Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Debut

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So seltsam der Titel seiner ersten CD ist, nämlich Backstage, obwohl das Ziel eines jeden Sängers doch die Bühne sein sollte, so eigenartig sind die Fotos auf Cover und im Booklet: ein halber Kevin Amiel blickt dem Betrachter scheu entgegen, im Innern lassen sich knubbelige nackte Zehen bewundern, aber auch eine halbe Rückseite, als wolle das Bild sagen, so recht seine Welt sei die Bühne für den Tenor noch nicht. Dabei hat es nach eigenem Bekunden 16 Jahre gedauert, Jahre voller travail, sacrifices et rigueur, ehe die CD mit dem Orchestra Sinfonica G.Rossini unter Frédéric Chaslin eingespielt wurde. Das Orchester stammt aus Fano in den Marche unweit der Grenze zur Romanga und damit Pesaro und trägt so seinen Namen zu Recht. Forscht man nach der Karriere des französischen Tenors, so trifft man auf Almavivas, Rodolfos, Alfredos vorwiegend in Frankreich, aber auch auf kleine Partien wie Macolm, Normanno oder Arturo, beide die aus Lucia di Lammermoor, und sogar deutsche Partien wie Jaquino und den Offizier aus Strauss‘ Ariadne auf Naxos sind dabei.

Die CD weist vor allem die eher lyrischen Partien von Verdi (Alfredo, Duca, Macduff) und Puccini (Rinuccio, Rodolfo) dazu Belcanto mit Lucia und Il duca d’Alba sowie Elisir auf, dazu kommt Französisches ( Roméo et Juliette, Lakmé, Werther, Mireille), und um es noch populärer zu gestalten, fehlen auch Rossinis La danza, Cor‘ ‚‘ngrato und eine französisches Dein ist mein ganzes Herz nicht.

Für Verdi hat der Tenor das für diese Partien annehmbare helle Timbre, zeigt sich beweglich, trumpft ab und zu auch heldenhaft auf und hat für die Cabaletta des Alfredo eine Fermate auf dem Spitzenton. Sehr gut ist die Diktion, auch die Mittellage ist präsent, etwas ermüdend ist die fast durchweg einheitliche Lautstärke oder das  abrupte Überwechseln vom Forte ins Piano. Noch öfter als auf der CD hörbar würde man gern eine schöne Melancholie wie kurz in Ella mi fu rapita vernehmen, auch könnte der Tenor häufiger nobel klingen, wie nur ab und zu festzustellen. Der Macduff profitiert von der präsenten Mittellage. La donna è mobile wünscht man mehr Leichtigkeit.

Für die Donizetti-Partien passt das Timbre, allerdings erscheint die große Szene des Edgardo wie ein einheitlicher Kraftakt, darüber können auch eingelegte hohe Töne nicht hinwegtäuschen. Die Arie des Marcello aus dem Duca gefällt besonders in der Wiederholung von Angelo casto e bel. Nemorino erfreut mit einem schönen Schwellton und profitiert vom empfindsamen Einsatz der Stimme, La danza von Leichtigkeit und Präzision.

Puccinis Rodolfo wird etwas eintönig dargeboten, klingt in der Höhe flach, der Schluss allerdings klingt angenehm zärtlich, das Orchester zeigt sich nuancenreicher als die Stimme. Rinuccios Lob Firenzes wünscht man sich in der Höhe etwas gedeckter.

Bleiben die Franzosen, deren Roméo recht robust ist und die Extremhöhe ungefährdet erreicht, bei Géralds Arie gelingt besonders gut das Rezitativ, Werther ist empfindsam und leidenschaftlich zugleich und Vincent profitiert von der Muttersprache des Sängers.

Die Romanze geht eher in Richtung Opernarie als Canzone, die deutsche Operette verliert sicherlich nicht durch die Übersetzung ins Französische. Das Orchester ist im italienischen Fach natürlich zuhause, der Dirigent entlockt ihm auch Französisches.

Der Sänger muss sich nicht im Backstage verstecken, sondern kann selbstbewusst auf die Bühne treten (Alpha AP358). Ingrid Wanja (12.07.25)

Béatrice Uria-Monzon

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Die bedeutende französische Mezzospranistin Béatrice Uria-Monzon (28. Dezember 1963) starb am  19. Juli 2025. Dem Berliner Publikum wird sie als Didon in den Troyens an der Deutschen Oper Berlin an der Seite von Roberto Alagna in Erinnerung bleiben, eine Partie, die sie auch in Marseille konzertant gab (auf youtube nachzuerleben).

Als Tochter des spanischen Malers Antonio Uria Monzón studierte Béatrice Uria-Monzon an der Sekundarschule Joseph Chaumié, am Gymnasium Bernard Palissy d’Agen und am katholischen Gymnasium St. Jean de Lectoure (Gers), wo sie im Chor der Schule unter der Leitung von Roland Fornerod zum Gesang kam. Anschließend besuchte sie die Universität Bordeaux. Sie trat in das Conservatoire de Bordeaux ein, dann in das Centre national d’insertion professionnelle des artistes lyriques [fr] in Marseille und in die École d’art lyrique der Pariser Oper.

Béatrice Uria-Monzon und Roberto Alagna in den „Troyens“ an der Deutschen Oper Berlin (Foto von der Premiere, im weiteren Verlauf sah man dann Alagna mit seinen eigenen Haaren – Recht hatte er!)/youtube/privat

Sie begann ihre Karriere als Opernsängerin 1987 als Mezzosopranistin. 1989 sang sie die Rolle des Cherubino in Mozarts Die Hochzeit des Figaro an der Opéra national de Lorraine.

Bekannt ist sie für ihre zahlreichen Darbietungen der Titelrolle in Bizets Carmen, die sie 1993 und 1994 an der Opéra Bastille und anschließend 1997, 1998 und 1999 auf den wichtigsten Bühnen der Welt spielte (1994: Grand Théâtre de Bordeaux und Teatro Colón in Buenos Aires; 1995: Opéra Royal de Wallonie; 1996: Teatro Massimo in Palermo, Teatro Regio; 1997: Théâtre du Capitole in Toulouse; 1998: Chorégies d’Orange, Wiener Staatsoper, Metropolitan Opera in New York).

Sie sang auch französische und italienische Repertoires: Massenet: Charlotte in Werther, Hérodiade (Titelrolle), Dulcinée in Don Quichotte, Chimène in Le Cid (an der Seite von Roberto Alagna), Anita in La Navarraise; Berlioz: in Marseille und Berlin Cassandre und Didon in Les Troyens, Béatrice in Béatrice et Bénédict, Marguerite in la Damnation de Faust; Ambroise Thomas: Gertrude in Hamlet, Mignon (Titelrolle); Poulenc: Mère Marie in Dialogues des Carmélites; Saint-Saëns: Dalila in Samson et Dalila, Offenbach: Giulietta in Les Contes d’Hoffmann; italienisches Repertoire: Bellini: Adalgisa in Norma, Donizetti: Sarah in Roberto Devereux, Eleonore in La Favorite (französische und italienische Fassung); Verdi: Fenena in Nabucco, Amnéris in Aida, Eboli in Don Carlos (französische und italienische Fassung); Mascagni: Santuzza in Cavalleria rusticana sowie Wagner als Venus in Tannhäuser und Judith in Bartóks Blaubarts Burg in ungarischer Sprache. 2012 trat sie in Puccinis Tosca auf.

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Béatrice Uria Monzon hat besonders die Rolle der Carmen tief geprägt, die sie auf allen nationalen und internationalen Bühnen verkörperte: an der Opéra de Paris, Chorégies d’Orange, Toulouse, Bordeaux, Venedig, Verona, Palermo, Turin, die Metropolitan Opera in New York, Houston, Cleveland, Madrid, Barcelona, Buenos Aires, die Staatsoper und die Deutsche Oper in Berlin, Tokio, Osaka und Moskau.

Seit mehreren Jahren entwickelte sich ihre Stimme in Richtung Sopran, und Béatrice Uria Monzon sang ihre erste Tosca in Avignon und übernahm diese Rolle anschließend an der Opéra de Paris, in Berlin und an der Mailänder Scala.

Béatrice Uria-Monzon/Uria-Monzon

Sie etablierte sich sofort in dieser neuen Stimmlage und sang 2016 Lady Macbeth am Théâtre Royal de la Monnaie und am Capitole in Toulouse, die Comtesse de Sérizy in Luca Francesconis Trompe la Mort, einer Weltpremiere an der Opéra de Paris im Jahr 2017, Adriana Lecouvreur in Saint-Etienne, Margherita und Elena in Boitos Mefistofele bei den Chorégies d’Orange, La Gioconda am Théâtre Royal de Monnaie im Jahr 2019 und Madeleine de Coigny in Andréa Chénier.

Sie sang am Ende ihres Lebens die Königin Marguerite in Yvonne, princesse de Bourgogne an der Opéra de Paris und erneut Elena in Mefistofele in Toulouse, Lady Macbeth an der Oper von Triest, dann Gertrude in Hamlet an der Opéra de Liège und Carmen im Stade de France an der Seite von Roberto Alagna. (Wikipedia)

LGBT in Bregenz

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Ganz im Zeichen lesbischer Liebe standen im Jahr 2024 die Bregenzer Festspiele, als auf dem See Agathe und Ännchen in Webers Der Freischütz einander nicht nur freundschaftlich, sondern auch sexuell zugeneigt schienen und im Festspielhaus Rossinis Tancredi zur Tancreda wurde, was immerhin mit der weiblichen Stimme für die Partie begründet werden konnte. Da wurde die Tür geöffnet für eine heiße Liebe zwischen einer Romea und einer Giulietta für Bellinis I Capuleti e i Montecchi, und wenn man an das Kastratenwesen auf der Opernbühne denkt, wird es einem schier schwindlig bei der Vorstellung, welche sexuellen Orientierungen noch in die Theater Einzug halten und jede Art von Publikum bedienen können. Ein weit größerer Irrtum ist es jedoch, eine Belcantooper inszenatorisch auf Verismo trimmen zu wollen, zugegeben lange Arien durch Action um jeden Preis „auflockern“ zu wollen, wie geschehen durch den Regisseur Jan Philipp Gloger, der eine bis ins kleinste Detail fein ausgefeilte Inszenierung auf die Bretter gestellt hatte und den eine Riesenangst davor geschüttelt haben muss, das Publikum könnte sich langweilen. Er verlegt die Rittergeschichte um Sarazenen und Christen ins Mafiamilieu heutiger Zeit, heuert zur naturalistischen Kampf-, Abmurks- und Saufgelageszenerie zu den Sängern noch eine Stunt-Men-Truppe mit  Fight Choreographer an und lässt Priester (der ansonsten gestrichene Roggiero) und Drogenhandelsbekämpfer erstechen oder erschießen, letzteren noch mit einem GAY-Schild versehen, während Tancreda vor dem Ferrara-Schluss noch trutzig eine Fahne mit dem doppelten Spiegel ausbreitet.

Ich erinnere mich an eine konzertante Rossini-Aufführung in der Deutschen Oper Berlin mit Caballé, Horne und Ramey- es war und blieb die bisher spannendste überhaupt, weil man aus Bewunderung für das sängerische Können der Stars kaum zu atmen wagte. Mit der detailverliebten Überinszenierung, in der auch noch neben vielem anderem  vom Priester à la Padre Lorenzo ein Giftfläschchen an Amenaide gereicht wird, so handwerklich perfekt sie sein mag, werden musikalische Linien zerrissen, die Aufmerksamkeit von den Sängern abgelenkt und ein trauriges Beweisstück für mangelndes Vertrauen in Musik und Sänger geliefert. Wie gesagt, es ist eine mit Einschränkungen (Italiener trinken nicht Tag und Nacht Rotwein, sondern nur zu den Mahlzeiten.) perfekte Inszenierung, die aber nicht zur Musik passt, so wenn zu einer hochdramatischen Arie Amenaide auf das Hochzeitsbild der Eltern spuckt, es auf die Erde wirft und Argirio es aufhebt und mit dem Saum seines speckigen Bademantels sauber wischt oder sich der Charakter des Orbazzano  in barbarischen Essgewohnheiten manifestiert. Es ist auch keine Lösung, den Text teilweise der Inszenierungsweise anzupassen. Dem Naturalismus der Regiearbeit entspricht die Bühne von Ben Baur, der auf der Drehbühne die Außenmauern eines vernachlässigten Palazzo mit kleinstbürgerlicher Einrichtung kombiniert, obwohl man meinen möchte, der Handel mit in Teddybären verstecktem Kokain sollte einen anspruchsvolleren Lebensstil ermöglichen.

Man weiß nicht recht, ob man es begrüßen oder bedauern soll, dass die Besetzung eine durchaus hochrangige und festspielwürdige, ihre vokalen Gaben leider an die falsche Inszenierung verschwendende ist. Rossini schrieb die Oper als Zwanzigjähriger, so verwundert nicht, dass dem Tenor noch die Vaterrolle, dem Bass die Liebhaberpartie zugeordnet ist. Antonino Siragusas Tenor passt vom Timbre her inzwischen sehr gut die erstere, und mit seiner stupenden Technik führt er allerbesten Rossinigesang mit allen Raffinessen des Ziergesangs und rasanten Cabaletten vor. Andreas Wolf imponiert eher durch die dunkle Fülle des Basses als durch vokale Raffinessen. Isaura ist hier nicht Vertraute sondern Mutter von Amenaide und findet in Laura Polverelli eine zwischen Gatten und Tochter ihre hilflose Zuneigung aufteilende Dartsellung, vokal kann sie einen leichten Wobbel nicht immer kaschieren. Kaum einen vokalen Wunsch offen lassen Mélissa Petit als Amenaide und Anna Goryachova als Tancredi. Der Sopran ist jung, frisch, klar und höchst beweglich, dazu ist die junge Sängerin noch karateerfahren. Der Mezzo ist an Ebenmaß, Geschmeidigkeit und Farbschönheit erstaunlich, das Duett „Quale per me fuesto“ ist einer der vielen akustischen Höhepunkte der DVD, aber auch die große Szene „O patria!“ samt Cabaletta „Di tanti palpiti “ wird sehr achtbar bewältigt. Yi-Chen Lin lässt es am Dirigentenpult etwas an unverzichtbarem Brio mangeln, aber insgesamt merkt man dem Orchester, den Wiener Symphonikern, an, dass sie auch mit dem italienischen Repertoire vertraut sind, genau wie der Prague Philharmonic Choir unter Lukáš Vasilek (C-Major 769208). Ingrid Wanja         

Potsdamer Festspieldokument

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Es ist verdienstvoll, wenn das Label deutsche harmonia mundi bei den Festspielen Potsdam Sanssouci offerierte Opernraritäten live mitschneidet und auf CD veröffentlicht. Jetzt erschien auf drei CDs (19658812322) der im Juni 2024 im Schlosstheater des neuen Palais gezeigte Adriano in Siria von Carl Heinrich Graun, der nach seiner Uraufführung 1746 an der Königlichen Oper zu Berlin in den Archiven verschwand. Die Handlung um den römischen Kaiser Hadrian, der den syrischen König Osroa besiegt und dessen Tochter Emirena entführt hat, basiert auf einem Libretto des berühmten Pietro Metastasio und endet nach zahlreichen Konflikten mit einem lieto fine, in welchem dem Kaiser Adriano gehuldigt wird.

Mit ihrem Ensemble 1700 garantiert Dorothee Oberlinger schon in der dreiteiligen Ouverture mit Schwung und Elan einen lebhaften Einstieg. Die Sänger begleitet sie sorgsam und inspirierend, setzt starke Akzente in den Arien und Duetten mit ihren vielfältigen Stimmungen. Eine hochkarätige Solistenriege ist versammelt, welche der Countertenor Valer Sabadus in der Titelrolle anführt. Die Stimme klingt resonant und ausgeglichen, sorgt mit der furiosen Arie „Barbaro, non comprendo“ im 3. Akt, in der auch die tiefe Lage bemerkenswert präsent klingt, für einen aufregenden Moment. Spektakulär der Auftritt des Sopranisten Bruno de Sá als Partherfürst Farnaspe, der stupende Töne in der Extremhöhe absolviert und das virtuose Zierwerk mit Koloraturen und Trillern souverän beherrscht. Als seine Verlobte Emirena ist die renommierte  italienische Sopranistin Roberta Mameli zu hören, die mit individueller Stimme und expressivem Vortrag die Figur eindrücklich profiliert. Mit de Sá hat sie am Ende des 1. Aktes ein Duett („Passi da me“) von überwältigender Wirkung, in welchem die beiden Sopranstimmen in harmonischem Zusammenklang verschmelzen. Auch Sabina, Verlobte des Kaisers, ist eine hoch notierte Partie und die britische Sopranistin Keri Fuge ist mit exzellenter Technik der Mameli ebenbürtig. Die Riege der hohen Stimmen komplettiert der italienische Sopranist Federico Fiorio als Adrianos Adjutant Aquilio mit knabenhaft leichter Stimme. Seine Arien „Saggio guerriero antico“ und „Più bella al tempo usato“ ordnen den Interpreten in das Buffo-Fach ein. Die tiefste Stimme der Besetzung gehört dem französischen Tenor David Tricou als Partherkönig Osroa. Sein Gesang ist auftrumpfend und autoritär, wie in den Arien „Sprezza il furor del vento“ und „Se mai piagato a morte“ zu hören ist.

