Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Nur bedingt französisch

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Für die Italiener ist sie L’altra Lucia, für alle anderen Lucie de Lammermoor, die 1839 in Paris uraufgeführt wurde, nachdem  vier Jahre zuvor die italienische Lucia in Neapel zum ersten Mal gespielt  worden war, die man 1837 auch in Paris hatte bewundern können. Bei Lucie de Lammermoor handelt es sich um eine vereinfachte und leicht verkürzte Fassung der Lucia, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein könnte, dass es sich bei aufführenden Théâtre de la Renaissance um ein relativ kleines Haus handelte, das wohl auch nicht einmal das sonst obligatorische Ballett zu stemmen konnte. Die augenscheinlichsten Veränderungen gegenüber Lucia sind das Auftreten des Arthur bereits im ersten Akt, der Wegfall der Alisa  und der von Regnava nel silenzio zugunsten der Cavatine aus Rosamonda d‘Inghilterra , mit der auch die düstere Erzählung vom Ende der Ahnin entschwand. Allerdings hatte die Lucia von 1837, Fanny Persiani, bereits zugunsten der Rosamonda votiert. Eine weitere Änderung ist beim Charakter des Raimondo festzustellen, der als ausgemachter Fiesling wenn auch mit stark gekürzter Rolle erscheint, so dass Lucie anders als Lucia jeglichen Beistands entbehrt, von Anfang an vom Wahnsinn bedroht erscheint.

Es ist ein Verdienst der alljährlichen Festwochen im Herbst in der Donizetti-Stadt Bergamo, auch immer ein unbekanntes, vergessenes oder sonst nicht populäres Werk des Sohnes der Stadt aufzuführen und zumindest teilweise jungen Kräften anzuvertrauen. 2023 war das Lucie de Lammermoor mit dem Orchestra Gli Originali, die , wie der Name verrät, auf alten Instrumenten spielen. Auch der Chor, Coro dell‘ Accademia alla Scala steht in dieser Tradition. Ersteres stellt unter  Pierre Dumoussaud die Kontraste im mit dem der italienischen Fassung nicht nur ähnlichen Sinfonia  klar heraus, klingt also eigentlich sehr italienisch, während der Chor in der Einstudierung von Salvo Sgrò sich redlich mit dem Französischen müht. Musikalisch lässt er kaum Wünsche offen.

Auf jeden Fall vorzuziehen ist die nur akustische Aufnahme (als Soundtrack der vorangegagenen DVD), denn die wenigen Fotos im Booklet zeigen Gräuliches wie das Sterben Egards in einem Autowrack oder eine Lucie, die nicht nur den Bräutigam, sondern gleich die ganze Hochzeitsgesellschaft unter dem Messer gehabt zu haben scheint, so sehr ist sie über und über mit Blut bedeckt. Auch scheint es sich in Bergamo nicht um eine Familienfehde, sondern um einen Rassenkonflikt zu handeln.

Die Sängerin der Lucie, Caterina Sala soll sich zwei Jahre lang mit dem Studium ihrer Rolle befasst haben. Umso tragischer, dass sie ausgerechnet bei der Premiere indisponiert war, die Vorstellung abbrechen und eine Kollegin von der Seite her weitersingen musste. Die Aufnahme stammt vom 1. Dezember 2023, als sich der Sopran der Aufgabe in besserer, wenn auch nicht optimaler Verfassung stellen konnte.  Immerhin klingt die Stimme jung, frisch, sehr empfindsam und nach der erzwungenen Eheschließung  wie gefrostet, manchmal angestrengt und spitzig, aber auch sich überaus vielen Verzierungen stellend, sie teilweise, so auch die nicht von Donizetti stammende, sehr anspruchsvolle Kadenz  meisternd und insgesamt sicherlich so interessant, dass man sich auf weitere Auftritte von ihr freuen kann. Der Edgar von Patrick Kabongo singt mit einem kräftigen Tenor ohne Glanz, ständig  a squarciagola und mit anfechtbarer Diktion. Einen markanten Bariton setzt Vito Priante für den Henri ein, eine sichere Höhe und gute Phrasierung. Arthur ist als einziger Francophoner Julien Henric und hört sich wesentlich edler und empfindsamer an als der Gilbert von David Astorga. Wenig zu singen hat der Raimond von Roberto Lorenzi, aber was man hört, das kann durch schönes Timbre und Präsenz überzeugen.

Die CDs vermitteln eine interessante Erfahrung und die Begegnung mit einer noch interessanteren Sängerin , um zu einem Erlebnis einer französischen Oper zu werden, sind die Mitwirkenden nicht einheitlich und intensiv genug  in diesem Metier geschult (Naxos 8.660578-79). Ingrid Wanja    

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Wobei man ehrlicherweiswe auch auf die beiden wirklich idiomatischer besetzten Aufnahmen mit   Roberto Alagna, Ludovic Tézier und Patrzia Ciofi als DVD  und auf die darauf folgende mit Alagna, Tézier und Natalie Dessay als CD beide bei EMI/Warner hinweisen muss; aus vertraglichen Gründen konnte die Dessay in Lyon nicht auftreten, die Aufnahme wurde auch im Fernsehen gezeigt. G. H.

Senza Rancore

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Dem altehrwürdigen und frisch modernen Bologneser Musikverlag Bongiovanni, der sich bescheiden immer noch als 70jährig ausgibt, obwohl er bereits die 100 Lebensjahre überschritten hat, ist der Bass Carlo Colombara seit Beginn seiner Karriere verbunden, kamen doch hier erste Aufnahmen mit ihm heraus. Nun hat er, seine Bühnenlaufbahn hat er gerade beendet,  auch seine Autobiographie hier verlegen lassen, gemeinsam mit Rino Alessi mit dem Untertitel In giro per il mondo, libero come il canto, was heißt Unterwegs in der Welt, frei wie der Gesang. Mitautor und Sänger wechseln einander ab, besonders wenn es persönlich wird, von Freundschaften und weniger guten Beziehungen zu Kollegen berichtet wird, griff der Sänger selbst zur Feder. Nach dem ersten Teil in italienischer Sprache folgt ein zweiter in Englisch mit einem gleichlautenden Text, aber ganz anderen Fotos, die allesamt bisher unveröffentlicht, da aus dem Archiv des Basses stammend, waren. Das Buch enthält außer der Lebens- und Karrieregeschichte noch eine ausführliche Chronologie und Verzeichnisse von DVDs und CDs. Dazu kommt eine CD,  ebenfalls verlegt bei Bongiovanni, auf der Colombara in Arien seiner wichtigsten Partien zu hören ist. Das Vorwort stammt von Zubin Mehta, mit dem der Bass häufig zusammen arbeitete, gewidmet hat das Buch Colombara seiner Mutter.

Hatte der junge Colombara noch viele Kollegen, die sich von Tokio bis New York und von Mailand bis Petersburg die Silvas, Ramfise, Filippi, Procidas   des universo verdiano, aber auch Godunows oder Mephistos teilten, sieht er heute die Bühnen mit wenigen Ausnahmen des echten basso profondo beraubt, beklagt einen allgemeinen Niedergang der Oper  auch bei den anderen Stimmfächern, verursacht durch eine inadäquate Gesangsausbildung, die Vermittlung falscher Gesangstechniken und beklagt ein allgemeines appiattimento vocale, noioso e fuori stile. Er selbst konnte die großen Bässe, zu denen er vor allem Nikolai Ghiaurov (mit dem er Boris studierte) und Bonaldo Giaiotti zählt, noch auf der Bühne hören, heute sind zu Vorbildern taugende Sänger nur noch mittels ihrer Aufnahmen zu erleben.

Carlo Colombara wurde 1964 in Bologna geboren und beendete, für einen Bass recht früh, seine Bühnenlaufbahn 2024 mit einem Debüt als Dulcamara in Japan. Sein Lehrer war Paride Venturi, der ihn für einen Bariton hielt, erst seine Freundin wies ihn auf seine Bassqualitäten hin, was zu einem vorübergehenden Bruch mit seinem Lehrer führte. Zwei Jahre Militärdienst, handwerkliche Arbeiten, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, hielten ihn kaum dabei auf, 1985 in Bruneck unter Renato Palumbo als Pianist zu debütieren. Das und viel mehr erfährt der Leser abwechselnd im erzählenden Text des Mitautors und in der Ich-Form, derer sich Colombara bedient.

Als ganz junger Sänger lernt er noch die mostri sacri wie Magda Olivero, Leyla Gencer, Renata Scotto oder Fiorenza Cossotto kennen und erfährt damit freundliche Unterstützung, aber auch manches harsche Wort, so des Mezzos:“Es ist leicht , an die Scala zu kommen, aber schwer, sich dort zu behaupten“. Nun, er konnte es, machte Tourneen nach Moskau und Japan mit dem berühmten Opernhaus und konnte von sich behaupten, dass er nie Ärger mit Dirigenten, nicht einmal mit dem un caratterino besitzenden Daniel Oren, aber viel mit Regisseuren hatte. Man glaubt es ihm, auch wenn die 30er-Jahre-Kostüme für den Attila in Macerata noch relativ harmlos erscheinen.

Besonders verbunden fühlte und fühlt sich Colombara der Stadt Zürich und Nello Santi und Brasilien, wo er regelmäßig Masterclasses abhält. 16 Mal war er bereits beruflich in Tokio, und an Berlin hat er keine guten, allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprechende Erinnerungen, wenn er die Aida, während derer der Dirigent Giuseppe Sinopoli starb, als hässlich in Erinnerung hat und behauptet,  eine halbe Stunde lang habe der Dirigent keinen medizinischen Beistand erhalten. Ein erschütterndes Ereignis kann manchmal die Erinnerung trüben.

Aber auch die Met und Houston bekommen ihr Fett weg, und das wohl zu Recht, während sich der Bass in Chicago wohl fühlt, hier auch  die verhassten Einladungen (stehend schlechtes Essen verzehrend)  der Sponsoren eher erträgt.

Colombaras Arbeitsweise ist die des zunächst eine CD-Hörens der Partie, dann die Aneignung des Textes, zuletzt die der Musik. Sechs Monate brauchte er für den Boris, mit Renato Bruson, der sich zunächst recht distanziert zeigt, arbeitet mit ihm am Fiesco, und wie nah sich die beiden Kollegen kamen, zeigt ein lustiges Foto Bauch an Bauch.

Wichtig ist Colombara das Lob der Scotto, die ihn als guten Lehrer bezeichnete, bewundernswert findet er die Fähigkeit Pereiras beim Beschaffen von  Sponsorengeldern, bedauern muss er Giacomo Giacomini, in dem sich ein extremes Lampenfieber mit davon ausgelöster Aggressivität vereinen, was der Dirigent Giuseppe Patané schmerzlich zu spüren bekommt. Als gelassen in sich ruhender Bass kann man natürlich mit nervösen Tenören viel erleben.

Das Buch ist interessant, nachdenklich, manchmal auch lustig, gewährt einen tiefen Einblick in leider vergangene Opernzeiten und lässt wünschen und hoffen, dass auch die Zeit des European Trash einmal vorüber geht und Sangeskunst  vor allem anderen, was Oper ausmacht, wieder im Vordergrund steht (Carlo Colombara, In Giro per il Mondo, libero come il Canto; Carlo Colombara und Rino Alessi; Edizione Bongiovanni, Bologna, 2025; 160 Seiten und eine CD; EB 2892). Ingrid Wanja

 

      

  

Auf den Spuren der Kollegin

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Gern ein einem bestimmten Komponisten gewidmeten, ein Mozart- oder Puccini-Album nehmen Sänger auf, um sich zu präsentieren, auch mit einem Querschnitt durch das eigene Repertoire gelingt das gut, beides jedoch spricht inzwischen von wenig Originalität.  Eher gelingt das dem mittlerweile auch beliebten Sichbeziehen auf einen berühmten Sänger oder eine Sängerin der Vergangenheit, was nun auch die Französin Eva Zaicȉk mit einer Hommage à Célestine Galli-Marié, der ersten Carmen, der ersten Mignon und des ersten Fantasio- das sind nur die auch heute noch bekannten Opern und Partien.

Nicht zufällig fällt die Wahl von auch zwei Arien aus Carmen auf deren 150. Geburtstag und den ebenfalls 150. Todestag ihres Schöpfers Georges Bizet. Eine Anregung zur CD gab nach Auskunft des Booklets Didier Martin von Alpha Classics, und auch der Austausch mit Alexander Dratwicki vom verdienstvollen Palazetto Bru Zane trägt auf der CD seine Früchte.

Célestine Galli-Marié war bereits 38 Jahre bei der Uraufführung von Carmen und damit eigentlich nach den Vorstellungen ihrer Zeit eher als Komische Alte denn als jugendliche Liebhaberin einsetzbar. Ihre Karriere hatte sie in Rouen als Mab in Michael W. Balfes Bohemian Girl begonnen, hatte schnell Erfolg und damit die Berufung nach Paris sicher  und sang in 15 Jahren sechzehn neue Partien, darunter auch in der heute vergessenen Oper L’Ombre von Friedrich Flotow.

Bizet „Carmen 1874“: nach vielem Hin und Her sang Célestine Galli-Marie die erste Carmen/hier im Kostüm, Gemälde von Henri Lucien Doucet 1887/Wikipedia

Die Auswahl der Tracks auf der CD verrät eine Vielfalt der Stile, die auch typisch für das Repertoire von Célestine Galli-Marié  war, allerdings kann man das Repertoire beider Sängerinnen nicht miteinander vergleichen, denn Eva Zaicȉk singt sehr viel Barockmusik, während ihr Vorbild zeitgenössischen Opern zur Uraufführung verhalf. Mit dem Titel Rebelle soll nicht nur die Gemeinsamkeit der Vorliebe für einen bestimmten Frauencharakter hervorgehoben werden, sondern sicherlich auch eine Verbeugung vor dem heutzutage sich besonders in Szene setzenden Feminismus gemacht werden. Carmen bedient dieses Frauenbild, Mignon eher weniger, und zumindest die Texte der Arien aus den heute nicht mehr bekannten Opern, teilweise wie Fantasio und Venerdì aus Robinson Crusoé sogar  Hosenrollen, sind nicht besonders kämpferisch.

Eva Zaicȉk  war Preisträgerin  des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel und errang 2018 einen hochbewerteten französischen Preis für junge Opernsänger.

Die beiden Arien der Carmen, Habanera und Seguidilla , werden ebenso wie die der Mignon nicht zusammenhängend , sondern über die sechzehn Tracks verstreut dargeboten, wobei sich der Mezzosopran eher als Mignon als bei Carmen in seinem Element fühlen kann. Für die Seguilla ist die Stimme zu zart und zu fein, exquisit, aber nicht lockend verführerisch, auch der Juchzer am Schluss kann nicht darüber hinwegtäuschen.  Der Habanera fehlt zwar nicht französischer Charme, aber die vollmundige Sinnlichkeit, auch wenn das Cover , ein Portrait der Sängerin nicht mit einer Rose oder einer ähnlich verführerischen Blume, sondern einer Distel im Mund wohl von besonderer Emanzipation künden soll.  Die Rückseite zeigt die Sängerin dann, auffallend männlich streng gekleidet, mit vielen Rosen,  die bis auf eine jedoch zertreten am Boden liegen.

In MignonsElle é là“ wird dem Mezzotimbre Sopranglanz hinzugefügt, die Arie wird sehr empfindsam gesungen, und nur in der Extremhöhe klirrt es leicht. In der Romanze des geheimnisvollen Mädchens Mignon „Kennst du das Land“ kann die sanfte Klage rühren und überzeugen.

Begonnen wird mit dem Chanson der Colombine aus Poises La surprise d’amour, das, spanisch anmutend,  schwungvoll und mit viel Schalk in der Stimme dargeboten wird. Mit angemessener Leichtigkeit, aber auch recht brav wird die Nuit d’amour et de plaisir“ besungen,  geläufig und in schön geschwungenen Bogen macht sich Offenbachs Fantasio bemerkbar, dessen Freitag aus Robinson Crusoé sich durch seine Empfindsamkeit auszeichnet. Victor Massés Chanson Bohémienne berührt trotz des neckischen Lachens am Schluss eher durch Mädchenhaftigkeit aus als durch die erwünschte wilde Ungebundenheit.

Die ausgerechnet zu Weihnachten verlassene Marthe aus Ernest Guirauds Piccolino zeichnet sich durch ihre sanfte Trauer aus, Massenets Berceuse de Lazarille ist angemessen sanft dargeboten  und erfreut durch das perfekte Legato.

Das Orchestre National de Lille unter Pierre Dumoussaud erweist sich mit die unterschiedlichen Charaktere der Stücke präzise herausarbeitendem Spiel als ideale Begleitung für die Sängerin (Alpha 1128). Ingrid Wanja (28. 06. 25)

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Georges Bizets „Carmen“ 1874

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Bizets Opern-Hit erklang am 25. 3. 2024 in der Elbphilharmonie Hamburg (und en tour danach in anderen Städten) in einer ganz besonderen Version: in der Fassung, wie der französische Komponist sie 1874 ursprünglich vorgesehen hatte, bevor ihn der Intendant der Opéra-Comique zu weitreichenden Änderungen drängte. Die Originalmanuskripte dieser Ur-Fassung wurden nun von Paul Prévost (für Bärenreiter) und René Jacob ausgewertet und auf dieser Grundlage eine »Carmen« rekonstruiert, wie man sie bisher noch nie gehört hat. Gaëlle Arquez als erfahrene Carmen-Darstellerin und Sabine Devieilhe als Konkurrentin Micaëla bildeten dabei eine funkelnde weibliche Doppelspitze. Der Tenor François Rougier betrat als von Carmen besessener Don José das Podium, Bariton Thomas Dolié als sein Widersacher Escamillo. Und René Jacobs dirigierte faszinierend und schmissig. Und bei youtube gibt’s die immer noch akustisch nachzuerleben, dringend angeraten!

Dies war das erste Mal überhaupt, dass diese Fassung erklang (Bizet hat sie nie so erlebt, aber ersehnt), und sie bietet soviel mehr und anderes als die bekannten zwei Versionen (Dialog- und Rezitativ-Fassung). Es war, als hörte man Carmen zum ersten Mal. Diese ungeheuer moderne Oper hat plötzlich ganz andere Dimensionen, andere Wirkung. Und da wir im Bizet-Jahr 2025 sind gibt es bei uns einen Artikel zu dieser „unbekannten“ Carmen. Dazu nachstehend ein Artikel von Paul Prevost (Bärenbreiter/takte-online) und von René Jacobs Gedanken zu dem von ihm dirigierten Ereignis. Und zum Schluss schreibt Paul Dogan etwas über die Vorgänge um die  originale Titelsängerin Célestine Gallie-Marié als Carmen. G. H.

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Bizet „Carmen 1874“: René Jacobs & Crew in Hamburgs Elbphilharmonie 2024/Foto Daniel Dittus

Auf der Suche nach der echten „Carmen“. Die Neuausgabe von Bizets „Carmen“ aus dem Bärenreiter-Verlag verfolgt den Ansatz, dass nicht die Wissenschaft darüber zu entscheiden hat, welche Fassung die richtige oder die wahre sei – und legt eine Edition aller überlieferten originalen Fassungen der Opéra-comique vor. René Jacobs, der die ersten Aufführungen unter Verwendung der Neuedition dirigierte, äußert sich im Anschluss an den Artikel von Paul Prévost über ihre Vorzüge.

