergänzt um Ouvertures und Vorspiele. Hier spielt, wieder unter Leitung von Jun Märkl, das Malmö Symphony Orchestra (8.574033).

Ascanio wurde 1890 in der Pariser Opéra uraufgeführt, dann noch einmal 1921 am selben Ort anlässlich des Todes seines Schöpfers gezeigt und ist seither der Vergessenheit anheim gefallen. Im 3. Akt der Oper entfaltet sich ein großes Divertissement in den Gärten von Fontainebleau, welches der Komponist Reynaldo Hahn als „Triumph von Geschmack und Eleganz“ pries. Die elf Teile bedienen mythologische Themen. Unter den Göttern und Göttinnen finden sich Venus, Juno und Pallas Athene. Den Auftritt der Diana begleiten Dryaden und Najaden. Bacchus ist umgeben von Bacchanten. Nicht fehlen dürfen Amor und Psyche, dem Liebesgott ist sogar eine eigene Variation gewidmet, deren flirrende Bläser-Töne eine reizvolle Stimmung einbringen. Am Ende des Programms gibt es dieses Stück sogar in einer Alternativ-Version.

Pompös entfaltet sich zu Beginn „L’Entrée du Maître des Jeux“, während die folgende Danse ancienne mit Vénus, Junon und Pallas einen heiter beschwingten Duktus hat. Auch die Gavotte mit Diane ist spielerisch. Das Bacchanale beginnt in stampfendem Rhythmus und geht dann in einen wilden orientalischen Taumel über. In seiner Ekstase ähnelt es dem berühmten Tanz aus dem Samson. Einen lyrischen Kontrast bringt das träumerische „L’Amour fait apparaître Psyché“ ein. Das schwelgerische Finale ist ein beschwingter Kehraus. Mit feinen Valeurs und einer reichen Palette von Stimmungen malt das Orchester die unterschiedlichen Sätze eindrucksvoll aus.

Die Ouvertures aus verschiedenen Werken (Les Barbares, La Jota aragonese, Andromaque, La Princesse jaune) bieten neben ihren klanglichen Idiomen auch Gelegenheit, Bekanntschaft mit unbekannten französischen Werken zu machen. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: The Dante Project aus London. OPUS ARTE erweitert ihre bedeutende Reihe von Produktionen des Royal Ballet London um das neue Stück des Resident Choreographer Wayne McGregor. Es trägt den Titel The Dante Project und entstand im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Uraufführung im Oktober 2021 in einer Koproduktion mit dem Ballett der Pariser Oper erschien nun als Blue-ray Disc (OABD7278D).

Die Bedeutsamkeit des Werkes resultiert auch aus dem Beitrag des Komponisten Thomas Adès, der dafür eine spannungsreiche, vielfältige Musik schuf. Sie tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch und französisch inspiriertem Esprit. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean, die vorwiegend abstrakt arbeitet, lieferte für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer zeigt. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Lichtstimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die einzelnen Szenen sind sogar schwierig zu dechiffrieren und den einzelnen Kapiteln der Divina Commèdia zuzuordnen. Wie aber Musik und Tanz eine Einheit bilden und sich einander bedingen, ist von enormer Faszination. Die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der seit 27 Jahren der Company angehört und schon lange mit dem Choreografen zusammen arbeitet. Als Principal hat er den Mayerling von Kenneth MacMillan und den Leontes in Christopher Wheeldons The Winter’s Tale getanzt. Die Rolle des Dante betrachtet er als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere und gleichzeitig als Abschluss seines Wirkens beim Royal Ballet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt der junge Marcelino Sambé, ein neuer Star des Ensembles, als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Bemerkenswert ist, dass viele Mitglieder der Gruppe neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen haben und dabei glänzende Figur machen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Sie gehört zu den führenden Mitgliedern der Company. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sah man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Hommage bei Unitel: 2023 jährt sich John Crankos Todestag zum 50. Mal. Der in Südafrika geborene Choreograf wurde 1961 zum Stuttgarter Ballettdirektor berufen und führte die Compagnie in kürzester Zeit zur Weltspitze. Der Durchbruch gelang 1962 mit Romeo und Julia – von Unitel in einer Aufführung von 2017 veröffentlicht und auch auf diesen Seiten besprochen. Danach folgten weitere große Handlungsballette, wie Onegin (den Unitel unlängst in einer Aufführung ebenfalls von 2017 herausbrachte und der gleichfalls hier rezensiert wurde) sowie Der Widerspenstigen Zähmung. Jetzt erscheint die Ballettkomödie nach Shakespeares berühmten Stück unter dem Originaltitel The Taming of the Shrew als Blu-ray Disc (808204) bei derselben Firma. Die Aufführungen für die Veröffentlichung wurden im Mai 2022 in Stuttgart aufgezeichnet. Sie ist für alle Ballettfreunde, insbesondere Cranko-Verehrer, eine willkommene Bereicherung des auf Bilddokumenten verfügbaren Oeuvres des Choreografen. Denn bislang existierte nur ein Fernsehmitschnitt von 1971 (in bescheidener technischer Qualität) mit der legendären Besetzung der Uraufführung – Marcia Haydée als Katherina, Richard Cragun als Petruchio und Birgit Keil als Bianca.