Auf die Barberina Suite mit drei Intermezzi. welche der Italiener Massimiliano Toni im Auftrag der Musikfestspiele komponiert hatte, wurde im dhm-Mitschnitt verzichtet, diente diese doch als Klangfolie für die Ballett-Einlagen. Der Musikfreund hofft nun auf ein Tondokument vom diesjährigen (2025)  Orlando generoso Steffanis. Bernd Hoppe

Herbert von Karajan

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Die Berliner Philharmoniker haben sich in der Vergangenheit kaum oder gar nicht um die Herausgabe von Mitschnitten historischer Konzerte auch ihrer Chefdirigenten gekümmert. Die Präsentation solcher Aufnahmen übernahmen allenfalls und eher in geringem Umfang die großen Labels, für die das Orchester Tonträger aufnahm, exemplarisch die Deutsche Grammophon Gesellschaft (DG) und EMI. Noch vor der Gründung des orchestereigenen Labels der Berliner Philharmoniker (Berlin Phil Media) erwarben sich die britischen Testament Records mit der Veröffentlichung von Konzertmitschnitten große Verdienste. Hier wurden Aufnahmen mit den Dirigenten John Barbirolli, Carlo Maria Giulini, George Szell, Klaus Tennstedt und anderen veröffentlicht. Die früheren Chefdirigenten waren ebenfalls vertreten: Wilhelm Furtwängler mit herausragenden Interpretationen der Fünften und Achten Symphonie von Bruckner, Herbert von Karajan mit Werken von Beethoven, Brahms, Schönberg und Strauss. Eine besondere Rarität war die 2015 erschienene CD mit Werken von Wagner, Mendelssohn, Haydn, Grieg, Tschaikowsky u.a., die die Philharmoniker mit ihrem ersten Nachkriegsdirigenten Leo Borchard schon 1933 bis 1935 für Telefunken aufgenommen auf Schellack aufgenommen hatten.

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Es dauerte eine Weile, bis sich das Eigenlabel der Philharmoniker auf historischen Tondokumente besann und 2019 in einem großen Wurf an seinen dritten Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler in Mitschnitten von Konzerten der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG) in den Kriegsjahren, also von 1939 bis 1945, erinnerte. Exemplarisch und auf höchstem Niveau wurde ein Kompendium Furtwänglerschen Schaffens vorgelegt.

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Nun also Herbert von Karajan, Furtwänglers Nachfolger. Karajan lebte und arbeitete zu einer Zeit, in der es große Umwälzungen und Neuerungen der Aufnahmetechnik gab. Die Berliner Philharmoniker waren mit ihrem fünften künstlerischen Leiter von Anfang an in den Medien prominent vertreten und schrieben so (wieder einmal!) ein entscheidendes Kapitel der Tonträgergeschichte (1).

Die Berliner Philharmonie im Bau 1962 in Farbe/ (c) Reinhard Friedrich/Berlin Phil Media

Ganz einsichtig ist die Logik der vorliegenden Edition nicht. Zunächst fragt man sich, warum es ausgerechnet diese 23 Konzerte sind, die nun veröffentlicht wurden. Auch der Zeitraum 1953 bis 1969 erscheint einigermaßen willkürlich. In diesen 16 Jahren gab es deutlich mehr von Karajan dirigierte Konzerte, die von einem der beiden Berliner Sender (RIAS, SFB) mitgeschnitten wurden. Hinter den Konzerten steht meist keine erkennbare Programdramaturgie. So mag die Werkzusammen­stellung für die Konzertbesucher seinerzeit ihren besonderen Wert gehabt haben, doch darüber hinaus wohl kaum. Verwunderlich ist zudem, dass neben symphonischen Werken nur fünf Instrumentalkonzerte vertreten sind; in vieren dominiert das Klavier. Konzerte für Violine oder Violoncello beispielsweise fehlen ganz.

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Ein weiterer Einwand betrifft den aufnahme-technischen Aspekt. Von den 23 Konzerten wurden die meisten, nämlich 18, monaural und nur 5 stereophon aufgezeichnet. Am Beginn stereophoner Rundfunkübertragung und Aufzeichnung stand das Eröffnungskonzert der Berliner Philharmonie am 15. Oktober 1963 mit Beethovens Neunter Symphonie. Der Mitschnitt wurde (zuletzt) in der 2008 erschienenen Edition „Im Takt der Zeit“ der Berliner Philharmoniker als rares Dokument veröffentlicht (BPH 06 06 D, CD 6, Aufnahme des RIAS). In der neuen Edition von 2024 muss man sich mit der Mono-Version zufriedengeben. Dabei war die Frühzeit stereophoner Konzertübertragungen und –Mitschnitte ein überaus spannendes Kapitel wie man im sehr informativen Beitrag „Karajan und der Berliner Rundfunk: Wiederentdeckte Klangschätze“, von Rüdiger Albrecht im Begleitbuch der Edition nachlesen kann.

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Eröffnung der Berliner Philharmonie/ (c) Reinhard Friedrich/ Berlin Phil Media

In Zusammenstellung, Aufmachung, Gestaltung und Präsentation von informativem, teils weniger bekanntem Fotomaterial ist die vorliegende Edition, wie die meisten des Philharmoniker-Eigenlabels, ein Ausnahmeprodukt, das (natürlich) nicht zu einem Discountpreis auf den Markt kommt. Für Karajan-erfahrene Hörerinnen und Hörer, aber vor allem auch jene, die ihn nicht mehr erlebt haben oder überhaupt kennenlernen möchten, ist diese Edition eine Bereicherung. Sie ist technisch up to date. Die Originalaufnahmen von RIAS Berlin und Sender Freies Berlin wurden in den renommierten Emil Berliner Studios in Berlin digitalisiert (192 kHz / 24 bit). Die Konzertmitschnitte sind sorgfältig und ausführlich dokumentiert, die jeweiligen Erstaufführungen der Werke durch die Berliner Philharmoniker nachgewiesen. Die Textbeiträge haben hohes Niveau: James Jolly (früher Chefredakteur des renommierten britischen Magazins „Gramophone“) erörtert „Karajan im Konzertsaal“ und hält am Ende fest: „Die vorliegende Edition bietet eine neue und überraschende Perspektive auf eine ungewöhnlich gut dokumentierte Karriere und zeigt uns eine andere – vielleicht ≫wahrhaftigere≪ – Seite dieses Musikers, den wir so gut zu kennen glaubten.“ – Peter Uehling, Musikkritiker und Autor einer Karajan-Biographie, analysiert Karajans Rundfunkaufnahmen eingehend als „Entwürfe der Aufbauzeit“ und geht dabei auch ein auf die Unterschiede zu Wilhelm Furtwängler ein, ferner auf die Komponisten, Konzertprogramme und die (wenigen) zeitgenössischen Werke, die in Karajans Programmen zu hören waren. Für Uehling sind diese Aufnahmen „vieles zugleich: interpretatorisches Skizzenbuch und Experimentier­feld; Dokumente eines Live-Zauberers, aber auch Bestätigung im Studio gewonnener künstlerischer Überzeugungen; Einblick in die Geschichte der Konzertdramaturgie und Überlieferung zeitgenössischer, aber nicht ewiger Musik und natürlich Dokumentation einer unendlich reichen und unendlich erfolgreichen Aufbauzeit“.

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Herbert von Karajan ca. 1963/ (c) Siegfried Lauterwasser/Berlin Phil Media

Die hier veröffentlichten Zeugnisse von Karajans Arbeit zeigen eine andere Seite des Künstlers, der als ein Prototyp des Dirigenten des 20. Jahrhunderts galt. Karajan – der professionelle Musiker, der nichts dem Zufall oder der Spontaneität überließ, der kühl kalkulierende Interpret, der stets auf Perfektion und geschliffenen Klang setzte – das ist nur eine Seite der Medaille. Die andere war im Live-Konzert zu erleben und ist hier (noch einmal) zu erfahren: eine Unmittelbarkeit des Musizierens, Spontaneität, überraschende Momente und Wendungen.

Man kann anhand der Mitschnitte studieren, wie sich das Orchester in den 1950er- und 1960er-Jahren Zeit entwickelte. Das verdeutlichen exemplarisch die Aufnahmen von Beethovens Symphonie Nr. 3 am Beginn und am Ende dieser Edition. Die „Eroica“ im Konzert vom 8. September 1953 im Titania-Palast verrät noch ein gewisses Fremdeln mit dem künftigen Chefdirigenten Karajan. Die Musiker müssen sich noch an seine Art des Dirigierens gewöhnen, so scheint es. Hier klingt der zum Zeitpunkt des Konzertes noch lebende Furtwängler doch durch bzw. nach, auch dessen ungeahntes Temperament (vgl. das sich fast überschlagende Scherzo und das sehr drängende Finale).

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Die ccc Filmstudios 1967/ (c) Siegfried Lauterwasser/ Berlin Phil Media

Besonders interessante Beispiele der Kunst Karajans und der Berliner Philharmoniker sind Interpretationen von Werken der Komponisten Brahms, Bruckner, Schubert, Schumann, Richard Strauss, Debussy, Bartók – und Ligeti. Brahms‘ Zweites Klavierkonzert ist in kongenialer Aufführung mit dem Solisten Geza Anda nachzuerleben. Der Konzertmitschnitt (schon in Stereo!) ist noch lebendiger und suggestiver, auch freier als die Studioaufnahme. Solist und Orchester musizieren sensibel und subtil miteinander, keiner sticht den anderen aus. Die Vierte Symphonie wird gelassen und nicht mit der unerbittlichen Strenge eines Furtwängler genommen. Schuberts Achte Symphonie (C-Dur D 944) imponiert zwar durch von Anfang an und in allen Sätzen bewegte, zügige Tempi, fließende Bewegung, ein schönes „brio“; der Klang ist transparent und plastisch. Allerdings dürfte eine gewisse Ruppigkeit manchen Hörer verstören. Bruckner ist mit zwei Symphonien vertreten. Die Vierte Symphonie ist detailreich und spannend inszeniert, klanglich aber trotz Stereo-Aufnahme zu flach. Mehr Eindruck macht die Achte mit großen Bögen, langem Atem, dem breit genommenen, aber nicht schleppenden Adagio. In seiner temperamentvollen Interpretation von Schumanns Vierter Symphonie (Konzert 1959) macht Karajan besonders im Finale Furtwängler (vgl. Studioaufnahme DG, 1954) deutlich Konkurrenz, übertreffen kann er den Vorgänger allerdings nicht.

Richard Strauss, dessen Werke Karajan besonders lagen, ist mit mehreren Kompositionen vertreten: Ein Heldenleben, ohne Pathos, auch mit vielen leisen Tönen, akustisch nicht ganz befriedigend. Die Vier letzten Lieder singt Elisabeth Schwarzkopf nicht so eindringlich wie in der legendären Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra mit dem Dirigenten George Szell. Preziosen der Strauss-Interpretation bietet der Mitschnitt des Konzerts vom 30. Dezember 1965: Also sprach Zarathustra, musikalisch überaus subtil und farbig, in der Inszenierung kontrastreich, aufregend und tiefgründig, sowie Don Quixote mit den fabelhaften Solisten Pierre Fournier und Giusto Cappone als großes, kontrastreiches Poem, in dem auch eine fantastische Geschichte erzählt wird. – Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune und Ravels Zweite Suite aus „Daphnis et Chloé“ waren von Karajan besonders geschätzte Werke. Ihr Klangzauber, den die Philharmoniker wunderbar realisieren konnten, entfaltete sich 1961 bestimmt im Konzertsaal. Das kann die Mono-Aufnahme nur begrenzt wiedergeben. Karajan hat, nicht nur in den in der Box dokumentierten frühen Jahren, der Musik des 20. Jahrhunderts keine große Aufmerksamkeit geschenkt.

Herbert von Karajan ca. 1970 /(c) Siegfried Lauterwasser/Berlin Phil Media

Das Capriccio von Rolf Liebermann in der eigenwilligen Besetzung für Sopran, Violine und Streichorchester oder Richard Rodney Bennets Aubade sind gewiss keine typischen Beispiele für die „zeitgenössische“ Musik. Ein herausragendes Werk der Moderne ist dafür György Ligetis Atmosphères (hier schon stereophon). Und dass diese Komposition mit ihrem einzigartigen Klangzauber dem Dirigenten besonders lag, verwundert nicht. Mindestens ebenso intensiv und perfekt musiziert wird Bartoks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta – ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts und Paradestück für Orchester und Dirigent, das Wilhelm Furtwängler am 30. Januar 1938 mit den Philharmonikern in Erstaufführung vorstellte (davon gibt es leider keine Aufnahme!).

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Karajan, der Perfektionist und Klangtüftler, der Werke wieder und wieder studierte, mit dem Orchester probte und seine Interpretationen verfeinerte, bevor er ins Studio zu Aufnahmen ging, wollte eigentlich keine Live-Aufnahmen, also Mitschnitte von Konzerten. Dass einige nun aber doch veröffentlicht worden sind, ist ein Gewinn. Sie sind wichtige Dokumente, die den besonderen Reiz der Konzerte, die man seinerzeit in Berlin hören konnte, vermitteln. Vor allem sind sie oft lebendiger als die (in der Regel späteren) Studioaufnahmen. Die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent präsentieren sich „grandios anders“ (Wolfram Goertz in der „ZEIT“). Man erlebt ein freieres und impulsiveres Musizieren und Herbert von Karajan eben auch als einen „Meister des Augenblicks“ (Foto oben: Herbert von Karajan Siegfried Lauterwasser DG). Peter Heissler

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(1) vgl. dazu Helge Grünewald: Musik und Technik. Ein spannendes Kapitel in der Geschichte der Berliner Philharmoniker, in: Winzen, M. (Hrsg.): Musik! Die Entstehung eines Weltorchesters. Die Berliner Philharmoniker im 19. Jahrhundert, Oberhausen 2015.

Müde Trauer

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Ob Händel, Gluck, J. Chr. Bach oder Meyerbeer, manche deutsche Komponisten hat es nach Italien gezogen und wie Nicolai haben sie  dort auch eine Menge gelernt (letzterer auch in der Liebe). Aber nur wenige sind für immer dageblieben. Johann Simon Mayer war so einer, der nicht wiederkam. Ihm hat das Label Naxos in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Produktionen, namentlich unter dem Mayr-Exegeten und Dirigenten Franz Hauk, gewidmet. Jetzt ist eine Oper von ihm eben dort rausgekommen, deren Titel erstmal nicht so griffig klingt. Amor non ha ritegno. Übersetzt etwa Liebe kennt keine Grenzen oder Liebe kennt keine Hindernisse. Das ist ein schöner Titel, ein bisschen sperrig vielleicht. Amor ist eine opera semiseria, also eine Oper, die so ein bisschen pendelt zwischen einem ernsten Werk und einem komischen. Und man könnte diesen sperrigen Titel auch übersetzen mit Die unlustige Witwe, weil es hier genau darum geht. Es geht um eine Witwe, die anders als die Léharsche doch sehr um ihren verblichenen Gatten trauert. Sie ist aber auch eine Prinzessin und hat – wie Penelope – schon wieder einen Haufen nerviger Freier an der Backe. Die versuchen, sie rumzukriegen, und sie muss sich dieser Freier erwehren. Darum geht es hier drei Stunden lang, und es gibt einen sehr, sehr langen ersten Akt von wagnerischer Länge. Drei Viertelstunden trauert sie vor sich hin. Und dann taut sie ein bisschen auf, im zweiten Akt, der dann auch nochmal so lange dauert, und lässt sich auf einen dieser unsympathischen Freier ein. Das ist natürlich der Tenor, welche Überraschung. Und macht die Sache nicht besse. Und spricht auch nicht unbedingt für ihren Geschmack.