Seitdem 1964 Fritz Oesers „Carmen“-Ausgabe bei Bärenreiter/Alkor erschienen war, wuchs in Wissenschaft und musikalischer Praxis das Interesse an den Quellen der berühmten Opéra-comique. Es entstand der Mythos einer „echten“ „Carmen“, wie Bizet sie gewollt habe, und es verbreitete sich die Vorstellung, dass der Zustand, in dem der Komponist das Werk zuletzt hinterlassen hat, die vollendete Form seines Meisterwerkes darstelle. Und während die eine Seite hartnäckig diese puristische Auffassung vertrat, erschienen andererseits Editionen der „Carmen“ in mehr oder weniger glücklichen Mischungen verschiedener Versionen, die philologisch teilweise nur schwer zu rechtfertigen sind.

Bizet „Carmen 1874“: René Jacobs & Crew in Hamburgs Elbphilharmonie 2024/Foto Daniel Dittus

Allerdings wäre es wohl vermessen, Bizets Gedanken ergründen zu können, der sich bereits bei den Proben seines Werks an der Opéra Comique in Paris, vor der Uraufführung, allerlei Schwierigkeiten sowie dem Druck ausgesetzt sah, Änderungen vornehmen zu müssen. Sein früher Tod machte es ihm dann unmöglich, sich selbst weiter zu äußern. Die nun erscheinende Neuausgabe von Carmen beschränkt sich auf die Fassungen als Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen, also vor Ernest Guirauds Interventionen für die Veröffentlichung als gedruckte Orchesterpartitur 1877 (Ergänzung von Rezitativen, Kürzungen und Retuschen in der Instrumentierung).
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Fassung 1874. Bizet notiert die Musik zu „Carmen“ in Reinschrift in Form einer großen Orchesterpartitur. Diese vorläufige Fassung (1. Version) ist in der Neuausgabe anhand der kritischen Anmerkungen rekonstruierbar. Noch bevor Bizet dieses Manuskript der Opéra Comique zur Anfertigung einer Kopie übergibt, nimmt er Korrekturen vor, die möglicherweise auf die ersten Proben mit den Solisten (ohne Orchester) zurückgehen. So werden zum Beispiel am Beginn einiger Nummern einleitende Takte hinzugefügt, oder er überarbeitet hier und da den Gesangstext. Diese Änderungen von Bizets Hand sind gering an Zahl und letztlich oberflächlich. Diese Version erhält die Kopistenabteilung der Opéra Comique für die Abschrift der Dirigierpartitur und des Orchestermaterials.

Bizet „Carmen 1874“: Natürlich gibt es keine Abbildungen zur Urfassungs von Paul Prevost, daher ein paar historische Postkarten späterer Aufführungen/Gallica BNF

Die Neuausgabe führt diese 2. Version unter der Bezeichnung „Version 1874“. Zu diesem Zeitpunkt enthält der erste Akt immer noch die Eingangsmelodie – und nicht die Habanera – sowie die Nummern mit derselben Motivik. Es gibt noch keine Kürzungen, und das Werk enthält Melodramen. Diese vollständig fixierte Version ist das Ergebnis von Bizets kompositorischer Arbeit, bevor Eingriffe von außen, die Bewährung bei den Proben und die Bühnenproduktion seine Arbeit verändern. Wir sprechen ihr daher volle Gültigkeit zu (nicht mehr und nicht weniger als den späteren Versionen). Die Neuausgabe bietet diese Version von 1874 als einzige Edition in ihrer Gesamtheit an, inklusive Carmens vollständiger originaler Eingangsarie.
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Fassung 1874–1875: Die Opéra Comique lässt die Orchesterpartitur und die Stimmen kopieren. Es schließt sich eine schier endlose Reihe von Umgestaltungen im weiteren Verlauf der Proben an, deren detaillierte Chronologie es zu erstellen gilt. Die Überarbeitungen sind von dreierlei Art: Änderungen im Detail (der Melodie, des Textes, der Prosodie); Kürzungen, zunächst nur einiger Takte, dann mehr; Hinzufügungen oder Ersetzungen von Nummern bzw. Änderungen in der Abfolge von Nummern oder Teilen von Nummern.
Diese Version bildet naturgemäß kein zusammenhängendes Ganzes, und es gibt keine Belege dafür, ob z. B. eine Nummer der Fassung 1874–1875 zugleich mit einer anderen Nummer derselben Fassung existiert; es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Umgestaltungen in der kurzen Zeit zwischen Probenbeginn und Uraufführung vorgenommen werden. Im am stärksten überarbeiteten ersten Akt erscheint es angemessen, diese „Version 1874–1875“ als Hauptteil der Edition darzustellen. Die Interpreten können somit – falls vorhanden – diese Fassung einer Nummer statt derjenigen von 1874 oder 1875 wählen.
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Fassung 1875: Diese Fassung folgt der Lesart des bei Choudens erschienenen Klavierauszugs, der ersten Ausgabe des Werkes, die der Komponist selbst vorbereitet und revidiert hat. Zu Bizets Lebzeiten erscheint diese Fassung nicht mehr als Orchesterpartitur. Sie ist deutlich vereinfacht, die Melodramen sind komplett verschwunden.

Aus der oberflächlichen Betrachtung dieser Chronologie ließe sich ableiten, die Fassung 1875 sei der Version 1874 vorzuziehen, da sie ausgereifter sei und der Komponist selbst sie korrigiert bzw. stärker in Form gebracht hat. Es ist auch zu lesen, die Fassung 1875 sei szenisch effektiver als diejenige der „zu langen“ von 1874, die Fassung 1875 verkörpere die „echte“ „Carmen“, wie ihr Komponist sie vollendet habe, besser. Doch ist dies fragwürdig.

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Die Fassung 1874 ist das Ergebnis von Bizets Inspiration, bevor Interpreten, Regisseur, Publikum oder Kritik von außen eingriffen. Es gilt zu berücksichtigen, dass der Komponist am Theater kein Neuling ist. Zudem zeugt diese Fassung von einem derart großen musikalischen Reichtum – wie er von der Opéra Comique 1875 offenbar schwer zu akzeptieren war. Orchester und Chöre forderten immer wieder Vereinfachungen. Die „Carmen“ betrat die Bühne nicht an einem gewöhnlichen Stadttheater, sondern an der Institution, die ihre Traditionen und ihr Publikum hatte – weshalb sich der Komponist massivem Druck ausgesetzt sah. Die Zweifel am Wert der Oper wuchsen nach der Uraufführung sogar noch, wohl hauptsächlich wegen des Sujets. Zudem verlangte es die Vorsicht des Verlegers, dass im Klavierauszug von 1875 ein Maximum an Kürzungen und Vereinfachungen berücksichtigt wurde. Hierfür korrigierte bzw. präzisierte Bizet die Tempi; er (oder Choudens?) schrieb die Bühnenanweisungen um. Natürlich fügte er die Habanera ein, die die Dramatik am Ende des ersten Aktes auslöst, ebenso die Couplets des Moralès.

Was aber ist von all den Kürzungen zu halten, von der Streichung aller Melodramen (die schwierig umzusetzen waren)? Was von den zahlreichen harmonischen Vereinfachungen in den Chören, die unisono umgeschrieben wurden, da ihre Polyphonie zu komplex war? War Bizet mit diesem Ergebnis wirklich zufrieden? Ist die Fassung des Klavierauszugs, die quasi das Minimalwerk darstellt, wirklich glaubwürdig? Wenn je ein Werk seinem Komponisten entglitt, dann wohl Bizet seine „Carmen“. Die bei den ersten Aufführungen erklingende Musik war schließlich das Verhandlungsergebnis zwischen den verschiedenen Protagonisten – der Darstellerin der Titelrolle Célestine Galli-Marié, der Direktion, dem Chor und sogar den Kritikern; Guiraud und der Verleger Choudens überarbeiteten die Oper dann noch einmal.

Eine „echte“ „Carmen“ gibt es also nicht. Vielmehr gibt es echte „Carmen(s)“. Die Fassungen von 1874 und von 1875 sind nicht weniger original oder richtiger als die andere; und auch Guirauds Fassung ist gültig, in dieser Form fand das Werk in aller Welt Verbreitung und wurde zum Inbegriff der französischen Oper überhaupt. Dem zu früh verstorbenen Bizet mag „Carmen“ entglitten sein, doch schulden wir ihm heute die Rehabilitierung seines Meisterwerks in der Form, in der seine schöpferische Fantasie die Oper zuerst erdachte. In Anerkennung der Aufführungsgeschichte gilt es auch, die Fassung von 1875 darzustellen. Und es wird auch darum gehen, Guirauds Opernversion zu edieren, denn Guiraud hatte Bizet lediglich ersetzt, der vor seinem Tod eine durchgesungene Fassung mit Rezitativen plante; diese „Opernfassung“ wird (später) separat erscheinen.  Paul Prévost/ (Übersetzung: Annette Thein/takte-online

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Bizet „Carmen 1874“: Brand der zweiten Salle Favart am 25. Mai 1887/Wikipedia

Dazu René Jacobs: I. Die allererste Ausgabe von Carmen von Paul Prévost präsentiert Bizets Meisterwerk in seiner ursprünglichen Form als Opéra comique, einem typisch französischen Genre, das die Deutschen unter dem Namen Singspiel übernommen haben. Zur Entstehungszeit von Carmen war der Salle Favart in Paris der offizielle Sitz der Opéra-Comique, während der Palais Garnier die große Oper beherbergte, ein Genre, das zu Unrecht als prestigeträchtiger angesehen wurde. In Garnier gab es edle Themen, gesungene Dialoge in Form von Rezitativen, ernste Figuren, einen schwerfälligen Stil und tragische Enden: ein eher prätentiöses Genre. Im Nationaltheater der Opéra-Comique gab es hybride Themen, gesprochene Dialoge, eine Mischung aus komischen und ernsten Figuren, einen leicht verdaulichen Stil und glückliche Ausgänge: ein bescheidenes Genre. Zu diesem gehört Carmen, trotz des tragischen Endes der Oper, das die Codes des Genres durcheinanderbringt und zur großen Unzufriedenheit des Publikums bei der Uraufführung führte.

Es sind die Versionen mit gesprochenen Dialogen, die den tragikomischen Charakter von Carmen voll zur Geltung bringen. Das Duo Frasquita (bodenständig) und Mercédès (sentimental), die beiden Freundinnen der Protagonistin, das Duo Dancaïre (grandioser Macho) und Remendado (feiger Weichling), die beiden Schmuggler – das Paar erinnert an Laurel und Hardy – sowie Zuniga (vulgärer Schläger) sind offen komische Figuren, deren Komik verloren geht, wenn ihre spritzigen Dialoge unterbrochen werden, wodurch der für die Komödie typische Kontrast zwischen komischen und ernsten Szenen verloren geht. Bizet versteht es, für einen Engel (Micaëla) wie Gounod und für einen Dämon (Carmen in den Augen von Don José) wie Berlioz zu komponieren. Wie Mozart ist er ein absoluter Meister der stilistischen Konfrontationen zwischen verletzlichen Figuren und anderen, die harmlos (Micaëla gegenüber Moralès), frivol (Carmen gegenüber Frasquita und Mercédès im Kartentrio) oder gewalttätig (Carmen und Don José gegenüber dem unsichtbaren, tobenden Publikum der Corrida) sind. Das sind große Momente, Szenen, in denen die „Tragikomödie von Carmen” ihren Höhepunkt findet.

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Bizet „Carmen 1874“: Célestine Galli-Marie war die erste Carmen/Foto Atelier Nadar/Wikipedia

Paul Prévost unterscheidet drei Versionen von Carmen in ihrer Form als Opéra comique:

  • Erste Fassung, bekannt als „Fassung von 1874”: „Das Ergebnis von Bizets Kompositionsarbeit, bevor äußere Einflüsse und die Proben und Inszenierungen sein Werk und sein Denken veränderten.”
  • Zweite Fassung, die sogenannte „Fassung 1874-1875”: „Der Zustand der Partitur nach einer langen Reihe von Überarbeitungen und den ersten Aufführungen. ”
  • Dritte Fassung, bekannt als „Fassung 1875”: „Die von Choudens veröffentlichte Reduktion für Gesang und Klavier, die der Komponist kurz vor seinem unerwarteten Tod am 3. Juni, dem Tag der 33. Aufführung, konzipiert hatte.”

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Von diesen drei Fassungen hebt sich die erste als die in ihrer musikalischen Dramaturgie kohärenteste von den beiden anderen ab. Obwohl die berühmte Habanera der Carmen darin nicht vorkommt (siehe unten), entdeckt der Zuhörer in dieser ersten Fassung, die gegen Ende des Sommers 1874 (lange vor Beginn der Proben) fertiggestellt wurde, die meisten musikalischen und sogar theatralischen Überraschungen. Zwar fehlen in dieser Fassung drei der getanzten Zwischenspiele: Sie wurden auf Wunsch des Intendanten als Zugeständnis an den französischen Geschmack für exotische Ballette hinzugefügt. Aber der theatralische Schwung der ersten Fassung ist lebhafter als der der beiden anderen Fassungen, die diese Zwischenspiele mit ihrer wunderschönen, sehr spanisch anmutenden, aber überflüssigen Musik enthalten.

Bizet „Carmen 1874“: Paul L´hérie war der erste Don José 1875/BNF Gallica

Ihr Fehlen in der ersten Fassung wird durch zahlreiche Melodramen (gesprochene Dialoge vor orchestralem Hintergrund: siehe unten) ausgeglichen. In ihrer ursprünglichen Fassung war Carmen definitiv nicht als Katalog spanischer Klischees für die Arena von Verona konzipiert; die einzige Massenszene ist die Quadrille kurz vor der Schlussszene der Oper!

Zu Recht berücksichtigt die neue Ausgabe nicht die Eingriffe von Ernest Guiraud bei der Veröffentlichung der Orchesterpartitur, die zwei Jahre nach Bizets Tod gedruckt wurde. Guiraud ersetzte die gesprochenen Dialoge durch Rezitative, um die Opéra comique in eine Grand Opéra zu verwandeln. Leider ist es heute diese Fassung (und zu allem Übel) mit brutalen Kürzungen und Änderungen der ursprünglichen Orchestrierung, die noch immer am häufigsten in den großen Opernhäusern der Welt gespielt wird. Warum?

Sind die Verantwortlichen für die Besetzung nicht zu sehr von Vorurteilen beeinflusst? In der Guiraud-Fassung beispielsweise ist die Rolle des Escamillo, der sich eher die Lunge aus dem Leib schreien soll, weil er ein „echter Macho” ist – was er aber nicht ist: Er ist zwar eitel, aber auch rührend (man muss nur das Libretto lesen!), für einen Baritono di grazia!

Die Eingangsarie des „singenden Matadors” verlangt vom Sänger ein perfektes messa di voce und die nötige Stimmleichtigkeit, um die kleinen, anmutigen Noten singen zu können, die Bizet ihm als Verführungskunststücke zugedacht hat. Was Don José betrifft, muss er wirklich von einem heroischen Tenor gesungen werden? Ist der baskische Brigadier nicht der Inbegriff des romantischen Antihelden, des Versagers, der in seinen Aggressionsausbrüchen seine Stimme ebenso sehr zwingt wie sein Ich?

Bizet „Carmen 1874“: Jacques Bouhy sang 1875 den ersten Escamillo/BNF Gallica

Das Proben von gesprochenen Dialogen mit Opernsängern wird oft als frustrierend empfunden. Man hält es daher für besser, ihnen die Rezitative von Guiraud zu geben. Die Qualität ihrer Aussprache der französischen Sprache wird dann zweitrangig, was den weiteren Vorteil hat, dass die Besetzung aus den schönsten und größten internationalen Stimmen der Gegenwart ausgewählt werden kann. Diese Argumentation geht jedoch davon aus, dass ein Rezitativ, auch wenn er vom Orchester begleitet wird, nicht gesungen, sondern deklamiert wird. Wenn man sich die Mühe macht, die gesprochenen Dialoge wirklich zu arbeiten – was nur mit französischsprachigen Sängern (oder solchen, die die französische Sprache perfekt beherrschen) möglich ist –, erhält man den für dieses Genre gewünschten natürlichen Sprachfluss. Wir wissen, dass die Sänger-Schauspieler der damaligen Zeit keine Scheu hatten, den gedruckten Text der Dialoge zu ändern oder zu paraphrasieren, um die Spontaneität einer freien Unterhaltung zu erreichen: ein bewusster Kontrast zum „Korsett” der Musik, die dem Dialog folgte, so schön sie auch sein mochte. In diesem Sinne wurden die Dialoge von 1875 (gedrucktes Libretto) für unsere Aufnahme überarbeitet.

Der erste Vorzug der Fassung von 1874 besteht darin, dass sie vom Librettisten-Team (Henri Meilhac für die gesprochenen Dialoge und Ludovic Halévy für die gesungenen Texte) und von Bizet selbst konzipiert wurde, um sich eng an die Handlung zu halten und nicht den eitlen Ansprüchen dieses oder jenes Sängers oder dieser oder jener Sängerin.

Nehmen wir den ersten Akt. 1874 gab es noch keine Spur von den Couplets von Moralès, einer überflüssigen Szene, die 1875 nach der ersten Musiknummer der Oper auf Wunsch des Sängers, der seine Rolle für zu klein hielt, in letzter Minute hinzugefügt wurde.

Der Zusatz ist katastrophal, da er die Darstellung des Dramas unnötig verlangsamt.

Bizet „Carmen 1874“: Alice Ducasse war die erste Micaëla/BNF Gallica

Die ursprünglich von Bizet 1874 komponierte Eingangsarie von Carmen ist ein sehr leichtes Lied im Stil der französischen Opéra comique, ein echtes Porträt der Carmen als launische Kokotte, die mit großem Stolz ihr Ideal der freien Liebe verkündet (L’amour est enfant de bohème). Im Laufe der Proben wurde sie durch die berühmte Habanera ersetzt, die zum Hit der Oper werden sollte („L’amour est un oiseau rebelle ”). All dies geschah auf Wunsch von Mme Célestine Galli-Marié, der Darstellerin der Titelrolle, die lieber eine Tanzarie singen wollte, in der sie, wie sie sagte, „ihre Hüften schwingen” konnte! Aber Bizet und seine Librettisten wollten das Publikum zu Beginn der Oper täuschen, um dann nach und nach den wahren Charakter der Zigeunerin zu enthüllen. Gegen Ende des ersten Aktes singt oder eher summt sie ihr zweites Lied zu einem Text, der keiner ist („Tra-la-la…“, etc.). Denn die wahre Natur Carmens muss unklar und geheimnisvoll bleiben. Im Jahr 1874 war es dieses Lied, das Don José und das Publikum zum ersten Mal in der Oper mit seiner spanisch anmutenden, also exotischen und rätselhaften Musik verzaubern sollte, und nicht die „Habanera” – eine Bearbeitung eines bestehenden Liedes des spanischen Komponisten Sebastián Iradier durch Bizet! In der endlich veröffentlichten Original-Eingangsaie von Carmen ist mehr Bizet zu hören als in der Habanera. Trotz des Fehlens des Opernhits kommt die dramatische Konzeption von Bizet und seinen Librettisten hier besser zur Geltung.