Jetzt nehmen aktuelle Stars des Ensembles diese Rollen wahr. Elisa Badenes, die schon als empfindsame Julia bezaubert hatte, zeigt nun als Katherina eine ganz andere Facette ihrer Persönlichkeit. Fulminant ihr Auftritt, wenn sie wie ein Wirbelwind aggressiv, furios in den Pirouetten und Sprüngen, hereinstampft. Auch ihre erste Begegnung mit Petruchio geht klar zu ihren Gunsten aus. Für den Petruchio hätte es keine bessere Besetzung geben können als Jason Reilly, der nach seinem noblen Gremin im Onegin nun gleichfalls einen vollkommen konträren Charakter zu porträtieren hat. In einer Taverne imponiert er bei seinem Entrée mit übermütig prahlerischem Macho-Gehabe, natürlich garniert mit bravouröser Technik. Der erste Pas de deux mit Katherina, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, ist geradezu eine Kampfszene zwischen beiden. Leise Momente der Annäherung unterbricht sie stets mit spöttischen Reaktionen und höhnischer Verachtung. Vor der Heirat hat er ein Solo als betrunkener Bräutigam, wo er gleichermaßen als Komödiant wie als virtuoser Ballerino gefordert ist.

Katherinas liebenswerte Schwester Bianca, die von dem Gecken Hortensio (skurril: Fabio Adoriso), dem Studenten Lucentio (jungmännlich-verliebt, doch leicht effeminiert: Martì Fernández Paixà) und dem alten Gremio (urkomisch: Alessandro Giaquinto) angebetet  wird, ist in der Verkörperung von Veronika Verterich ein anmutiges Geschöpf – zierlich, leichtfüßig und bezaubernd. Köstlich ist das Aufeinandertreffen mit ihrer Schwester, wenn Katherina wie eine Furie hereinstürmt und ihr eine Blume entwendet.

Das Corps de ballet kann vor allem in der turbulenten Hochzeitsszene am Ende des 1. Aktes sowie in den belebten Karnevalsbildern und bei Biancas Hochzeit im 2. Akt brillieren. Dieser beginnt mit der Reise des jung vermählten Paares in Petruchios Haus, wo er Katherina durch seine Diener ärgern und sie zudem hungern und frieren lässt. Hier sieht man den zweiten Pas de deux des Paares, nun in schon stärkerer Zuwendung, denn sie überzeugt sich mittlerweile von seinem liebenswerten Naturell. Schwierige Hebe- und Schleuderfiguren belegen den Ausnahmestatus des Balletts, das in seinen technischen Anforderungen sogar noch den Onegin übertrifft. Katherina und Petruchio haben sogar noch einen Pas de deux mehr zu zeigen als Tatjana und Onegin, der bei Biancas Hochzeit platziert und nicht weniger anspruchsvoll ist. Im mitreißenden Finale hat jeder der beiden Protagonisten noch ein bravouröses Solo zu absolvieren, denen die Jubelstürme des Publikums folgen.

Die Ausstattung von Elisabeth Dalton in rostroter Renaissance-Architektur mit einer Empore (was an Crankos Romeo erinnert) ist werkdienlich und elegant. Die Kostüme sind bis auf die des Protagonistenpaares nahe der Karikatur, charakterisieren die Personen aber liebevoll und mit Witz.

Die Musik von Kurt-Heinz Stolze, der Sonaten für Cembalo von Domenico Scarlatti arrangiert hatte, ist bei Wolfgang Heinz am Pult des Württembergischen Staatsorchesters in den besten Händen. Denn unter seiner Leitung hat sie Esprit, Dynamik und Tempo. Der Dirigent scheut weder harsche Akkorde noch das Gefühl, was wichtig ist für die Tanzduette zwischen Katherina und Petruchio.