Musikalisch könnte es sich doch ganz lohnt haben, zu erleben, wie eine Frau den Tod ihres Mannes überwindet. Bei einem guten Komponisten. Mayr ist ein guter Komponist, muss man sagen. Und dies ist auch ein wichtiges Werk. Diese semiseria, diese Form, war wichtig für die Musikentwicklung. Die Oper wurde von – nun – Giovanni Simone Mayr für die Mailänder Scala 1804 geschrieben. Und sie fällt in eine extrem spannende Übergangszeit. Mozart ist tot, Cimarosa auch (1801), diese wichtigen Komponisten für die Oper vor Rossini, der dann später die Führung übernimmt. Und genau in diese Leerstelle stößt jetzt Mayr vor. Er war mit Abstand damals der beste Reformopernkomponist in Europa. Er hat den Weg von der Klassik zur Romantik bereitet. Seine Principessa, besagte Witwe, ist eine spannende Figur. So ein bisschen noch Mozart-Heroine, aber auch schon eine Donizetti-Heldin.

Es gibt ja bei Naxos inzwischen eine ganze Menge Musik von Mayr zu entdecken, aber er wird nicht aufgeführt. Ist er dann am Ende doch nur etwas was für einen engen Fan-Kreis? Sagen wir mal für einen mittelgroßen Fan-Kreis. In Italien war er eigentlich wichtiger als hier bei uns in Deutschland, weil er früh als junger Mann nach Italien ging und dann nur dort wirkte. Mayr hat bei allen unwidersprochenen Stärken (vor allem als Lehrer der jungen Komponisten-Generation), auch seine Schwächen, anders als sein späterer Konkurrent Rossini eben nicht. Oder sein Meisterschüler Donizetti.

Mayrs Wurzeln in der Wiener Klassik sind unüberhörbar. Manchmal nervt es, wenn er sehr hemmungslos Mozart-Anleihen macht. Ich rede hier nicht von „so klingt“ oder „so ähnlich“ oder „kleine Hommage“ oder „Anspielung“. Er hat ziemlich unverstellt  „übernommen“, geklaut, weil er wusste, dass Mozart in Italien nicht wirklich  bekannt war. Cosi zum Beispiel oder auch die Zauberflöte hat er gnadenlos für seine eigenen Opern ausgeschlachtet. Und das hört man. Wenn das heutzutage jemand machte, wäre das justiziabel.

Natürlich gibt es auch viel eigenständig Mayrsches. Was schon beeindruckt, ist, abgesehen vom melodischen und harmonischen Ideenklau, die Weiterentwicklung der Formensprache. Bei ihm ist alles opulenter, auch komplexer als bei Mozart. Die finali zum Beispiel nehmen große Ausmaße an, sind fast elefantös. Das wäre selbst für Mozart ungewöhnlich. Wir reden hier über 30 Minuten Blöcke. Und da gibt es auch diesen elegische Ton vor allem in den Arien der Witwe. Das ist schon spannend, auch aufgrund der Längen dieses Werks. Das mag sperrig wirken, aber für die damalige Zeit war das etwas Besonderes.

Simone Mayr in Italien/OBA

Die Frage ist nun, wie das jetzt bei der Aufnahme umgesetzt worden ist. Und ich finde die musikalische Seite unter Franz Haug äußerst problematisch. Wenn wir mal mit den Solisten anfangen sind da Yeree Suh und Markus Schäfer als das aristokratische Paar. Sie sind stilistisch passabel, aber auf eine so erschreckende Weise langweilig, dass das schon wieder fast an eine Kunstform grenzt. Ich habe manches dreimal gehört, weil ich es nicht fassen konnte, wie unendlich unbeteiligt diese Sänger klingen. Markus Schäfer kennt eigentlich nur einen Affekt, nämlich schmachtendes Säuseln. Und Yeree Suh hat gar keinen, klingt oft wie KI. Sie ist ein effektvolles Beispiel dafür, warum ich so gerne in Uni-Aufführungen von Opern gehe, weil da sicher nicht immer den perfekten Ton und die perfekte Technik zu erleben ist, aber man hört Leidenschaft und Enthusiasmus. Beim Rest man muss ein bisschen differenzierter urteilen. Die Sänger der Nebenrollen sind oft gar nicht so unrecht, wie Daniel Ochoa, Niklas Mallmann oder etwa Anna Veith als Kammerzofe Laurina. Das Concerto de Basso ist ein Klangkörper, der auf historischen Instrumenten spielt und das zum Teil sehr delikat und auch die orchestralen Schönheiten herausarbeitet. Der Dirigent Franz Hauck brennt für Mayr. Er ist die Seele dieser Wiederentdeckung im deutschen Raum. Aber er klingt eben auch oft sehr deutsch im nicht so schmeichelnden Wortsinne. Was für mich für mich das eigentliche Problem ist: sehr akademisch, sehr am Notenpult klebend, sehr humorlos. Man hat immer das Gefühl, sein Mayr ist nie aus Bayern rausgekommen. Man glaubt Haug einfach nicht, dass bei Mayr in Mailand Venedig das Publikum ausgeflippte. Bei Hauk und Naxos klingt alles wie Stadttheater in Ingolstadt. Und da wurde ja auch aufgenommen.

Natürlich es gibt es partielle Schönheiten zu entdecken, es gibt liebevolle Detailversessenheit. Aber zu vieles klingt konzertant im schlechten Sinne. Es fehlt dieses Brio, diese Italianità, diese chaotische Leidenschaft, die diese Musik ja auch hat und haben muss. Insofern ist die Aufnahme zweifellos ein wichtiges Dokument, und ich tue mich schwer, sie zu verreißen, weil ich den Komponisten so gerne mag. Und eigentlich ja auch Franz Haug, weil wir sonst Mayrs Werke gar nicht hören könnten. Aber vieles bleibt dann doch über Strecken viel zu langweilig. (Naxos 3 CD 8.660523-25). M. K./G. H.

Thomas Beecham

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„Es gibt für ein Orchester zwei goldene Regeln: gemeinsam beginnen und gemeinsam aufhören. Das Publikum schert sich nicht darum, was dazwischen passiert.“ Dieses Bonmot wird dem britischen Dirigenten Thomas Beecham zugeschrieben. Es offenbart den scharfzüngigen Realisten zugleich aber auch den Enthusiasten, der sein ganzes langes Leben der Musik widmete – und letztlich von sich sehr überzeugt gewesen ist, alles, was sich zwischen Beginn und Ende einer musikalischen Darbietung vollzieht, richtig zu machen. Der Spruch findet sich in der Sammlung von Aussprüchen, die unter dem Titel Beecham Stories in Buchform erschienen. Beecham wurde 1879 geboren und starb 1961 in London, wo er das musikalische Leben maßgeblich geprägt hat. Er gründete das New Symphony Orchestra (1906), das London Philharmonic Orchestra (1932) und das Royal Philharmonic Orchestra (1947). Mit seiner ganzen Autorität verhalf er vielen zeitgenössischen Komponisten zum Durchbruch, darunter Frederick Delius, Ethel Smyth und Jean Sibelius. Die ersten Aufführungen der Strauss-Einakter Salome und Elektra sowie von Wagners Meistersingern in England fanden unter seiner musikalischen Leitung statt. Früh hatte er auch die Bedeutung von Hector Berlioz erkannt. Schon 1910 wollte er die Trojaner auf die Bühne bringen. Nach zwei Weltkriegen eröffnete sich schließlich erst 1947 die Möglichkeit einer BBC Studioaufführung, die im Juni und Juli jenes Jahres aufgezeichnet wurde und nun als historisch bedeutsames Fundament der Diskographie dieses Werkes ist.

Der aus sehr wohlhabenden Verhältnissen stammende Beecham erbte 1916 von seinem Vater den Adelstitel Baronet of Ewanville in the County of Lancaster. Seine finanzielle Unabhängigkeit eröffneten ihm große Spielräume als Dirigent und Manger. So war ihm die Übernahme der künstlerischen und wirtschaftlichen Leitung des Covent Garden nur dank der Unterstützung seiner Familie möglich. Obwohl musikalischer Autodidakt, galt er als einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit. Er scheute sich nicht, für die erste Plattenaufnahme von Mozarts Zauberflöte 1937 und 1938 gleich mehrere Male in Berlin anzureisen, wo die Nationalsozilisten auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen. Die ohne Dialoge von Walter Legge mit den Berliner Philharmonikern produzierte Oper ist noch immer auf dem Markt und gilt als Markstein in der Geschichte der Schallplatte. Das 1995 gegründete englische Musiklabel Somm hat mit seiner vielteiligen Beecham Collection die musikhistorische Bedeutung des Dirigenten exemplarisch erfasst und auch seine Troyens auf drei CDs neu editiert veröffentlicht.

Warner hat jetzt sämtliche Stereo-Einspielungen von Thomas Beecham neu aufgelegt (5021732408914). Nur wenige Titel wie die sinfonische Dichtung Orpheus von Liszt sind noch Mono. Es kommen 35 CDs in einer Box zusammen, die außerordentlich ästhetisch aufgemacht ist und damit auch optisch dem ausgewiesenen Gentleman unter den Dirigenten Ehre macht. Beecham war dem Luxus zugetan. Auf vielen Hüllen, die den originalen Schallplatten nachempfunden sind, tritt er dem Betrachter in feinstem Zwirn entgegen, stets mit seidenen Krawatten zu schneeweißen Hemden. Er sitzt auf mondänen Terrassen an südlichen Küsten, den Strohhut in der Hand, wenn er ihn nicht auf seinem aristokratischen Edelmannskopf trägt. Sein äußerer Stil scheint sich auch in seinen musikalischen Konzepten abzubilden. Beecham agiert als Dirigent stets vornehm und kontrolliert. Auch die Auswahl der eingespielten Stücke erscheint nie banal und beliebig. Als ob er sich an die besonderen Köstlichkeiten auf einem reich gedeckten englischen Teetisch hält. Mitunter wählt er aus einem Werk nur einen Ausschnitt. Es finden sich keine zyklischen Produktionen wie alle Sinfonien von diesem oder jenem Komponisten, wie sie es auch seinerzeit schon auf dem internationalen Plattenmarkt gab.

Die Pioniertaten seiner ersten Lieben hallen bis ins Alter nach. Berlioz durchzieht die Sammlung wie ein roter Faden. Eine seiner letzten Arbeiten am Pult ist die Symphonie fantastique mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Francaise von Dezember 1959. Sie entstand im Salle Wagram in Paris, den es noch heute gibt. Er wurde unter Denkmalschutz gestellt. Der monumentale Marsch und die Königliche Jagd mit Gewittersturm aus den Trojanern mit dem Royal Philharmonic Orchestra und der Beecham Choral Society lassen für eine Viertelstunde Wehmut aufkommen, dass er sich unter Stereo-Bedingungen nicht noch einmal an das komplette Musikdrama von Berlioz gemacht hat. Ergänzt wird das Angebot aus seinem Werk mit der Le-Corsaire-Ouvertüre, dem Menuett der Irrlichter und dem Tanz der Sylphen aus La damnation de Faust. Indessen schlägt sich der lebenslange Glaube an das Können seinen komponierenden Landsmann Delius auch in der Edition nieder. Mit vierzehn Werken – komplett oder in Auszügen – ist er am häufigsten vertreten. Von Beecham selbst editiert und revidiert wurde die Florida Suite, die Delius 1887 in Leipzig komponierte. Darin verarbeitete er seine Eindrücke als Farmer auf einer Orangenplantage am St. Johns River. Erinnerungen an Filmmusik kommen auf, wenn sich die Themen üppig und schmeichlerisch verbreiten. Bei Nacht klingt diese Suite aus, die unter den Händen von Beecham zu einem grandiosen Panorama wird, das einem Naturschauspiel gleicht. Es ist zu spüren, wie nahe ihm diese Musik gegangen sein muss. Mit Sibelius, auch einem der schon genannten Hausgötter des Dirigenten, lässt Warner die Sammlung gewiss nicht ganz zufällig beginnen. Auf dem Programm steht die mit der Nummer 7 versehene letzte Sinfonie, die 1924 vollendet wurde. Sie gehört mit der ebenfalls eingespielten sinfonischen Dichtung Tapiola, durch die ein finnischer Waldgott geistert und die zwei Jahre später entstand, zu den letzten Werken von Sibelius. Suite aus der Bühnenmusik zu Pelléas et Mélisande für Orchester von 1905 ergänzen das Angebot. Beecham hatte noch andere Werke von ihm im Repertoire, darunter die populäre zweite Sinfonie, die sich leider nicht im Warner-Katalog befindet. Die in die Edition eingegangenen Produktionen genügen aber für einen tiefen Einblick, wie der Dirigent das Wesen dieser geheimnisvollen Musik offenzulegen verstand. Wenige Jahre vor seinem Tod 1957 hat Beecham den greisen Komponisten noch in seinem finnischen Waldhaus Ainola besucht. Auf dem Cover der ersten Plattenausgabe sitzen beide in jenen Möbeln beisammen, auf denen schon die Sängerin Kirsten Flagstad und viele andere legendäre Gäste Platz genommen hatten und dabei fotografiert worden waren. Sie gehören zur Einrichtung der Villa und sind dort noch immer vorhanden. Als Dirigent von Opern und Chorwerken führt Beecham in der ihm gewidmeten neuen Sammlung nahezu ein Schattendasein. Mit der rasanten Entführung aus dem Serail von 1956 wird an Mozarts frühe Platten-Zauberflöte angeknöpft. Sie fehlt wie die 1958 mit komponierten Dialogen eingespielte Carmen mit Victoria de los Angeles und Nicolai Gedda ohnehin in keiner Plattensammlung, stellt also keine Überraschung dar, wenngleich das Wiederhören zu neuem Vergnügen werden kann. Seltener sind da schon Händels Solomon und Beethovens Mass in C major, die vor zwanzig Jahren noch bei EMI auf CD gelangten.

„Von der Aufführungspraxis her hinterließ Beecham kein Vermächtnis, das fortgeführt werden konnte, dafür waren seine Interpretationen zu eigensinnig. Doch aus eben diesem Grund ist das Vermächtnis seiner Aufnahmen bedeutend“, so der Musikwissenschaftler David Patmore im Booklet. Beecham sei eine Ausnahmeerscheinung gewesen. „Zum Beispiel war es ihm und nur ihm gegeben, eine angemessene Atmosphäre für die Darbietung des gesamten Œuvres von Delius zu schaffen. Beechams Mozart und Haydn ist weit entfernt von der heute üblichen Spielweise, aber seine Darbietung besitzt eine entwaffnende Vitalität und Eleganz.“ Seine Aufnahmen würden die musikalischen Gedanken einer einzigartigen Persönlichkeit bewahren, der man so kein zweites Mal auf der Welt begegne. Patmore: „Mit seinem Hintergrund und seinem Charakter war er in der Lage, das Potenzial der Tonaufzeichnung voll auszuschöpfen, um seine musikalischen Aktivitäten zu unterstützen, gleichzeitig hinterließ er der Nachwelt einzigartige und außergewöhnliche Interpretationen.“ Das kann in der Edition mit jeder nachempfunden werden, wenngleich der Pionier, der Entdecker und Gründer etwas in den Hintergrund tritt. Rüdiger Winter

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  • Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 2 & 7 (in zwei Einspielungen); Messe C-Dur op. 86; Die Ruinen von Athen op. 113 (Auszüge)
    +Joseph Haydn: Symphonien Nr. 97, 99-104; Die Schöpfung
    +Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail KV 384; Symphonie Nr. 41; Klarinettenkonzert KV 622; Fagottkonzert KV 191; Divertimento KV 131; Marsch D-Dur KV 249 „Haffner“; Entr’acte Nr. 2 aus Thamos, König in Ägypten KV 345
    +Georg Friedrich Händel: Solomon HWV 67
    +Georg Friedrich Händel / Thomas Beecham: Amaryllis-Suite (Gavotte & Scherzo); Love in Bath-Suite; Ankunft der Königin von Saba; The Gods go a’begging-Ballettsuite
    +Franz Schubert: Symphonien Nr. 3, 5, 6
    +Hector Berlioz: Symphonie fantastique op. 34; Le Corsaire-Ouvertüre op. 21; Königliche Jagd & Sturm aus Les Troyens; Ballet des Sylphes & Menuet des Folles aus La Damnation de Faust; Marche troyenne
    +Johannes Brahms: Symphonie Nr. 2; Akademische Festouvertüre op. 80; Schicksalslied op. 54 (in englischer Sprache)
    +Georges Bizet: Carmen; Symphonie C-Dur; Carmen-Suite Nr. 1; L’Arlesienne-Suiten Nr. 1 & 2
    +Cesar Franck: Symphonie d-moll
    +Mily Balakireff: Symphonie Nr. 1
    +Richard Strauss: Ein Heldenleben op. 40
    +Alexander Borodin: Polowetzer Tänze aus Fürst Igor
    +Emmanuel Chabrier: Marche joyeuse
    +Claude Debussy: Cortege et Air de danse aus L’Enfant prodigue; Prelude a l’apres-midi d’un faune
    +Leo Delibes: Le Roi s’amuse-Ballettmusik
    +Frederick Delius
    +Antonin Dvorak: Legende op. 59 Nr. 3
    +Gabriel Faure: Dolly-Suite op. 113b; Pavane op. 50
    +Charles Gounod: Le Sommeil de Juliette aus Romeo et Juliette
    +Edvard Grieg: Im Herbst-Ouvertüre op. 11; Alte Norwegische Romanze & Variationen op. 51 (Auszüge); Peer Gynt (in deutscher Sprache); Symphonischer Tanz op. 64 Nr. 2
    +Edouard Lalo: Symphonie g-moll
    +Franz Liszt: Eine Faust-Symphonie; Orpheus; Psalm XIII „Herr, wie lange willst du“ für Tenor, Chor, Orchester (in englischer Sprache)
    +Felix Mendelssohn: Ouvertüre aus Ein Sommernachtstraum op. 61; Die schöne Melusine-Ouvertüre op. 32
    +Nikolai Rimsky-Korssakoff: Scheherazade op. 35
    +Gioacchino Rossini: La Cambiale di Matrimonio-Ouvertüre; La Gazza ladra-Ouvertüre; Semiramide-Ouvertüre
    +Camille Saint-Saens: Le Rouet d’Omphale op. 31; Danse des pretresses de Dagon & Bacchanale aus Samson et Dalila
    +Jean Sibelius: Pelleas et Melisande op. 46; Valse triste aus Kuolema op. 44; Tapiola op. 112; Die Ozeaniden op. 73; Symphonie Nr. 7
    +Franz von Suppe: Dichter und Bauer-Ouvertüre
    +Peter Tschaikowsky: Walzer aus Eugen Onegin; Symphonie Nr. 4 (1. Satz)
    +Englische Nationalhymne „God save the Queen“
    +Bonus-Material: Proben; Stereo-Test 1934 (1. Satz aus Mozarts Symphonie Nr. 41)