Bereits 1888 versuchte der Musikkritiker Johannes Weber vergeblich, den Fans der Habanera zu erklären, dass in der Originalfassung der Szene auf die Fragen, die Carmens Liebhaber ihr stellen, als sie die Bühne betritt, „nicht provokativ, sondern nur fröhlich und entschlossen” antwortet, und dass die Habanera mit ihren „chromatischen Windungen” und ihrem „besonders manierierten Ton” überhaupt nicht zum Rest der Rolle passt. Die Arie, durch die die Habanera ersetzt wurde, ist hingegen sehr geistreich. Ihre ersten Worte (die in der Habanera unauffällig wiederkehren) sind ein leicht spöttisches Echo der Marseillaise, und ihre Melodie ist eine subtile Parodie (in Moll statt in Dur, allegro moderato im 6/8-Takt) der französischen Nationalhymne – aus dem Mund einer Nomadin! („L’amour est enfant de bohème (Allons, enfants de la Patrie/ Il n’a jamais, jamais connu de loi Le jour de gloire est arrivé !“)

Bizet „Carmen 1874“: Bühnenbild zur ersten Aufführung 1875/Wikipedia

In der Fassung von 1874 ist das Ende der Oper vielleicht noch erschütternder als in späteren Fassungen. Diese Schlussszene konfrontiert zwei schreckliche Perversionen der Moral: einerseits die Perversion des Stierkampfs, der dem Torero das Recht gibt, einen Stier zu quälen und zu töten, weil dieses blutige Ritual Teil der Kultur seines Volkes ist, und andererseits die Perversion des Zigeunergesetzes, das einem verheirateten Mann das Recht gibt, seine Frau zu töten, wenn er sie der Untreue verdächtigt.

Die mutige Entscheidung von Bizet und seinen Librettisten, Carmen mit einem tragischen Ende zu beenden, das für ein Publikum, das an das traditionelle Happy End der komischen Oper gewöhnt ist, ebenso ergreifend wie schockierend ist, bedeutet meiner Meinung nach ihre implizite Verurteilung beider Perversionen, denn beide „toréent l’homme“ ( Henry de Montherlant, Le Chaos et la Nuit, 1963). In der Fassung der Oper von 1874 wird die Unmenschlichkeit der Situation bis zum Äußersten getrieben und “ (Henry de Montherlant, Le Chaos et la Nuit, 1963). In der Fassung der Oper von 1874 wird die Unmenschlichkeit der Situation auf die Spitze getrieben und nicht wie in späteren Fassungen abgeschwächt. Nachdem er die Frau, die er so leidenschaftlich liebt, erstochen hat, wirft sich Don José auf Carmens Leiche. Die Streicher spielen im Einklang eine düstere Melodie, die in krassem Gegensatz zum berühmten Refrain „Toréador, en garde…“ steht, den der Chor im Zirkus singt. Es ist ein weiterer Hit, dessen Text und Melodie das Publikum auswendig kennt. Der Originaltext ist jedoch ganz anders und aufgrund seines brutalen Zynismus sehr schockierend: „Gloire à l’espada, gloire au vainqueur !/ Il (Escamillo) a frappé juste en plein coeur./ Gloire au héros du drame,/ Gloire à la fine lame !/ Vive Escamillo ! Bravo ! Gloire !“ (1874) Gegenüber:Toréador, en garde, Et songe bien en combattant/ Qu’un oeil noir te regarde/ Et que l’amour t’attend !/ Toréador, l’amour t’attend !“  (1875)

Dieses Ende, das von der Theaterleitung vehement abgelehnt wurde, ist mehr als tragisch, es ist nihilistisch. In gewisser Weise begehen sowohl Carmen als auch Don José Selbstmord. Carmen ist sich sicher, dass Don José sie töten wird, da sie ihr Schicksal in den Karten gelesen hat, und weigert sich zu gehen. Don José ist sich sicher, dass er zum Tode verurteilt wird.

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Bizet „Carmen 1874“: die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halevy/Victrola Book of Opera

Der zweite große Vorteil der Fassung von 1874: Die Psychologie der Figuren ist klarer gezeichnet als in den beiden anderen Fassungen. Meilhac wollte mit seinen Dialogen nicht sparen, nur aus Angst, dass Liebhaber des reinen Belcanto sich während der gesprochenen Texte langweilen könnten. Er ging von der (utopischen?) Idee eines idealen Publikums aus, das in einer Oper in erster Linie ein Theaterstück sieht. Viele seiner Dialoge sind sehr stark von der Novelle Carmen von Prosper Mérimée (1845) inspiriert, der Hauptquelle für das Libretto der gleichnamigen Oper.

Das Genre der Opéra comique mit seinen teilweise tragischen Themen – nicht zu verwechseln mit der Opéra bouffe – bediente sich oft eines musikalischen Mittels, bei dem bestimmte Passagen des gesprochenen Textes mit einem orchestralen Hintergrund, dem sogenannten Melodram, unterlegt wurden. In der allerersten Fassung von Carmen bediente sich Bizet reichlich und mit großer Erfindungsgabe dieses Kunstgriffs, der es dem Sänger ermöglicht, den Dialog wirklich zu sprechen, sich von seiner Gesangsstimme zu lösen, ohne dass die Musik dabei verstummt! Er kann „in Musik sprechen”, wie Claudio Monteverdi gesagt hätte. Leider wurden während der letzten Proben mehrere dieser „musikalisch untermalten” Dialoge, die zwar dramaturgisch unverzichtbar, aber schwer zu realisieren waren – da das empfindliche Gleichgewicht zwischen gesprochener Stimme und Orchester schwer zu halten war –, gekürzt oder ganz gestrichen. Die neue Ausgabe von Paul Prévost ermöglicht es uns, sie wieder einzufügen.

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Bizet „Carmen 1874“: der Dirigent der Uraufführung 1875, Adolphe Deloffre, hier in einem Quartett anlässlich der Veranstaltung der Union des Musiciens 1846 mitwirkend/v. l. Henri Vieuxtemps, Adolphe Deloffre, der Engländer Hill, Carlo Alfredo Piatti und John Ella/Wikipedia

Die Proben zur Uraufführung von Carmen müssen für Bizet eine wahre Tortur gewesen sein. Der Chor des Hauses zeigte sich zunehmend feindselig gegenüber einer Musik, die er für unsingbar hielt, und drohte mit Streik. Die brutalen Kürzungen in den beiden großen Chören der Zigarrenraucherinnen im ersten Akt, die vom Intendanten Camille du Locle verordnet wurden, müssen für den hypersensiblen Komponisten wie Messerstiche gewesen sein.

Zu allem Übel befand sich der Tenor Paul Lhérie (Don José) in einer stimmlichen Krise. Er hatte peinliche Intonationsprobleme, die besonders in seinem Lied „Halte-là ! Qui va là, dragon d’Alcala ?” (zweiter Akt) zu hören waren, das hinter der Bühne gesungen werden muss, da (laut Libretto) die Stimme von Don José sehr weit entfernt klingen und sich in der zweiten Strophe allmählich nähern soll.

In der allerersten Fassung wird das Lied sehr dezent vom Orchester im Graben begleitet, während Dancaïre, Remendado, Frasquita, Mercédès und Carmen sich unterhalten. Die fünf Sprechstimmen, einen Sänger, der falsch singt, und ein Orchester, das der betreffende Sänger nicht hören kann (!), zu synchronisieren, erwies sich als eine heikle Aufgabe, eine unmögliche Mission! Bizet sah keine andere Lösung, als das Lied neu zu schreiben – ohne Orchester. Dank der neuen Ausgabe ist das köstliche „Chanson d’Alcala” mit seiner witzig minimalistischen Begleitung endlich in seiner Originalfassung zugänglich.

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Bizet „Carmen 1874“: und schließlich die verlässliche Liebig-Fleischextrakt-Dose mit einem „Carmen“-Kärtchen/Deutsche  Bibliothek

Die Uraufführung von Carmen war bekanntlich nur mäßig erfolgreich. Bizet’s Depression am Tag nach der Uraufführung lässt sich kaum von den Eingriffen in die Originalfassung seiner Partitur trennen, die der Komponist nur schwer verkraftete. 1880 schrieb Tschaikowski, der Carmen verehrte und im Februar 1876 eine Aufführung der Oper in Paris besucht hatte: „Carmen hat in Paris keinen wirklichen Erfolg gehabt. Bizet starb kurz nach der Uraufführung, noch jung und in der Blüte seiner Kräfte und Gesundheit. Wer weiß, ob nicht gerade dieser Misserfolg ihn so sehr getroffen hat?” Hoffen wir demütig, dass unser Projekt Carmen 1874 einem Genie gerecht werden kann! René Jacobs (Paris, 14. März 2024)/DeepL/G.H.

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Bizet „Carmen 1874“: Zulma Bouffar in Offenbachs „Brigands“/Atelier Nadar/Wikipedia

Dazu auch ein Auszug aus dem Artikel von Paul Dogan/Utah Opera (The writing and rehearsing of Carmen). Nach mehreren Verschiebungen von Carmen durch die Leitung schien eine Premiere Anfang 1874 möglich. Das bedeutete, dass eine Sängerin für die Titelrolle gefunden werden musste. Zulma Bouffar  wurde abgelehnt, wahrscheinlich weil sie so sehr mit den Hauptrollen in Jacques Offenbachs satirischen Operetten in Verbindung gebracht wurde, dass niemand sie als tragische Heldin akzeptieren wollte; eine Zeitung verkündete, Meilhac habe sie abgelehnt, „weil es für Zulma undenkbar sei, erstochen zu werden”.

Ernsthafter in Betracht gezogen wurde Marie Roze, eine Sängerin, die beim Londoner Publikum beliebter war als beim Pariser, und beim Pariser Publikum beliebter als bei den Pariser Theaterdirektoren. Am 7. September 1873 schrieb sie Bizet, dass „die Rolle nicht zu mir passen würde, oder, genauer gesagt, … ich nicht für sie geeignet wäre”. Bizet hatte ihr erklärt, dass sie nicht mit der von ihr erhofften „dramatischen Handlung, die die sehr skandalöse Seite dieser Figur abmildern würde“, rechnen könne.

Bizet „Carmen 1874“: die zuvor abgelehnte Marie Rose sang die Carmen später/zeitgen. Stich/BNF Gallica

Du Locle bot die Rolle sofort Célestine Gallie-Marié an. Diese wiederum schrieb an ihren Freund, den Tenor Paul L´hérie, über das Angebot, „Carmen zu kreieren“. Was ist das?” Sie kann Mérimées Carmen nicht gekannt haben, schrieb aber im Oktober 1873 an Bizet, sie würde „sehr gerne ein Werk interpretieren … insbesondere eines, das von Ihnen stammt, dessen letzte beiden Partituren ich fast auswendig kenne, sowohl die Gesangsstimmen als auch die Begleitung”. 1862 hatte Gallie-Marié erstmals an der Opéra-Comique debütiert, wo sie beachtliche Erfolge feierte. Zwei Jahre später schlug der Komponist Victor Massé Victorien Sardou (Autor des Theaterstücks La Tosca) vor, die Novelle speziell für Gallie-Marié in ein Libretto umzuwandeln – vermutlich würde er die Musik schreiben: „Ich denke, Mérimées Carmen wäre eine originelle und bemerkenswerte Schöpfung für sie.“ Wie recht er hatte! Und wie dankbar sollten wir sein, dass dieses Projekt nicht zustande kam!

Nachdem Bizet im September 1873 die Musik für Gallie-Marié durchgespielt hatte, entschied er, dass sie perfekt sei. Es folgten monatelange Verhandlungen zwischen der Sängerin und dem Management, bevor sie schließlich am 18. Dezember 1873 einen Vertrag unterzeichnete: Sie würde ab Oktober 1874 für vier Monate zur Verfügung stehen und für eine monatliche Gage zwölfmal im Monat singen; sollte sich das neue Stück als Erfolg erweisen, würde sie bleiben und pro Auftritt bezahlt werden.

Die Proben sollten eigentlich im August beginnen, mussten nun aber auf Gallie-Mariés Ankunft im Oktober verschoben werden. In einem Brief an du Locle Anfang 1874 bat sie ihn, Bizet zu sagen, er solle bei der Komposition der noch nicht fertiggestellten Teile ihrer Rolle die Sopranrolle der Marguerite in Gounods Faust berücksichtigen: Was er bisher geschrieben hatte, verbrachte zu viel Zeit in den tiefen – d. h. Mignon – Bereich ihrer Stimme, den sie als „zu gewöhnlich und eher langweilig“ empfand. (Sie hatte diese Rolle 1866 in Ambroise Thomas‘ Mignon mit großem Erfolg kreirt). In den zwei Monaten dieses Sommers orchestrierte Bizet die gesamte Partitur – 1200 Seiten Manuskript. Aber er blieb mit seiner Hauptdarstellerin in Kontakt: Anscheinend lasen sie einige „Stücke” durch – sie sang sie vom Blatt –, denn im Juli bat sie ihn, sie ihr zu schicken, damit sie daran arbeiten könne, „und Ihnen sagen, wenn mir etwas auffällt”. Einige Wochen später bot er ihr an, ihr die gesamte Rolle zu ihrer Wohnung in Bordeaux zu bringen, und erhielt eine interessante Antwort: Im Moment interessierten sie nur „die wichtigsten Stücke meiner Rolle, die überhaupt nicht wie ein Andante von Mozart sind, damit ich sie ein wenig studieren kann”. Was die gesamte Rolle angeht, „werde ich sie am 1. Oktober, dem Tag, an dem mein Vertrag beginnt, vom Blatt lesen”.

Laut Halévys Tagebuch vom 1. September 1874 „ist Carmen in Proben…” Wir müssen bedauern, dass er in seinem hohen Alter Teile seiner Einträge durchgestrichen oder sogar mit einer Schere herausgeschnitten hat. Begannen die Proben wirklich einen Monat früher? Winton Dean schreibt in der Reihe „The Master Musicians“ der Oxford University Press, dass sie im Oktober begannen, aber Hugh Macdonald, sein Nachfolger in derselben Reihe, schreibt, dass sie „am 1. September 1874 bereits im Gange waren“. Vielleicht bezogen sich Halévy und Macdonald auf den Beginn der musikalischen Vorbereitung des Chores. (…)

Zu Bizets Stress kam zu dieser Zeit noch hinzu, dass seine Hauptdarstellerin andere Rollen am Theater sang, sodass an manchen Tagen keine Proben möglich waren; so wurde beispielsweise im Oktober fast die gesamte Carmen auf Eis gelegt; Halévy vermerkte, dass am 25. Oktober eine „Leseprobe von Carmen stattfand … Nur die Musik wurde geprobt.“ In der zweiten Novemberwoche ging es dann wieder voran, und der Spielplan der Kompanie sah für den Rest des Jahres fast täglich Proben vor. Bizet war fast immer dabei.

Meilhac und Halévy, die Librettisten, waren selten anwesend (…). Henri Meilhac schien sich nicht besonders für Musik zu interessieren: Seine Aufgabe in der Partnerschaft bestand darin, dem Stück eine dramatische Form zu geben und die Dialoge zu schreiben – je witziger, desto besser; Ludovic Halévy war für die Liedtexte verantwortlich. Er mochte zwar unmusikalisch gewesen sein, aber als Meilhac bei einer Probe erschien, war er schockiert über du Locles Haltung gegenüber dem neuen Stück. Man darf nicht vergessen, dass Camille du Locle als Co-Direktor der Opéra-Comique nicht nur 1872 die neue Oper bei Bizet in Auftrag gegeben hatte, sondern auch die Wahl des Themas gegen die Einwände seines Co-Direktors Adolphe de Leuven unterstützt hatte. Als du Locle Bizets Musik hörte, zögerte er nicht, sie als „völlig unverständlich” abzutun. Seine Haltung verstärkte nur die Einwände des Orchesters und des Chors, die behaupteten, die Musik sei unspielbar und unsingbar.

Bizet „Carmen 1874“: Kostumentwurf für Célestine Galli-Marie 1875/BNF Gallica

Auch ohne Kenntnis des regulären Repertoires der Opéra Comique kann man mit Sicherheit sagen, dass Bizets Partitur dem Orchester mehr abverlangte, als es gewohnt war. (…)

Im Januar 1875 begannen die täglichen Proben, an denen die Librettisten nun frei teilnehmen konnten. An diesem Punkt bekamen sie kalte Füße und versuchten, die Wirkung ihrer Adaption abzuschwächen; sie beanstandeten insbesondere das ihrer Meinung nach „vulgäre und hemmungslose“ Spiel von Galli-Marié. Aber ohne Erfolg. Du Locle wollte das Duett zwischen Carmen und José im zweiten Akt verkürzen und in Abschnitte unterteilen, um Applaus zu ermöglichen; Bizet lehnte dies ab. Dann entschied er, dass das Ende geändert werden müsse, und holte den Direktor der Comédie-Française (der das Stück hasste) hinzu, um Vorschläge zu machen. Diesmal schlossen sich Galli-Marié und Paul Lhérie (José) Bizet in seiner Weigerung an und erklärten, sie würden lieber aus der Produktion aussteigen, als irgendwelche Änderungen zu akzeptieren.

Bizet mag sich zwar hartnäckig geweigert haben, den Änderungsvorschlägen von du Locle nachzugeben, aber er war durchaus bereit, Änderungen vorzunehmen, um seinen Sängern entgegenzukommen. (…) Ernest Guiraud (ein enger Freund des Komponisten und der spätere Verfasser der Rezitative) behauptet, Galli-Marié habe darauf bestanden, dass ihre Eingangsarie dreizehn Mal umgeschrieben werde, wobei die genaue Zahl wohl nie bekannt werden wird! Sie wollte eine Arie, vorzugsweise im Stil einer spanischen Volksweise, die ihre Figur als Zigeunerin sofort etablieren sollte, nicht als Primadonna einer Oper. Sie schlug etwas Spanisches vor, und schließlich (vielleicht aus Verzweiflung) adaptierte Bizet eine Melodie des beliebten spanischen Komponisten Sebastián Iradier und verwarf Halévys Text zugunsten seines eigenen. (In der ersten veröffentlichten Klavierauszugpartitur wurde diese Entlehnung noch erwähnt, verschwand jedoch nach und nach in den verschiedenen Neuauflagen.) Übrigens schrieb er auch den Text für Carmens Solo im „Kartentrio” im 3. Akt um. (…)

Bizet „Carmen 1874“: nach vielem Hin und Her sang Célestine Galli-Marie die erste Carmen/hier im Kostüm, Gemälde von Henri Lucien Doucet 1887/Wikipedia

Hatte Bizet vielleicht begonnen, an der musikalisch-dramatischen Integrität zu zweifeln, für die er so leidenschaftlich gekämpft hatte, und stimmte deshalb diesen Kürzungen zu? Und war es diese Erkenntnis, die zu seiner Depression nach der Aufführung beitrug, die seine Freunde bemerkten (und die vielleicht zu seinem frühen Tod nach der 31. Vorstellung der Carmen beitrug?) Wir werden es nie erfahren. Paul Dogan/ Utah Opera/DeepL/G. H.

