Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Hochvirtuos

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Eng mit dem Namen des neapolitanischen Kastraten Giovanni Carestini verbunden sind die beiden bei Solo Musica  erschienenen CDs der aus Südafrika stammenden Mezzosopranistin Megan Kahts mit deutschen Wurzeln, deren erste sie im Bündnis mit dem Carestini Orchester und mit Musik von Händel und Haydn und den Damen Ariadne und Armida  zeigt, während die neueste zwar auch Händel, daneben aber  Johann Adolph Hasse berücksichtigt und neben Arien, die der Kastrat einst zum Erfolg führte, auch solche berücksichtigt, die für die Gattin Hasses, die Sängerin Fausta Bordoni komponiert wurden. Dabei schmeichelt die CD nicht nur den Ohren, sondern kann durch die Sorgfalt, mit der Cover und Booklet gestaltet wurden, sich auch für weitere Sinne und nicht zuletzt den Verstand anregendes Erlebnis beweisen.

Megan Kahts war in Südafrika bereits ein singender Teenager-Star gewesen, ehe sie sich zur weiteren Ausbildung nach Wien begab und unter anderem bei  Claudia Visca und mit Robert Holl studierte, immer noch als Sopran, ehe ihre Mezzoqualitäten entdeckt wurden. 2018 debütierte sie im neuen Fach als Costanza in Haydns L’isola disabitata. Neben alter Musik ist ihr zweites musikalisches Standbein die neueste Musik, wie die Teilnahme an der Uraufführung von Fabian Panisellos Oper Die Judith von Shimoda bezeugt. Erstaunlich ist ihr Werdegang schon allein dadurch, dass eine seit dem achten Lebensjahr musikalischer Ausbildung unterworfene Stimme eigentlich diese Erfolge gar nicht erreicht haben dürfte.

Die nun vorliegende CD verrät das abgelegte Sopranfach noch immer in der leuchtenden Höhe, die bruchlos an die farbige, nicht geschlechtsgebunden erscheinende Mittellage  angebunden ist, während in der Extremtiefe doch manch nur angetippter und trotzdem recht mühsam formulierter Ton auf die einstige Stimmlage hinweist, so in Händels „Tempesta e calma“ der Arie des Alessandro.  Das sind aber recht belanglose Einwände, denn insgesamt erfüllt die mit einem angemessenen Vibrato ausgestattete Stimme alle Voraussetzungen für die Bewältigung der anspruchsvollen Partien, lässt die Erleichterung des Ariodante in „Dopo notte“ ebenso erspüren wie die Weiblichkeit einer Alcina in „Mi lusinga il dolce affetto“. Eine schöne Leichtigkeit zeichnet die Darbietung von Ariodantes Arie „Dopo notte“ aus, eine ebensolche Melancholie  und bruchlose Schwerelosigkeit „Scherza infida“, auch die kluge Phrasierung kann gefallen. Ist ein Stück derart virtuos wie die Arie des Tolemeo, dann verzeiht man den ein oder anderen verhuschten Ton gern. Ein wesentlicher Pluspunkt für die CD ist das Orchester Wiener Akademie unter Jeremy Joseph, das spritzig, straff und präzise agiert. Insgesamt und einschließlich des Booklets ist das eine höchst erfreuliche Bereicherung des CD-Markts (Solo Musica SM 493). Ingrid Wanja   

Fürstliche Noten

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Die Historie verzeichnet einige gekrönte Häupter, die sich erfolgreich im Komponieren versuchten, so Ludwig XIII., Kaiser Leopold I. oder König Friedrich II. von Preußen. Das Label Chateau de Versailles, unermüdlich in der Aufarbeitung des Erbes der französischen Barockoper, widmet sich in seiner neuen Ausgabe einem Werk von Philippe d´Orléans, der Suite d´ Armide ou Jérusalem délivrée. Die Tragédie en musique in einem Prolog und fünf Akten, basierend auf Tassos Gerusalemme liberata, wurde wahrscheinlich 1704 im Schloss von Fontainebleau uraufgeführt und war als Fortsetzung von Lullys Armide und Campras Tancrède konzipiert. Die Handlung kreist um die in den Ritter Renaud verliebte Zauberin Armide, die ihn um jeden Preis in ihre Arme zu locken versucht. Prinzessin Herminie, die von Armide gefangen gehalten wird, ist Renauds Begleiter Tancrède zugetan, der jedoch zunächst seiner Clorinde treu bleibt und sich erst am Ende zu Herminie bekennt. Auch Renaud und Armide sind schließlich versöhnt und für immer vereint.

Ende Juni 2023 fand im Château de Versailles die Aufnahme des Werkes mit der Cappella Mediterranea unter Leonardo García-Alarcón statt, die CVS auf zwei CDs mit umfangreichem Booklet veröffentlicht hat (CVS125). Der argentinische Cembalist und Dirigent fächert die an Effekten und Harmonien reiche Musik faszinierend auf und leitet ein renommiertes Solistenensemble, das von Véronique Gens in der Titelrolle angeführt wird. Ihr Sopran ist nachgedunkelt, der Ton energisch und herrscherlich, der Ausdruck verschlagen und bedrohlich. Aber sie findet auch zu tragisch umflorten Momenten, die für ihren Konflikt stehen („Amour, funeste amour“ im 2. Akt). Auch Herminie ist mit Marie Lys prominent besetzt, ebenso der Renaud mit dem französischen Tenor Cyrille Dubois. Die französische Sopranistin weiß sogleich in Herminies erstem Monolog, „Malheureuse Herminie“, mit feiner Lyrik zu betören. Auch im 4. Akt wartet sie bei „Que Vattrin tarde à revenir“ mit bewegenden Tönen auf.

Klangvolle Stimmen lassen der Tenor Nicholas Scott als Adraste und der Bariton David Witczak als Tissapherne, zwei Verehrer Alcinas, hören. Tancrède ist der lyrische Bariton Victor Sicard aus Frankreich, der im 3. Akt in einer dramatischen Szene seiner Clorinde gedenkt, deren Stimme (Gwendoline Blondeel) visionär ertönt. Mit Armide hat er eine Schlussszene von großer Leidenschaft („Heureux, et trop heureux“).  Der Choeur de Chambre de Namur (Einstudierung: Thibaut Lenaerts) lässt als Armides Gefolge puren Wohllaut hören, so am Ende des 1. Aktes bei „Pour mieux servir la belle Armide“, weiß aber auch dramatisch aufzutrumpfen wie zu Beginn des 5. Aktes bei „Combattons, triomphons“, wo Christen und Sarazener konfrontiert sind.