Nur bedingt französisch

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Für die Italiener ist sie L’altra Lucia, für alle anderen Lucie de Lammermoor, die 1839 in Paris uraufgeführt wurde, nachdem  vier Jahre zuvor die italienische Lucia in Neapel zum ersten Mal gespielt  worden war, die man 1837 auch in Paris hatte bewundern können. Bei Lucie de Lammermoor handelt es sich um eine vereinfachte und leicht verkürzte Fassung der Lucia, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein könnte, dass es sich bei aufführenden Théâtre de la Renaissance um ein relativ kleines Haus handelte, das wohl auch nicht einmal das sonst obligatorische Ballett zu stemmen konnte. Die augenscheinlichsten Veränderungen gegenüber Lucia sind das Auftreten des Arthur bereits im ersten Akt, der Wegfall der Alisa  und der von Regnava nel silenzio zugunsten der Cavatine aus Rosamonda d‘Inghilterra , mit der auch die düstere Erzählung vom Ende der Ahnin entschwand. Allerdings hatte die Lucia von 1837, Fanny Persiani, bereits zugunsten der Rosamonda votiert. Eine weitere Änderung ist beim Charakter des Raimondo festzustellen, der als ausgemachter Fiesling wenn auch mit stark gekürzter Rolle erscheint, so dass Lucie anders als Lucia jeglichen Beistands entbehrt, von Anfang an vom Wahnsinn bedroht erscheint.

Es ist ein Verdienst der alljährlichen Festwochen im Herbst in der Donizetti-Stadt Bergamo, auch immer ein unbekanntes, vergessenes oder sonst nicht populäres Werk des Sohnes der Stadt aufzuführen und zumindest teilweise jungen Kräften anzuvertrauen. 2023 war das Lucie de Lammermoor mit dem Orchestra Gli Originali, die , wie der Name verrät, auf alten Instrumenten spielen. Auch der Chor, Coro dell‘ Accademia alla Scala steht in dieser Tradition. Ersteres stellt unter  Pierre Dumoussaud die Kontraste im mit dem der italienischen Fassung nicht nur ähnlichen Sinfonia  klar heraus, klingt also eigentlich sehr italienisch, während der Chor in der Einstudierung von Salvo Sgrò sich redlich mit dem Französischen müht. Musikalisch lässt er kaum Wünsche offen.

Auf jeden Fall vorzuziehen ist die nur akustische Aufnahme (als Soundtrack der vorangegagenen DVD), denn die wenigen Fotos im Booklet zeigen Gräuliches wie das Sterben Egards in einem Autowrack oder eine Lucie, die nicht nur den Bräutigam, sondern gleich die ganze Hochzeitsgesellschaft unter dem Messer gehabt zu haben scheint, so sehr ist sie über und über mit Blut bedeckt. Auch scheint es sich in Bergamo nicht um eine Familienfehde, sondern um einen Rassenkonflikt zu handeln.

Die Sängerin der Lucie, Caterina Sala soll sich zwei Jahre lang mit dem Studium ihrer Rolle befasst haben. Umso tragischer, dass sie ausgerechnet bei der Premiere indisponiert war, die Vorstellung abbrechen und eine Kollegin von der Seite her weitersingen musste. Die Aufnahme stammt vom 1. Dezember 2023, als sich der Sopran der Aufgabe in besserer, wenn auch nicht optimaler Verfassung stellen konnte.  Immerhin klingt die Stimme jung, frisch, sehr empfindsam und nach der erzwungenen Eheschließung  wie gefrostet, manchmal angestrengt und spitzig, aber auch sich überaus vielen Verzierungen stellend, sie teilweise, so auch die nicht von Donizetti stammende, sehr anspruchsvolle Kadenz  meisternd und insgesamt sicherlich so interessant, dass man sich auf weitere Auftritte von ihr freuen kann. Der Edgar von Patrick Kabongo singt mit einem kräftigen Tenor ohne Glanz, ständig  a squarciagola und mit anfechtbarer Diktion. Einen markanten Bariton setzt Vito Priante für den Henri ein, eine sichere Höhe und gute Phrasierung. Arthur ist als einziger Francophoner Julien Henric und hört sich wesentlich edler und empfindsamer an als der Gilbert von David Astorga. Wenig zu singen hat der Raimond von Roberto Lorenzi, aber was man hört, das kann durch schönes Timbre und Präsenz überzeugen.

Die CDs vermitteln eine interessante Erfahrung und die Begegnung mit einer noch interessanteren Sängerin , um zu einem Erlebnis einer französischen Oper zu werden, sind die Mitwirkenden nicht einheitlich und intensiv genug  in diesem Metier geschult (Naxos 8.660578-79). Ingrid Wanja    

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Wobei man ehrlicherweiswe auch auf die beiden wirklich idiomatischer besetzten Aufnahmen mit   Roberto Alagna, Ludovic Tézier und Patrzia Ciofi als DVD  und auf die darauf folgende mit Alagna, Tézier und Natalie Dessay als CD beide bei EMI/Warner hinweisen muss; aus vertraglichen Gründen konnte die Dessay in Lyon nicht auftreten, die Aufnahme wurde auch im Fernsehen gezeigt. G. H.

Senza Rancore

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Dem altehrwürdigen und frisch modernen Bologneser Musikverlag Bongiovanni, der sich bescheiden immer noch als 70jährig ausgibt, obwohl er bereits die 100 Lebensjahre überschritten hat, ist der Bass Carlo Colombara seit Beginn seiner Karriere verbunden, kamen doch hier erste Aufnahmen mit ihm heraus. Nun hat er, seine Bühnenlaufbahn hat er gerade beendet,  auch seine Autobiographie hier verlegen lassen, gemeinsam mit Rino Alessi mit dem Untertitel In giro per il mondo, libero come il canto, was heißt Unterwegs in der Welt, frei wie der Gesang. Mitautor und Sänger wechseln einander ab, besonders wenn es persönlich wird, von Freundschaften und weniger guten Beziehungen zu Kollegen berichtet wird, griff der Sänger selbst zur Feder. Nach dem ersten Teil in italienischer Sprache folgt ein zweiter in Englisch mit einem gleichlautenden Text, aber ganz anderen Fotos, die allesamt bisher unveröffentlicht, da aus dem Archiv des Basses stammend, waren. Das Buch enthält außer der Lebens- und Karrieregeschichte noch eine ausführliche Chronologie und Verzeichnisse von DVDs und CDs. Dazu kommt eine CD,  ebenfalls verlegt bei Bongiovanni, auf der Colombara in Arien seiner wichtigsten Partien zu hören ist. Das Vorwort stammt von Zubin Mehta, mit dem der Bass häufig zusammen arbeitete, gewidmet hat das Buch Colombara seiner Mutter.

Hatte der junge Colombara noch viele Kollegen, die sich von Tokio bis New York und von Mailand bis Petersburg die Silvas, Ramfise, Filippi, Procidas   des universo verdiano, aber auch Godunows oder Mephistos teilten, sieht er heute die Bühnen mit wenigen Ausnahmen des echten basso profondo beraubt, beklagt einen allgemeinen Niedergang der Oper  auch bei den anderen Stimmfächern, verursacht durch eine inadäquate Gesangsausbildung, die Vermittlung falscher Gesangstechniken und beklagt ein allgemeines appiattimento vocale, noioso e fuori stile. Er selbst konnte die großen Bässe, zu denen er vor allem Nikolai Ghiaurov (mit dem er Boris studierte) und Bonaldo Giaiotti zählt, noch auf der Bühne hören, heute sind zu Vorbildern taugende Sänger nur noch mittels ihrer Aufnahmen zu erleben.

Carlo Colombara wurde 1964 in Bologna geboren und beendete, für einen Bass recht früh, seine Bühnenlaufbahn 2024 mit einem Debüt als Dulcamara in Japan. Sein Lehrer war Paride Venturi, der ihn für einen Bariton hielt, erst seine Freundin wies ihn auf seine Bassqualitäten hin, was zu einem vorübergehenden Bruch mit seinem Lehrer führte. Zwei Jahre Militärdienst, handwerkliche Arbeiten, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, hielten ihn kaum dabei auf, 1985 in Bruneck unter Renato Palumbo als Pianist zu debütieren. Das und viel mehr erfährt der Leser abwechselnd im erzählenden Text des Mitautors und in der Ich-Form, derer sich Colombara bedient.

Als ganz junger Sänger lernt er noch die mostri sacri wie Magda Olivero, Leyla Gencer, Renata Scotto oder Fiorenza Cossotto kennen und erfährt damit freundliche Unterstützung, aber auch manches harsche Wort, so des Mezzos:“Es ist leicht , an die Scala zu kommen, aber schwer, sich dort zu behaupten“. Nun, er konnte es, machte Tourneen nach Moskau und Japan mit dem berühmten Opernhaus und konnte von sich behaupten, dass er nie Ärger mit Dirigenten, nicht einmal mit dem un caratterino besitzenden Daniel Oren, aber viel mit Regisseuren hatte. Man glaubt es ihm, auch wenn die 30er-Jahre-Kostüme für den Attila in Macerata noch relativ harmlos erscheinen.

Besonders verbunden fühlte und fühlt sich Colombara der Stadt Zürich und Nello Santi und Brasilien, wo er regelmäßig Masterclasses abhält. 16 Mal war er bereits beruflich in Tokio, und an Berlin hat er keine guten, allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprechende Erinnerungen, wenn er die Aida, während derer der Dirigent Giuseppe Sinopoli starb, als hässlich in Erinnerung hat und behauptet,  eine halbe Stunde lang habe der Dirigent keinen medizinischen Beistand erhalten. Ein erschütterndes Ereignis kann manchmal die Erinnerung trüben.

Aber auch die Met und Houston bekommen ihr Fett weg, und das wohl zu Recht, während sich der Bass in Chicago wohl fühlt, hier auch  die verhassten Einladungen (stehend schlechtes Essen verzehrend)  der Sponsoren eher erträgt.

Colombaras Arbeitsweise ist die des zunächst eine CD-Hörens der Partie, dann die Aneignung des Textes, zuletzt die der Musik. Sechs Monate brauchte er für den Boris, mit Renato Bruson, der sich zunächst recht distanziert zeigt, arbeitet mit ihm am Fiesco, und wie nah sich die beiden Kollegen kamen, zeigt ein lustiges Foto Bauch an Bauch.

Wichtig ist Colombara das Lob der Scotto, die ihn als guten Lehrer bezeichnete, bewundernswert findet er die Fähigkeit Pereiras beim Beschaffen von  Sponsorengeldern, bedauern muss er Giacomo Giacomini, in dem sich ein extremes Lampenfieber mit davon ausgelöster Aggressivität vereinen, was der Dirigent Giuseppe Patané schmerzlich zu spüren bekommt. Als gelassen in sich ruhender Bass kann man natürlich mit nervösen Tenören viel erleben.

Das Buch ist interessant, nachdenklich, manchmal auch lustig, gewährt einen tiefen Einblick in leider vergangene Opernzeiten und lässt wünschen und hoffen, dass auch die Zeit des European Trash einmal vorüber geht und Sangeskunst  vor allem anderen, was Oper ausmacht, wieder im Vordergrund steht (Carlo Colombara, In Giro per il Mondo, libero come il Canto; Carlo Colombara und Rino Alessi; Edizione Bongiovanni, Bologna, 2025; 160 Seiten und eine CD; EB 2892). Ingrid Wanja

 

      

  

Auf den Spuren der Kollegin

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Gern ein einem bestimmten Komponisten gewidmeten, ein Mozart- oder Puccini-Album nehmen Sänger auf, um sich zu präsentieren, auch mit einem Querschnitt durch das eigene Repertoire gelingt das gut, beides jedoch spricht inzwischen von wenig Originalität.  Eher gelingt das dem mittlerweile auch beliebten Sichbeziehen auf einen berühmten Sänger oder eine Sängerin der Vergangenheit, was nun auch die Französin Eva Zaicȉk mit einer Hommage à Célestine Galli-Marié, der ersten Carmen, der ersten Mignon und des ersten Fantasio- das sind nur die auch heute noch bekannten Opern und Partien.

Nicht zufällig fällt die Wahl von auch zwei Arien aus Carmen auf deren 150. Geburtstag und den ebenfalls 150. Todestag ihres Schöpfers Georges Bizet. Eine Anregung zur CD gab nach Auskunft des Booklets Didier Martin von Alpha Classics, und auch der Austausch mit Alexander Dratwicki vom verdienstvollen Palazetto Bru Zane trägt auf der CD seine Früchte.

Célestine Galli-Marié war bereits 38 Jahre bei der Uraufführung von Carmen und damit eigentlich nach den Vorstellungen ihrer Zeit eher als Komische Alte denn als jugendliche Liebhaberin einsetzbar. Ihre Karriere hatte sie in Rouen als Mab in Michael W. Balfes Bohemian Girl begonnen, hatte schnell Erfolg und damit die Berufung nach Paris sicher  und sang in 15 Jahren sechzehn neue Partien, darunter auch in der heute vergessenen Oper L’Ombre von Friedrich Flotow.

Bizet „Carmen 1874“: nach vielem Hin und Her sang Célestine Galli-Marie die erste Carmen/hier im Kostüm, Gemälde von Henri Lucien Doucet 1887/Wikipedia

Die Auswahl der Tracks auf der CD verrät eine Vielfalt der Stile, die auch typisch für das Repertoire von Célestine Galli-Marié  war, allerdings kann man das Repertoire beider Sängerinnen nicht miteinander vergleichen, denn Eva Zaicȉk singt sehr viel Barockmusik, während ihr Vorbild zeitgenössischen Opern zur Uraufführung verhalf. Mit dem Titel Rebelle soll nicht nur die Gemeinsamkeit der Vorliebe für einen bestimmten Frauencharakter hervorgehoben werden, sondern sicherlich auch eine Verbeugung vor dem heutzutage sich besonders in Szene setzenden Feminismus gemacht werden. Carmen bedient dieses Frauenbild, Mignon eher weniger, und zumindest die Texte der Arien aus den heute nicht mehr bekannten Opern, teilweise wie Fantasio und Venerdì aus Robinson Crusoé sogar  Hosenrollen, sind nicht besonders kämpferisch.

Eva Zaicȉk  war Preisträgerin  des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel und errang 2018 einen hochbewerteten französischen Preis für junge Opernsänger.

Die beiden Arien der Carmen, Habanera und Seguidilla , werden ebenso wie die der Mignon nicht zusammenhängend , sondern über die sechzehn Tracks verstreut dargeboten, wobei sich der Mezzosopran eher als Mignon als bei Carmen in seinem Element fühlen kann. Für die Seguilla ist die Stimme zu zart und zu fein, exquisit, aber nicht lockend verführerisch, auch der Juchzer am Schluss kann nicht darüber hinwegtäuschen.  Der Habanera fehlt zwar nicht französischer Charme, aber die vollmundige Sinnlichkeit, auch wenn das Cover , ein Portrait der Sängerin nicht mit einer Rose oder einer ähnlich verführerischen Blume, sondern einer Distel im Mund wohl von besonderer Emanzipation künden soll.  Die Rückseite zeigt die Sängerin dann, auffallend männlich streng gekleidet, mit vielen Rosen,  die bis auf eine jedoch zertreten am Boden liegen.