Der Bonus hält eine Konversation zwischen den Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Dietrich und Reid Anderson sowie dem Stellvertretenden Musikdirektor Wolfgang Heinz über dieses Ballett fest – seine Entstehung im Probensaal, die Anforderungen an die Protagonisten, die triumphale Aufnahme beim Publikum (in Stuttgart und beim Gastspiel in New York). Per Video wird Marcia Haydée aus Berlin eingespielt, die gerade mit dem Staatsballett ihr Dornröschen einstudiert und nun lebhaft über die Kreation ihrer Katherina berichtet.

Mit dieser Veröffentlichung, mit der nun die drei großen Handlungsballette von John Cranko auf DVD vorliegen, hat Unitel (in Kooperation mit arte, dem SWR und NHK) eine Großtat vollbracht. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Muntagirov at his best. Von Zeit zu Zeit würdigt OPUS ARTE herausragende Tänzer mit der Veröffentlichung eines Schubers von mehreren DVDs. Jüngstes Beispiel ist Vadim Muntagirov, Principal Dancer beim Royal Ballet London seit 2014, wo er viele der klassischen Ballerino-Rollen interpretiert hat und dabei Partner der gefeierten Startänzerinnen der Compagnie war. Mit zahlreichen Preisen geehrt, auch dem prestigereichen Benois de la Danse, ist der Russe eine Ausnahmeerscheinung in der aktuellen Tanzwelt, vor allem wegen seiner exzellenten Technik, die derzeit kaum Vergleiche hat.

Der Schuber „ The Art of Vadim Muntagirov“ mit vier DVDs (OA13598D) hält vier Auftritte des Tänzers zwischen 2016 und 19 fest, beginnend mit dem Albrecht in Adolphe Adams Giselle in der Choreographie von Marius Petipa/Jean Coralli/Jules Perrot. Die Produktion ist ein Juwel im Repertoire des Royal Ballet London. Peter Wrights Produktion (mit eigenen Zusätzen) wurde nach ihrer Erstaufführung 1985 bereits mehrfach auf DVD veröffentlicht. Die erste Ausgabe stammt aus dem Jahre 2006, in der Marianela Nuñez noch die Myrtha tanzte – in der Wiederaufnahme am 5. April 2016 wurde ihr nun die Titelpartie  anvertraut. Die argentinische Ausnahmetänzerin präsentiert sich damit in einer weiteren Paraderolle. Im Auftritt lebhaft und kokett, bravourös auf Spitze in der Diagonalen und in den wirbelnden Pirouetten, zeigt sich bei Giselles Erkennen von Albrechts Betrug und in der Wahnsinnsszene die erfahrene Tänzerin mit ihrer mimischen und gestischen Ausdruckskraft. Mirakulös das Erwachen im nächtlichen Waldbild, die wie in slow motion zelebrierten Figuren, die fliehenden Arabesquen, die überirdische Schwerelosigkeit. Vadim Muntagirov fehlt vielleicht die aristokratische Aura für den Herzog, aber tänzerisch ist er erstklassig mit stupenden battements und weiten grand jetés. Im 2. Akt gewinnt er in seinem Schmerz an romantischer Aura und ist tänzerisch wiederum über jede Kritik erhaben.

Als Myrtha sieht man die strenge, in ihrer Eiseskälte geradezu erstarrte Itziar Mendizabel, Bennet Gartside als männlich-reifen Hilarion sowie die beiden ätherischen Solo-Wilis Olivia Cowley und Beatriz Stix-Brunell. John MacFarlanes stimmige Ausstattung mit ihren wunderbaren Sepia- und Rosttönen sowie den aquarellierten Prospekten ist eine Augenweide. Barry Wordsworth dirigiert das Orchestra of the Royal Opera House und verhilft der Aufführung auch musikalisch zum Erfolg.

Ein Jahr später, am 28. 2. 2017, zeichnete OPUS ARTE eine Aufführung von Tschaikowskys The Sleeping Beauty auf. Die Choreografie von Marius Petipa mit Zusätzen von Frederick Ashton, Anthony Dowell und Christopher Wheeldon hatte 2006 ihre Premiere, auch nach mehr als zehn Jahren hat sie nichts von ihrem Zauber eingebüßt, was auch ein Verdienst von Oliver Messels atmosphärischer Ausstattung (mit Ergänzungen von Peter Farmer) ist.