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Besetzung Hamburg Elbphilharmonie 25. März 2024: B’Rock Orchestra; Chœur de Chambre de Namur; Kinderchor der Opera Ballet Vlaanderen; Gaëlle Arquez Carmen; François Rougier Don José; Thomas Dolié Escamillo; Sabine Devieilhe Micaëla; Margot Genet Frasquita; Séraphine Cotrez Mercédès; Grégoire Mour Remendado; Emiliano Gonzalez Toro Dancaïre; Yoann Dubruque Moralès; Frédéric Caton Zuniga; Leitung René Jacobs; weitere Konzertante Erstaufführungen nach der Neuausgabe: 12.3.2024 Antwerpen (De Singel), Solisten, Chor und Orchester B’Rock, Leitung: René Jacobs, weitere Aufführungen: 14.3.2024 Paris (Philharmonie), 16.3.2024 Dortmund (Konzerthaus), 17.3.2024 Köln (Philharmonie), 25.3.2024 Hamburg (Elbphilharmonie), 27.3.2024 Madrid (Teatro Real). 

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Dank an den Bärenreiter Verlag/ Johannes Mundry/ takte-online für die Übernahme des Textes von Paul Prevost, Dank an René Jacobs für seinen ausgiebigen Artikel zu „seiner“ „Carmen 1874“, den wir dem Programmheft zu der konzertanten Aufführung in Paris 2024 entnommen haben/Übersetzung DeepL/G. H., Dank an das B´Rock Orchestra und Britt Ryckebosch für das obige Foto und Dank an Paul Dogan für seine Einführung zu „Carmen“ an der Utah Opera 2016. Foto oben Britt Ryckebosch / DE SINGEL, Antwerpen

Zum Hunderfünfzigsten

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Zum Bizet-Jubiläum (Georges Bizet gest. 1875) ist jetzt beim Label Erato auf 16 CDs eine Jubiläumsbox erschienen.  Bizet gilt ja den meisten „nur“ als Komponist der einen Oper: Warum ist sein Hauptwerk, die Carmen, so erfolgreich und verdrängt  sie die Kenntnisse seiner anderen Werke?  Das ist gar nicht einfach zu beantworten. Ich orientiere mich da immer an einen sehr klugen Satz von Tucholsky, wenn ich selber hilflos bin, der mal gesagt hat, im Zusammenhang mit einem berühmten Roman, bei ganz großen Erfolgen sollte man gar nicht so sehr aufs Werk gucken, sondern eher aufs Publikum, also auf den Rezipienten, und den analysieren, warum der das eigentlich gut findet. Und das passt ja eigentlich auch ganz gut. Wenn man genauer hinguckt: Die Hits stecken ja eher alle in der ersten Hälfte. Und dann wird es auch sehr düster in dem Schmugglerbild. Der Schluss ist ziemlich brutal und so. Es ist jetzt eigentlich gar nicht die typische Publikumsoper, aber vielleicht steckt ja auch was Atavistisches in dem Stück, das uns anspricht. Liebe, Eifersucht, Verbrechen und das alles aber auf einem hohen Niveau, auf sehr raffinierter Art und Weise, musikalisch, Schmuggel, Brutalität. Das sind ja auch Themen, die die Massenmedien bis heute beschäftigen. Seit 200 Jahren kann man sagen. Und das bewegt uns heute auch noch. (Ein Artikel zur „Ur-Carmen“, wie sie Bizet eigentlich wollte, folgt zeitnah in diesem Jahr).

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Die Erato-Edition ist ein ganz gewichtiger Würfel, auch schön gestaltet auch. Aber Warner/Erato bringen ja in diesen Editionen in der Regel nichts Neues, sondern Best-Offs der VergangenheitDa steht zwar Erato drauf, da ist aber Warner drin. Das heißt im Grunde ist das ein Archiv, das Warner gekauft hat von der EMI und allem, was an der EMI dranhing. Da gab es noch kleinere Labels, eben wie Erato und Virgin Classics. Warner hat 2012 dies Riesenarchiv gekauft.

Ich liebe diese Editionen, weil es ein fantastisches, großes Archiv ist, wo tolle Sachen drin sind. Und dann sind die aber auch, und das ist ja auch wichtig, immer gut oder fast immer gut kuratiert. Und auch haptisch immer sehr elegant gemacht mit schönen Covers, meistens auch aus der Zeit des Komponisten, wo man dann so Gemälde verwendet aus der Zeit. Es gibt auch, muss man ehrenhalber sagen, aufwendigeres und noch eleganteres auf dem Markt, aber dann wird es auch teurer. Und hier hat man immer so ein gutes Verhältnis von Preis und Leistung. Aber die Auswahl in dieser Box ist auch verwirrend, weil nicht immer nachvollziehbar.

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Es gibt sehr viele Aufnahmen der Oper Carmen.  Welche ist hier drin? Gleich zwei, zu Recht, denn es gibt ja zwei Versionen. Eine mit Dialogen und eine mit Rezitativen. Und hier hat man sich entschieden die Dialogfassung 1875 mit Simon Rattle am Pult und Magdalena Koszena sowie Jonas Kaufmann zu nehmen. Als Rezitativfassung hat man sich für eine populäre entschieden, nämlich die mit Callas und Gedda.  Das finde ich nicht so überwältigend. Die Callas ist längst jenseits ihrer guten Tage und Gedda wirkt recht trocken im Ton. Die alte mit Cluytens hat einfach mehr Schmiss, und auch sonst hatte der Emi-Verbund mehr zu bieten. Zumals die Callas-Aufnahme ja noch einzeln zu haben ist.

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Neben den beiden Carmen-Aufnahmen bleiben noch ein paar CDs übrig. Da gibt es, ganz spannend, ein rares Fragment, das nicht fertig geworden ist. Ivan V. hört man hier in einem recht antiken Querschnitt des französischen Rundfunks mit Jeannine Michau – immerhin. Und natürlich fehlt nicht die zweitbekannteste Oper, die Pêcheurs de Perles (Hendricks & Aler, da wäre die mit Vanzo & Cotrubas sehr viel netter gewesen, zumal weil damals nach der neues Edition dies eine Sensation war und sie seit langem  vergriffen ist)

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Und als drittes beigelegt, zu meiner großen Freude, ist eine Oper, La jolie Fille de Perthvon der es nur ganz wenige Gesamtaufnahmen gibt, wenn überhaupt. Und sie wird auch extrem selten gespielt.  Auch unter Prêtre, wie die Aufnahme der Callas, allerdings viel später in den 80ern aufgenommen, lange vergriffen, auch mit bekannten Sängern dabei wie (der recht trockene und wenig jugendliche) Alfredo Kraus, José van Dam und (leider die intonations-problematische) June Anderson. Toll, dass das Mädel aus Perth in dieser Box jetzt wieder da ist. Von der musikalischen Qualität her finde ich die Oper ziemlich nah an der Carmen. Sie ist viel dichter, lyrischer, geschlossener als zum Beispiel die Perlenfischer, die für mich immer so ein bisschen erratisch wirken und auch ihre anämischen Momente haben. La jolie Fille de Perth ist eine Liebesgeschichte nach Walter Scott. Hoch inspiriert, finde ich. Ein Einfall jagt den nächsten. Und es ist für mich immer ein Rätsel, warum wir diese Oper nie zu sehen bekommen oder zu hören. 

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Wie gut ist eigentlich das Gesamtwerk mit dieser Box dokumentiert?  Bekommt man einen guten Überblick über sein Schaffen? Eigentlich nicht. Das wird hier aber, glaube ich, gar nicht erst angestrebt. Es bleibt ein Griff in die Kiste des Emi-Verbundes. Die Frage ist vielleicht auch: Muss das unbedingt sein? Eine Würdigung seines Gesamtschaffens gehört, finde ich, eher in den akademischen Bereich. Nicht alles, was Bizet gemacht hat, ist auch auf ganz hohem Niveau. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Bizet ganz früh gestorben ist. Er ist  ja nur 36 Jahre alt geworden. Und vieles, was wir von ihm haben, sind eben auch tastende Versuche, Wettbewerbsbeiträge, Gelegenheitsarbeiten. Die findet man in einer größeren Edition vom Palazzetto Bru Zane, wo man viel Unbekanntes hört, was bis vor kurzem kaum bekannt gewesen.

Aber eben vieles von Bizet, was wirklich gut ist, bringt diese Box doch in einer passablen Bandbreite, eben auch Lieder, seine Kantate Clovis und Clotilde und natürlich auch die beliebten Suiten wie Jeux d´enfants oder die L´Arlésienne. Und es gibt auch Historisches? Das ist dankenswerter Weise so ein Standard bei diesen Komponistenporträts, bei diesen Boxen von Warner, geworden, dass sie da immer auch historische Schätze dazulegen. Zwei, drei CDs werden dafür dann immer reserviert. So auch hier wieder. Da finden sich zum Teil wirklich himmlische Sachen dabei, auch schrille, Aufnahmen aus den Jahren von 1903. auch aus 1943 (Brohly, Beyle, Calvé, de Lucia, Huguet, Minghini Cattaneo, Thill natürlich und Gigli). Und zu entdecken ist zum Beispiel ein Carmen Potpourri für die Schellack-Platten, extra dafür 1930 komponiert (Waxmann). Der wäre natürlich längst vergessen, würde hier nicht überraschenderweise ein ganz großer Dirigent am Pult stehen, nämlich John Barbirolli. Mit einem rätselhaften Instrument, fast wie ein Harmonium. Es könnte auch eine zittrige Oboe gewesen sein. Vielleicht nicht das beste Orchester, aber wirklich toll gemacht. Dazu interessante Arrangements von Guiraud, Kolpiloff, Rachmaninoff, Ducros und Tharaud.

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Es gibt jedoch ein paar Kompositionen Bizets, die mir in dieser Box fehlen.  Ein paar empfindliche Lücken hat das Ganze schon. Die klaffen aber auch deswegen, weil Warners Archiv nicht alles besitzt. Vielleicht hätte man von anderen Firmen einiges ausborgen können. So z.B. eine wunderbare Klaviertranskription des Don Giovanni. Die ist hier nicht dabei. Und was ich vermisse, sind die schönen Operneinakter, so den Docteur Miracle oder Djamilé.  Aber wer das haben will muss sie eben woanders suchen (Abbildungen: Ansicht auf Arles/Wikipedia;  „La joilie fille de Perth“/zeitgenössische Illustration/Palazzetto Bru Zane). M. K./G. H.

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Georges Bizet (1838-1875). Mit June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux und weiteren.

Orchesterwerke: Symphonie C-Dur; Ouvertüre A-Dur; Trauermarsch h-moll; La Jolie Fille de Perth-Suite; Orchestersuite Nr. 3 „Roma“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Les quatre Coins; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; L’Arlesienne-Bühnenmusik; L’Arlesienne-Suiten Nr. 1 & 2; Carmen-Suiten Nr. 1 & 2

+Jeux d’enfants-Suite op. 22 für Klavier 4-händig

+Lieder & Chorwerke: Kantate „Clovis et Clotilde“; Pastorale; Ouvre ton coeur; Adieu de l’hotesse arabe; Feuilles d’album Nr. 3 & 5; La Chanson du fou; Agnus Dei nach dem Intermezzo aus L’Arlesienne-Suite Nr. 2

+Opern: Les Pecheurs de Perles; Ivan IV; La Jolie Fille de Perth; Carmen (in zwei Versionen)

+Bizet-Arrangements – Pablo de Sarasate: Carmen-Fantasie op. 25 für Violine & Orchester / Franz Waxman: Carmen-Fantasie für Trompete & Klavier / Habanera aus Carmen für Cello & Orchester / Carmen-Potpourri; Adagietto & Minuetto aus L’Arlesienne für Klavier

+Historische Aufnahmen 1903-1943 – Symphonie C-Dur; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Roma-Suite (Auszüge); La Jolie Fille de Perth-Suite; L’Arlesienne-Bühnenmusik; Carmen-Suite Nr. 1; Carmen (Auszüge); Les Pecheurs de Perles (Auszüge)

Künstler: June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux, Jose van Dam, Michel Beroff, Jean-Philippe Collard, Michel Dalberto, Alexandre Tharaud, Gautier Capucon, Itzhak Perlman, Berliner Philharmoniker, Liverpool Philharmonic Orchestra, London Philharmonic Orchestra, Nouvel Orchestre Philharmonique, La Scala Orchestra, Orchestre de Chambre de Paris, Orchestre de l’Opera National de Lyon, Orchestre de Paris, Orchestre National du Capitole de Toulouse, Orchestre National de France, Orchestre National de la RTF, Orchestre National de Lille, Orchestre Symphonique de Paris, Orchestre de l’Opera Royal, Royal Philharmonic Orchestra, Daniel Barenboim, John Eliot Gardiner, Paavo Järvi, Seiji Ozawa, Michel Plasson, Georges Pretre, Simon Rattle, Georges Tzipine.

Erato 16 CDs.

5021732422729

Aufnahmejahr ca. 1903-2012/ Erscheinungstermin:/ 23.5.2025/ Quelle cpo

Heimspiel

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Eine willkommene Überraschung ist es für jeden Venedigbesucher, vom Rialto kommend in eine enge Gasse einzubiegen und plötzlich auf einer Piazzetta und vor einem Opernhaus, dem Teatro Malibran, zu stehen. Wenn das Fenice, so nach der letzten Brandstiftung, nicht bespielbar ist, dient es als Ausweichquartier, und in den Neunzigern erlebte man hier mit Marcello Viotti schöne französische Opernabende, so mit Massenets Le Roi de Lahore oder Aubers Le Domino noir. Jetzt ist es als Ableger des großen Opernhauses eine Art Kammeroper, die 2024 eine Aufführung von  Antonio VIvaldis Pasticcio Il Bajazet erlebte.

Die Geschichte um den Macht- und Liebeskampf der orientalischen Herrscher Bajazet, Tamerlano und des Andronico, mehr noch um deren verzwickte Liebesabenteuer, enthält bereits in anderen Werken verwendete Arien, daneben viele neu komponierte und die anderer Komponisten, so auch des Deutschen Hasse.

Eigentlich ist alles klar, wer wen liebt und dementsprechend heiraten soll, doch die Laune des Tyrannen und die Eifersüchteleien der Damen Asteria, Tochter des Bajazet, und der Irene, promessa sposa von Tamerlano, bringt alles ins Wanken und ist Anlass für viele Liebes- und Eifersuchtsszenen, endet mit dem Gifttod der Titelfigur und einer Doppelhochzeit. Unvermählt und auch unvergiftet bleibt nur Idaspe, Vertrauter in Mannesgestalt mit Countersopranstimme, hier aber ein weiblicher Sopran als Vertraute.

Die optische Umsetzung müsste eigentlich Genuss für den konservativen Opernbesucher und ein Gräuel für den Modernisten sein und zugleich umgekehrt, denn Regisseur Fabio Ceresa spielt ungemein souverän auf der Klaviatur des ironischem Traditionalismus wie auf der des ins Absurde getriebenen Neuerungssucht, wenn einmal eine Arie in einem wunderschönen, in Kostbarkeit prunkendem Palast in Kostümen,. die im bis zur Karikatur gesteigerten Modebewusstseins vergangener Zeiten das Stilempfinden ausreizen, gesungen wird, mal in einer schäbigen Einbauküche der Fünfziger der Liebhaber in Unterhose und mit Sockenhaltern ohne jede erotische Ausstrahlung leidenschaftlich singen muss, in Gasherd, am Lampenkabel oder Küchenmesser vergeblich sein Dasein beenden möchte, wenn Dornröschen in sein Gegenteil mit schlafendem Prinzen und wachküssender Prinzessin verkehrt wird, Jack the Ripper im nebelsatten London sein Unwesen treibt oder der My-Fair-Lady-Film mit Audrey Hepburn in Ascot als eine der handelnden Personen verfremdet erscheint. Öffnet sich also der Vorhang immer wieder zu neuen, überraschenden Szenen, so sitzen die sechs gleich stark geforderten Solisten gemeinsam oder einzeln ganz in Schwarz auf der Vorderbühne, liefern von hier aus auch einige ihrer Arien ab- das Stück ist von auch für die damalige Zeit beachtlicher Länge und wird doch nie zu lang, geschweige denn langweilig. Dazu kommt, dass es trotz allen szenischen Übermuts  ernst genommen wird. Die Bühne stammt von Massimo Checchetto, die Kostüme entwarf Giuseppe Palella. Übersprudelnde Heiterkeit schwingt anstelle von verbissener Ideologieverbohrtheit das Zepter.

Ein großes Verdienst kommt dem Orchestra del Teatro La Fenice di Venezia zu, das unter der Leitung von Federico Maria Sardelli so frisch, so heiter, so prickelnd spielt, als wären alle vier Jahreszeiten gleichzeitig ausgebrochen, man meint den Musikern anzumerken, dass sie mit Begeisterung bei der Sache sind.

Für den Bajazet hatte Vivaldi einen Tenor oder Bariton vorgesehen, Renato Dolcini besitzt einen schlanken, dunklen, koloraturgewandten Bassbariton. Den in Asteria verliebten, aber Irene heiraten sollenden, dann aber doch Asteria bekommenden  Andronico singt Raffaele Pe mit  reizvollem Timbre, beherrscht irrsinnige Intervallsprünge und weiß mit „Spesso tra vaghe rose“ zu bezaubern. Sonia Prina hat für den wetterwendigen Tamerlano einen vollmundigen Alt und viel darstellerische Wandlungsfähigkeit. Asteria ist Loriana Castellano, sie singt  mit reichen Farben eines Mezzosoprans ihr „Qual furore, qual affano“. Lucia Cirillo ist Irene, die als sposa disprezzata Sopranglanz und ab und zu auch etwas Schärfe beisteuert. Über einen zauberhaften Fächertanz kann man sich beim Auftritt von Valeria La Grotta als Idaspe freuen und dazu über souveräne Koloraturen.

Die Stärke der Aufnahme liegt in den durchweg guten Solisten und in der liebevoll, augenzwinkernd und pfefferreich optisch wie akustisch souverän gestalteten Aufführung. Dazu handelt es sich um eine Weltpremiere auf Video (Dynamic 38056). Ingrid Wanja   

Auf den Spuren des Vaters

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Wieder bringt das Label Château de VERSAILLES eine veritable Rarität heraus – die 1714 in Paris uraufgeführte  Tragédie en musique Télémaque et Calypso von André Cardinal Destouches, der nach dem Besuch eines Jesuitenkollegs in Paris bei André Campra Komposition studierte. Er gilt als ein Nachfolger Lullys und errang die Aufmerksamkeit von Louis XIV.. Seine fünf tragédies en musique – alle in der Manier Lullys mit fünf Akten und einem Prolog – wurden ausnahmslos an der Opéra de Paris aufgeführt. Télémaque fand eine zwiespältige Aufnahme, 1730 gab es eine revidierte Fassung, welche für diese Einspielung genutzt wurde.  

Sie ist eine Weltpremiere, entstand im Oktober 2023 in Puteaux und wurde – wie stets mit informativem Booklet – auf zwei CDs veröffentlicht (CVS 128). Der Unterschied zum Original betrifft vor allem das Finale – nun ein lieto fine nach dem dramatischen Schluss der Erstfassung mit einem Sturm und der Zerstörung von Calypsos Insel. Als Trauernde hatte sie dort versucht, den jungen Schiffbrüchigen Télémaque zu verführen.