Dreißig Jahre vor Rameau ist das Werk das bedeutende Zeugnis eines Komponisten von großer Kreativität und Phantasie (09. 09. 25). Bernd Hoppe

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Philippe von Frankreich, Duc d´Orleans/  Gemälde von Matthieu/Wikipedia

Philippe von Frankreich, Herzog von Orléans (* 21. September 1640 in Saint-Germain-en-Laye; † 9. Juni 1701 in Saint-Cloud), war Prinz von Frankreich und Navarra, Herzog von Anjou (1640–1668), Herzog von Orléans, Chartres und Valois sowie Pair von Frankreich (1660), Herzog von Nemours und Pair von Frankreich (1672), Herzog von Montpensier und Pair von Frankreich (1695), Dauphin der Auvergne und Fürst von Dombes (1693–1701), Herzog von Beaupréau und Châtellerault, Fürst von Joinville und La Roche-sur-Yon, Marquis von Mézières, Graf von Eu und Saint-Fargeau sowie Baron von Beaujolais. Bei Hofe wurde er allgemein Monsieur genannt, was der offizielle Titel des Bruders von König Ludwig XIV. war; seine Gemahlinnen wurden als Madame bezeichnet. Seine zweite Ehefrau war Liselotte von der Pfalz.

Festivals 2025

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Auch in diesem Jahr sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel. Eine Auflistung alle Festival-Beiträge finden sie hier.

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Bayreuth Baroque Opera Festival: Lustvolles Barock-Spektakel. Im nach stilvoller Restaurierung 2018 wieder eröffneten  Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth gibt es seit 2020   alljährlich im Spätsommer ein Festival, das der Countertenor Max Emanuel Cencic gegründet hat. Neben seiner Funktion als Intendant wirkt er auch als Sänger und Regisseur, ist der Spiritus rector des Unternehmens, welches sich vor allem der Opera seria des frühen 18. Jahrhunderts widmet. Nach Werken von Porpora, Vinci, Vivaldi, Monteverdi und Händel in den vergangenen Jahren stand in dieser Saison der in Venedig wirkende und dort 1676 gestorbene Komponist Francesco Cavalli im Mittelpunkt des Programms, womit man einen Schritt zurück in das 17. Jahrhundert ging.

Die Festspieleröffnung galt dem Dramma per musica von 1666 Pompeo Magno, einer venezianischen Karnevalsoper. Die in Rom verortete Handlung um Konsul Pompeo und Issicratea, Königin von Ponto, sowie deren totgeglaubten Gemahl Mitridate und Sohn Farnace verlegte Cenic nach Venedig mit seinem bunten, ausgelassenen Karnevalstreiben, bevölkerte die Szene mit vielerlei Figuren, die man von den Straßen der Lagunenstadt kennt – Damen, Kavaliere, Kurtisanen, Nonnen, Kleriker, Intriganten, verwirrte Alte, Kleinwüchsige. Letztere sorgten en travestie mit zur Schau gestellten üppigen (Stoff-)Brüsten für besonderes Aufsehen. Corina Gramosteanu hatte aber auch Kostüme von opulenter Eleganz geschaffen mit edlen Materialien, stilvollen Ornamenten und subtilen Farben. Die Welt der Commedia dell´arte wurde lebendig in Kleidung und Masken, in drastischen erotischen Details, aber auch im turbulenten Treiben der Akteure. Sie alle – Sänger wie Komparsen – waren mit totalem Einsatz, atemberaubendem Tempo, ansteckender Spielfreude und imponierender körperlicher Agilität dabei. Chiara d´Anna als Bewegungscoach hatte vorzügliche Arbeit geleistet, für  jede Figur das für sie typische Bewegungsvokabular gefunden. Auf Venedig stimmte auch Helmut Stürmers Bühne mit ihrem Portal, über dem der venezianische geflügelte Löwe thront, und einem Saal mit Säulen, Podesten und bunten Glasfenstern ein.

Cavalli „Pompeo Magno“ Bayreuth Baroque 2025/ Foto © Clemens Manser Photography

Ein exzellentes Ensemble brachte Cavallis Musik mit Elan und Vitalität zum Klingen. Nicht weniger als acht Countertenöre mit Vertretern aus mehreren Generationen waren vertreten, darunter das Urgestein der Gattung Dominique Visse, der als Diener Delfo wie stets lustvoll krähte. Dagegen war der Italiener Nicoló Balducci als Pompeos Sohn Sesto ein Newcomer und mit seiner klangvollen, ausgewogenen Stimme sowie den bravourösen Koloraturläufen mehr als willkommen. Im schwarz/goldenen, reich verzierten Wams war er auch optisch ein Blickfang. Zur jüngeren Generation zählt auch der österreichische Counter Alois Mühlbacher, der als Issicrateas und Mitridates Sohn Farnace im weißen Pierrot-Kostüm jugendlich keusche Klänge einbrachte und später auch noch als halbnackter Amor mit weißen Flügeln und knappem Lendenschurz auftrat. Renommiert ist Valer Sabadus durch seine zahlreichen Tondokumente und Auftritte bei Musikfestivals. Auch bei Bayreuth Baroque war er schon zu Gast. Hier sang er solide den Servilio und hatte Gelegenheit für muntere Liebesspiele mit seiner angebeteten Giulia, Tochter des römischen Konsuls Cesare, im großen Doppelbett. Charaktervolle stimmliche Counter-Momente brachten Kacper Szelazek als exaltiert grölende Arpalia, Issicrateas Dienerin, sowie Pierre Lenoir und Angelo Kidoniefs als Primo und Secondo Prencipe ein.