In MignonsElle é là“ wird dem Mezzotimbre Sopranglanz hinzugefügt, die Arie wird sehr empfindsam gesungen, und nur in der Extremhöhe klirrt es leicht. In der Romanze des geheimnisvollen Mädchens Mignon „Kennst du das Land“ kann die sanfte Klage rühren und überzeugen.

Begonnen wird mit dem Chanson der Colombine aus Poises La surprise d’amour, das, spanisch anmutend,  schwungvoll und mit viel Schalk in der Stimme dargeboten wird. Mit angemessener Leichtigkeit, aber auch recht brav wird die Nuit d’amour et de plaisir“ besungen,  geläufig und in schön geschwungenen Bogen macht sich Offenbachs Fantasio bemerkbar, dessen Freitag aus Robinson Crusoé sich durch seine Empfindsamkeit auszeichnet. Victor Massés Chanson Bohémienne berührt trotz des neckischen Lachens am Schluss eher durch Mädchenhaftigkeit aus als durch die erwünschte wilde Ungebundenheit.

Die ausgerechnet zu Weihnachten verlassene Marthe aus Ernest Guirauds Piccolino zeichnet sich durch ihre sanfte Trauer aus, Massenets Berceuse de Lazarille ist angemessen sanft dargeboten  und erfreut durch das perfekte Legato.

Das Orchestre National de Lille unter Pierre Dumoussaud erweist sich mit die unterschiedlichen Charaktere der Stücke präzise herausarbeitendem Spiel als ideale Begleitung für die Sängerin (Alpha 1128). Ingrid Wanja (28. 06. 25)

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Georges Bizets „Carmen“ 1874

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Bizets Opern-Hit erklang am 25. 3. 2024 in der Elbphilharmonie Hamburg (und en tour danach in anderen Städten) in einer ganz besonderen Version: in der Fassung, wie der französische Komponist sie 1874 ursprünglich vorgesehen hatte, bevor ihn der Intendant der Opéra-Comique zu weitreichenden Änderungen drängte. Die Originalmanuskripte dieser Ur-Fassung wurden nun von Paul Prévost (für Bärenreiter) und René Jacob ausgewertet und auf dieser Grundlage eine »Carmen« rekonstruiert, wie man sie bisher noch nie gehört hat. Gaëlle Arquez als erfahrene Carmen-Darstellerin und Sabine Devieilhe als Konkurrentin Micaëla bildeten dabei eine funkelnde weibliche Doppelspitze. Der Tenor François Rougier betrat als von Carmen besessener Don José das Podium, Bariton Thomas Dolié als sein Widersacher Escamillo. Und René Jacobs dirigierte faszinierend und schmissig. Und bei youtube gibt’s die immer noch akustisch nachzuerleben, dringend angeraten!

Dies war das erste Mal überhaupt, dass diese Fassung erklang (Bizet hat sie nie so erlebt, aber ersehnt), und sie bietet soviel mehr und anderes als die bekannten zwei Versionen (Dialog- und Rezitativ-Fassung). Es war, als hörte man Carmen zum ersten Mal. Diese ungeheuer moderne Oper hat plötzlich ganz andere Dimensionen, andere Wirkung. Und da wir im Bizet-Jahr 2025 sind gibt es bei uns einen Artikel zu dieser „unbekannten“ Carmen. Dazu nachstehend ein Artikel von Paul Prevost (Bärenbreiter/takte-online) und von René Jacobs Gedanken zu dem von ihm dirigierten Ereignis. Und zum Schluss schreibt Paul Dogan etwas über die Vorgänge um die  originale Titelsängerin Célestine Gallie-Marié als Carmen. G. H.

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Bizet „Carmen 1874“: René Jacobs & Crew in Hamburgs Elbphilharmonie 2024/Foto Daniel Dittus

Auf der Suche nach der echten „Carmen“. Die Neuausgabe von Bizets „Carmen“ aus dem Bärenreiter-Verlag verfolgt den Ansatz, dass nicht die Wissenschaft darüber zu entscheiden hat, welche Fassung die richtige oder die wahre sei – und legt eine Edition aller überlieferten originalen Fassungen der Opéra-comique vor. René Jacobs, der die ersten Aufführungen unter Verwendung der Neuedition dirigierte, äußert sich im Anschluss an den Artikel von Paul Prévost über ihre Vorzüge.

Seitdem 1964 Fritz Oesers „Carmen“-Ausgabe bei Bärenreiter/Alkor erschienen war, wuchs in Wissenschaft und musikalischer Praxis das Interesse an den Quellen der berühmten Opéra-comique. Es entstand der Mythos einer „echten“ „Carmen“, wie Bizet sie gewollt habe, und es verbreitete sich die Vorstellung, dass der Zustand, in dem der Komponist das Werk zuletzt hinterlassen hat, die vollendete Form seines Meisterwerkes darstelle. Und während die eine Seite hartnäckig diese puristische Auffassung vertrat, erschienen andererseits Editionen der „Carmen“ in mehr oder weniger glücklichen Mischungen verschiedener Versionen, die philologisch teilweise nur schwer zu rechtfertigen sind.

Bizet „Carmen 1874“: René Jacobs & Crew in Hamburgs Elbphilharmonie 2024/Foto Daniel Dittus

Allerdings wäre es wohl vermessen, Bizets Gedanken ergründen zu können, der sich bereits bei den Proben seines Werks an der Opéra Comique in Paris, vor der Uraufführung, allerlei Schwierigkeiten sowie dem Druck ausgesetzt sah, Änderungen vornehmen zu müssen. Sein früher Tod machte es ihm dann unmöglich, sich selbst weiter zu äußern. Die nun erscheinende Neuausgabe von Carmen beschränkt sich auf die Fassungen als Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen, also vor Ernest Guirauds Interventionen für die Veröffentlichung als gedruckte Orchesterpartitur 1877 (Ergänzung von Rezitativen, Kürzungen und Retuschen in der Instrumentierung).
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Fassung 1874. Bizet notiert die Musik zu „Carmen“ in Reinschrift in Form einer großen Orchesterpartitur. Diese vorläufige Fassung (1. Version) ist in der Neuausgabe anhand der kritischen Anmerkungen rekonstruierbar. Noch bevor Bizet dieses Manuskript der Opéra Comique zur Anfertigung einer Kopie übergibt, nimmt er Korrekturen vor, die möglicherweise auf die ersten Proben mit den Solisten (ohne Orchester) zurückgehen. So werden zum Beispiel am Beginn einiger Nummern einleitende Takte hinzugefügt, oder er überarbeitet hier und da den Gesangstext. Diese Änderungen von Bizets Hand sind gering an Zahl und letztlich oberflächlich. Diese Version erhält die Kopistenabteilung der Opéra Comique für die Abschrift der Dirigierpartitur und des Orchestermaterials.

Bizet „Carmen 1874“: Natürlich gibt es keine Abbildungen zur Urfassungs von Paul Prevost, daher ein paar historische Postkarten späterer Aufführungen/Gallica BNF

Die Neuausgabe führt diese 2. Version unter der Bezeichnung „Version 1874“. Zu diesem Zeitpunkt enthält der erste Akt immer noch die Eingangsmelodie – und nicht die Habanera – sowie die Nummern mit derselben Motivik. Es gibt noch keine Kürzungen, und das Werk enthält Melodramen. Diese vollständig fixierte Version ist das Ergebnis von Bizets kompositorischer Arbeit, bevor Eingriffe von außen, die Bewährung bei den Proben und die Bühnenproduktion seine Arbeit verändern. Wir sprechen ihr daher volle Gültigkeit zu (nicht mehr und nicht weniger als den späteren Versionen). Die Neuausgabe bietet diese Version von 1874 als einzige Edition in ihrer Gesamtheit an, inklusive Carmens vollständiger originaler Eingangsarie.
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Fassung 1874–1875: Die Opéra Comique lässt die Orchesterpartitur und die Stimmen kopieren. Es schließt sich eine schier endlose Reihe von Umgestaltungen im weiteren Verlauf der Proben an, deren detaillierte Chronologie es zu erstellen gilt. Die Überarbeitungen sind von dreierlei Art: Änderungen im Detail (der Melodie, des Textes, der Prosodie); Kürzungen, zunächst nur einiger Takte, dann mehr; Hinzufügungen oder Ersetzungen von Nummern bzw. Änderungen in der Abfolge von Nummern oder Teilen von Nummern.
Diese Version bildet naturgemäß kein zusammenhängendes Ganzes, und es gibt keine Belege dafür, ob z. B. eine Nummer der Fassung 1874–1875 zugleich mit einer anderen Nummer derselben Fassung existiert; es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Umgestaltungen in der kurzen Zeit zwischen Probenbeginn und Uraufführung vorgenommen werden. Im am stärksten überarbeiteten ersten Akt erscheint es angemessen, diese „Version 1874–1875“ als Hauptteil der Edition darzustellen. Die Interpreten können somit – falls vorhanden – diese Fassung einer Nummer statt derjenigen von 1874 oder 1875 wählen.
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Fassung 1875: Diese Fassung folgt der Lesart des bei Choudens erschienenen Klavierauszugs, der ersten Ausgabe des Werkes, die der Komponist selbst vorbereitet und revidiert hat. Zu Bizets Lebzeiten erscheint diese Fassung nicht mehr als Orchesterpartitur. Sie ist deutlich vereinfacht, die Melodramen sind komplett verschwunden.

Aus der oberflächlichen Betrachtung dieser Chronologie ließe sich ableiten, die Fassung 1875 sei der Version 1874 vorzuziehen, da sie ausgereifter sei und der Komponist selbst sie korrigiert bzw. stärker in Form gebracht hat. Es ist auch zu lesen, die Fassung 1875 sei szenisch effektiver als diejenige der „zu langen“ von 1874, die Fassung 1875 verkörpere die „echte“ „Carmen“, wie ihr Komponist sie vollendet habe, besser. Doch ist dies fragwürdig.

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Die Fassung 1874 ist das Ergebnis von Bizets Inspiration, bevor Interpreten, Regisseur, Publikum oder Kritik von außen eingriffen. Es gilt zu berücksichtigen, dass der Komponist am Theater kein Neuling ist. Zudem zeugt diese Fassung von einem derart großen musikalischen Reichtum – wie er von der Opéra Comique 1875 offenbar schwer zu akzeptieren war. Orchester und Chöre forderten immer wieder Vereinfachungen. Die „Carmen“ betrat die Bühne nicht an einem gewöhnlichen Stadttheater, sondern an der Institution, die ihre Traditionen und ihr Publikum hatte – weshalb sich der Komponist massivem Druck ausgesetzt sah. Die Zweifel am Wert der Oper wuchsen nach der Uraufführung sogar noch, wohl hauptsächlich wegen des Sujets. Zudem verlangte es die Vorsicht des Verlegers, dass im Klavierauszug von 1875 ein Maximum an Kürzungen und Vereinfachungen berücksichtigt wurde. Hierfür korrigierte bzw. präzisierte Bizet die Tempi; er (oder Choudens?) schrieb die Bühnenanweisungen um. Natürlich fügte er die Habanera ein, die die Dramatik am Ende des ersten Aktes auslöst, ebenso die Couplets des Moralès.

Was aber ist von all den Kürzungen zu halten, von der Streichung aller Melodramen (die schwierig umzusetzen waren)? Was von den zahlreichen harmonischen Vereinfachungen in den Chören, die unisono umgeschrieben wurden, da ihre Polyphonie zu komplex war? War Bizet mit diesem Ergebnis wirklich zufrieden? Ist die Fassung des Klavierauszugs, die quasi das Minimalwerk darstellt, wirklich glaubwürdig? Wenn je ein Werk seinem Komponisten entglitt, dann wohl Bizet seine „Carmen“. Die bei den ersten Aufführungen erklingende Musik war schließlich das Verhandlungsergebnis zwischen den verschiedenen Protagonisten – der Darstellerin der Titelrolle Célestine Galli-Marié, der Direktion, dem Chor und sogar den Kritikern; Guiraud und der Verleger Choudens überarbeiteten die Oper dann noch einmal.

Eine „echte“ „Carmen“ gibt es also nicht. Vielmehr gibt es echte „Carmen(s)“. Die Fassungen von 1874 und von 1875 sind nicht weniger original oder richtiger als die andere; und auch Guirauds Fassung ist gültig, in dieser Form fand das Werk in aller Welt Verbreitung und wurde zum Inbegriff der französischen Oper überhaupt. Dem zu früh verstorbenen Bizet mag „Carmen“ entglitten sein, doch schulden wir ihm heute die Rehabilitierung seines Meisterwerks in der Form, in der seine schöpferische Fantasie die Oper zuerst erdachte. In Anerkennung der Aufführungsgeschichte gilt es auch, die Fassung von 1875 darzustellen. Und es wird auch darum gehen, Guirauds Opernversion zu edieren, denn Guiraud hatte Bizet lediglich ersetzt, der vor seinem Tod eine durchgesungene Fassung mit Rezitativen plante; diese „Opernfassung“ wird (später) separat erscheinen.  Paul Prévost/ (Übersetzung: Annette Thein/takte-online

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Bizet „Carmen 1874“: Brand der zweiten Salle Favart am 25. Mai 1887/Wikipedia

Dazu René Jacobs: I. Die allererste Ausgabe von Carmen von Paul Prévost präsentiert Bizets Meisterwerk in seiner ursprünglichen Form als Opéra comique, einem typisch französischen Genre, das die Deutschen unter dem Namen Singspiel übernommen haben. Zur Entstehungszeit von Carmen war der Salle Favart in Paris der offizielle Sitz der Opéra-Comique, während der Palais Garnier die große Oper beherbergte, ein Genre, das zu Unrecht als prestigeträchtiger angesehen wurde. In Garnier gab es edle Themen, gesungene Dialoge in Form von Rezitativen, ernste Figuren, einen schwerfälligen Stil und tragische Enden: ein eher prätentiöses Genre. Im Nationaltheater der Opéra-Comique gab es hybride Themen, gesprochene Dialoge, eine Mischung aus komischen und ernsten Figuren, einen leicht verdaulichen Stil und glückliche Ausgänge: ein bescheidenes Genre. Zu diesem gehört Carmen, trotz des tragischen Endes der Oper, das die Codes des Genres durcheinanderbringt und zur großen Unzufriedenheit des Publikums bei der Uraufführung führte.

Es sind die Versionen mit gesprochenen Dialogen, die den tragikomischen Charakter von Carmen voll zur Geltung bringen. Das Duo Frasquita (bodenständig) und Mercédès (sentimental), die beiden Freundinnen der Protagonistin, das Duo Dancaïre (grandioser Macho) und Remendado (feiger Weichling), die beiden Schmuggler – das Paar erinnert an Laurel und Hardy – sowie Zuniga (vulgärer Schläger) sind offen komische Figuren, deren Komik verloren geht, wenn ihre spritzigen Dialoge unterbrochen werden, wodurch der für die Komödie typische Kontrast zwischen komischen und ernsten Szenen verloren geht. Bizet versteht es, für einen Engel (Micaëla) wie Gounod und für einen Dämon (Carmen in den Augen von Don José) wie Berlioz zu komponieren. Wie Mozart ist er ein absoluter Meister der stilistischen Konfrontationen zwischen verletzlichen Figuren und anderen, die harmlos (Micaëla gegenüber Moralès), frivol (Carmen gegenüber Frasquita und Mercédès im Kartentrio) oder gewalttätig (Carmen und Don José gegenüber dem unsichtbaren, tobenden Publikum der Corrida) sind. Das sind große Momente, Szenen, in denen die „Tragikomödie von Carmen” ihren Höhepunkt findet.

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Bizet „Carmen 1874“: Célestine Galli-Marie war die erste Carmen/Foto Atelier Nadar/Wikipedia

Paul Prévost unterscheidet drei Versionen von Carmen in ihrer Form als Opéra comique:

  • Erste Fassung, bekannt als „Fassung von 1874”: „Das Ergebnis von Bizets Kompositionsarbeit, bevor äußere Einflüsse und die Proben und Inszenierungen sein Werk und sein Denken veränderten.”
  • Zweite Fassung, die sogenannte „Fassung 1874-1875”: „Der Zustand der Partitur nach einer langen Reihe von Überarbeitungen und den ersten Aufführungen. ”
  • Dritte Fassung, bekannt als „Fassung 1875”: „Die von Choudens veröffentlichte Reduktion für Gesang und Klavier, die der Komponist kurz vor seinem unerwarteten Tod am 3. Juni, dem Tag der 33. Aufführung, konzipiert hatte.”