Wieder ist das Traumpaar aus Giselle in den zentralen Rollen zu erleben. Marianela Nuñez ist eine bezaubernde Aurora, von jugendlicher Anmut und Eleganz. Die schwierigen Balancen im Rosen-Adagio meistert sie souverän, ebenso die anspruchsvollen Variationen. Mit Vadim Muntagirov als Prinz Florimund, der einen bestechenden Auftritt bei seinem Solo im Jagdbild hat, führt sie den Grand pas de deux im Hochzeitsbild in aristokratischer Manier zum Höhepunkt der Aufführung. Zum Tanzfest beim Divertissement im letzten Akt tragen vor allem Akane Takade als Princess Florine und Alexander Campbell als The Bluebird bei. Mit der festlichen  Apothéose beendet Koen Kessels mit dem Orchestra of the Royal Opera House eine glanzvolle Aufführung.

Kenneth MacMillans Manon zählt zu den wichtigsten im 20. Jahrhundert geschaffenen Handlungsballetten. Die Uraufführung fand 1974 beim Royal Ballet London statt. Von dieser Inszenierung in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis existieren bereits zwei Aufführungen auf DVD – 2018 kam eine weitere Aufzeichnung, was den Stellenwert dieses Werkes beim Royal Ballet unterstreicht. Sie erfolgte vor allem deshalb, um Vadim Muntagirovs Interpretation des Des Grieux festzuhalten. Seine Manon ist die junge Sarah Lamb, der man die mondäne Kurtiane weniger zutraut, eher das jugendliche Mädchen, das ins Kloster geschickt wird. Und sie ist in der Tat bezaubernd und anmutig in ihrem ersten Auftritt, schwebend leicht im Tanz mit ihrem Bruder Lescaut (viril: Ryoichi Hirano) und entzückend in der Begegnung mit Des Grieux. Muntagirov beginnt mit einem anspruchsvollen Solo von fließender Eleganz und dann folgt der erste von den vier großen Pas de deux der Choreografie, die deren singuläre Bedeutung ausmachen. Lamb und Muntagirov sind ein ideales Paar – jede Figur, ob Drehung oder Hebung, funktioniert perfekt. Die Vollkommenheit im Zusammenspiel ist besonders wichtig beim zweiten Tanzduo, dem Bedroom’ pas de deux, im Liebesnest des Paares, wo sie ihm die Schreibfeder aus der Hand nimmt und zu einem verführerischern Tanz animiert, der in seiner Sinnlichkeit ohne Vergleich ist. Beim Erscheinen auf der Abendgesellschaft in Madames Hotel particulier überrascht Lamb mit einer mondänen Aura, die man von ihr nicht erwartet hätte. Ihr Solo ist aufreizend und ganz für Des Grieux bestimmt. Muntagirov zeichnet ihn, der Manon nach der Trennung erstmals wieder sieht, verzweifelt und sehnsuchtsvoll. Sein Solo, in dem er Manon um Rückkehr zu ihm  bittet, ist ein existentieller Hilfeschrei – technisch in Vollendung ausgeführt. Wieder vereint in der Wohnung von Des Grieux, findet sich das Paar in einem innigen Pas de deux, der beider neu erwachte Liebe anschaulich zeigt. Aber kokett weist sie auf ihre Juwelen – ihr gespaltenes Ich zwischen Glück und Reichtum führt in die Katastrophe. Deportiert in die Sümpfe von Louisiana, hat Manon vor ihrem Tod einen letzten Pas de deux mit ihrem Geliebten, der zu den anspruchsvollsten der gesamten Ballettliteratur zählt. In seinem geradezu artistischen physischen Anspruch mit spektakulären Hebungen und Würfen sowie der existentiellen Ausdrucksdimension hat er kaum einen Vergleich. Lamb und Muntagirov krönen ihre Interpretation mit diesem Atem beraubenden Finale. Der russische Tänzer findet hier zu einer ungeahnten Dramatik und Leidenschaft.

Das Parfum von Massenets Musik lässt Martin Yates, der die Musik auch arrangierte, mit dem Orchestra of the Royal Opera House gebührend duften und schwelgerisch aufrauschen, was die Aufführung auch zu einem sinnlichen Hörerlebnis macht.