In der Titelrolle gab Max Emanuel Cencic keinen virilen, auftrumpfenden Helden, sondern einen gebrechlichen alten Mann mit weißem Haar, was zur stimmlichen Verfassung des Counters harmonierte. Doch nach verhaltenem Beginn gewann die Stimme an Fülle und Durchschlagskraft, gefiel besonders im sanften Schlaflied („Sonno, placido nume“) am Endes des 1. Aktes. Zwei Damen werden heiß umworben in diesem Stück. Pompeo begehrt Giulia, deren. Herz jedoch Servilio gehört. Die belgische Sopranistin Sophie Junker sang sie mit schöner lyrischer Substanz bei lebhaftem Agieren. Sesto wirbt vergeblich um Issicratea, die ihrem Gemahl Mitridate die Treue hält. Die Argentinierin Mariana Flores war die Primadonna des Abends und trug gebührend hoheitsvolle Roben. Mit flammendem, strengem Sopran von resoluter Attacke und fulminantem Ausdruck sowie einem vehementen Koloraturfeuerwerk setzte sie sich souverän an die Spitze des Ensembles. Der italienische Tenor Valerio Contaldo formte ein eindrückliches Porträt des Mitridate, der Arpalia tötet, am Ende aber seine Tat gesteht und von Pompeo begnadigt wird. Die baritonal getönte Stimme sorgte mit virilem Duktus in der Arie „Tormentosa gelosia“ für einen vokalen Höhepunkt.

Die Besetzung ergänzten der niederländische Charaktertenor Marcel Beekman, der als die verrückte Alte Atrea ein Kabinettstück bot und kicherte, winselte, keifte, der britische lyrische Tenor Nicholas Scott, der als Claudio, Sohn des Cesare, in „Rendimi la mia pace“ nachdrücklich auftrumpfte, und der begabte junge Bariton Victor Sicard als Cesare. Am Ende gibt es einen fröhlichen, jauchzenden Abgesang, den Farnace anstimmt und der den glücklichen Ausgang preist („Imparate, o mortali“).

Leonardo García-Alarcón spornte hier mit seiner Cappella Mediterranea, die er 2005 gegründet hatte, alle Sänger noch einmal an. Seine Leitung voller Energie und Schwung trug den vierstündigen Abend, was ihm und den Mitwirkenden am Ende euphorische Publikumsovationen bescherte. Das Residenzorchester des Bayreuth Baroque Opera Festival 2025 hatte mit seinem Musizieren voller Spannung und Klangreichtum immer wieder begeistert – mit festlichem Bläserglanz, federnden Rhythmen, majestätischen Märschen, aber auch lyrischen Inseln und kammermusikalischer Delikatesse in den Ritornellen (6. 9. 2025).

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Das Orchester mit seinem argentinischen Dirigenten begleitete auch mehrere Solisten bei ihren Konzerten, welche traditionell zum Festival gehören. Am 5. September war der italienische Countertenor Carlo Vistoli mit seinem Programm Opera Antica zu erleben. Konzeptionell korrespondierte der Abend mit der Cavalli-Oper, bot er doch Werke von Zeitgenossen des Komponisten, wie Antonio Cesti, Claudio Monteverdi und Alessandro Stradella. Reizvolle instrumentale Einlagen – u.a. eine Sinfonia aus Cavallis Erismena, die Xácara del primer tono von Lucas Ruiz de. Ribayaz, die Tarantela von Santiago de Murcia und die Ciacona in B-Dur von Antonio Caldara – sorgten für vielfarbige Klänge, rasante Steigerungen und melancholische Episoden.

Vistoli besitzt (für mich) den schönsten Countertenor unserer Zeit. Die Stimme ist rund, weich, warm und ausgeglichen, kann zärtlich schwärmen, ergreifend klagen, aber auch männlich auftrumpfen. Im ersten Teil stellte er Szenen aus fünf Opern Cavalliis vor, beginnend mit dem Lamento des Apollo aus Gli amori di Apollo e Dafne, bei dem die Stimme sogleich in ihrem Wohllaut. berührte. Ein schöner Wechsel dazu war der freudige Überschwang des Xerse, „Ombra mai fu“, aus der gleichnamigen Oper, die zu Händels getragener Version einen starken Kontrast bildete. Immer wieder wechselten die Emotionen – ob im flehentlichen Lamento des Idraspe aus Erismena, der heiteren Arie des Giasone, „Delizie, contenti“, aus der gleichnamigen Oper oder der inbrünstigen Arie des Endimione, „Lucidissima face“, aus La Calisto. Aus Monteverdis Poppea stellte Vistoli zwei Szenen des Ottone vor – das schwärmerische „E pur io torno“ und das verzweifelt klagende „I miei subiti sdegni“. Der affektreiche Gesang des Solisten und seine vorbildliche Wortbehandlung imponierten immer wieder – so in der  erregten Arie des Alidoro aus Cestis L´Orontea oder in zwei Szenen des Nino aus Stradellas Il Trespolo tutore. Da gab es im Dialog mit der Flöte auch bravouröse Koloraturgirlanden zu hören und am Ende in der Wahnsinnsszene des Nino ganz sanftes, entrücktes Verlöschen. Zwei Gesänge von Monteverdi – „Voglio di vita uscir“ und „Si dolce è ´l tormento“ – als Zugaben beendeten diesen beglückenden Abend im Markgräflichen Opernhaus. Bernd Hoppe       .

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Pacinis Amazilia bei Festival Il Belcanto Ritrovato im italienischen Fano (Apulien): Vor fast genau zweihundert Jahren, am 6. Juli 1825, wurde Giovanni Pacinis Oper Amazilia im Teatro San Carlo in Neapel mit einer wirklich bemerkenswerten Besetzung aufgeführt.

Nun, am 23. August 2025, wurde die Oper im Rahmen des jährlichen Festivals Il Bel Canto Ritrovato (IBR) im Teatro della Fortuna in Fano, Italien, zum ersten Mal in einer vollständigen modernen Aufführung wiederbelebt. Das IBR möchte das umfangreiche Erbe der italienischen Oper erkunden, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, einer Zeit, in der selbst das kleinste Dorf auf der italienischen Halbinsel wahrscheinlich ein Opernhaus hatte und das Operngeschäft seinen größten und intensivsten Höhepunkt erreichte.