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Von diesen drei Fassungen hebt sich die erste als die in ihrer musikalischen Dramaturgie kohärenteste von den beiden anderen ab. Obwohl die berühmte Habanera der Carmen darin nicht vorkommt (siehe unten), entdeckt der Zuhörer in dieser ersten Fassung, die gegen Ende des Sommers 1874 (lange vor Beginn der Proben) fertiggestellt wurde, die meisten musikalischen und sogar theatralischen Überraschungen. Zwar fehlen in dieser Fassung drei der getanzten Zwischenspiele: Sie wurden auf Wunsch des Intendanten als Zugeständnis an den französischen Geschmack für exotische Ballette hinzugefügt. Aber der theatralische Schwung der ersten Fassung ist lebhafter als der der beiden anderen Fassungen, die diese Zwischenspiele mit ihrer wunderschönen, sehr spanisch anmutenden, aber überflüssigen Musik enthalten.

Bizet „Carmen 1874“: Paul L´hérie war der erste Don José 1875/BNF Gallica

Ihr Fehlen in der ersten Fassung wird durch zahlreiche Melodramen (gesprochene Dialoge vor orchestralem Hintergrund: siehe unten) ausgeglichen. In ihrer ursprünglichen Fassung war Carmen definitiv nicht als Katalog spanischer Klischees für die Arena von Verona konzipiert; die einzige Massenszene ist die Quadrille kurz vor der Schlussszene der Oper!

Zu Recht berücksichtigt die neue Ausgabe nicht die Eingriffe von Ernest Guiraud bei der Veröffentlichung der Orchesterpartitur, die zwei Jahre nach Bizets Tod gedruckt wurde. Guiraud ersetzte die gesprochenen Dialoge durch Rezitative, um die Opéra comique in eine Grand Opéra zu verwandeln. Leider ist es heute diese Fassung (und zu allem Übel) mit brutalen Kürzungen und Änderungen der ursprünglichen Orchestrierung, die noch immer am häufigsten in den großen Opernhäusern der Welt gespielt wird. Warum?

Sind die Verantwortlichen für die Besetzung nicht zu sehr von Vorurteilen beeinflusst? In der Guiraud-Fassung beispielsweise ist die Rolle des Escamillo, der sich eher die Lunge aus dem Leib schreien soll, weil er ein „echter Macho” ist – was er aber nicht ist: Er ist zwar eitel, aber auch rührend (man muss nur das Libretto lesen!), für einen Baritono di grazia!

Die Eingangsarie des „singenden Matadors” verlangt vom Sänger ein perfektes messa di voce und die nötige Stimmleichtigkeit, um die kleinen, anmutigen Noten singen zu können, die Bizet ihm als Verführungskunststücke zugedacht hat. Was Don José betrifft, muss er wirklich von einem heroischen Tenor gesungen werden? Ist der baskische Brigadier nicht der Inbegriff des romantischen Antihelden, des Versagers, der in seinen Aggressionsausbrüchen seine Stimme ebenso sehr zwingt wie sein Ich?

Bizet „Carmen 1874“: Jacques Bouhy sang 1875 den ersten Escamillo/BNF Gallica

Das Proben von gesprochenen Dialogen mit Opernsängern wird oft als frustrierend empfunden. Man hält es daher für besser, ihnen die Rezitative von Guiraud zu geben. Die Qualität ihrer Aussprache der französischen Sprache wird dann zweitrangig, was den weiteren Vorteil hat, dass die Besetzung aus den schönsten und größten internationalen Stimmen der Gegenwart ausgewählt werden kann. Diese Argumentation geht jedoch davon aus, dass ein Rezitativ, auch wenn er vom Orchester begleitet wird, nicht gesungen, sondern deklamiert wird. Wenn man sich die Mühe macht, die gesprochenen Dialoge wirklich zu arbeiten – was nur mit französischsprachigen Sängern (oder solchen, die die französische Sprache perfekt beherrschen) möglich ist –, erhält man den für dieses Genre gewünschten natürlichen Sprachfluss. Wir wissen, dass die Sänger-Schauspieler der damaligen Zeit keine Scheu hatten, den gedruckten Text der Dialoge zu ändern oder zu paraphrasieren, um die Spontaneität einer freien Unterhaltung zu erreichen: ein bewusster Kontrast zum „Korsett” der Musik, die dem Dialog folgte, so schön sie auch sein mochte. In diesem Sinne wurden die Dialoge von 1875 (gedrucktes Libretto) für unsere Aufnahme überarbeitet.

Der erste Vorzug der Fassung von 1874 besteht darin, dass sie vom Librettisten-Team (Henri Meilhac für die gesprochenen Dialoge und Ludovic Halévy für die gesungenen Texte) und von Bizet selbst konzipiert wurde, um sich eng an die Handlung zu halten und nicht den eitlen Ansprüchen dieses oder jenes Sängers oder dieser oder jener Sängerin.

Nehmen wir den ersten Akt. 1874 gab es noch keine Spur von den Couplets von Moralès, einer überflüssigen Szene, die 1875 nach der ersten Musiknummer der Oper auf Wunsch des Sängers, der seine Rolle für zu klein hielt, in letzter Minute hinzugefügt wurde.

Der Zusatz ist katastrophal, da er die Darstellung des Dramas unnötig verlangsamt.

Bizet „Carmen 1874“: Alice Ducasse war die erste Micaëla/BNF Gallica

Die ursprünglich von Bizet 1874 komponierte Eingangsarie von Carmen ist ein sehr leichtes Lied im Stil der französischen Opéra comique, ein echtes Porträt der Carmen als launische Kokotte, die mit großem Stolz ihr Ideal der freien Liebe verkündet (L’amour est enfant de bohème). Im Laufe der Proben wurde sie durch die berühmte Habanera ersetzt, die zum Hit der Oper werden sollte („L’amour est un oiseau rebelle ”). All dies geschah auf Wunsch von Mme Célestine Galli-Marié, der Darstellerin der Titelrolle, die lieber eine Tanzarie singen wollte, in der sie, wie sie sagte, „ihre Hüften schwingen” konnte! Aber Bizet und seine Librettisten wollten das Publikum zu Beginn der Oper täuschen, um dann nach und nach den wahren Charakter der Zigeunerin zu enthüllen. Gegen Ende des ersten Aktes singt oder eher summt sie ihr zweites Lied zu einem Text, der keiner ist („Tra-la-la…“, etc.). Denn die wahre Natur Carmens muss unklar und geheimnisvoll bleiben. Im Jahr 1874 war es dieses Lied, das Don José und das Publikum zum ersten Mal in der Oper mit seiner spanisch anmutenden, also exotischen und rätselhaften Musik verzaubern sollte, und nicht die „Habanera” – eine Bearbeitung eines bestehenden Liedes des spanischen Komponisten Sebastián Iradier durch Bizet! In der endlich veröffentlichten Original-Eingangsaie von Carmen ist mehr Bizet zu hören als in der Habanera. Trotz des Fehlens des Opernhits kommt die dramatische Konzeption von Bizet und seinen Librettisten hier besser zur Geltung.

Bereits 1888 versuchte der Musikkritiker Johannes Weber vergeblich, den Fans der Habanera zu erklären, dass in der Originalfassung der Szene auf die Fragen, die Carmens Liebhaber ihr stellen, als sie die Bühne betritt, „nicht provokativ, sondern nur fröhlich und entschlossen” antwortet, und dass die Habanera mit ihren „chromatischen Windungen” und ihrem „besonders manierierten Ton” überhaupt nicht zum Rest der Rolle passt. Die Arie, durch die die Habanera ersetzt wurde, ist hingegen sehr geistreich. Ihre ersten Worte (die in der Habanera unauffällig wiederkehren) sind ein leicht spöttisches Echo der Marseillaise, und ihre Melodie ist eine subtile Parodie (in Moll statt in Dur, allegro moderato im 6/8-Takt) der französischen Nationalhymne – aus dem Mund einer Nomadin! („L’amour est enfant de bohème (Allons, enfants de la Patrie/ Il n’a jamais, jamais connu de loi Le jour de gloire est arrivé !“)

Bizet „Carmen 1874“: Bühnenbild zur ersten Aufführung 1875/Wikipedia

In der Fassung von 1874 ist das Ende der Oper vielleicht noch erschütternder als in späteren Fassungen. Diese Schlussszene konfrontiert zwei schreckliche Perversionen der Moral: einerseits die Perversion des Stierkampfs, der dem Torero das Recht gibt, einen Stier zu quälen und zu töten, weil dieses blutige Ritual Teil der Kultur seines Volkes ist, und andererseits die Perversion des Zigeunergesetzes, das einem verheirateten Mann das Recht gibt, seine Frau zu töten, wenn er sie der Untreue verdächtigt.

Die mutige Entscheidung von Bizet und seinen Librettisten, Carmen mit einem tragischen Ende zu beenden, das für ein Publikum, das an das traditionelle Happy End der komischen Oper gewöhnt ist, ebenso ergreifend wie schockierend ist, bedeutet meiner Meinung nach ihre implizite Verurteilung beider Perversionen, denn beide „toréent l’homme“ ( Henry de Montherlant, Le Chaos et la Nuit, 1963). In der Fassung der Oper von 1874 wird die Unmenschlichkeit der Situation bis zum Äußersten getrieben und “ (Henry de Montherlant, Le Chaos et la Nuit, 1963). In der Fassung der Oper von 1874 wird die Unmenschlichkeit der Situation auf die Spitze getrieben und nicht wie in späteren Fassungen abgeschwächt. Nachdem er die Frau, die er so leidenschaftlich liebt, erstochen hat, wirft sich Don José auf Carmens Leiche. Die Streicher spielen im Einklang eine düstere Melodie, die in krassem Gegensatz zum berühmten Refrain „Toréador, en garde…“ steht, den der Chor im Zirkus singt. Es ist ein weiterer Hit, dessen Text und Melodie das Publikum auswendig kennt. Der Originaltext ist jedoch ganz anders und aufgrund seines brutalen Zynismus sehr schockierend: „Gloire à l’espada, gloire au vainqueur !/ Il (Escamillo) a frappé juste en plein coeur./ Gloire au héros du drame,/ Gloire à la fine lame !/ Vive Escamillo ! Bravo ! Gloire !“ (1874) Gegenüber:Toréador, en garde, Et songe bien en combattant/ Qu’un oeil noir te regarde/ Et que l’amour t’attend !/ Toréador, l’amour t’attend !“  (1875)

Dieses Ende, das von der Theaterleitung vehement abgelehnt wurde, ist mehr als tragisch, es ist nihilistisch. In gewisser Weise begehen sowohl Carmen als auch Don José Selbstmord. Carmen ist sich sicher, dass Don José sie töten wird, da sie ihr Schicksal in den Karten gelesen hat, und weigert sich zu gehen. Don José ist sich sicher, dass er zum Tode verurteilt wird.

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Bizet „Carmen 1874“: die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halevy/Victrola Book of Opera

Der zweite große Vorteil der Fassung von 1874: Die Psychologie der Figuren ist klarer gezeichnet als in den beiden anderen Fassungen. Meilhac wollte mit seinen Dialogen nicht sparen, nur aus Angst, dass Liebhaber des reinen Belcanto sich während der gesprochenen Texte langweilen könnten. Er ging von der (utopischen?) Idee eines idealen Publikums aus, das in einer Oper in erster Linie ein Theaterstück sieht. Viele seiner Dialoge sind sehr stark von der Novelle Carmen von Prosper Mérimée (1845) inspiriert, der Hauptquelle für das Libretto der gleichnamigen Oper.

Das Genre der Opéra comique mit seinen teilweise tragischen Themen – nicht zu verwechseln mit der Opéra bouffe – bediente sich oft eines musikalischen Mittels, bei dem bestimmte Passagen des gesprochenen Textes mit einem orchestralen Hintergrund, dem sogenannten Melodram, unterlegt wurden. In der allerersten Fassung von Carmen bediente sich Bizet reichlich und mit großer Erfindungsgabe dieses Kunstgriffs, der es dem Sänger ermöglicht, den Dialog wirklich zu sprechen, sich von seiner Gesangsstimme zu lösen, ohne dass die Musik dabei verstummt! Er kann „in Musik sprechen”, wie Claudio Monteverdi gesagt hätte. Leider wurden während der letzten Proben mehrere dieser „musikalisch untermalten” Dialoge, die zwar dramaturgisch unverzichtbar, aber schwer zu realisieren waren – da das empfindliche Gleichgewicht zwischen gesprochener Stimme und Orchester schwer zu halten war –, gekürzt oder ganz gestrichen. Die neue Ausgabe von Paul Prévost ermöglicht es uns, sie wieder einzufügen.

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Bizet „Carmen 1874“: der Dirigent der Uraufführung 1875, Adolphe Deloffre, hier in einem Quartett anlässlich der Veranstaltung der Union des Musiciens 1846 mitwirkend/v. l. Henri Vieuxtemps, Adolphe Deloffre, der Engländer Hill, Carlo Alfredo Piatti und John Ella/Wikipedia

Die Proben zur Uraufführung von Carmen müssen für Bizet eine wahre Tortur gewesen sein. Der Chor des Hauses zeigte sich zunehmend feindselig gegenüber einer Musik, die er für unsingbar hielt, und drohte mit Streik. Die brutalen Kürzungen in den beiden großen Chören der Zigarrenraucherinnen im ersten Akt, die vom Intendanten Camille du Locle verordnet wurden, müssen für den hypersensiblen Komponisten wie Messerstiche gewesen sein.

Zu allem Übel befand sich der Tenor Paul Lhérie (Don José) in einer stimmlichen Krise. Er hatte peinliche Intonationsprobleme, die besonders in seinem Lied „Halte-là ! Qui va là, dragon d’Alcala ?” (zweiter Akt) zu hören waren, das hinter der Bühne gesungen werden muss, da (laut Libretto) die Stimme von Don José sehr weit entfernt klingen und sich in der zweiten Strophe allmählich nähern soll.

In der allerersten Fassung wird das Lied sehr dezent vom Orchester im Graben begleitet, während Dancaïre, Remendado, Frasquita, Mercédès und Carmen sich unterhalten. Die fünf Sprechstimmen, einen Sänger, der falsch singt, und ein Orchester, das der betreffende Sänger nicht hören kann (!), zu synchronisieren, erwies sich als eine heikle Aufgabe, eine unmögliche Mission! Bizet sah keine andere Lösung, als das Lied neu zu schreiben – ohne Orchester. Dank der neuen Ausgabe ist das köstliche „Chanson d’Alcala” mit seiner witzig minimalistischen Begleitung endlich in seiner Originalfassung zugänglich.

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Bizet „Carmen 1874“: und schließlich die verlässliche Liebig-Fleischextrakt-Dose mit einem „Carmen“-Kärtchen/Deutsche  Bibliothek

Die Uraufführung von Carmen war bekanntlich nur mäßig erfolgreich. Bizet’s Depression am Tag nach der Uraufführung lässt sich kaum von den Eingriffen in die Originalfassung seiner Partitur trennen, die der Komponist nur schwer verkraftete. 1880 schrieb Tschaikowski, der Carmen verehrte und im Februar 1876 eine Aufführung der Oper in Paris besucht hatte: „Carmen hat in Paris keinen wirklichen Erfolg gehabt. Bizet starb kurz nach der Uraufführung, noch jung und in der Blüte seiner Kräfte und Gesundheit. Wer weiß, ob nicht gerade dieser Misserfolg ihn so sehr getroffen hat?” Hoffen wir demütig, dass unser Projekt Carmen 1874 einem Genie gerecht werden kann! René Jacobs (Paris, 14. März 2024)/DeepL/G.H.

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Bizet „Carmen 1874“: Zulma Bouffar in Offenbachs „Brigands“/Atelier Nadar/Wikipedia

Dazu auch ein Auszug aus dem Artikel von Paul Dogan/Utah Opera (The writing and rehearsing of Carmen). Nach mehreren Verschiebungen von Carmen durch die Leitung schien eine Premiere Anfang 1874 möglich. Das bedeutete, dass eine Sängerin für die Titelrolle gefunden werden musste. Zulma Bouffar  wurde abgelehnt, wahrscheinlich weil sie so sehr mit den Hauptrollen in Jacques Offenbachs satirischen Operetten in Verbindung gebracht wurde, dass niemand sie als tragische Heldin akzeptieren wollte; eine Zeitung verkündete, Meilhac habe sie abgelehnt, „weil es für Zulma undenkbar sei, erstochen zu werden”.

Ernsthafter in Betracht gezogen wurde Marie Roze, eine Sängerin, die beim Londoner Publikum beliebter war als beim Pariser, und beim Pariser Publikum beliebter als bei den Pariser Theaterdirektoren. Am 7. September 1873 schrieb sie Bizet, dass „die Rolle nicht zu mir passen würde, oder, genauer gesagt, … ich nicht für sie geeignet wäre”. Bizet hatte ihr erklärt, dass sie nicht mit der von ihr erhofften „dramatischen Handlung, die die sehr skandalöse Seite dieser Figur abmildern würde“, rechnen könne.