Jüngstes Zeugnis ist Léo Delibes’ Coppélia – ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Alina Cojocaru and Vadim Muntagirov in the roles of Medora and Conrad of Le Corsaire produced by the English National Ballet/ Wikipedia

In neuer Besetzung kehrte die Produktion 2019 ins Repertoire zurück und bezog ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei Principals:  Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der Mitschnitt gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel. Der russische Tänzer gibt mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Musik mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung. Bernd Hoppe

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Eine Besonderheit für Ballettomanen. BelAir hat eine (sehr) besondere Blu-ray Disc herausgebracht mit dem Titel Opéra de Paris – une saison (très) particulière (BAC496). Der Film von Priscilla Pizzato beschreibt die Rückkehr der Tänzerinnen und Tänzer in die Probensäle und auf die Bühnen des Palais Garnier und der Opéra Bastille nach monatelanger Abwesenheit im Pandemie-Jahr 2020. Geprobt wird Rudolf Nurejews legendäre Choreografie von La Bayadère von 1992, mit der die Compagnie ihr Comeback feiern will. Gefordert für diese Produktion sind nicht weniger als 90 Tänzer.

Wie alle Theater in Frankreich mussten auch die Opernhäuser in Paris im März 2020 ihre Pforten schließen. Nach einer Proben- und Aufführungspause von drei Monaten konnte das Ballettensemble am 15. Juni in den berühmten Probensaal unter der Coupole (Kuppel) der Opéra Garnier zurückkehren – niemals in seiner traditionsreichen  Geschichte hatte es eine derart lang Pause überstehen müssen. Unter Anleitung mehrerer Ballettmeister und der Directrice de la Danse Aurélie Dupont beginnen die Tänzer mit den Aufwärmübungen (préparations) und dem Technik-Training.

Zu sehen sind der Premier Danseur Paul Marque, die Danseuse Ètoile Amandine Albisson, der Danseur Ètoile Mathieu Ganio und der Danseur Ètoile Germain Louvet, die über die besonderen Herausforderungen der langen Probenpause und die Schwierigkeiten des Wiederbeginns berichten. Am 15. Oktober konnten die Proben für die Wiederaufnahme der Bayadère beginnen. Vor allem der 3. Akt mit dem Schattenreich („Les Ombres“) ist für das Corps de Ballet eine enorme Anforderung, da 32 Tänzerinnen mit unzähligen Arabesquen scheinbar zu einer einzigen Figur verschmelzen müssen. Danach begann die Probenarbeit mit den Solisten: Der Danseur Ètoile Hugo Marchand versucht sich mit Erfolg an der extrem schwierigen Variation des Solor im Schattenreich, Amandine Albisson probt die Nikiya und deren Solo vor dem Biss der Schlange. Am 19. November fand die erste Probe mit dem gesamten Ensemble statt. Hier ist die Danseuse Ètoile Dorothée Gilbert als Nikiya zu sehen, Paul Marque gibt das Goldene Idol. Am 27. November begannen die Proben auf der Bühne der Opéra Bastille. Hier kommen Marchand und die Danseuse Ètoile Ludmila Pagliero zum Einsatz. Am 4. Dezember findet die Generalprobe in Kostümen und mit Orchester statt. Der Danseur Ètoile Mathias Heymann spricht über die psychische Belastung dieses Abends, aber auch die Vorfreude auf die Premiere mit einem gefüllten Saal und dem Applaus des Publikums. Am 11. Dezember, vier Tage vor dem mit Spannung erwarteten Ereignis, erfahren die Tänzer, dass die Theater in Frankreich nicht öffnen dürfen und alle Vorstellungen annulliert sind. Die Aufführung findet ohne Zuschauer statt und wird live übertragen mit einer unterschiedlichen Besetzung der Danseurs Ètoiles pro Akt. Einer davon, Francesco Mura, macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung.

Die Aufführung ohne Publikum hat am Ende noch einen bewegenden Moment, denn Aurélie Dupont ernennt Paul Marque nach seiner Interpretation des Goldenen Idols zum Danseur Ètoile – stets ein Höhepunkt in der Karriere eines Tänzers. Am 10. Juni 2021, nach einer Schließzeit von 18 Monaten, öffnet die Opéra Bastille erneut ihre Pforten – und diesmal mit Publikum für die Wiederaufnahme von Rudolf Nurejews Roméo et Juiette. Hier tanzt Marque den Roméo und damit seine erste Hauptrolle als neuer Etoile. Und am Ende der Vorstellung wiederholt sich der feierliche Moment einer Ernennung zum Star, denn Aurélie Dupont macht die Juliette des Abends, Sae Eun Park, zur neuen Danseuse Ètoile.

Ein Bonus der Ausgabe bringt ein Interview mit Aurélie Dupont sowie Ausschnitte von den Proben zur Bayadère mit Hugo Marchand, Amandine Albisson, Mathias Heymann und der Ballettmeisterin Clotilde Vayer. Bernd Hoppe