Mit Les Ombres wurde ein weniger bekanntes Ensemble verpflichtet, das unter seinen Begründern Margaux Blanchard und Sylvain Sartre solide und mit musikantischem Schwung musiziert, damit ganz sicher auf dem Weg zu den führenden Orchestern in diesem Genre ist.

In der weiblichen Titelrolle klingt Isabelle Druet etwas anonym, steigert sich aber im letzten Akt zu imposantem Format, besonders in dessen Einleitung mit der fulminanten  Szene „Haine, dépit, fureur“. Prominent besetzt ist die Antiope, Calypsos Gegenspielerin und verkleidet als Eucharis, mit Emmanuelle Emmanuelle de Negri. Die Sopranistin singt vorzüglich, ist auch eine exzellente Interpretin in der Klangrede. Mit Télémaque, den der Haute-contre Antoine Rondepierre kompetent und expressiv singt, hat sie im 3. Akt im Rahmen des Divertissements Chaconne pour les Démons transformés en Nymphes ein reizvolles Duett. Ein erfahrener Sänger im Barock-Repertoire ist David Witczak, der als Adraste, König von Thrakien und Verehrer Calypsos, mit resonantem Bariton beeindruckt. Die junge Sopranistin Hasnaa Bennani übernahm nicht weniger als fünf Rollen, darunter L´Amour, Cléone und Une Prêtresse de Neptune. Erwähnenswert sind noch der Bassbariton Adrien Fournaison als Apollon und Idas sowie die Mezzosopranistin Marine Lafdal-Franc als Minerve und Grande Prêtresse de l´Amour (19. 06. 24). Bernd Hoppe                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    

 

Spirituelle Alterssünde

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Im Jahre 1830 beschloss Giacchino Rossini, sein Opernschaffen, das sich immerhin über knapp zwanzig Jahre erstreckt hatte, zu beenden und sich nur dem Wohlleben in Paris hinzugeben. Mit weiteren 38 Jahren hatte er vielleicht nicht gerechnet, so dass es nicht verwundert, dass er sich hin und wieder einer oft gar nicht so kleinen „Alterssünde“, wie er es nannte, hingab, zu denen auch die

gehört, eine ihrem Titel widersprechende umfangreiche Messe für vier Solisten, Chor, allerdings nur Harmonium und zwei Klaviere als Begleitung. Auf letztere mag sich die Bezeichnung „petite“ beziehen, allerdings komponierte Rossini kurz vor seinem Tod noch eine Orchesterbegleitung, wahrscheinlich in der nicht unberechtigten Befürchtung, sonst würde es ein anderer Komponist tun.

Die Messe war für die Einweihung der Kapelle für einen befreundeten verstorbenen Adligen gedacht, von dessen Witwe und Sohn in Auftrag gegeben, die auch die Uraufführung organisierten. Neben dem Stabat Mater gehört sie zu den populärsten geistlichen Werken Rossinis, auch wenn diese durchaus weltliche Züge zeigen und damit die Opernvergangenheit ihres Schöpfers nicht verleugnen können.

Die Aufnahme der Rheinischen Kantorei unter Edzard Burchards kommt mit einem Klavier (Tobias Koch auf einem Érard-Flügel) aus, der energisch dem Kyrie vorangeht. Das Prélude religieux zu Beginn der zweiten CD hat mit dem Spiel von Christian Gerharz auf dem Harmonium einen weit sanfteren, religiöser klingenden Beginn.

Tadellos harmonisch nimmt sich die Reheinische Kantorei, acht Stimmen, zwei für jedes Stimmfach, seines umfangreichen Parts an, betont eindeutig den religiösen Charakter des Werks, ist wie ein zarter Schleier im Hintergrund am Schluss und kann   auch überaus schwungvoll zu Werke gehen. Edzard Burchards hat aus ihm einen hörbar vorzüglichen Klangkörper gemacht. Wie es heute um ihn steht, weiß man nicht, denn die Aufnahme wurde bereits im Rahmen des Festivals Alte Musik Knechtstetten im Jahre 2016 gemacht.

Von den Solisten sind zu allererst die Damen lobend hervorzuheben. Der Sopran Dorothee Mields verfügt über eine klare, reine, engelsgleiche Stimme, die wie entrückt singen kann, ganz besonders das „O salutaris hostia“ erweckt diesen Eindruck. Gemeinsam mit dem Sopran, aber auch bei ihren Soli kann der Alt Nicole Pieper mit Wärme und Geschmeidigkeit prunken. Der Tenor Tobias Hunger klingt sehr hell, verblasst manchmal im Duett mit dem Bass neben diesem, verfügt aber über ein kraftvolles Forte, mitunter hört sein Beitrag sich reichlich verhangen an. Bruchlos und markant nimmt sich der Bass Felix Schwandtke seiner Partie an, nur stellenweise etwas hohl klingend. Insgesamt sind das zwei CDs, mit denen man durchaus 90 angenehme Minuten verbringen kann (CPO 555 232-2): Ingrid Wanja

Sintflut optisch & akustisch

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Wer im Herbst 2023 bei den alljährlich in Bergamo stattfindenden Donizetti-Festspielen in des Komponisten azione tragica sacra mit dem Titel Il diluvio universale geraten war, konnte stellenweise vermuten, er befände sich im falschen Stück, denn das mit wenig Erfolg in Neapel uraufgeführte Werk hatte Donizetti später als Steinbruch für Anna Bolena gedient, und als Genua zu seiner Überraschung danach verlangte, hatte er Teile neu komponieren müssen. Trotzdem hatte man sich in Bergamo für die Fassung aus Neapel entschieden, und wie immer zuverlässig hat das Label Dynamic davon eine Aufzeichnung gefertigt.

Der Untertitel vermeidet nicht zufällig die Bezeichnung opera, ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass man nach einem Stück für die Fastenzeit verlangt hatte. Natürlich vermutet man, dass in einem Stück über die Sintflut Noah und seine Familie sowie ein Paar jeder Tierart im Mittelpunkt stehen, es geht aber im wesentlichen um das Königspaar Cadmo und dessen Gattin Sela, die heimlich den Glauben Noès, so die italienische Form, angenommen hat und dafür mit Scheidung und dem Entzug ihres Sohnes bestraft wird. Im letzten der drei Akte sind diese beiden auch neben dem Chor die Einzigen auf der Bühne, allerdings hat die Regie darin wohl auch eine Schwäche des Stücks gesehen und lässt deshalb Noè als stumme Person auf der Bühne anwesend sein. Seine drei Söhne und ebenso viele Schwiegertöchter reihen sich allesamt in Schwarz gekleidet in den Chor ein, der an einer langen Tafel aufgereiht ist, die sich zusehends mit sich schnell leerenden Rotwein(?)gläsern bedeckt. Auf der Bühne herrscht also eher oratorienhafte  Unbeweglichkeit, während die sehr viel mehr Raum einnehmende Videowand ein mit der Zeit nervendes Kunterbunt von oft mehreren Filmen gleichzeitig, oft von Wasser, was einleuchtet, aber auch Großaufnahmen von Gesichtern und vieles andere wie zum Beispiel unappetitliche Zubereitung von Mahlzeiten  zeigt. Da ist man als Betrachter der Video-Aufnahme zunehmend dankbar, dass man oft nur einen Bruchteil dessen sieht, was dem Publikum im Saal zugemutet wurde.

Donizettis „Sintflut“ auch nur-akustisch (Naxos 8.660580-81)

Wie gewohnt in Bergamo steht am Dirigentenpult Riccardo Frizzi, der sich im Booklet vehement für das Werk einsetzt, es in eine Reihe mit Rossinis Mose und Verdis Nabucco stellt, und tatsächlich  ist vor allem die Musik für den Chor höchst eindrucksvoll und wird ebenso vom Coro dell’Accademia della Scala dargeboten. Das Sextett der Noe-Nachkommen, eine Preghiera voller Innigkeit, ist einer der Höhepunkte, denn die jungen Stimmen aus der Bottega Donizetti sind geschmeidig und leuchtend. Eine Regie wird allerdings weder diesem noch den Solisten zuteil, das Duo MASBEDO beschränkt sich auf die Auswahl wilder Videopassagen, Solisten und Chor blieben wohl weitgehend sich selbst überlassen und behelfen sich mit dem Hantieren mit den Gläsern.

Die Partie des Noè verlangt nach einem basso cantante, als welcher sich Nahuel Di Pierro mit geschmeidiger, zu schöner Phrasierung fähiger Stimme darstellt. Sela ist Giuliana Gianfaldoni mit weichem, beweglichem Sopran etwas anonymer Färbung, der aber in einer höchst virtuosen Arie glänzen kann. Erstaunlich ist die Leistung der noch der Bottega Donizetti angehörigen Mezzosopranistin Maria Elena Pepi, die einen substanzreichen Mezzo für die falsche Freundin Selas, Ada, hat.

Die Videoaufzeichnung ist eine Welturaufführung, die man durchaus und vielleicht sogar intensiver auch als CD genießen kann. (Dynamic 38029) Ingrid Wanja

Im Doppel

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Jean-Philippe Rameau komponierte sein Acte de ballet Pygmalion 1748, nur wenige Monate nach der Uraufführung seines heroischen Balletts Zais an der Académie royale de musique in Paris. Dort kam auch das neue Werk zur Premiere – mit dem Ziel, die Institution vor dem finanziellen Ruin zu retten. Es fand eine zurückhaltende Aufnahme, stand fast im Schatten der Komödie Le Carnaval et la Folie von André Cardinal Destouches (dessen Télémaque & Calypso auf diesen Seiten kürzlich vorgestellt wurde), welche mit Rameaus Komposition kombiniert wurde. Nach einer erfolgreichen Wiederaufnahme 1751 gewann das Stück an Beliebtheit. Im 20. Jahrhundert zählte es zu den am häufigsten aufgeführten Kompositionen Rameaus und weist auch eine lange Liste von Einspielungen auf (McGegan, Leonhardt, Christie, Niquet).

Die Neuaufnahme entstand im Oktober 2024 in Versailles mit dem Ensemble Il Caravaggio unter Leitung von Camille Delaforge und wurde – wie stets reich ausgestattet – auf einer CD veröffentlicht (CVS182). Das etwa 45 Minuten dauerte Werk wird dominiert von Mathias Vidal in der Titelrolle, dessen klagender Tenor die Nöte des Bildhauers, der sich in die von ihm geschaffene Statue verliebt hat, plastisch vermittelt. In seiner finalen Ariette „Règne Amour“ kann er aber auch virtuos auftrumpfen. Die französische Sopranistin Louise Bourgeat als Statue haucht dem anfangs stummen Geschöpf Leben ein, erwacht mit einem Bonmot in der französischen Oper: „Que vois-je? Où suis-je?“ Alles hat L´Amour bewirkt, den die französische Sopranistin Catherine Trottmann mit munterem Ton singt. Die Besetzung wird komplettiert von Laura Jarrell, die Pygmalions Gattin Céphise mit strengem Mezzo porträtiert.  Il Caravaggio erfreut besonders in den tänzerischen Episoden (Air, Menuett, Sarabande, Tambourin, Pantomime, Contredanse) mit lebhaftem Zugriff und Esprit.

Interessant ist die Kombination mit dem gleichnamigen Werk von Antoine Bailleux, das um 1760 entstand und der Gräfin von Persan gewidmet ist, die wahrscheinlich die Gesangsschülerin des Komponisten war. Der Untertitel (oder Genrebezeichnung) Cantatille dans le goût italien verweist auf den bravourösen Stil der beiden vorgestellten Airs. Vor allem das zweite, „Amour, quelle cruelle flamme“, ist eine wahre tour de force an Koloraturläufen, welche Catherine Trottmann mit Avec serviert und souverän bewältigt.

Schließlich findet sich noch ein Bonus von Jean-Baptiste Lully – das getragene Air de la Beauté „Si l´amour vous soumet“ aus Le mariage forcé, das die junge, sehr talentierte Sopranistin Apolline Rai-Westphal mit Geschmack und Kultur vorträgt (19. 06. 24). Bernd Hoppe

The Grisi-Double-Act

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Noch ein Ballet von Adolphe Adam. Jetzt geht es um Griseldis, neu bei Naxos unter Dario Salvi (8.574621-22). Erstaunlicher Weise ist das keine Meterware, sondern hier gibt es ein paar Überraschungen, die vom „normalen“ Ballett abweichen und in Richtung Oper gehen. Griseldis ist ja ein bekannter Topos in der Oper, von Scarlatti bis Massenet. Dies hier hat damit aber gar nichts zu tun, zu meiner eigenen Überraschung. Hier gibt es eine völlig andere Handlung und war eine Hommage war an die Tänzerin Carlotta Grisi(* 28. Juni 1819 in Visinada, als Caronna Adela Giuseppina Maria Grisi † 20. Mai 1899 in Saint-Jean, Genf, Schweiz). Sie war Tänzerin und sang zudem (die berühmten Opernsängerinnen Giusitta und Gulia Grisi waren ihre Cousinen). Man hat ihr schmeicheln wollen und namensgleich diesen Titel gewählt. Giselle war ja Adams Kassenschlager. Adam hat bekannter Maßen viele Ballette geschrieben, 13 oder 14 Ballette gibt es von ihm. Und zwei davon waren immer vergleichsweise sehr populär. Giselle und mit ein bisschen Abstand der Corsair. Die anderen werden eben jetzt allmählich wiederentdeckt. Besonders, weil sich das Label Naxos dahinter klemmt. Mit Griseldis erscheint bei denen bereits das fünfte Adam Ballett auf CD. Bisher gibt es so seltene Titel wie das Patenkind der Feen oder Orpha. Und ich finde das toll, dass das Label das macht. Adam ist schon ganz wichtig für die Geschichte des Balletts.

Er ist der erste bedeutende, überhaupt moderne Ballettkomponist. Derjenige, der das Handlungsballett zwar nicht gerade erfunden hat, aber es zur romantischen Großform erhoben hat. Ohne ihn ist dieser Wandel von der vergnüglichen Tanzeinlage, die es ja vor allem in Opern gab, zum programmatischen Abend à la Schwanensee gar nicht denkbar. Und er hat der Ballettform entscheidende Schübe in Richtung Moderne verpasst. Er hat zum Beispiel das Leitmotiv im Ballett eingeführt. Er hat große Spannungsbögen innerhalb der Akte eingebaut und vieles mehr.

Griseldis ist so ein innovatives Ballett. 1848 aufgeführt. Und das ist besonders spannend, weil hier Adam versucht, das Ballett auch um die Attraktionen der Oper zu erweitern. Zum Beispiel gibt es einen unsichtbaren Summchor, der im Vorspiel auftaucht. Das ist schon verrückt. Natürlich gibt es hier auch den ganzen pseudoromantischen Kram, der damals hochmodern.  Wieder ein Prinz und eine Prinzessin, die sich da finden wollen. In einem surrealen Moldawien, irgendwo im Böhmischen Wald. Und es gibt auch Beschwörungen, eine große Hypnoseszene, Mesmerismus. Also alles wie gehabt. Aber wenn man genauer hinsieht, dann staunt man doch über die aufklärerische Struktur in diesem Werk. Adam wollte mehr schreiben als nur ein Ballett von der Stange. Diese Bilder, diese Tableaus, sind den fünf Sinnen gewidmet. Eine schöne Idee. Sie sind überschrieben mit Sehen, Hören, Berühren, Riechen, Schmecken. Das letzte Bild ist dann nochmal eine Transzendenz. Das heißt dann Einsicht, wo man auf eine höhere Sphäre gelangt. Ganz schön philosophisch für so einen Entertainment-Komponisten.

Carlotta Grisi in der Titelrolle von „Giselle“ (1. Akt), 1842/Wikipedia

Adam hat sich bemüht, eine recht  komplexe Handlung zu vertonen und eben nicht so viel Dekoratives zu schreiben. Es gibt erstaunlich viele handelnde Elemente und nicht so viel Drumrum-Brimborium, wo nur auf- und abgetanzt wird. Vieles ist zum Teil sehr schön instrumentiert in fast Meyenbeerscher Manier, sehr melodiös. Der Clou ist, dass dieses Stück auf einen Megastar, Carlotta Grisi, zugeschnitten war.  Sie hatte sich damals rar gemacht, und man überlegte, was man der Prima Donna bieten musste, dass sie wieder auf die Bühne zurückkehrte. Und kam auf eine gemischte Offerte, eben tanzen und singen.  Und deswegen hat man ihr auch ein paar Takte zum Singen gegeben – ein Grisi-Doppel-Akt sozusagen.

Und das ist hier natürlich auch zu hören. Ich hätte mir ich eine andere Vokal-Besetzung gewünscht. Maria Jelic auf dieser neuen Aufnahme ist nicht gerade ein Superstar. Schade wirklich, weil sie eigentlich mit der Gesangseinlage der Höhepunkt des Werks ist und hier doch ziemlich schütter wirkt. Ich finde es aber dennoch total außergewöhnlich, dass in einem Ballett überhaupt gesungen wird. Der Dirigent Dario Salvi ist die Seele solcher Entdeckungen, nicht nur bei Naxos. Man muss das so deutlich sagen. Er buddelt in den Archiven, ediert das Material und klemmt sich mit enormer Leidenschaft hinter solche Projekte. Im Detail dirigiert er vielleicht nicht immer elegant, finde ich. Seine Art zu dirigieren ist mir in der letzten Zeit auch bei anderen Aufnahmen ein bisschen zu effekthascherisch. Die Tutti werden oft sehr harsch und sehr rasselnd mit Berserkerwut durchgeklappert. Was dann bei Adam manchmal auch  kurkapellig klingt. Schade. Die Sofia-Philharmonie kommt ihm da auch entgegen und entwickelt eine plakative Lust an rumsigen Effekten (Sofia Philharmonic Orchestra, Sofia Philharmonic Choir). Das macht zwar oberflächlich gesehen was her, aber auf die Dauer raubt es Adam die Eleganz. Salvi klang mit anderen Klangkörpern schon substanzieller und auch subtiler. Dazu kommt hier diese Aufnahmequalität. Die Philharmonie Sofia wirkt erstaunlich ungeeignet, topfig, , mit dumpfem Hall. Das stört auf die Dauer. Die Aufnahme wurde sogar als Weltpremiere angekündigt. Über diese erwähnten Mängel (namentlich die Sopranistin) muss man drüber weghören, und deswegen muss man auch zufrieden sein mit dem, was wir jetzt hier haben. Wie bei älteren Schwarzmarkt-Titeln und Radioaufnahmen muss man sich das ein bisschen schön-hören, anders werden wir´s nicht noch einmal bekommen. Und die Musik ist ja über weite Strecken solide gespielt. M. K./G. H.