Bizet „Carmen 1874“: die zuvor abgelehnte Marie Rose sang die Carmen später/zeitgen. Stich/BNF Gallica

Du Locle bot die Rolle sofort Célestine Gallie-Marié an. Diese wiederum schrieb an ihren Freund, den Tenor Paul L´hérie, über das Angebot, „Carmen zu kreieren“. Was ist das?” Sie kann Mérimées Carmen nicht gekannt haben, schrieb aber im Oktober 1873 an Bizet, sie würde „sehr gerne ein Werk interpretieren … insbesondere eines, das von Ihnen stammt, dessen letzte beiden Partituren ich fast auswendig kenne, sowohl die Gesangsstimmen als auch die Begleitung”. 1862 hatte Gallie-Marié erstmals an der Opéra-Comique debütiert, wo sie beachtliche Erfolge feierte. Zwei Jahre später schlug der Komponist Victor Massé Victorien Sardou (Autor des Theaterstücks La Tosca) vor, die Novelle speziell für Gallie-Marié in ein Libretto umzuwandeln – vermutlich würde er die Musik schreiben: „Ich denke, Mérimées Carmen wäre eine originelle und bemerkenswerte Schöpfung für sie.“ Wie recht er hatte! Und wie dankbar sollten wir sein, dass dieses Projekt nicht zustande kam!

Nachdem Bizet im September 1873 die Musik für Gallie-Marié durchgespielt hatte, entschied er, dass sie perfekt sei. Es folgten monatelange Verhandlungen zwischen der Sängerin und dem Management, bevor sie schließlich am 18. Dezember 1873 einen Vertrag unterzeichnete: Sie würde ab Oktober 1874 für vier Monate zur Verfügung stehen und für eine monatliche Gage zwölfmal im Monat singen; sollte sich das neue Stück als Erfolg erweisen, würde sie bleiben und pro Auftritt bezahlt werden.

Die Proben sollten eigentlich im August beginnen, mussten nun aber auf Gallie-Mariés Ankunft im Oktober verschoben werden. In einem Brief an du Locle Anfang 1874 bat sie ihn, Bizet zu sagen, er solle bei der Komposition der noch nicht fertiggestellten Teile ihrer Rolle die Sopranrolle der Marguerite in Gounods Faust berücksichtigen: Was er bisher geschrieben hatte, verbrachte zu viel Zeit in den tiefen – d. h. Mignon – Bereich ihrer Stimme, den sie als „zu gewöhnlich und eher langweilig“ empfand. (Sie hatte diese Rolle 1866 in Ambroise Thomas‘ Mignon mit großem Erfolg kreirt). In den zwei Monaten dieses Sommers orchestrierte Bizet die gesamte Partitur – 1200 Seiten Manuskript. Aber er blieb mit seiner Hauptdarstellerin in Kontakt: Anscheinend lasen sie einige „Stücke” durch – sie sang sie vom Blatt –, denn im Juli bat sie ihn, sie ihr zu schicken, damit sie daran arbeiten könne, „und Ihnen sagen, wenn mir etwas auffällt”. Einige Wochen später bot er ihr an, ihr die gesamte Rolle zu ihrer Wohnung in Bordeaux zu bringen, und erhielt eine interessante Antwort: Im Moment interessierten sie nur „die wichtigsten Stücke meiner Rolle, die überhaupt nicht wie ein Andante von Mozart sind, damit ich sie ein wenig studieren kann”. Was die gesamte Rolle angeht, „werde ich sie am 1. Oktober, dem Tag, an dem mein Vertrag beginnt, vom Blatt lesen”.

Laut Halévys Tagebuch vom 1. September 1874 „ist Carmen in Proben…” Wir müssen bedauern, dass er in seinem hohen Alter Teile seiner Einträge durchgestrichen oder sogar mit einer Schere herausgeschnitten hat. Begannen die Proben wirklich einen Monat früher? Winton Dean schreibt in der Reihe „The Master Musicians“ der Oxford University Press, dass sie im Oktober begannen, aber Hugh Macdonald, sein Nachfolger in derselben Reihe, schreibt, dass sie „am 1. September 1874 bereits im Gange waren“. Vielleicht bezogen sich Halévy und Macdonald auf den Beginn der musikalischen Vorbereitung des Chores. (…)

Zu Bizets Stress kam zu dieser Zeit noch hinzu, dass seine Hauptdarstellerin andere Rollen am Theater sang, sodass an manchen Tagen keine Proben möglich waren; so wurde beispielsweise im Oktober fast die gesamte Carmen auf Eis gelegt; Halévy vermerkte, dass am 25. Oktober eine „Leseprobe von Carmen stattfand … Nur die Musik wurde geprobt.“ In der zweiten Novemberwoche ging es dann wieder voran, und der Spielplan der Kompanie sah für den Rest des Jahres fast täglich Proben vor. Bizet war fast immer dabei.

Meilhac und Halévy, die Librettisten, waren selten anwesend (…). Henri Meilhac schien sich nicht besonders für Musik zu interessieren: Seine Aufgabe in der Partnerschaft bestand darin, dem Stück eine dramatische Form zu geben und die Dialoge zu schreiben – je witziger, desto besser; Ludovic Halévy war für die Liedtexte verantwortlich. Er mochte zwar unmusikalisch gewesen sein, aber als Meilhac bei einer Probe erschien, war er schockiert über du Locles Haltung gegenüber dem neuen Stück. Man darf nicht vergessen, dass Camille du Locle als Co-Direktor der Opéra-Comique nicht nur 1872 die neue Oper bei Bizet in Auftrag gegeben hatte, sondern auch die Wahl des Themas gegen die Einwände seines Co-Direktors Adolphe de Leuven unterstützt hatte. Als du Locle Bizets Musik hörte, zögerte er nicht, sie als „völlig unverständlich” abzutun. Seine Haltung verstärkte nur die Einwände des Orchesters und des Chors, die behaupteten, die Musik sei unspielbar und unsingbar.

Bizet „Carmen 1874“: Kostumentwurf für Célestine Galli-Marie 1875/BNF Gallica

Auch ohne Kenntnis des regulären Repertoires der Opéra Comique kann man mit Sicherheit sagen, dass Bizets Partitur dem Orchester mehr abverlangte, als es gewohnt war. (…)

Im Januar 1875 begannen die täglichen Proben, an denen die Librettisten nun frei teilnehmen konnten. An diesem Punkt bekamen sie kalte Füße und versuchten, die Wirkung ihrer Adaption abzuschwächen; sie beanstandeten insbesondere das ihrer Meinung nach „vulgäre und hemmungslose“ Spiel von Galli-Marié. Aber ohne Erfolg. Du Locle wollte das Duett zwischen Carmen und José im zweiten Akt verkürzen und in Abschnitte unterteilen, um Applaus zu ermöglichen; Bizet lehnte dies ab. Dann entschied er, dass das Ende geändert werden müsse, und holte den Direktor der Comédie-Française (der das Stück hasste) hinzu, um Vorschläge zu machen. Diesmal schlossen sich Galli-Marié und Paul Lhérie (José) Bizet in seiner Weigerung an und erklärten, sie würden lieber aus der Produktion aussteigen, als irgendwelche Änderungen zu akzeptieren.

Bizet mag sich zwar hartnäckig geweigert haben, den Änderungsvorschlägen von du Locle nachzugeben, aber er war durchaus bereit, Änderungen vorzunehmen, um seinen Sängern entgegenzukommen. (…) Ernest Guiraud (ein enger Freund des Komponisten und der spätere Verfasser der Rezitative) behauptet, Galli-Marié habe darauf bestanden, dass ihre Eingangsarie dreizehn Mal umgeschrieben werde, wobei die genaue Zahl wohl nie bekannt werden wird! Sie wollte eine Arie, vorzugsweise im Stil einer spanischen Volksweise, die ihre Figur als Zigeunerin sofort etablieren sollte, nicht als Primadonna einer Oper. Sie schlug etwas Spanisches vor, und schließlich (vielleicht aus Verzweiflung) adaptierte Bizet eine Melodie des beliebten spanischen Komponisten Sebastián Iradier und verwarf Halévys Text zugunsten seines eigenen. (In der ersten veröffentlichten Klavierauszugpartitur wurde diese Entlehnung noch erwähnt, verschwand jedoch nach und nach in den verschiedenen Neuauflagen.) Übrigens schrieb er auch den Text für Carmens Solo im „Kartentrio” im 3. Akt um. (…)

Bizet „Carmen 1874“: nach vielem Hin und Her sang Célestine Galli-Marie die erste Carmen/hier im Kostüm, Gemälde von Henri Lucien Doucet 1887/Wikipedia

Hatte Bizet vielleicht begonnen, an der musikalisch-dramatischen Integrität zu zweifeln, für die er so leidenschaftlich gekämpft hatte, und stimmte deshalb diesen Kürzungen zu? Und war es diese Erkenntnis, die zu seiner Depression nach der Aufführung beitrug, die seine Freunde bemerkten (und die vielleicht zu seinem frühen Tod nach der 31. Vorstellung der Carmen beitrug?) Wir werden es nie erfahren. Paul Dogan/ Utah Opera/DeepL/G. H.

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Besetzung Hamburg Elbphilharmonie 25. März 2024: B’Rock Orchestra; Chœur de Chambre de Namur; Kinderchor der Opera Ballet Vlaanderen; Gaëlle Arquez Carmen; François Rougier Don José; Thomas Dolié Escamillo; Sabine Devieilhe Micaëla; Margot Genet Frasquita; Séraphine Cotrez Mercédès; Grégoire Mour Remendado; Emiliano Gonzalez Toro Dancaïre; Yoann Dubruque Moralès; Frédéric Caton Zuniga; Leitung René Jacobs; weitere Konzertante Erstaufführungen nach der Neuausgabe: 12.3.2024 Antwerpen (De Singel), Solisten, Chor und Orchester B’Rock, Leitung: René Jacobs, weitere Aufführungen: 14.3.2024 Paris (Philharmonie), 16.3.2024 Dortmund (Konzerthaus), 17.3.2024 Köln (Philharmonie), 25.3.2024 Hamburg (Elbphilharmonie), 27.3.2024 Madrid (Teatro Real). 

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Dank an den Bärenreiter Verlag/ Johannes Mundry/ takte-online für die Übernahme des Textes von Paul Prevost, Dank an René Jacobs für seinen ausgiebigen Artikel zu „seiner“ „Carmen 1874“, den wir dem Programmheft zu der konzertanten Aufführung in Paris 2024 entnommen haben/Übersetzung DeepL/G. H., Dank an das B´Rock Orchestra und Britt Ryckebosch für das obige Foto und Dank an Paul Dogan für seine Einführung zu „Carmen“ an der Utah Opera 2016. Foto oben Britt Ryckebosch / DE SINGEL, Antwerpen

Zum Hunderfünfzigsten

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Zum Bizet-Jubiläum (Georges Bizet gest. 1875) ist jetzt beim Label Erato auf 16 CDs eine Jubiläumsbox erschienen.  Bizet gilt ja den meisten „nur“ als Komponist der einen Oper: Warum ist sein Hauptwerk, die Carmen, so erfolgreich und verdrängt  sie die Kenntnisse seiner anderen Werke?  Das ist gar nicht einfach zu beantworten. Ich orientiere mich da immer an einen sehr klugen Satz von Tucholsky, wenn ich selber hilflos bin, der mal gesagt hat, im Zusammenhang mit einem berühmten Roman, bei ganz großen Erfolgen sollte man gar nicht so sehr aufs Werk gucken, sondern eher aufs Publikum, also auf den Rezipienten, und den analysieren, warum der das eigentlich gut findet. Und das passt ja eigentlich auch ganz gut. Wenn man genauer hinguckt: Die Hits stecken ja eher alle in der ersten Hälfte. Und dann wird es auch sehr düster in dem Schmugglerbild. Der Schluss ist ziemlich brutal und so. Es ist jetzt eigentlich gar nicht die typische Publikumsoper, aber vielleicht steckt ja auch was Atavistisches in dem Stück, das uns anspricht. Liebe, Eifersucht, Verbrechen und das alles aber auf einem hohen Niveau, auf sehr raffinierter Art und Weise, musikalisch, Schmuggel, Brutalität. Das sind ja auch Themen, die die Massenmedien bis heute beschäftigen. Seit 200 Jahren kann man sagen. Und das bewegt uns heute auch noch. (Ein Artikel zur „Ur-Carmen“, wie sie Bizet eigentlich wollte, folgt zeitnah in diesem Jahr).

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Die Erato-Edition ist ein ganz gewichtiger Würfel, auch schön gestaltet auch. Aber Warner/Erato bringen ja in diesen Editionen in der Regel nichts Neues, sondern Best-Offs der VergangenheitDa steht zwar Erato drauf, da ist aber Warner drin. Das heißt im Grunde ist das ein Archiv, das Warner gekauft hat von der EMI und allem, was an der EMI dranhing. Da gab es noch kleinere Labels, eben wie Erato und Virgin Classics. Warner hat 2012 dies Riesenarchiv gekauft.

Ich liebe diese Editionen, weil es ein fantastisches, großes Archiv ist, wo tolle Sachen drin sind. Und dann sind die aber auch, und das ist ja auch wichtig, immer gut oder fast immer gut kuratiert. Und auch haptisch immer sehr elegant gemacht mit schönen Covers, meistens auch aus der Zeit des Komponisten, wo man dann so Gemälde verwendet aus der Zeit. Es gibt auch, muss man ehrenhalber sagen, aufwendigeres und noch eleganteres auf dem Markt, aber dann wird es auch teurer. Und hier hat man immer so ein gutes Verhältnis von Preis und Leistung. Aber die Auswahl in dieser Box ist auch verwirrend, weil nicht immer nachvollziehbar.

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Es gibt sehr viele Aufnahmen der Oper Carmen.  Welche ist hier drin? Gleich zwei, zu Recht, denn es gibt ja zwei Versionen. Eine mit Dialogen und eine mit Rezitativen. Und hier hat man sich entschieden die Dialogfassung 1875 mit Simon Rattle am Pult und Magdalena Koszena sowie Jonas Kaufmann zu nehmen. Als Rezitativfassung hat man sich für eine populäre entschieden, nämlich die mit Callas und Gedda.  Das finde ich nicht so überwältigend. Die Callas ist längst jenseits ihrer guten Tage und Gedda wirkt recht trocken im Ton. Die alte mit Cluytens hat einfach mehr Schmiss, und auch sonst hatte der Emi-Verbund mehr zu bieten. Zumals die Callas-Aufnahme ja noch einzeln zu haben ist.

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Neben den beiden Carmen-Aufnahmen bleiben noch ein paar CDs übrig. Da gibt es, ganz spannend, ein rares Fragment, das nicht fertig geworden ist. Ivan V. hört man hier in einem recht antiken Querschnitt des französischen Rundfunks mit Jeannine Michau – immerhin. Und natürlich fehlt nicht die zweitbekannteste Oper, die Pêcheurs de Perles (Hendricks & Aler, da wäre die mit Vanzo & Cotrubas sehr viel netter gewesen, zumal weil damals nach der neues Edition dies eine Sensation war und sie seit langem  vergriffen ist)

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Und als drittes beigelegt, zu meiner großen Freude, ist eine Oper, La jolie Fille de Perthvon der es nur ganz wenige Gesamtaufnahmen gibt, wenn überhaupt. Und sie wird auch extrem selten gespielt.  Auch unter Prêtre, wie die Aufnahme der Callas, allerdings viel später in den 80ern aufgenommen, lange vergriffen, auch mit bekannten Sängern dabei wie (der recht trockene und wenig jugendliche) Alfredo Kraus, José van Dam und (leider die intonations-problematische) June Anderson. Toll, dass das Mädel aus Perth in dieser Box jetzt wieder da ist. Von der musikalischen Qualität her finde ich die Oper ziemlich nah an der Carmen. Sie ist viel dichter, lyrischer, geschlossener als zum Beispiel die Perlenfischer, die für mich immer so ein bisschen erratisch wirken und auch ihre anämischen Momente haben. La jolie Fille de Perth ist eine Liebesgeschichte nach Walter Scott. Hoch inspiriert, finde ich. Ein Einfall jagt den nächsten. Und es ist für mich immer ein Rätsel, warum wir diese Oper nie zu sehen bekommen oder zu hören. 