Amazilia mit einem Libretto von Giovanni Schmidt, hat eine interessante und verworrene Geschichte, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe(dazu auch die beiden Artikel in operalounge.de, s. am Ende), und lag Pacini offensichtlich sehr am Herzen Pacini sehr am Herzen, da sie während der Flitterwochen des Komponisten mit seiner ersten Frau geschrieben wurde und er sein zweites Kind nach der Heldin benannte. Pacini, der während seiner langen Karriere fast 80 Opern schrieb, war 29 Jahre alt, als er Amazilia komponierte; es war seine 28. Oper.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Konzertausschnitt/Foto Luigi Angelucci

Die beeindruckende Besetzung der Oper bei ihrer Uraufführung 1825 in Neapel im Rahmen der Geburtstags-Feierlichkeiten für die bourbonische Königin Maria Isabella umfasste den Tenor Giovanni David als Zadir, den Bass Luigi Lablache als Cabana und die Sopranistin Joséphine Fodor-Mainvielle als Amazilla selbst. Ihre Virtuosität macht eine Wiederaufführung der Oper heute schwierig, da nicht viele Sänger die Musik, die Pacini dem Original-Cast zu singen gab, bewältigen können.

Ursprünglich ein Einakter, wurde die Oper 1827 in Wien in einem erweiterten Format mit einer neu komponierten Ouvertüre und zwei neuen Gesangsnummern präsentiert und in zwei Akte unterteilt. Es war diese Fassung, die in Fano vom Bel Canto Ritrovato in einer neuen kritischen Ausgabe von Gianmarco Rossi aufgeführt wurde.

Die einfache Story, die in Florida spielt, handelt von der Rivalität zweier Stammesführer, Cabana und Zadir, um die Hand von Amazilia, einer indianischen Jungfrau, die zum Stamm von Cabana gehört. Die spanischen Konquistadoren schweben im Hintergrund und sorgen für einen Deus ex machina, um die Rivalität beizulegen und ein glückliches Ende herbeizuführen, nachdem Zadir einen Kampf gegen Cabana verloren hat und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll.

Da das Werk für die Geburtstagsfeier einer Königin mit spanischer Abstammung geschrieben wurde, diente das Lob der spanischen Weisheit und Friedensstiftung unter den Konquistadoren, so ungerechtfertigt es auch war, als nicht allzu subtile Art, der Königin ein Kompliment zu machen, und auch als Möglichkeit, die Geschichte an der berüchtigten neapolitanischen Zensur vorbeizuschmuggeln, die Monate zuvor ein ähnlich benanntes Pastiche verboten hatte

.In vielerlei Hinsicht ist Pacini der faszinierendste der weniger bekannten Opernkomponisten im Italien des 19. Jahrhunderts, weil er zu seiner Zeit so beliebt war und weil er so viel geschrieben hat; bei Pacini gibt es eine Menge Musik für Musikwissenschaftler und Opernhäuser zu entdecken, die mutig genug sind, etwas anderes zu versuchen, als immer wieder dieselben wenigen Titel zu recyceln. Die Musik von Amazilia bietet viele wunderbare Momente, und selbst manche eher formelhaften Passagen sind melodiös.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Konzertausschnitt/Foto Luigi Angelucci

Man könnte mit der völlig unbekannten Sinfonia beginnen, die Pacini für Wien schrieb, weil die Wiener erwarteten, dass eine Oper eine vollständige, formelle Ouvertüre haben sollte. (Donizetti musste derselben Tradition folgen.) Die Sinfonia in diesem Fall ist absichtlich rau und laut und voller Kesselpauken, vielleicht als Vorahnung der Welt der Indianerstämme, deren Konflikte die Grundlage der Geschichte bilden, aber sie ist gut aufgebaut und zweifellos eine Verbeugung vor dem symphonischen, „germanischen” Musikgeschmack der Österreicher. Einige der langsamen Stücke sind ebenfalls bestens komponiert und einprägsam, wie zum Beispiel Zadies eröffnende Cavatina „Come mai calmar le pene” und Amazilias wunderschöne „Ah! Non fia mai ver”.

Pacini wurde wegen seiner Kreativität und seiner Gewandtheit in dieser Form als „Maestro delle Cabalette” bekannt, und die Cabaletten in Amazilia sind immer eingängig und interessant aufgebaut, angefangen mit Cabanas „Paventi il perfido”. Zadirs „Io ti vidi, t’adorai” war so beliebt, dass Mauro Giuliani ein Thema und Variationen für Gitarre darauf komponierte. Und während wir Cabaletten normalerweise als schnelle Stücke betrachten, die im Kontrast zu den langsamen Cantabiles einer Cavatina oder einer Arie stehen, war Pacini seinen Komponistenkollegen um Jahre voraus,  als er die doppelt so schnelle Cabaletta „Parmi vederlo” schrieb, ein Jahrzehnt, bevor Donizetti eine langsame Cabaletta für das Finale  seiner Lucrezia Borgia komponierte. „Parmi vederlo” beginnt mit einem traurigen Adagio, gefolgt von einer teuflisch schwierigen schnellen Koloratur, die Amazillas Qualen wirkungsvoll zum Ausdruck bringt, als sie glaubt, dass Zadir auf den Scheiterhaufen kommen wird „Parmi vederlo” war so beliebt (und ungewöhnlich), dass es Sopranistinnen wie Giuditta Pasta und Giulia Grisi als „Aria di baule” diente, die es in verschiedene Opern einfügten, in denen sie auftraten. Selbst in unserer Zeit hat Beverly Sills es in ihre Aufführungen von Rossinis Assedio di Corinto aufgenommen; es ist in der kommerziellen Sills-Aufnahme der Oper erhalten geblieben, aber Pacini wird als Urheber nicht genannt…

In Amazilia gibt es keine großartigen Ensembles, wie sie Rossini in den 1810er und 1820er Jahren schrieb, aber das Trio für die drei Hauptdarsteller, das in der Zwei-Akt-Fassung als Finale des ersten Aktes dient, ist spannend und angemessen klimatisch. Das kleine finaletto, das die Oper beendet, ist jedoch etwas enttäuschend, ebenso wie das gesamte lieto fine mit seinem absurden Lob der spanischen Konquistadoren. Tatsächlich kann sich Amazilia nie ganz von ihrem ursprünglichen Zweck als Geburtstagsgeschenk für Königin Maria Isabella lösen. Am Ende hat man das Gefühl, dass der Komponist und sein Librettist eine willkürliche Frist für ihr Werk erreicht hatten und das Drama schnell beendeten, damit die Königsfamilie weiter essen und trinken konnte, wodurch die Oper ziemlich unerwartet und abrupt endet.