Neuer Stern

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Beloved Songs nennt der armenische Tenor Liparit Avetisyan sein auf CD erschienenes Recital von Arien in vier  Sprachen, und beliebter geht es wirklich nicht mehr, wenn sich Nemorino, Edgardo, Duca, Alfredo, Rodolfo, Faust, Des Grieux und Lenski miteinander vereinen, lediglich der Herr aus Iolanta und ein armenischer Liebender scheren da etwas aus der prominenten Reihe. Eng ans lyrische Fach hält sich der Sänger auf der CD, während er auf der Bühne sich bereits ins Spintofach vorgewagt hat, aber eindeutig hören lässt, dass der Tenor noch ein streng lyrischer, sogar dem tenore di grazia zugeneigter ist. Im beiliegenden Booklet verrät er wenig über sich, es gibt lediglich vier Absätze: Auftrittsorte (alle von Bedeutung), Rollen ( alle beliebten und bekannten seines Fachs), nochmal Auftrittsorte, besonders dabei Festivals (ganz, ganz viele) schließlich Dirigenten, Partnerinnen und Partner (umgekehrt wird es wohl nicht geschehen) und Preise (Was gibt es doch für viele, da ist für jeden etwas dabei!). Informationen über Herkunft, Ausbildung, Werdegang und Zukunftspläne wären sicherlich willkommener gewesen für den Opernfreund, der sich wirklich ein Bild von einem sogenannten neuen Stern am Opernhimmel machen will.

Es beginnt also mit Una furtiva Lagrima, für die der Sänger ein helles Timbre, ein gut tragendes Piano und weniger präsentes Pianissimo zur Verfügung hat, einen agogikreichen, manchmal übertrieben unruhigen Vortrag vernehmen lässt und auf dem Credo sich zu einem schönen Aufblühen  entscheiden kann. Edgardo beklagt sein und der teuren Avi Schicksal mit geeignetem Timbre, einem sehr schönen Diminuendo am Schluss und zwischendurch weniger Schattierungen, als man sie sich wünschen würde und dazu eine weniger offen gesungene Höhe.

Die Bollenti Spiriti Alfredos klingen jugendlich, besonders die Cabaletta besticht durch eine gute Phrasierung. Die findet sich auch bei des Duca Parmi veder le lacrime, der die herrschaftliche Attitude in der Stimme hat, mehr Rachgelüste als Mitleid vermittelt und den Schluss mit lyrischer Emphase gestaltet. Ein kraftvoller Spitzenton krönt La donna è mobile, der Kontrast zwischen Leidenschaft und Ironie wird gut herausgearbeitet.

Für die Gelida Manina wünscht man sich ein farbigeres Timbre, wie überhaupt für Puccini, dessen Rodolfo aber noch am ehesten zur hellen Tenorstimme passt.

Mit schöner voix mixte nähert sich Avetisyan dem Gounod-Faust und beweist so nicht nur mit dem strahlenden Spitzenton seine Eignung für das französische Repertoire. Der Massenet-DesGrieux beginnt hauchig, lässt sich später zu leicht zum Schreien verleiten und wirkt dadurch etwas unkontrolliert.

Tadellos gelingt der Lenski, schönes Ebenmaß verbindet sich mit hörbarer innerer Beteiligung, was auch für die Arie aus Iolanta gilt, die mit einem beeindruckenden Falssettone endet.

Dem Heimatland wird mit dem letzten Track stimmschön gehuldigt.

Der in einer Art Nachwort ausgesprochene Dank des Sängers gilt zu Recht dem Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian (Outhere3615). Ingrid Wanja   

Riccis „Birraio di Preston“

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Il Bel Canto Ritrovato Festival im Teatro Sperimentale brachte in Pesaro 2023 Luigi Riccis komische Oper Il birraio di Preston (Der Bierbrauer von Preston). Die ist nun bei der verdienstvollen Firma Bongiovanni als CD_Mitschnitt herausgekommen (die Ausstattung bei Bongiovanni/ GB 2611/12 – 2  enthält wie stets ein schönes Booklet mit einem Artikel Claudio Toscani und das Libretto in Italienisch und Englisch, sowie ein Grußwort vom Intendanten des „Festival Il Bel Canto Ritrovato“, Rudolf Colm). Ingrid Wanjas Rezension der neuen Bongiovanni-CD macht den Anfang, gefolgt von einem Artikel von Charles Jernigan zum Werk und zum Komponisten …

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Iniziativa preziosa: Ab 2022 gibt es, damals mit einer Oper von Pietro Generali,   innerhalb der Regionen Romagna und  Marche, im Geburtsort des Schwans von Pesaro, Giacchino Rossini und des zu den compositori minori gehörenden Lauro Rossi, dessen Wiege in Macerata stand, wieder die neben dem Rossini-Festival stattfindenden Aufführungen von einem der gut sechzig Komponisten mit rund 1300 inzwischen vergessenen Opern, Aufführungen im Zeichen des Festival nazionale del Belcanto ritrovato (in operalounge wurde darüber berichtet). Bisher dahin wurden die Minori verdrängt von den jeweiligen Platzhirschen: neben Rossini noch Bellini aus Catania und Donizetti aus Bergamo.  Macerata ist bereits ausgelastet mit dem Opernfestival im Sferisterio, aber Fano, Urbino, Recanati, wo Beniamino Gigli begraben ist, beteiligen sich gern an dem Unternehmen, das nicht zuletzt die Tourismusströme aus der Toscana in die landschaftlich ebenso reizvollen Marche umleiten will.

2023 stand Luigi Riccis Semiseria Il Birraio di Preston auf dem Spielplan als erste Vorstellung des Werks in modernen Zeiten und natürlich auch erste Aufzeichnung, es spielte das Orchestra Sinfonica „G.Rossini“, die Gesangssolisten stammen aus der Accademia „Alberto Zedda“, dessen unermüdliches Wirken speziell für Rossini und speziell durch seine Edizioni critiche durch die Namensgebung zum Glück angemessen gewürdigt wird. Er hatte bereits für ein ähnliches Unternehmen wie das 2022 wieder aufgelebte gesorgt. Verdienstvoll ist auch die Bereitschaft des Musikverlags Bongiovanni, der immer wieder CDs mit in Vergessenheit geratenen Komponisten auf den Markt bringt, so auch den Bierbrauer aus Preston: da kein Winzer, ins ferne Inghilterra versetzt.

Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Den besten Opernstoff, aber eher den für eine opera seria, liefert das Leben des Komponisten Ricci, der etwas dreißig Opern komponierte, vier davon gemeinsam mit seinem Bruder Federico, und dessen Birraio 1847 im Teatro della Pergola nahe Florenz uraufgeführt wurde. Sein größter Erfolg war allerdings Un‘ avventura di Scaramuccio, und auch Crispino e le comare wurde bis Ende des Jahrhunderts immer wieder aufgeführt. Erst Verdis Falstaff machte ihm wirklich Konkurrenz. Ein totaler Misserfolg allerdings waren seine Nozze di Figaro, die 1838 in Mailand durchfielen. Sein Leben verlief turbulenter als das seiner Opernfiguren, er hatte mit den beiden älteren Schwestern von Teresa Stolz gleichzeitig ein Verhältnis und wurde durch beide derselben Vater. Eine Schwester heiratete er, die andere blieb seine Geliebte. Sein Dasein beendete er schließlich in einem Irrenhaus in Prag.

Im Birraio di Preston geht es um eineiige Zwillinge, deren einer Brauer, der andere Offizier seiner Majestät ist. Der Brauer will gerade heiraten, als ein Freund seines Bruders ihn dingend bittet, sich beim Vorgesetzten für den offensichtlich fahnenflüchtigen  Bruder, der außerdem noch die Schwester eines Kameraden verführt und verlassen hat, einzusetzen. Nach vielen Verwirrungen ist der nicht desertierte, sondern gefangen gehaltene Bruder auf dem Weg zurück, der Brauer hat inzwischen für ihn dank des schlauen, kampferprobten Reitpferds eine Schlacht gewonnen, zwei Paare können heiraten und glücklich werden.

Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Die flüssig und leichtgängig daher kommende Sinfonia wird vom Dirigenten Daniele Agiman ( auch direttore artistico des Festivals) angemessen dargeboten, das Orchester nimmt sich beschwingt und leichtfüßig der gefälligen Musik an. Das Finale des 2. Akts besticht durch eine mitreißende Steigerung der Intensität..  Auch der Coro del Teatro della Fortuna weiß seine Vergnügungssucht als Hochzeitsgesellschaft angemessen zu vermitteln. Als Bass ausgewiesen ist der Brauer Daniele, sein Sänger Gianni Giuga hört sich eher wie ein Bassbariton an, behauptet sich gut in den Prestissimi und wirkt urkomisch bei seinen Lektionen in Soldatentum. Des Bruders Freund Tobia hat mit der von Francesco Samuele Venuti eine Stimme wie aus einem Guss, ein schönes Legato und nimmt sich seiner Partie empfindsam an. Des Brauers Braut Effy wird von Inés Lorans mit feinem Soubrettenstimmchen geschmeidig die Töne hintupfend gesungen, besonders die Arie im dritten Akt ist voll niedlichen Jubels. Die verlassene Anna ist Aloisa Aisemberg klingt zunächst verwaschen, blüht aber in der Verzweiflung über das Verlassensein angenehm auf. Ihr Bruder Oliviero schlägt sich mit dem Tenor von Antonio Garés durch Geläufigkeit besser in der Cabaletta als in der sehr nach Charaktertenor klingenden Arie. Der strenge Lord Murgrace wird von Alessandro Abis mit vokaler Autorität ausgestattet. Man wünscht dem „Belcanto Ritrovato, Festival Nazionale“ noch viele Spielzeiten und erfolgreiche Ausgrabungen (GB 2611/12). Ingrid Wanja        

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Und nun Charles Jernigan zum Festival Il Bel Canto Ritrovato, zu Luigi Ricci und zum Werk: 1997 veröffentlichte Andrea Camilleri, der sizilianische Schriftsteller und Autor der äußerst beliebten Krimireihe um Inspektor Montalbano, einen Roman mit dem Titel Il birraio di Preston, in dessen Mittelpunkt ein Ereignis in Camilleris fiktivem Vigàta in den 1870er Jahren nach der Einigung Italiens steht. Die Bevölkerung ist verärgert, weil die neue nationale Regierung einen Präfekten, Eugenio Bortuzzi, einen Florentiner, in die Stadt entsandt hat. Bortuzzi hat ein neues Opernhaus errichten lassen und zur Einweihung eine Oper, Il birraio di Preston von Luigi Ricci, ausgewählt, die 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Die konservative Bevölkerung ist wütend darüber, dass ein „Ausländer“, ein Florentiner, den Sizilianern florentinische Musik aufzwingt, buht die Darsteller aus und brennt das Haus während der Aufführung nieder. Der Vorfall ereignete sich tatsächlich in der sizilianischen Stadt Caltanisetta und bildet den Dreh- und Angelpunkt von Camilleris faszinierendem, komisch-sardonischem Roman.

Dabei erfahren wir viel über die Oper im Italien der 1870er Jahre, einschließlich der Kontroverse zwischen Wagners Musik und der einheimischen italienischen Oper. Luigi Riccis Oper wird zum Symbol für alles, was die Sizilianer an der neuen nationalen Regierung, die sich ihren Traditionen aufzwingt, nicht mochten. Die Tatsache, dass der Roman Riccis Titel aufgreift, scheint Teil der Ironie zu sein, die in Camilleri allgegenwärtig ist, da es in dem Roman nicht wirklich um Il birraio di Preston geht, sondern um die sizilianische Haltung und den Unmut gegenüber einer fernen, zentralisierten Regierung. Es gibt keinen Grund, warum die Sizilianer Riccis Oper verschmähen sollten, auch wenn sie in Florenz uraufgeführt wurde, denn Luigi Ricci war wie sein Bruder Federico ein gebürtiger Neapolitaner, der aus demselben Königreich der beiden Sizilien stammte, das über den größten Teil Süditaliens, einschließlich Siziliens, geherrscht hatte, und Riccis Musik strotzt nur so vor neapolitanischen Melodien.

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Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Bis zum Sommer 2023 schien es, als ob wir Opernliebhaber nie erfahren würden, ob Luigi Riccis Oper so „mittelmäßig“ war, wie die Beschreibung auf dem Romanumschlag behauptet. Obwohl die Brüder Ricci einzeln und zusammen etwa sechzig Opern geschrieben haben und viele von ihnen einst sehr populär waren, ist es heute schwierig, eine Aufführung zu finden. Es war also ein echter Glücksfall, dass das neue nationale Festival Il Bel Canto Ritrovato beschloss, Il birraio di Preston bei seiner zweiten Auflage im August 2023 in Pesaro und Umgebung aufzuführen. War es „mittelmäßig“? Nun, die Handlung war ein wenig abgenutzt, aber die Oper strotzte nur so vor wunderbaren Melodien, lebhaften Rhythmen und geschickter Orchestrierung. Es handelt sich nicht um eine komplexe und „ernste“ Komödie wie Verdis Falstaff oder sogar Camilleris Roman, aber es war ein durch und durch vergnüglicher Abend mit viel Spaß und der Entdeckung wertvoller verlorener Werke, die das Festival verspricht.

Die Handlung von Il birraio di Preston (die Oper) dreht sich um eineiige Zwillinge und die Verwirrung, die entsteht, als sie miteinander verwechselt werden.  Das Libretto von Francesco Guidi, das auf der Oper Le brasseur de Preston von Adolphe Adam aus dem Jahr 1838 basiert, ist ziemlich vorhersehbar, aber unterhaltsam, mit cleveren Situationen für komische Duette, Trios und Ensembles – und sogar einigen Arien.

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Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Eine Verwechslungs-Komödie mit eineiigen Zwillingen muss für Luigi Ricci, der den größten Teil seiner zwanzig Jahre mit zwei Zwillingsschwestern zusammenlebte, besonders bedeutsam gewesen sein. Ricci lernte die siebzehnjährigen Stolz-Schwestern Franziska und Ludmilla kennen, als sie seine Gesangsschülerinnen waren. Sie lebten offen in Triest zusammen, bis ein Skandal Ricci dazu zwang, eine Stelle in Odessa anzunehmen, um dort die italienische Oper zu verwalten. Die Schwestern kamen mit, und Ricci schrieb eine Oper (La solitaria delle Asturie) für sie. Zurück in Triest heiratete Luigi Ludmila, trennte sich aber nicht von Franziska, die er Fanny nannte. Um einen Skandal zu vermeiden, zogen sie in ein Haus, das jede Schwester zur Hälfte bewohnte. Aber laut dem scharfsinnigen Chronisten der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, Bellinis Freund Francisco Florimo, ließ Luigi hinter einem Schrank eine Geheimtür einbauen, die es ihnen – und ihm – ermöglichte, sich problemlos hin und her zu bewegen. Es funktionierte, bis eines Tages eine Primadonna mit ihrem Mann Luigi besuchte. Fanny, die eine unbekannte Frauenstimme hörte, brach in einem Anfall von Eifersucht durch den Schrank und schockierte damit alle. Ludmilla schenkte Luigi bald eine Tochter namens Adelaide, die Sängerin wurde, und ein Jahr später schenkte Fanny ihm einen Sohn, Luigino, der wie sein Vater Komponist wurde.

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Federico und Luigi Ricci /Wikipedia

Opernliebhaber wissen heute vielleicht nicht viel über die Brüder Ricci, aber sie kennen wahrscheinlich die berühmte Tarantella aus Luigis La festa di Piedigrotta, auch wenn sie nicht wissen, dass sie aus einer Ricci-Oper stammt. Diese allgegenwärtige Melodie, die so sehr ein Synonym für italienische (und insbesondere neapolitanische) Musik ist, ist typisch für Luigis Fähigkeit, Musik mit Ohrwurmcharakter zu kreieren. Die Musik von Il birraio ist in diesem Sinne – unermüdlich melodisch, eine Kaskade italienischer Melodien. Im 1. Akt sticht Effys Eingangsarie „La vecchia Magge“ hervor. Die alte Maggie hat der hübschen jungen Effy beigebracht, wie man sich Männern nähert und einen Ehemann findet. Letzteres ist ihr nicht besonders gut gelungen, bis Daniele auftauchte, aber er ist reich, hat einen guten Job und ein gutes Herz, auch wenn er ein bisschen langweilig ist. Die beste Musik gibt es im 2. Akt, mit einer eingängigen Cavatina für Oliviero, einen Tenor, komplett mit ausgelassener Cabaletta („Al furor d’un cor ardente“); Tobias ungewöhnliche Brindisi, „Era Tom un dragone valente“, über einen Soldaten, der „wisky“ für Bier aufgibt; das wunderbare Trio („Or conviene d’un soldato“) zwischen Daniele, Tobia und Effy, als sie beide Daniele „lehren“, wie man ein richtiger Soldat ist; und ein grandioses Finale mit einem wunderbaren, langen pezzo concertato, „Per secondar l’intrepido“, das zahlreiche melodische Themen durchläuft, eines besser als das andere. Ich für meinen Teil wollte nicht, dass es aufhört. Im 3. Akt gibt es auch einen „pezzo concertato“ und ein komisches Duett („La vederemo…la vedremo“), in dem Effy und Anna sich gegenseitig als potenzielle Bräute von Daniele/Giorgio einschätzen, die sie für ein und dieselbe Person halten. Effy hat am Ende eine große Arie in halb-ernster Manier („Deh! ch’ei non sia la vittima“), gefolgt von ihrer köstlichen Walzer-Final-Cabaletta.  Mit anderen Worten: Jede Nummer ist ein Genuss.

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Donizettis wohlwollender Geist schwebt über der Partitur von Ricci, insbesondere über dem Donizetti von La fille du règiment (1840) und vielleicht Betly (1836). La fille du règiment ist das Paradebeispiel für die in den Opern dieser Zeit vorherrschende Mode, dass eine Frau in einem Soldatenkostüm zu martialischer Musik herummarschiert. Effy, die mutiger ist als der schüchterne Daniele, zieht sich einen Soldatenmantel über ihr Kleid, und im zweiten Akt bringt Tobia ihr bei, wie man marschiert, ein Schwert hält und auch sonst „soldatisch“ auftritt – und sie bringt es Daniele bei, und das alles im köstlichen Trio „In un momento“, das mit „Rataplans“ gespickt ist, wie sie Marie in La fille du règiment singt. Verdi benutzte die Trope noch 1862 in La forza del destino, als Preziosilla zwei martialische Stücke mit ihren eigenen „rataplans“ hat.

Die komisch-martialische Atmosphäre der Geschichte verleiht der Trompete neben dem Schlagzeug eine herausragende Rolle in der Orchestrierung. Es gibt zwei Trompetenstimmen, und die Trompeter sind fast immer im Einsatz, um Melodien zu unterstreichen, einen kleinen Kontrapunkt zu setzen oder Trompetenrufe auszuführen. Im Gegensatz zu früheren Opern von Rossini und Donizetti gibt es keine klangvollen obligaten Stimmen für Flöte, Klarinette oder Oboe, die dem Sänger Gegenmelodien bieten. Nicht einmal ein Waldhorn. All dies verleiht der Orchestrierung eine bandartige Qualität und macht die Partitur zu einer Art Brücke zwischen komischer Oper und Operette. Der Sprung von Ricci zu von Suppé oder gar Johann Strauss ist nicht groß.