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Wie gut ist eigentlich das Gesamtwerk mit dieser Box dokumentiert?  Bekommt man einen guten Überblick über sein Schaffen? Eigentlich nicht. Das wird hier aber, glaube ich, gar nicht erst angestrebt. Es bleibt ein Griff in die Kiste des Emi-Verbundes. Die Frage ist vielleicht auch: Muss das unbedingt sein? Eine Würdigung seines Gesamtschaffens gehört, finde ich, eher in den akademischen Bereich. Nicht alles, was Bizet gemacht hat, ist auch auf ganz hohem Niveau. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Bizet ganz früh gestorben ist. Er ist  ja nur 36 Jahre alt geworden. Und vieles, was wir von ihm haben, sind eben auch tastende Versuche, Wettbewerbsbeiträge, Gelegenheitsarbeiten. Die findet man in einer größeren Edition vom Palazzetto Bru Zane, wo man viel Unbekanntes hört, was bis vor kurzem kaum bekannt gewesen.

Aber eben vieles von Bizet, was wirklich gut ist, bringt diese Box doch in einer passablen Bandbreite, eben auch Lieder, seine Kantate Clovis und Clotilde und natürlich auch die beliebten Suiten wie Jeux d´enfants oder die L´Arlésienne. Und es gibt auch Historisches? Das ist dankenswerter Weise so ein Standard bei diesen Komponistenporträts, bei diesen Boxen von Warner, geworden, dass sie da immer auch historische Schätze dazulegen. Zwei, drei CDs werden dafür dann immer reserviert. So auch hier wieder. Da finden sich zum Teil wirklich himmlische Sachen dabei, auch schrille, Aufnahmen aus den Jahren von 1903. auch aus 1943 (Brohly, Beyle, Calvé, de Lucia, Huguet, Minghini Cattaneo, Thill natürlich und Gigli). Und zu entdecken ist zum Beispiel ein Carmen Potpourri für die Schellack-Platten, extra dafür 1930 komponiert (Waxmann). Der wäre natürlich längst vergessen, würde hier nicht überraschenderweise ein ganz großer Dirigent am Pult stehen, nämlich John Barbirolli. Mit einem rätselhaften Instrument, fast wie ein Harmonium. Es könnte auch eine zittrige Oboe gewesen sein. Vielleicht nicht das beste Orchester, aber wirklich toll gemacht. Dazu interessante Arrangements von Guiraud, Kolpiloff, Rachmaninoff, Ducros und Tharaud.

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Es gibt jedoch ein paar Kompositionen Bizets, die mir in dieser Box fehlen.  Ein paar empfindliche Lücken hat das Ganze schon. Die klaffen aber auch deswegen, weil Warners Archiv nicht alles besitzt. Vielleicht hätte man von anderen Firmen einiges ausborgen können. So z.B. eine wunderbare Klaviertranskription des Don Giovanni. Die ist hier nicht dabei. Und was ich vermisse, sind die schönen Operneinakter, so den Docteur Miracle oder Djamilé.  Aber wer das haben will muss sie eben woanders suchen (Abbildungen: Ansicht auf Arles/Wikipedia;  „La joilie fille de Perth“/zeitgenössische Illustration/Palazzetto Bru Zane). M. K./G. H.

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Georges Bizet (1838-1875). Mit June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux und weiteren.

Orchesterwerke: Symphonie C-Dur; Ouvertüre A-Dur; Trauermarsch h-moll; La Jolie Fille de Perth-Suite; Orchestersuite Nr. 3 „Roma“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Les quatre Coins; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; L’Arlesienne-Bühnenmusik; L’Arlesienne-Suiten Nr. 1 & 2; Carmen-Suiten Nr. 1 & 2

+Jeux d’enfants-Suite op. 22 für Klavier 4-händig

+Lieder & Chorwerke: Kantate „Clovis et Clotilde“; Pastorale; Ouvre ton coeur; Adieu de l’hotesse arabe; Feuilles d’album Nr. 3 & 5; La Chanson du fou; Agnus Dei nach dem Intermezzo aus L’Arlesienne-Suite Nr. 2

+Opern: Les Pecheurs de Perles; Ivan IV; La Jolie Fille de Perth; Carmen (in zwei Versionen)

+Bizet-Arrangements – Pablo de Sarasate: Carmen-Fantasie op. 25 für Violine & Orchester / Franz Waxman: Carmen-Fantasie für Trompete & Klavier / Habanera aus Carmen für Cello & Orchester / Carmen-Potpourri; Adagietto & Minuetto aus L’Arlesienne für Klavier

+Historische Aufnahmen 1903-1943 – Symphonie C-Dur; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Roma-Suite (Auszüge); La Jolie Fille de Perth-Suite; L’Arlesienne-Bühnenmusik; Carmen-Suite Nr. 1; Carmen (Auszüge); Les Pecheurs de Perles (Auszüge)

Künstler: June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux, Jose van Dam, Michel Beroff, Jean-Philippe Collard, Michel Dalberto, Alexandre Tharaud, Gautier Capucon, Itzhak Perlman, Berliner Philharmoniker, Liverpool Philharmonic Orchestra, London Philharmonic Orchestra, Nouvel Orchestre Philharmonique, La Scala Orchestra, Orchestre de Chambre de Paris, Orchestre de l’Opera National de Lyon, Orchestre de Paris, Orchestre National du Capitole de Toulouse, Orchestre National de France, Orchestre National de la RTF, Orchestre National de Lille, Orchestre Symphonique de Paris, Orchestre de l’Opera Royal, Royal Philharmonic Orchestra, Daniel Barenboim, John Eliot Gardiner, Paavo Järvi, Seiji Ozawa, Michel Plasson, Georges Pretre, Simon Rattle, Georges Tzipine.

Erato 16 CDs.

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Aufnahmejahr ca. 1903-2012/ Erscheinungstermin:/ 23.5.2025/ Quelle cpo

Heimspiel

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Eine willkommene Überraschung ist es für jeden Venedigbesucher, vom Rialto kommend in eine enge Gasse einzubiegen und plötzlich auf einer Piazzetta und vor einem Opernhaus, dem Teatro Malibran, zu stehen. Wenn das Fenice, so nach der letzten Brandstiftung, nicht bespielbar ist, dient es als Ausweichquartier, und in den Neunzigern erlebte man hier mit Marcello Viotti schöne französische Opernabende, so mit Massenets Le Roi de Lahore oder Aubers Le Domino noir. Jetzt ist es als Ableger des großen Opernhauses eine Art Kammeroper, die 2024 eine Aufführung von  Antonio VIvaldis Pasticcio Il Bajazet erlebte.

Die Geschichte um den Macht- und Liebeskampf der orientalischen Herrscher Bajazet, Tamerlano und des Andronico, mehr noch um deren verzwickte Liebesabenteuer, enthält bereits in anderen Werken verwendete Arien, daneben viele neu komponierte und die anderer Komponisten, so auch des Deutschen Hasse.

Eigentlich ist alles klar, wer wen liebt und dementsprechend heiraten soll, doch die Laune des Tyrannen und die Eifersüchteleien der Damen Asteria, Tochter des Bajazet, und der Irene, promessa sposa von Tamerlano, bringt alles ins Wanken und ist Anlass für viele Liebes- und Eifersuchtsszenen, endet mit dem Gifttod der Titelfigur und einer Doppelhochzeit. Unvermählt und auch unvergiftet bleibt nur Idaspe, Vertrauter in Mannesgestalt mit Countersopranstimme, hier aber ein weiblicher Sopran als Vertraute.

Die optische Umsetzung müsste eigentlich Genuss für den konservativen Opernbesucher und ein Gräuel für den Modernisten sein und zugleich umgekehrt, denn Regisseur Fabio Ceresa spielt ungemein souverän auf der Klaviatur des ironischem Traditionalismus wie auf der des ins Absurde getriebenen Neuerungssucht, wenn einmal eine Arie in einem wunderschönen, in Kostbarkeit prunkendem Palast in Kostümen,. die im bis zur Karikatur gesteigerten Modebewusstseins vergangener Zeiten das Stilempfinden ausreizen, gesungen wird, mal in einer schäbigen Einbauküche der Fünfziger der Liebhaber in Unterhose und mit Sockenhaltern ohne jede erotische Ausstrahlung leidenschaftlich singen muss, in Gasherd, am Lampenkabel oder Küchenmesser vergeblich sein Dasein beenden möchte, wenn Dornröschen in sein Gegenteil mit schlafendem Prinzen und wachküssender Prinzessin verkehrt wird, Jack the Ripper im nebelsatten London sein Unwesen treibt oder der My-Fair-Lady-Film mit Audrey Hepburn in Ascot als eine der handelnden Personen verfremdet erscheint. Öffnet sich also der Vorhang immer wieder zu neuen, überraschenden Szenen, so sitzen die sechs gleich stark geforderten Solisten gemeinsam oder einzeln ganz in Schwarz auf der Vorderbühne, liefern von hier aus auch einige ihrer Arien ab- das Stück ist von auch für die damalige Zeit beachtlicher Länge und wird doch nie zu lang, geschweige denn langweilig. Dazu kommt, dass es trotz allen szenischen Übermuts  ernst genommen wird. Die Bühne stammt von Massimo Checchetto, die Kostüme entwarf Giuseppe Palella. Übersprudelnde Heiterkeit schwingt anstelle von verbissener Ideologieverbohrtheit das Zepter.

Ein großes Verdienst kommt dem Orchestra del Teatro La Fenice di Venezia zu, das unter der Leitung von Federico Maria Sardelli so frisch, so heiter, so prickelnd spielt, als wären alle vier Jahreszeiten gleichzeitig ausgebrochen, man meint den Musikern anzumerken, dass sie mit Begeisterung bei der Sache sind.

Für den Bajazet hatte Vivaldi einen Tenor oder Bariton vorgesehen, Renato Dolcini besitzt einen schlanken, dunklen, koloraturgewandten Bassbariton. Den in Asteria verliebten, aber Irene heiraten sollenden, dann aber doch Asteria bekommenden  Andronico singt Raffaele Pe mit  reizvollem Timbre, beherrscht irrsinnige Intervallsprünge und weiß mit „Spesso tra vaghe rose“ zu bezaubern. Sonia Prina hat für den wetterwendigen Tamerlano einen vollmundigen Alt und viel darstellerische Wandlungsfähigkeit. Asteria ist Loriana Castellano, sie singt  mit reichen Farben eines Mezzosoprans ihr „Qual furore, qual affano“. Lucia Cirillo ist Irene, die als sposa disprezzata Sopranglanz und ab und zu auch etwas Schärfe beisteuert. Über einen zauberhaften Fächertanz kann man sich beim Auftritt von Valeria La Grotta als Idaspe freuen und dazu über souveräne Koloraturen.

Die Stärke der Aufnahme liegt in den durchweg guten Solisten und in der liebevoll, augenzwinkernd und pfefferreich optisch wie akustisch souverän gestalteten Aufführung. Dazu handelt es sich um eine Weltpremiere auf Video (Dynamic 38056). Ingrid Wanja   

Auf den Spuren des Vaters

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Wieder bringt das Label Château de VERSAILLES eine veritable Rarität heraus – die 1714 in Paris uraufgeführte  Tragédie en musique Télémaque et Calypso von André Cardinal Destouches, der nach dem Besuch eines Jesuitenkollegs in Paris bei André Campra Komposition studierte. Er gilt als ein Nachfolger Lullys und errang die Aufmerksamkeit von Louis XIV.. Seine fünf tragédies en musique – alle in der Manier Lullys mit fünf Akten und einem Prolog – wurden ausnahmslos an der Opéra de Paris aufgeführt. Télémaque fand eine zwiespältige Aufnahme, 1730 gab es eine revidierte Fassung, welche für diese Einspielung genutzt wurde.  

Sie ist eine Weltpremiere, entstand im Oktober 2023 in Puteaux und wurde – wie stets mit informativem Booklet – auf zwei CDs veröffentlicht (CVS 128). Der Unterschied zum Original betrifft vor allem das Finale – nun ein lieto fine nach dem dramatischen Schluss der Erstfassung mit einem Sturm und der Zerstörung von Calypsos Insel. Als Trauernde hatte sie dort versucht, den jungen Schiffbrüchigen Télémaque zu verführen.

Mit Les Ombres wurde ein weniger bekanntes Ensemble verpflichtet, das unter seinen Begründern Margaux Blanchard und Sylvain Sartre solide und mit musikantischem Schwung musiziert, damit ganz sicher auf dem Weg zu den führenden Orchestern in diesem Genre ist.

In der weiblichen Titelrolle klingt Isabelle Druet etwas anonym, steigert sich aber im letzten Akt zu imposantem Format, besonders in dessen Einleitung mit der fulminanten  Szene „Haine, dépit, fureur“. Prominent besetzt ist die Antiope, Calypsos Gegenspielerin und verkleidet als Eucharis, mit Emmanuelle Emmanuelle de Negri. Die Sopranistin singt vorzüglich, ist auch eine exzellente Interpretin in der Klangrede. Mit Télémaque, den der Haute-contre Antoine Rondepierre kompetent und expressiv singt, hat sie im 3. Akt im Rahmen des Divertissements Chaconne pour les Démons transformés en Nymphes ein reizvolles Duett. Ein erfahrener Sänger im Barock-Repertoire ist David Witczak, der als Adraste, König von Thrakien und Verehrer Calypsos, mit resonantem Bariton beeindruckt. Die junge Sopranistin Hasnaa Bennani übernahm nicht weniger als fünf Rollen, darunter L´Amour, Cléone und Une Prêtresse de Neptune. Erwähnenswert sind noch der Bassbariton Adrien Fournaison als Apollon und Idas sowie die Mezzosopranistin Marine Lafdal-Franc als Minerve und Grande Prêtresse de l´Amour (19. 06. 24). Bernd Hoppe                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    

 

Spirituelle Alterssünde

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Im Jahre 1830 beschloss Giacchino Rossini, sein Opernschaffen, das sich immerhin über knapp zwanzig Jahre erstreckt hatte, zu beenden und sich nur dem Wohlleben in Paris hinzugeben. Mit weiteren 38 Jahren hatte er vielleicht nicht gerechnet, so dass es nicht verwundert, dass er sich hin und wieder einer oft gar nicht so kleinen „Alterssünde“, wie er es nannte, hingab, zu denen auch die

gehört, eine ihrem Titel widersprechende umfangreiche Messe für vier Solisten, Chor, allerdings nur Harmonium und zwei Klaviere als Begleitung. Auf letztere mag sich die Bezeichnung „petite“ beziehen, allerdings komponierte Rossini kurz vor seinem Tod noch eine Orchesterbegleitung, wahrscheinlich in der nicht unberechtigten Befürchtung, sonst würde es ein anderer Komponist tun.

Die Messe war für die Einweihung der Kapelle für einen befreundeten verstorbenen Adligen gedacht, von dessen Witwe und Sohn in Auftrag gegeben, die auch die Uraufführung organisierten. Neben dem Stabat Mater gehört sie zu den populärsten geistlichen Werken Rossinis, auch wenn diese durchaus weltliche Züge zeigen und damit die Opernvergangenheit ihres Schöpfers nicht verleugnen können.

Die Aufnahme der Rheinischen Kantorei unter Edzard Burchards kommt mit einem Klavier (Tobias Koch auf einem Érard-Flügel) aus, der energisch dem Kyrie vorangeht. Das Prélude religieux zu Beginn der zweiten CD hat mit dem Spiel von Christian Gerharz auf dem Harmonium einen weit sanfteren, religiöser klingenden Beginn.

Tadellos harmonisch nimmt sich die Reheinische Kantorei, acht Stimmen, zwei für jedes Stimmfach, seines umfangreichen Parts an, betont eindeutig den religiösen Charakter des Werks, ist wie ein zarter Schleier im Hintergrund am Schluss und kann   auch überaus schwungvoll zu Werke gehen. Edzard Burchards hat aus ihm einen hörbar vorzüglichen Klangkörper gemacht. Wie es heute um ihn steht, weiß man nicht, denn die Aufnahme wurde bereits im Rahmen des Festivals Alte Musik Knechtstetten im Jahre 2016 gemacht.

Von den Solisten sind zu allererst die Damen lobend hervorzuheben. Der Sopran Dorothee Mields verfügt über eine klare, reine, engelsgleiche Stimme, die wie entrückt singen kann, ganz besonders das „O salutaris hostia“ erweckt diesen Eindruck. Gemeinsam mit dem Sopran, aber auch bei ihren Soli kann der Alt Nicole Pieper mit Wärme und Geschmeidigkeit prunken. Der Tenor Tobias Hunger klingt sehr hell, verblasst manchmal im Duett mit dem Bass neben diesem, verfügt aber über ein kraftvolles Forte, mitunter hört sein Beitrag sich reichlich verhangen an. Bruchlos und markant nimmt sich der Bass Felix Schwandtke seiner Partie an, nur stellenweise etwas hohl klingend. Insgesamt sind das zwei CDs, mit denen man durchaus 90 angenehme Minuten verbringen kann (CPO 555 232-2): Ingrid Wanja