.Das IBR versammelte eine Gruppe talentierter junger Sänger für ihre einzige Aufführung. Amazilia selbst wurde von Paola Leoci gesungen, die sich durch ihre technische Meisterschaft und ihr engagiertes Einbringen in die Rolle auszeichnete. Leoci hatte gerade die weibliche Hauptrolle der Fanni in La cambiale di matrimonio beim Rossini-Festival gesungen. Sie passte die Soubretten-Stimme, die sie für Fanni in der leichten Komödie verwendet hatte, erfolgreich an die dramatischeren Anforderungen und die größere Beweglichkeit an, die für Amazilia erforderlich waren. Ihre atemberaubende Darbietung der teuflisch schwierigen Koloratur in „Parmi vederlo” konnte sich durchaus mit der von Sills aufgenommenen Version messen – und diesmal wussten wir, dass sie von Pacini stammte.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Schluss-Applaus/Foto Luigi Angelucci

Wenn die Rolle der Amazilia für jede Sängerin eine Herausforderung darstellt, dann ist die Tenorrolle des Zadir, die für Giovanni David geschrieben wurde, vielleicht noch schwieriger. Das IBR gab uns Manuel Amati, der die extrem hohen Töne sang und die schwierige Koloratur meisterte, für die David berühmt war, obwohl Amati eine eher kleine Stimme besitzt. Bass Giorgio Caoduro vervollständigte das Trio der Hauptdarsteller als Cabana. Auch seine Rolle ist extrem schwierig; der ursprüngliche Cabana, Luigi Lablache, war der berühmteste Bass in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Caoduro begann etwas zögerlich, da er sofort mit einer großen Arie mit einer technisch anspruchsvollen Cabaletta konfrontiert war, wurde aber im Laufe der Aufführung immer stärker und sicherer; er war sehr gut in seinem „Wiener” Duett mit Amazilia, „Tu sprezzar gli affetti miei”. Die Nebenrollen wurden von Mariano Orozco (Orozimbo), Naomi Umani (Mila) und Michele Albiati (Alvaro) wahrgenommen. Das Orchestra Sinfonica G. Rossini und der Chor des Teatro della Fortuna in Fano wurden von Enrico Lombardi geleitet. Lombardi hauchte Pacinis vergessener Musik neues Leben ein und zeigte uns einen Komponisten, der trotz seines Rufs, es mangele ihm an „Wissenschaft”, es verstand, interessante Orchesterwerke zu schreiben.

.Die Inszenierung war leicht halbszenisch, d. h. sie war mehr als ein reines Konzert mit Sängern, die vorne auf der Bühne standen, aber weniger als eine szenische Aufführung ohne Kulissen und Kostüme. Tomasso Casadei sorgte für passende Hintergrundprojektionen der im Libretto beschriebenen Schauplätze, darunter Floridas „bergiges” Gelände, eine Beschreibung, die jeden, der schon einmal in Florida war, zum Schmunzeln bringen dürfte.

Festival Il Belcanto Ritrovato in Fano: Die Macher mit Hausherrn/Intendanten Rudolf Colm in der Mitte/Foto Luigi Angelucci

Es ist unwahrscheinlich, dass Amazilia jemals außerhalb eines Festivals aufgeführt wird, da es sich um ein Geburtstagsgeschenk für einen längst vergessenen Monarchen handelt, das Werk ein abruptes Ende hat und es schwierig ist, Sänger zu finden, die die Musik singen können. Dennoch enthält es viele musikalische Juwelen, und die Aufführung trug dazu bei, unser Verständnis für einen Komponisten zu vertiefen, der zu lange im Schatten stand. Chronologisch gesehen liegt die Oper in Pacinis Karriere zwischen Alessandro nelle Indie (die in Neapel häufiger aufgeführt wurde als alle Opern, die Rossini für diese Stadt schrieb) und seinem L’ultimo giorno di Pompei, einem noch größeren Erfolg. Als solche ist sie Teil eines Trios, das den ersten Teil von Pacinis sehr fruchtbarer Karriere krönt.

Die Aufführung wurde von Bongiovanni aufgezeichnet und soll in etwa einem Jahr erscheinen. Zum ersten Mal hat das IBR eine kritische Ausgabe seiner Hauptoper herausgebracht, die in diesem Fall von dem hervorragenden jungen Musikwissenschaftler Gianmarco Rossi erstellt wurde – ein wirklicher Beitrag zur Musikwissenschaft.

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Das IBR-Festival bestand nicht nur aus Amazilia. Es gab zahlreiche Konzerte und Vorträge rund um Pacini, aber die Konzerte umfassten auch faszinierende Musik von anderen Komponisten, die heute noch unbekannter sind als Pacini. Es gab ein Konzert mit Orchesterauszügen aus Opern, die an der Scala uraufgeführt wurden, aber von sizilianischen Komponisten geschrieben worden waren; mehrere davon waren Werke von PaciniIl barone di Dolsheim (1818), La vestale (1823) und I cavalieri di Valenza (1828). Giulias Arie mit Harfe „Io son rea, né imploro” aus La Vestale war äußerst schön, die beste von allen.

Festival Il Belcanto Ritrovato 2025: Nicola Vaccai (* 15. März 1790 in Tolentino bei Ancona; † 5. August 1848 in Pesaro) war einer der aufgeführten Komponisten/Wikipedia

Aber es gab auch Stücke aus Mario Aspas I due Savoiardi (1838), Pietro Coppolas La festa della Rosa (1836) und Placido Mandanicis Il Buontempone di Porta Ticinese (1841). Coppola ist ein Komponist, der viel mehr Beachtung verdient; ein weiteres seiner Werke, Nina pazza per amore, war ein großer internationaler Erfolg und zu seiner Zeit ein größerer Kassenschlager als jede Oper von Rossini, während Mandanicis unwiderstehlicher Il Buontempone voller mitreißender Musik ist und Mailand auf einzigartige Weise feiert, so wie viele andere Opern untrennbar mit Rom, Venedig oder Neapel verbunden sind. Dieses Konzert wurde gekonnt begleitet vom Orchestra Sinfonica G. Rossini unter der Leitung von Daniele Agiman. Agiman war so begeistert von dem Trio aus Il Buontempone di Porta Ticinese, mit dem das Konzert endete, dass er selbst eine Zugabe (Encore) des gesamten Stücks forderte, noch bevor das Publikum dies tun konnte, und die drei talentierten Sänger der La Scala Accademia (Fan Zhou, Aldo Sartori und Sung Hwan Park) sangen es erneut. Das Publikum war begeistert.