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Il belcanto ritrovato Pesaro: Intendant, Gründer und Organisator Rudolf Colm/ Foto IBR

Luigi und Federico Ricci setzten den von Donizetti begonnenen Trend fort, der Opera buffa wie Nemorinos „Una furtiva lagrima“ ein sentimentales Element zu verleihen. Wie Will Crutchfield feststellte, hielt der Walzer nach etwa 1845 als wichtiges Element Einzug in die italienische Oper, und die Brüder Ricci nutzten diesen neuen Tanz mit Sicherheit aus. Il birraio di Preston (1847) enthält mehrere Walzer, darunter die Schlussarie. Obwohl er in Wien als Tanz erfunden wurde, hielt der Walzer laut Crutchfield erstmals in italienischen Werken der Jahrhundertmitte Einzug in die Oper, bevor er die Alpen wieder überquerte und zum dominierenden Element der Wiener Operette wurde. (…) Charles Jernigan/ G. H.

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Jahrhundertstimme und -Aufnahme

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Am 16. April 1995 verstarb Gertrude Grob­-Prandl, 1917 in Wien  geboren und trotz der nicht immer erwiderten Gegenliebe der Wiener Institutionen eine erz-österreichische Person. Mit ihr ging ein Zeitalter zu Ende, in dem die voluminösen, kraftvollen und vor allem schönen Stimmen wesentlich häufiger waren als heute. Anders als die erbarmungslos-stählerne von Birgit Nilsson war ihre riesige Stimme menschlich, warm und leuchtend. Menschlich vor allem.

Gertrude Grob, in erster Ehe verheiratete Prandl, in zweiter Ehe dann -King, lebte die letzten Jahre ihres Lebens zurückgezogen  bei Wien – eine Frau von starkem Willen und liebenswert-starken Grundsätzen. Ihre nur im diskreten Gegenüber (Thomas Voigt) geäußerten Kommentare über Sänger trafen stets den Punkt und zeugten von ihren hohen Maßstäben ebenso wie von ihrem Witz. Und ihre lsolde, Turandot, Bethoven-Leonore und vor allem auch Brünnhilde gehören zu den Ausnahmedokumenten der Gesangsgeschichte ihres Jahrhunderts. Leuchtkraft, wortdeutlichste Deklamation und tief-menschliche Gestaltung zeichnen diese Figuren aus.

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Gertrude Grob-Prandl als Isolde mit Victor de Sabata in Mailand/ Foto Piccagliani/ Isoldes Liebestod

So unauffällig sie als Privatperson blieb, so verlief auch ihre Karriere, ohne Skandale und lange im Schatten anderer, namentlich der Konetzni-Schwestern in Wien, wo sie 1944 an der Staatsoper kurz vor der kriegsbedingten Schließung mit der Elsa debütiert hatte. Im März 1945 wurde das Haus zerstört. Es ist bezeichnend, dass sie zur Wiedereröffnung 1955 nicht die Fidelio-Leonore sang (das war Martha Mödl, aber ironischerweise sang die Grob die Partie kurz nach der Eröffnung der Berliner Staatsoper wenig später). Immer waren in Wien andere vor ihr.

Dennoch ging ihre Laufbahn steil bergan, von steter Qualität getragen, namentlich an der Volksoper, nachdem sie bei den legendären Lehrern Paier und Singer-Burian (einer Schülerin der Ponselle) studiert hatte. Die Marschallin, die 1944 der Elsa folgen  sollte, fiel zum Bedauern der Grob dem Bombenalarm zum Opfer – ein Jammer, wie sie stets betonte, denn vor dem Krieg waren diese Partien Domänen der Hochdramatischen. Auch die Rosalinde gehörte dazu, die sie gerne gesungen hätte. 1949 gab sie ihre erste Walküre unter Krauss, sie „überlebte“ Dirigentenwechsel und Intendanten, sang neben Senta und Ariadne die Walküre unter Böhm in Buenos Aires und kam überhaupt viel herum.

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Getrude Grob-Prandl und Max Lorenz in „Tristan und Isolde“ an der Scala am 13. Dezember 1951/Foto Piccagliani/Cetra

Sie wurde im Ausland wesentlich glanzvoller aufgenommen als zu Hause: in Italien als Turandot, Ballo-Amelia, bei der RAI mit einem fulminanten Konzert als Rezia u. a. (ihre Arie der Isabella/ Robert der Teufel gehört auf dem Recital in Deutsch zu meinen absoluten Immortellen gleich neben Anita Cerquettis Auszug aus Agnese di Hohenstaufen); vor allem aber an der Scala – nach  ihrem Einstand 1951 in Neapel – als lsolde unter Victor de Sabata mit Max Lorenz (soeben wieder bei Pan herausgekommen).

Wer die hohe Kunst der Grob-Prandl kennenlernen möchte, muss sich den Mitschnitt anhören, auf dem die Stimme gleichermaßen strömt wie auch mühelos die langen, leuchtenden Phrasen singt. Es gibt keine klangschönere, wortdeutlichere und präsentere lsolde auf Dokumenten für mich, weder Traubel noch Flagstad noch Nilsson.

Neben Reisen nach Nordamerika, nach Brüssel, Dortmund (!) und Berlin (!) kam es bemerkenswerterweise nicht zu Auftritten in Bayreuth, wo die Kolleginnen Varnay und Mödl fest installiert waren. Dafür sang sie die Turandot auf Englisch (!) 1951 unter John Barbirolli in London und die Ortrud in Italienisch in Reggio Emilia.

Gertrude Grob-Prandl mit Ludwig Suthaus in der „Götterdämmerung“  Mailand / Foto Piccagliani / Isoldes Liebestod

Die Beziehung zur Wiener Staatsoper war in den letzten Jahren stets gespannt gewesen. 1972 gab sie nach mehr als 28 Jahren Zugehörigkeit zum Haus ihren Vertrag zurück. Sie hatte genug von den Anfeindungen, der Claque, der Ungezogenheit der Presse, die sich auch gegen ihre voluminöse Körperfülle richtete. Dass man sie ein „Buffet auf Rädern“ nannte, war wohl auch gemeiner Weise in einer Wiener Tageszeitung zu lesen. Von Montserrat Caballé oder Jane Eaglen oder von vielen heutigen Amerikanerinnen in Hochramatischen Partien hat man das nie gesagt. Die Akzeptanz hat sich eben geändert. Es ist bezeichnend für ihren Charakter, dass sie nicht um ihre Rollen kämpfte – sie hatte einfach genug. Der Prophet gilt eben nichts im eigenen Land, wie sich an dieser wunderbaren, großen und leuchtenden Ausnahmestimme zeigt.

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Dokumente: Hoffentlich kommt irgendwann die von ihr selbst zurückgehaltene Elektra-Inhouse-Aufnahme 1963/4 aus Graz offiziell auf den Markt, die (ehemals von Thomas Voigt herausgegeben) nur bei Sammlern kursiertend!

Der Musikjournalist Thomas Voigt und Gertrude Grob-Prandl/Foto King/TV

Aber es gab Turandot (aus dem Fenice bei ehemals Remington und eine aus Wien live inoffziell) nebst Wiener Radio-Recital (bei Myto), den Wiener Ring (nur Siegfried und Götterdämmerung als Ersatz für Helena Braun/Myto u. a.), die Wiener Venus/Tannhäuser unter Karajan (RCA), den bizarren Idomeneo und Don Giovanni (Haydn-Society bzw. Vox/ MMS) sowie die Erste Dame/Zauberflöte (Music & Arts et. al.) kommerziell – heute aber weitgehend nicht mehr greifbar (Discogs eventuell). Das Myto-Portrait enthält Arien aus Oberon, Robert der Teufel, Die Jüdin, Der fliegende Holländer, Lohengrin sowie Schuberts Allmacht – absolut fabelhaft). Das von Cetra herausgegebene Doppelkonzert mit Ferruccio Tagliavini bot ihre Arien aus Fidelio, Oberon, Ballo in Maschera sowie Tristan – alles vom Dezember 1953.

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Gertrude Grob-Prandl als Brünnhilde, Wien 1953/privat

Sammler haben natürlich ihren Fidelio aus Genf 1963 (Fourie/ Klobucar), ihre Venus aus Wien 1871 (Rysanek, Beirer/ klobucar), ihre Isolde aus Wien 1956 (Lustig/ Cluytens) und Lausanne 1953 (nur 2. Akt mit Windgassen und Klose/Moralt), ihre Walküre aus Genf 1^951 (Ralf, Werth/Denzler) sowie Berlin 1956 (nur Szenen mit Treptow/ Konwitschny), dto. Szenen aus dem Colon 1950 (Suthaus, Klose/ Böhm) und Graz 1963 (nur Szenen), das Siegfried-Finale aus Paris 1966 (Hollreiser). Zudem kursieren Auszüge: so Fidelio Dortmund 1962 (mit Schmid und Gutstein/Jacob), das Finale Götterdämmerung Antwerpen 1968, und der Elektra-Monolog aus Paris 1985.  Und schließlich Beethovens „Ah perfido“ aus Antwerpen 1968 (Dank an Thomas Voigt!)

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Dazu kommen vielleicht noch weitere – man kann nicht alles wissen. Es wird Zeit – auch für Wien! – , diese bedeutende Sängerin offiziell mit einer Box ihrer Aufnahmen zu ehren und ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ud vielleicht remannt sich ja Pan, ihren Wiener Ring ebenfalls wieder herauszugeben. Bitte, bitte! Geerd Heinsen

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Am 13. Dezember 1951 erklang an der Mailänder Scala eine mittlerweile legendäre Aufführung von Wagners Tristan und Isolde, deren durchweg hervorragende Besetzung bis heute begeistert. So galt Max Lorenz seinerzeit als Inbegriff des Wagner-Tenors, während Gertrude Grob-Prandls Stimme einem Naturereignis gleicht und Victor De Sabata seinen Ruf als einen der besten Wagner Dirigenten überhaupt bestätigt. Die ursprünglich sehr schlechte Tonqualität wurde 2009 vom Label Myto sorgfältig remastered. Mit dieser Pan-Classics-Edition wird die bislang vergriffene Aufnahme bei Pan wieder auf CD erhältlich. Interpreten: Gertrude Grob-Prandl; Max Lorenz; Sven Nilsson; Sigurd Björling; Elsa Cavelti; Victor de Sabata; Chor und Orchester der Mailänder Scala et al. (Pan Classics)

Verdis „Simon Boccanegra“ 1857

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Wie das Label Palazetto Bru Zane sieht auch die englische Opera Rara von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit im Katalog oder andernorts bereits vorhandene Opernaufnahmen zu duplizieren, so auch nun bei Verdis Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1857. Zu der Neuaufnahme eine Würdigung und danach einen Artikel von Roger Parker, dem Repertoireberater von Opera Rara und führendem Musikwissenschaftler auf dem Gebiet des italienischen Novecento, zum Werk selbst. G. H.

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Giuseppe Verdis Simon Boccanegra von 1857 bei Opera Rara: Fast alle späten Opern Giuseppe Verdis sind Klassiker auf den Bühnen der Welt. Manche gibt es in mehreren Versionen. Gespielt wird meistens natürlich die letzte, weil sie immer auch als das letzte Wort des Meisters gilt. Jetzt hat das Label Opera Rara eine Besonderheit auf den Markt gebracht: Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1875. Verdi hat vor allem dann Neufassungen seiner Opern gemacht, wenn es darum ging, ein Werk in einem anderen Land neu vorzustellen. Dazu machte er meist umfangreiche Änderungen. So war Don Carlos ursprünglich für Paris gedacht, für Italien gab es später sehr umfangreiche Änderungen vorgenommen. Macbeth dagegen war eine original italienische Oper und wurde dann für Paris angepasst. Aber wir haben es ganz selten bei ihm, dass er mit einer Opern-Erstkomposition generell so unzufrieden war, dass er sie dann nochmal komplett umgekrempelte. Das gibt es nur dreimal bei ihm: Beim heute völlig vergessenen Aroldo/Stiffelio, bei der Forza del Destino (Lombardi/Jerusalém war eine Bearbeitung durch Verdi nur auf Wunsch der Pariser Opéra und nicht seine Herzensangelegenheit) und bei Simon Boccanegra.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: der junge Verdi/Wikipedia

Verdis Simon Boccanegra stammt von 1857, bis zur zweiten Fassung liegt ein Vierteljahrhundert. 1857 kam die Oper nicht so gut an, weil Verdi eben schon seiner Zeit sehr voraus war, seine Zuhörer mit seinen kompositorischen Neuheiten auch überforderte. Also hat er dann ein Vierteljahrhundert später in den 1880er Jahren das Werk nochmal aufgegriffen und es dann komplett seinem Spätstil angepasst. Otello ist gar nicht so weit weg, und diese neue Fassung gehört natürlich jetzt zum allgemeinen Opern-Kanon. Die erste von 1857 spielt so gut wie niemand.

Warum nun also eine Neuaufnahme?  Einer der wichtigsten Gründe dafür ist vielleicht, dass man hier einen ganz unschätzbaren Einblick in die Werkstatt von Verdi bekommt. Wir lernen wie sich Verdis Denken mit den Jahrzehnten wandelt, was ihm dann später nicht mehr gefällt und was er eben auch noch mag. Es gibt im Boccanegra Passagen, die er überhaupt nicht veränderte. Es ist total faszinierend, dieses vertraute Werk „anders“ zu hören. Verdi hat nicht nur ein paar Stellen verändert, sondern selbst da, wo er ein thematisches Grundgerüst stehen lässt, gibt es oft rhythmische Veränderungen, gelegentlich andere Tonarten und auch andere Instrumentierung. Im Endergebnis klingt dieser „alte“ Boccanegra oft jugendlicher, heller, weniger harsch als der neue und damit natürlich auch für uns eingängiger.

Der Plot ist zwar leicht überarbeitet, aber die Geschichte selbst ändert sich nicht. In beiden Fassungen geht es um die Biografie des Dogen Simone Boccanegra. Die Oper erzählt von seinem Aufstieg, seinem sehr kurzen Glück mit seiner wiedergefundenen Tochter und eben auch seinem traurigen Ende durch Intriganten. Er stirbt dann natürlich, wie so oft bei Verdi. Da wird ja viel gestorben. Es ist vielleicht nicht der beste Plot, aber es gibt richtig große, emotionale und dramatisch packende Momente.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Mark Elder dirigiert die Oper nun zum dritten Male/Foto OR Duncan

Was mich jetzt besonders interessiert, ist, dass es in diesem frühen Boccanegra auch Musik gibt, die wir eigentlich so gar nicht kennen, die also komplett anders klingt als in der gängigen Fassung. Da ist ein ganz anderes erstes Finale. Später hat er sich entschieden, dies völlig neu zu komponieren. Außerdem wird man in der Erstfassung auch Passagen entdecken, die er später gestrichen hat. Es gibt eine sehr schöne Cabaletta für Amelia, die weibliche Hauptfigur. Und man hört hier eben auch schon deutlich den mittleren Verdi, der Spaß an großen Chören hatte, also den Verdi des Trovatore, der große Tableaus auffahren lässt. Es ist schade, dass Verdi so etwas später mied.

Simon Boccanegra von 1857 ist vielleicht die ungewöhnlichste Alternativfassung einer Verdi-Oper überhaupt, was verwunderlich ist, weil sie auch die Fassung mit den meisten Abweichungen vom Original darstellt.

Und gerade weil diese Fassung weniger düster daherkommt, mit sehr großen, ausschwingenden Melodien, stärker noch im Belcanto verhaftet, hat das Ganze einen besonderen schwärmerischen Appeal, den die späte Fassung dann nicht mehr besitzt. Dieser Appeal geht bei dem grimmigen alten Verdi verloren. Und ich finde auch manche Lösungen wirklich überraschend, in der Urfassung interessanter als in der späten. Also zum Beispiel ist mir das absolut wunderbare Vorspiel aufgefallen, das Verdi später gestrichen hat. Und es gibt auch noch eine richtige Leitmotivik. Ich kann mir vorstellen, dass Verdi sowas später nicht mehr gemocht hat, weil dann ja die Wagnerianer kamen und er sich dem Vorwurf, dazu zu gehören, nicht aussetzen wollte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: auf dem Roman von Antonio GGarcia Gutierrez beruhte die Handlung/Madrid Museo Arqueologico

Übrigens gibt es die Erstversion ebenfalls bei Opera Rara: eine BBC-Übernahme unter dem Dirigenten John Matheson (Bruscantini, Ligi). Aber diese neue ist die erste unter den Voraussetzungen der kritischen Verdi-Ricordi-Ausgabe eingespielte. Der Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus und das Hallé-Orchester unter Mark Elder bestreiten diese Neuaufnahme der Erstfassung.  Sicher sind Besetzungen mit Kiri Te Kanawa oder Mirella Freni eleganter, Eri Nakamuras Maria ist da im Vergleich in den Höhen vielleicht etwas grell, in den Einsätzen nicht immer ganz sicher. Aber insgesamt ist diese Aufnahme frappierend gut besetzt. Frappiert auch deshalb, weil Opera Rara sonst zwar oft hochinteressante Projekte macht, aber eben oft zweitrangige Besetzung bietet, gelegentlich recht enttäuschend. Deswegen muss man zu ihrer Verteidigung sagen, dass nicht so viele Weltstars bei OR singen, weil das englische Label sich von Spendengelder und den Verkauf finanziert und nicht durchweg große Namen auffahren kann. Und manchmal klingt das auch recht insular…

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Leone Giraldoni war der erste Titelsänger/Ipernity

Aber hier hat man eben sehr frische Stimmen, unbekannte, relativ unbekannte Sänger versammelt. Und man erlebt, was ein begeistertes Team leisten kann, das sich exzellent in Verdis frühen Stil eingearbeitet hat. Das zeigt diese Aufnahme. Germán Enrique Alcántarain in der Titelrolle hat mir super gefallen. Dies ist wirklich ein Boccanegra, der auch in der späteren Fassung Ehre einlegen würde, umso mehr in dieser raren Urfassung. Und eine große Überraschung war für mich Iván Ayón-Rivas, der Tenorheld, der schon vorher bei der Firma mitgesungen hat und der sich hier sich so richtig entfaltet. Hier hört man absolut großen Verdi. Dazu kommen William Thomas (ein sonorer Jacopo Fiesco), Sergio Vitale (ein etwas blasser Paolo Albiani) und  David Shipley (Pietro).  M. K./G. H.

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Verfügbares: Wie so oft gilt auch hier, dass man selten etwas zum ersten male hört. Die im eigenen Katalog geführte ältere BBC-Aufnahme des originalen Simon Boccanegra ist ein Mitschnitt des Konzertes in der Londoner Golder´s Green Hall von 1975 mit dem sehr packenden Sesto Bruscantini und Josella Ligi unter John Mathesons wie stets genialer Leitung. André Turp bleibt als Gabriele Adorno etwas blass (ehemals UORC, Ponto und andere; recording of a BBC concert performance of the 1857 version before an invited audience in the Golders Green Hippodrome on 2 August 1975 and broadcast on 1 January 1976).

1989 spielte man erstmals auf dem europäischen Festland im italienischen Martina Franca (wirklich eine Pionier-Location) die Fassung unter Renato Palumbo mit Warren Mok als Gabriele (trocken)und Vittorio Vitelli als Doge (sehr ordentlich), dazu kamen Francesco Ellero D´Artegna als Fiesco (stets sonor) und Annalisa Raspagliosi (Maria) – sehr verdienstvoll, nicht unrecht, aber wirklich nicht aufregend und einem frühen Verdi nicht gerecht bei stumpfer Open-air-Akustik aus dem Innenhof des Palazzo Ducale, damals (fälschlicherweise) als moderne Erstaufnahme bei Dynamic etikettiert (den BBC-Mitschnitt gab es nur auf grauen Platten und erst recht spät bei Opera Rara im Zuge der Matheson-Erstversionen wie Don Carlos oder Forza del Destino).

Aber in neuerer Zeit gab´s den originalen Boccanegra doch einige Male, so zuletzt beim tapferen Verdi-Festival in Parma 2002 mit Vladimir Stoyanov, Riccardo Zanellato, Piero Pretti und Roberta Mantegna unter Riccardo Frizzas sehr schwerer Hand bei der RAI. Auch hier akustisch nicht wirklich aufregend und im Ganzen eher solide Mittelklasse.

Im Konzert machte Covent Garden den frühen Boccanegra 1995 mit Jose Cura als Adorno, Anthony Michaels Moore in der Titelrolle sowie mit Alistair Miles und Amanda Roocroft unter Mark Elder, radioübertragen.

Ebenfalls radio-dokumentiert hörte man am selben Haus 1997 hochbesetzt Placido Domingo (Adorno, später erschreckte er mit der Titelrolle selbst), Sergei Leiferkus (Simon Boccanegra), Jaako Ryhanen (Fiesco), Kallen Esperian (Maria), am Pult erneut Mark Elder, auch hier sehr kompakt und wenig Trovatore nah. Das gilt für mich für alle seine Boccanegra-Dokumente (auch auf der neuen Aufnahme bei Opera Rara), und ich finde, dass für den früheren Verdi nicht transparent genug, nicht federnd genug, nicht kongenial  dirigiert. Da braucht es andere, jüngere vielleicht auch.

Opera Rara torpediert gerade den eigenen Verkauf etwas, indem sie die Neuaufnahme bei youtube im eigenen Kanal ins netz stellt. Youtube hat zudem einiges an Ausschnitten aus der Erstfassung, so Elizabeth Woods im Konzert mit Amelias Arie 2009 () sowie das Vorspiel zum 1. Akt unter Chailly von seiner Decca-CD. G. H.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Nun also Roger Parker: Mit neuen Ohren hören – der „neue“ Simon Boccanegra. Versuchen wir einmal ein Gedankenexperiment. Was würden wir heute von Verdis ursprünglichem Simon Boccanegra halten, der 1857 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt wurde, hätte er sich nicht entschlossen, die Oper mehr als 20 Jahre später zu überarbeiten? Die ursprüngliche Fassung war das Herzstück eines Trios von außerordentlich vielfältigen Werken aus den späten 1850er Jahren. Zuerst entstand Les Vêpres siciliennes („Die sizilianische Vesper“, 1855), geschrieben für Paris als expliziter Versuch, die von Meyerbeer berühmt gemachte Operngroßartigkeit nachzuahmen und diese zu übertreffen. Dann folgte Boccanegra, der zur italienischen Tradition zurückkehrt, aber nur wenige offensichtliche Vorbilder bei Verdi oder anderen hat und am besten als strenger Versuch beschrieben werden kann , eine schlanke, italienisch anmutende Avantgarde zu schaffen. Und schließlich kam Un ballo in maschera („Ein Maskenball“, 1859), das den radikalen neuen italienischen Stil von Boccanegra weitgehend aufgibt und auch eine Rückkehr zu französischen Vorbildern zeigt, diesmal jedoch eher zur Sprache der opéra comique als zu der Meyerbeerschen. Von diesen drei Werken hatte nur Un ballo in maschera eine gewisse Dauerhaftigkeit im damals entstehenden internationalen Repertoire. Insbesondere Boccanegra verschwand bald aus dem Blickfeld und wäre ohne Verdis Überarbeitung von 1881 (die heute meist zu hörende Fassung) sicherlich für viele Jahrzehnte unaufgeführt geblieben.

Allerdings wäre Boccanegra in seiner ursprünglichen Fassung von 1857 dann sicherlich wiederaufgenommen im 20. Jahrhundert worden – wie so viele vergessene Opern Verdis, da seine düstere Intensität zweifellos starken Widerhall in den sich wandelnden Zeiten dieses Jahrhunderts gefunden hätte. Doch diese Rehabilitierung blieb aus: Die Präsenz von Verdis Überarbeitung von 1881 hat dies wirksam verhindert.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

So überwältigend war unser Glaube an die Idee des Fortschritts in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts – eben an die Idee, dass das Genre, insbesondere in Verdis Händen, im Laufe des Jahrhunderts dramatisch gereift, ernster und respektabler geworden sei –, dass die ursprüngliche Boccanegra fast vollständig zugunsten seines  späteren, moderneren Bruders ignoriert wurde. Es gab zwar gelegentliche Wiederaufführungen, aber sie konnten sich nie ganz aus dem Schatten der späteren Gedanken des Komponisten befreien. Schließlich hat Verdi, so heißt es, die Partitur überarbeitet, weil er mit dem Original unzufrieden war; welches Recht haben wir, eine so ehrwürdige und maßgebliche Entscheidung in Frage zu stellen? Schon ein kurzer Blick auf den Kontext der Überarbeitung, ja sogar auf Verdis Überarbeitungen im Allgemeinen, lässt vermuten, dass die Sache nicht ganz so einfach ist.

Zum einen wurden alle größeren Überarbeitungen von Verdis italienischsprachigen Opern (Macbeth, Stiffelio und Simon Boccanegra) in erster Linie aus praktischen Gründen vorgenommen. Jede der fraglichen Opern war aus dem Repertoire gefallen, und Verdi, ermutigt durch seinen Verleger Ricordi, nutzte die Überarbeitung als Gelegenheit, sie zu aktualisieren, wobei er teilweise radikale Anpassungen an ihrer musikalischen Sprache vornahm, um sie einem Publikum mit unvermeidlich veränderten Erwartungen neu zu präsentieren.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Eine solche Haltung ist aus seiner Sicht verständlich. Er arbeitete in einer Welt, in der die Idee der „Repertoireoper“ noch in den Kinderschuhen steckte und neue Werke nach wie vor das prestigeträchtigste Element der Opernszene waren. In einem solchen kulturellen Umfeld bedeutete die Einstufung als veraltet, (oft) als erfolglos. Was war also wahrscheinlicher, als dass Verdis Aufgabe bei seinen Überarbeitungen darin bestand, die rückständigsten eines Werkes gewaltsam auf den neuesten Stand zu bringen? Vor allem aus diesem Grund schien es ihm bei seinen Überarbeitungen wenig wichtig zu sein, stilistische Unstimmigkeiten zu vermeiden, und er blieb weitgehend gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass seine Überarbeitungen oft seltsame anachronistische Dissonanzen hervorbrachten.

Es gibt berühmte Beispiele aus verschiedenen Phasen seiner Karriere, eines der offensichtlichsten ist Lady Macbeths Arie „La luce langue“, die 1865 für die Pariser Überarbeitung von Macbeth hinzugefügt wurde, fast 20 Jahre nach der Uraufführung des Werks in Florenz. „La luce“ versucht nicht, sich an die musikalische Atmosphäre der späten 1840er Jahre anzupassen, sondern ist vielmehr eines der radikalsten Stücke – orchestral und harmonisch –, die Verdi selbst Mitte der 1860er Jahre geschrieben hatte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Das Gleiche gilt für die Überarbeitungen von Boccanegra aus dem Jahr 1881, in denen praktisch alle neuen Ergänzungen stilistisch eher auf die letzten Opern, Otello und Falstaff, als auf die Welt der damals fernen 1850er Jahre verweisen. Beispiele dafür finden sich in fast jeder Nummer der Oper, insbesondere im Prolog und im ersten Akt. In die karge, schlanke Orchestrierung und die strenge Deklamation der Fassung von 1857, die oft an Il trovatore in seiner strengsten Form erinnert, fügte Verdi 1881 Passagen mit überraschenden Instrumentalfarben und flüchtigen lyrischen Ausbrüchen ein, die sehr stark in die Richtung gingen, die einige Jahre später mit Otello zum Markenzeichen seines Spätstils werden sollte.

Der größte Unterschied zwischen den beiden Boccanegras, im Finale des ersten Aktes, ist die klassische Illustration. Aus der Perspektive der frühen 1880er Jahre erklärte Verdi in Briefen, dass sein Finale von 1857 „Erleichterung, Abwechslung und mehr Leben“ brauche; und er ersetzte es durch die berühmte Ratsszenen mit ihren leidenschaftlichen Appellen an die Einheit Italiens. Natürlich ist sein Finale von 1881 großartig.

Aber es sei daran erinnert, dass es nicht nur eine durchweg „späte“ Musiksprache aufweist, sondern auch auf akut zeitgenössische Themen, insbesondere auf die zerrissene Politik und die extravaganten Ambitionen des neu gegründeten italienischen Staates hindeutet. In seinem musikalischen Stil und seiner politischen Resonanz ist es mit anderen Worten sehr stark von seiner Zeit geprägt.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Karikatur von Francesco Maria Piave/Ricordi archivio storico

In diesem Zusammenhang könnte man dem Finale von 1857 eine ganz andere Stimmung unterstellen: Es handelt sich nicht um einen minderwertigen ersten Entwurf, sondern um einen höchst originellen Versuch, das zentrale italienische Finale der frühen 1850er Jahre neu zu konzipieren, in dem die Vielfalt der Ausdrucksformen vergleichsweise wenig Platz hat und in dem die Ökonomie der Komposition und die Düsternis des Tons extrem ausgeprägt sind. Und auch diese Stimmung könnte man als zeitgemäß betrachten, in diesem Fall als passend zur düsteren, konterrevolutionären Atmosphäre der späten 1850er Jahre, in der die Hoffnung auf ein neues Italien auf einem Tiefpunkt stand.

Mit anderen Worten: Es ist leicht zu verstehen, warum Verdi – der mit zunehmendem Alter und zunehmendem Ruhm sich der politischen Resonanz seiner Opern immer bewusster wurde – das Bedürfnis verspürte, 1881 eine so radikale Änderung vorzunehmen. Aber aus unserer Sicht, anderthalb Jahrhunderte später, wo beide Stimmungen nur noch historische Spuren sind, kann man eine automatische Präferenz für eine Version gegenüber der anderen nur dadurch ermöglich, dass man sowohl die musikalische als auch die historische Entwicklung Verdis ignoriert.

Solche Argumente lassen sich auch für die anderen wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Fassungen von Boccanegra anführen, in denen die Version von 1857 stets zu kräftigeren Farben, einer größeren Ökonomie der Ausdrucksweise und vor allem zu einer größeren Zielstrebigkeit neigt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ist Verdi 20 Jahre später immer und zwangsläufig besser? Ist Aida besser als Il trovatore? Ist Otello besser als Don Carlos?

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ratssaal im Palazzo degIi Abati, 1. Akt, 2. Szene, Bühnenbild von Girolamo Magnani/Ricordi archvio storico

Solange wir nicht weiterhin passiv die alte Vorstellung von der allmählichen Reifung der italienischen Oper unterstützen, kann es keine eindeutigen Antworten geben. Die meisten Liebhaber des Komponisten würden sicherlich argumentieren, dass solche Wertfragen zumindest stark von der Qualität der Aufführung und vielleicht ebenso sehr von der Beschaffenheit des Publikums abhängt – davon, wer es ist, wo es sich befindet und von der (politischen oder allgemein kulturellen) Stimmung, die es umgibt. Insbesondere wenn die ursprüngliche Fassung von Boccanegra mit Engagement und einem Bewusstsein für ihre stilistischen Besonderheiten aufgeführt wird, kann uns die Aufführung vor wichtige Fragen stellen, die sich sogar auf den gesamten Komplex ausweiten könnten, ob Verdis Überarbeitungen nicht nur Neukonzeptionen, sondern sogar Verbesserungen sind. Verdi  selbst sah sie zwar nur als solche, aber die Zeiten ändern sich, und mit ihnen ändern sich auch die Bedeutungen, die wir Kunstwerken entnehmen können. In diesem Zusammenhang könnte der „alte“ Boccanegra ganz plötzlich frisch und „neu“ werden, genauso dringend an unsere Zeit angepasst wie sein Nachfolger.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ankündigung der Uraufführung/Ricordi archvio satorico

Hintergrund: Dies ist nicht der Ort für eine detaillierte Darstellung der Entstehungsgeschichte von Simon Boccanegra. Kurz gesagt beschloss Verdi, eine Oper für die Karnevalssaison 1856/57 zu schreiben, zögerte jedoch, sich auf ein Theater oder ein bestimmtes Thema festzulegen, wahrscheinlich weil er noch über die Möglichkeit, eine Version von König Lear zu schaffen. Schließlich entschied er sich jedoch, zu dem Autor zurückzukehren, der ihn zu Il trovatore inspiriert hatte, dem spanischen Dramatiker Antonio García Gutiérrez, und vertonte dessen Drama Simón Bocanegra von 1843. Sein Librettist war wie üblich der langmütige Francesco Maria Piave (Librettist von Macbeth, Rigoletto, La traviata und einem halben Dutzend weiterer Verdi-Opern), wenn auch mit etwas Unterstützung in letzter Minute von Giuseppe Montanelli, einem toskanischen Dichter und politischen Exilanten. Die Uraufführung fand am 12. März 1857 im Teatro La Fenice in Venedig statt, mit einer Besetzung mit Leone Giraldoni (Boccanegra), Giuseppe Echeverria (Fiesco), Luigia Bendazzi (Amelia) und Carlo Negrini (Gabriele). Die Oper war bekanntlich kein Erfolg. Verdi berichtete mehreren Korrespondenten sofort in etwa mit den gleichen Worten.  Ein Brief an den Impresario Vincenzo Torelli in Neapel hat mehr als nur einen Hauch von theatralischer Übertreibung: „Der Karneval in Venedig war schön, die Theatersaison bisher gut, aber gestern Abend begannen die Schwierigkeiten: Es war die Premiere von Boccanegra, und es war ein Fiasko, fast so groß wie das von La traviata. Ich dachte, ich hätte etwas Passables geschaffen, aber anscheinend habe ich mich getäuscht.§

Wie üblich zeigten die Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften ein sehr breites Spektrum an Meinungen. Was jedoch kaum Zweifel hinterlässt, ist, dass die Hauptsänger applaudiert wurden und dass die „stumpfe Reaktion“ des Publikums vor allem durch die insgesamt düstere Farbgebung des Dramas und durch seine unkonventionelle Gesangsführung hervorgerufen wurde, wobei ein Großteil der Partitur die Traditionen des Belcanto ablehnte und stattdessen eine deklamatorische Vortragsweise einsetzte, nicht zuletzt in der Komposition für den Protagonisten der Oper.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Coronation of the Doge on the Scala dei Giganti Giambattista Brustolo/V&A Museum

Vielleicht auch wegen dieser gleichgültigen Aufnahme überwachte Verdi persönlich eine frühe Wiederaufnahme der Oper bei der Einweihung des Teatro Municipale in Reggio Emilia am 10. Juni 1857, nur drei Monate nach der Premiere in Venedig. Er nahm sich die Mühe, an den Proben teilzunehmen, verbrachte den größten Teil eines Monats vor Ort und nahm dabei einige Änderungen an seiner Partitur vor, sowohl musikalische als auch szenische. Bis Anfang der 1870er Jahre fanden noch eine Reihe weiterer Wiederaufnahmen statt, insgesamt vielleicht 40. Obwohl es gelegentliche Erfolge gab, nicht zuletzt in Reggio Emilia, war die Resonanz an vielen bedeutenden Orten (insbesondere an der Mailänder Scala im Januar 1859) bestenfalls lauwarm.

Nach dem Debakel an der Scala schrieb Verdi seinem Verleger Tito Ricordi in einer für ihn typische Mischung aus Trotz und Pessimismus: „Ungeachtet dessen, was Freunde und Feinde sagen, steht Boccanegra vielen meiner anderen Opern, die mehr Glück hatten, nicht nach, und das liegt daran, dass das Werk vielleicht eine raffiniertere Aufführung und ein Publikum braucht, das zuhören will; was für eine traurige Sache ist das Theater doch!“

Aber „das Publikum“ blieb unfähig oder zumindest unwillig, die ungewöhnlichen Qualitäten der Oper zu würdigen; im Allgemeinen wurde Boccanegra als „Problemstück“ bekannt und wurde in den renommiertesten Theatern gemieden. Schon bald beschränkten sich die Wiederaufführungen meist auf kleinere Spielstätten, und selbst diese versiegten Anfang der 1870er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt schmiedete die Firma Ricordi, die die Oper unbedingt weiter fördern wollte, Pläne für eine gründlichere Überarbeitung, die schließlich 1881 das Licht der Welt erblickte.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Parma 2022/Szene/Foto Roberto Ricci

Die neue Edition:  Unsere Ausgabe von Simon Boccanegra von 1857, die Ricordi (der noch immer existiert und sich für die Opern des Komponisten einsetzt) beim Verfasser dieses Artikels in Auftrag gegeben hat, ist die erste, die auf Verdis autographischer Partitur dieser Fassung basiert und die erst vor wenigen Jahren für Wissenschaftler zugänglich wurde. Alle früheren Fassungen mussten sich auf die fast zeitgenössische Ricordi-Vokalpartitur und verschiedene Manuskript-Kopien stützen. Diese Quellen sind größtenteils zuverlässig in der Wiedergabe der von Verdi geschriebenen Noten, aber in Bezug auf Dynamik, Phrasierung und andere Aspekte der Artikulation sind selbst die besten von ihnen nur annähernd und lassen häufig wesentliche Details vermissen. Die autographen Materialien stellen somit eine reichhaltige neue Quelle dar, die zeitgenössischen Interpreten erstmals die Möglichkeit bietet, viele von Verdis detailreichen musikalischen Anweisungen zu befolgen. © 2025 Roger Parker/G. H.

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VERDI: SIMON BOCCANEGRA 1857 VERSION (ORC65): The Hallé | Sir Mark Elder, conductor; Germán Enrique Alcántara (Simon Boccanegra); Eri Nakamura (Amelia); William Thomas (Jacopo Fiesco)Iván Ayón-Rivas (Gabriele Adorno); Sergio Vitale (Paolo Albiani); David Shipley (Pietro); Amelia’s Maid (Beth Moxon); Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus

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Der Autor und Musikwissenschaftler Roger Parker/ Foto OR/ Russell Duncan

Dank an Roger Parker, uns seinen Artikel aus dem Booklet zur neuen Aufnahme bei Opera Rara zu überlassen! Roger Parker ist Repertoireberater bei Opera Rara. Er ist emeritierter Professor für Musik am King’s College London und lehrte zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Herausgeber der kritischen Ausgabe von Donizetti, die bei Ricordi erschienen ist. Seine jüngsten Bücher sind „Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio“ (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last Four Hundred Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die Musik in London in den 1830er Jahren und an einer kritischen Ausgabe von Donizettis Solo-Liedern. Von 2013 bis 2018 war er Direktor des vom ERC geförderten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College. (Abbildung oben: Venedigs Doge Leonardo Loredano von Giovanni Bellini/Wikipedia)