Festival Il Belcanto Ritrovato 2025: Pietro Antonio Coppola (* 11. Dezember 1793 in Castrogiovanni; † 13. November 1877 in Catania)war einer der aufgeführten Komponisten/Wikipedia

Ein Open-Air-Konzert im Innenhof mit Blick auf das Haus von Nicola Vaccai feierte Werke von vier Komponisten aus Pesaro – natürlich Rossini, aber auch Vaccai und die fast völlig unbekannten Gioacchino Albertini und Vincenzo Federici. Weitere Werke von Pacini waren in einem Konzert zu hören, das seine Opern mit Passagen aus seinen künstlerischen Memoiren verband. Mit anderen Worten: Das IBR bot uns ein reichhaltiges Programm seines Hauptkomponisten Pacini, aber auch Kostproben anderer einst beliebter Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in Vergessenheit geraten sind, und erfüllte damit seine Mission, dieses reiche Erbe für das Vergnügen des heutigen Publikums zu erschließen. Das IBR, das nun bereits im vierten Jahr erfolgreich stattfindet, ist auch für den erfahrensten Opernliebhaber wieder eine lehrreiche Erfahrung. CDs mit den Werken des letzten Jahres, Luigi Rossis La casa disabitata und einem Konzert mit Auszügen von Vaccai, sind jetzt beim Label Bongiovanni erhältlich.

Abgesehen von der Figur in der Oper (und dem Namen von Pacinis Tochter) ist „Amazilia” der Name einer Kolibri-Gattung, die denselben Namensstamm hat wie die Heldin der Oper. Das IBR trägt mit seinen zahlreichen wissenschaftlichen und künstlerischen Initiativen dazu bei, dass diese seltenen und farbenprächtigen Geschöpfe wieder fliegen können. Charles Jernigan/DeepL/G.H.

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Dazu auch bei operlounge.de: Pacinis Kinder sowie Die vergessene Oper: Pacinis Amazilia

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36. Musikfest Bremen: Musikalische Glanzlichter: Halbszenische Opernaufführungen haben eine schöne Tradition beim Musikfest an der Weser. Fast immer sind sie hochkarätig besetzt mit exzellenten Solisten und einem renommierten Dirigenten. Im Konzertsaal Die Glocke stand am 27. 8. 2025 bei Mozarts Die Zauberflöte der junge Finne Tarmo Peltokoski vor der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, seit Anfang 2022 Principal Guest Conductor des Orchesters. Seine eminente musikalische Begabung offenbarte sich bereits in der Ouvertüre, die er spannungsvoll und kontrastreich aufbaute. Feierlich und würdevoll erklang die Einleitung zum 2. Aufzug, wobei Transparenz und Schlankheit des Klanges stets gewahrt blieben. Das ChorWerkRuhr (Einstudierung: Michael Alber) absolvierte zuverlässig seine Auftritte von der Empore. Romain Gilbert hatte die Handlung an der Rampe diskret, doch spielfreudig arrangiert, wobei er von Hervé Garys Lichtdesign unterstützt wurde, welches besonders mit den Rot- und Blau-Tönen bei der Feuer- und Wasserprobe Sinn machte.

Ein Salzburg würdiges Ensemble sorgte für einen Abend voller Sängerglanz, angeführt vom Schweizer Tenor Mauro Peter, der den Tamino schon  2018 in der verunglückten Inszenierung von Lydia Steier bei den Salzburger Festspielen gesungen hatte. Sein kultivierter lyrischer Tenor hat mittlerweile an Farbe, Volumen und Kraft gewonnen. Das verhalf der gefühlvoll vorgetragenen „Bildnis“-Arie zu starker Wirkung und erbrachte für „Wie stark ist nicht dein Zauberton“ eine ideale Balance von Virtuosität und Emphase. Eine perfekte Besetzung war auch für seine Pamina gefunden worden, denn Elsa Dreisig wartete mit leuchtendem Sopran, innigem Gefühl und bester Stimmführung auf. Während ihre Ausflüge in das italienische und französische Fach in der Vergangenheit zwiespältig ausfielen, konnte sie hier in ihrem ureigenen  Repertoire überzeugen und mit der Arie „Ach, ich fühl´s“ für ein sängerisches Glanzlicht sorgen. Nicht weniger als eine Sensation markierte der Auftritt von Kathryn Lewek als Königin der Nacht. Man muss schon an Edda Moser oder Diana Damrau in ihrer besten Zeit zurückdenken, um ein vergleichbares Niveau zu finden. Mit dunkel grundiertem, fülligem Sopran von warmem Klang konnte sie die mütterlichen Gefühle der Figur plastisch transportieren, mit rasender Attacke, phänomenalen Koloraturläufen und gestochenen staccati gleich Messerstichen ihren Rachefuror verdeutlichen. Von seltener klanglicher Homogenität erklang das Trio der drei Damen mit Silja Aalto, Iris van Wijnen und Marie Seidler. Dies ist auch den Solisten der St. Florianer Sängerknaben zu bescheinigen, die die Gesänge der Drei Knaben wohllautend und intonationsrein vortrugen. Nobel und sonor erklang der schlanke Bass von Manuel Winckhier in Sarastros beiden Arien, mit beeindruckender Autorität im letzten Auftritt des Priesters „Die Strahlen der Sonne“. Der ungarische Bassbariton Marcell Bakonyi gefiel mit potenter, kerniger Stimme als Sprecher und gab darüber hinaus noch den Zweiten Geharnischten, assistiert vom slowenischen Tenor Martin Logar als Erstem. Scharfzüngig und grell charakterisierte Andreas Conrad den Monostatos.

Wie oft war auch hier Papageno ein Publikumsliebling. Der Schweizer Bariton Äneas Humm sang ihn mit angenehmer Stimme, allerdings gespreizt gesprochenem Dialog und überflüssigen Extempores sowie einer gänzlich überflüssigen Einlage mit dem Song „The Sound of Silence“. An seiner Seite war Miriam Kutrowatz eine reizende Papagena – in der Verkleidung als altes Weib zunächst keifend und krächzend, nach der Demaskierung dann aber entzückend singend. Der Abend, welcher in seiner musikalischen Perfektion viele internationale Festspielaufführungen übertraf, wurde vom Publikum gebührend bejubelt.

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Stets gehören auch Konzertabende mit Interpreten von Weltrang zum Programm des Musikfestes. Am 28. 8. 2025 war Gelegenheit, die finnische Sopranistin Camilla Nylund zu erleben. Das Programm, Von Heldinnen und Helden betitelt, bot zwei der forderndsten Finalszenen der gesamten Opernliteratur: „Starke Scheite“ aus Wagners Götterdämmerung und den Schlussgesang der Salome aus Strauss´ Oper. Zudem war das zweite renommierte  Orchester der Hansestadt zu hören – die Bremer Philharmoniker unter ihrem GMD Marko Letonja. Das Konzert markierte eine würdige Feier zum 200. Jubiläum des Klangkörpers. Brahms´ „Akademische Festouvertüre“ war ein schwungvoller Auftakt mit seinen Anklängen an Studentenlieder.

Camilla Nylund hatte als Einstieg Elisabeths Hallen-Arie aus Tannhäuser gewählt, in der die Stimme leicht verhärtet klang. Dann aber Brünnildes Weltabschied in einem silbernen, eng anliegenden Kleid, das die Sängerin umschloss wie ein stählerner Panzer und auch optisch einer Walküre entsprach. Grandios meisterte sie mit ihrem kraftvollen Sopran und unangefochtenen Spitzentönen die lange Szene, dominierte bis zum letzten Moment das Orchester, welches der Dirigent groß aufrauschen ließ.

Nach der Pause Richard Strauss mit seiner „Sinfonischen Fantasie“ aus Die Frau ohne Schatten, welche 1946 entstand und Motive aus dem monumentalen Werk vereint. Klänge, Farben, Lyrismen und Dissonanzen fügten sich in der Wiedergabe des Orchesters zu einem Klangrausch von magischer Wirkung. Auch der nachfolgende „Tanz der sieben Schleier“ aus Salome verfehlte in der lasziven Atmosphäre und orgiastischen Steigerung nicht seinen Effekt. Zweifellos besitzt Nylunds Stimme eine neue Qualität und Dimension, was auch Salomes Schlussgesang bewies. In ihrem Charakter, ihrer Klangfarbe ist sie nicht eigentlich hochdramatisch, wohl aber in ihrer Leistungsfähigkeit. Und so bot sie auch als Salome einen mühelos bewältigten Auftritt von ekstatischer Steigerung und tranceartigem Schluss, der in seiner Tragik tief berührte.

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Verdienstvoll und vom Publikum hoch geschätzt sind die Veranstaltungen des Musikfestes in Bremens Umgebung. Der prachtvolle Dom zu Verden ist ein solcher Ort, wo am 29. 8. 2025 Mozarts Requiem d-Moll KV 626 erklang. Hochrangige Interpreten der Barock-Szene waren versammelt, so das 1990 von Václaw Luks gegründete Collegium 1704 und das 2005 von ihm ergänzte Collegium Vocale 1704. Der Dirigent entschied sich für die von Eybler und Süssmayr vollendete Fassung des von Mozart als Torso hinterlassenen Werkes. Und er stellte ihm ein hierzulande unbekanntes Stabat Mater von Frantisek Ignác Tuma voran, welches der 1704 geborene böhmische Komponist ca. 1750 schuf. Das Werk von strenger Schlichtheit ist nur sparsam instrumentiert und atmet kaum barocken Geist. Fast mutet es modern an, wie hier alte und neue Stile kombiniert sind. Orchester und Chor beeindruckten mit hoher Klangkultur und das Solistenquartett konnte in zwei Duetten bereits seine Qualität herausstellen, wie es danach bei Mozarts Werk noch deutlicher wurde. Tereza Zimkovás Sopran war von keuschem Klang, der Mezzo von Henriette Gödde dagegen eher von fraulicher Sinnlichkeit. Herausragend war der Tenor von Krystian Adam in seiner Potenz und Substanz, Tomás Selc komplettierte mit einem Bass von warmem, weichem Klang. Der Gesang des Chores war überwältigend, ob im Kyrie mit seiner apokalyptischen Dimension, dem gewaltigen Confutatis maledictis oder dem erhabenen Agnus Dei. Und am Ende überraschten die 17 Sängerinnen und Sänger noch mit einer unbekannten Zugabe – einem frühen A-capella-Werk von Zelenka, das den Abend bewegend und würdig beschloss. Bernd Hoppe

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LGBT in Pesaro 2025: Das Rossini Opera Festival endete mit einer hervorragenden Aufführung der Missa, die Verdi nach Rossinis Tod im Jahr 1868 für ihn organisiert hatte. Sie besteht aus 13 Sätzen, die jeweils von einem anderen Komponisten der damaligen Zeit komponiert wurden (der letzte von Verdi selbst), wurde jedoch zu Verdis Lebzeiten nie aufgeführt und blieb tatsächlich unaufgeführt, bis sie 1970 von David Rosen entdeckt und 1988 in Deutschland aufgeführt (und anschließend aufgenommen) wurde. Sie war zuvor noch nie beim Rossini-Festival aufgeführt worden. Die Qualität der einzelnen Abschnitte ist unterschiedlich, aber der letzte Abschnitt von Verdi, den er später in seine Requiem-Messe für Manzoni übernahm, ist glühend.

Ansonsten bestand das Festival aus drei Hauptopern – der Rarität Zelmira, einer skurrilen Interpretation von L’Italiana in Algeri und Rossinis erster aufgeführter Oper, La cambiale di matrimonio, die zusammen mit seiner Liedersammlung „Soirèes Musicales” aufgeführt wurde.

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Rossini Opera Festival 2025: „Zelmira“/Szene/Foto Amati Bacciardi

Zelmira wurde mit einer spektakulären Besetzung von Sängern unter der Leitung von Giorgio Sagripanti mit dem Orchester des Teatro Communale in Bologna in einer Inszenierung des spanischen Regisseurs Calixto Bieito aufgeführt. Bieito machte sich zunächst in der Opernwelt einen Namen, indem er Standardwerke auf subversive Weise mit viel Nacktheit, Gewalt und explizitem Sex inszenierte und damit das biedere Opernpublikum in Europa schockierte – ein Quentin Tarantino der Opernwelt. Nun scheint Bieito sich von der Infragestellung westlicher Werte, wie sie in kulturellen Ikonen wie Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ oder Bizets „Carmen“ verkörpert sind, zu einer völlig nihilistischen Welt des unerbittlichen Negativismus und der Sinnlosigkeit weiterentwickelt zu haben.

In dieser Inszenierung von Zelmira gab es keine Nacktheit und die Gewalt wurde gedämpft, aber die Inszenierung untergrub alle Werte, die wir normalerweise mit der Oper und Rossini verbinden, und suggerierte, dass alles an der sozialen und kulturellen Erfahrung der Oper bedeutungslos ist – die Musik, die Aufführung, die Inszenierung und das Publikum selbst. (…) Der Sinn der Inszenierung bestand darin, dass sie sinnlos war: Nichts hatte irgendeine Bedeutung. Es gab keine Übertitel, um der Handlung zu folgen, wahrscheinlich weil die Inszenierung so oft im Widerspruch zum Libretto stand, aber auch weil die gesungenen Worte bedeutungslos sind. Der Nihilismus, ein in Europa und Amerika mittlerweile weit verbreitetes Phänomen, da so viele Institutionen und Persönlichkeiten ihre Bedeutung verloren haben – Religion, Politik, demokratische Institutionen und die Künste –, scheint in Bieitos Inszenierung nun auch die Oper befallen zu haben. Die Gründe, warum man in die Oper geht, sind zunichte gemacht. Selbst die Handlungen, die mit einem Opernabend verbunden sind – Ticket kaufen, sich ankleiden, anreisen, zuhören, applaudieren – sind bedeutungslos. Bieito verspottet weniger die Institution oder das Publikum, als dass er uns sagt, dass eine kulturelle Handlung nicht mehr Bedeutung hat als alles andere.

Wenn die „Bedeutung” Bedeutungslosigkeit ist, dann sahen wir keinen Grund zu bleiben. Wir gingen in der Pause. Eineinhalb Stunden totale Negation waren genug. Wenn die Musik wertlos war, die harte Arbeit der Sänger und des Orchesters bedeutungslos und die Inszenierung ein endloser Kreislauf sich wiederholender Handlungen ohne jeden Grund, warum dann bleiben? Unser Akt des Nihilismus bestand darin, zu gehen und ein Eis zu kaufen. Italienisches Gelato an sich ist anti-nihilistisch. Oder vielleicht war Bieito einfach nur verwirrt und hatte keine Ahnung, was er tat.

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Rossini Opera Festival 2025: „L´Italiana in Algeri“/Szene/Foto Amati Bacciardi

Rosetta Cucchis Inszenierung von Italiana in Algeri befand sich gewissermaßen am anderen Ende des philosophischen Spektrums. Sie interpretierte die Geschichte von Isabella, der Italienerin auf der Suche nach ihrem lange verschollenen Freund Lindoro, neu als eine Gruppe von Drag Queens, deren Bus auf einer Reise eine Panne hat. „Isabella und ihre Mädchen” werden von den Polizisten unter Mustafà verhaftet, einem despotischen Herrscher, der von seiner Frau Elvira gelangweilt ist. Die gestrandeten italienischen Drag Queens versprechen ihm eine Art neue Stimulation, sexuell oder anderweitig. In einer cleveren Vorführung vor der Oper hält die Gruppe mit einem regenbogenfarbenen VW-Bus vor dem Teatro Rossini und die „Polizei“ jagt die extravagant gekleideten Drag Queens, um sie schließlich ins Theater zu treiben, damit die Oper beginnen kann. Es ist ein lustiges Durcheinander in wilden Kleidern und leuchtenden Farben.

.Cucchi verwendet Isabellas patriotische Arie „Pensa alla patria”, um eine Art ernsthafte Aussage über die Befreiung von Homosexuellen oder die Akzeptanz von Drag Queens oder die Freiheit, sein Leben so zu leben, wie man es für richtig hält, zu machen, aber es passt nicht zum Text, und tatsächlich funktioniert die ganze Drag-Überlagerung nicht: Isabella ist eindeutig eine Frau, eine Mezzosopranistin, und kein Mann in Frauenkleidung. Sie sucht einen Liebhaber, der ein Mann ist (Lindoro). Die Inszenierung entpuppt sich als Camp-Übung und nicht als ernsthafter Aufruf zur Befreiung, trotz alter Wochenschauen, die Demonstranten für die Befreiung von Homosexuellen, für Transsexuellenrechte oder für Drag Queens zeigen. Cucchi glaubt eindeutig, dass eine soziale Sache im Gegensatz zu Bieito eine Bedeutung hat, aber sie hat das falsche Mittel gewählt, um ihre Ansicht zu verbreiten. Italiana ist eine köstliche Opera buffa: Sie verspottet alberne „Türken” und italienische Männer (Taddeo), preist aber die Macht und Intelligenz italienischer Frauen. Es ist nicht La Cage aux Folles oder Priscilla, Queen of the Desert. Der Gesang war sehr gut. Daniella Barcelona ist mit 59 Jahren immer noch wunderbar, und die beiden Buffo-Bässe Giorgi Manoshvili und Misha Kiria waren in der Tat sehr gut. Der Tenor Josh Lovell hat eine liebliche tenore di grazia-Stimme, aber er hat einige hohe Töne ziemlich schlecht getroffen, und seine Stimme ist in seiner Arie im zweiten Akt gebrochen. Vielleicht war das alles nur ein Insider-Witz: Daniella Barcelona hat ihre Karriere in Travesti-Rollen verbracht, in denen sie als Mann verkleidet war. Können wir sie als „Drag King” bezeichnen?

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Rossini Opera Festival 2025: „La cambiale di matrimonio“/Szene/Foto Amati Bacciardi

Der dritte Abend war eine Art Doppelvorstellung. Die Einakter-Oper war Rossinis Cambiale di matrimonio, die mit vier Sängern kombiniert wurde, die die „Soirées Musicales” aufführten, eine Sammlung von zwölf Liedern, die Rossini in den frühen 1830er Jahren komponiert hatte. Dieser eher seltsame Abend versuchte nicht, eine Aussage zu einem aktuellen gesellschaftlichen Thema (Drag Queens) zu machen oder eine gesellschaftliche Unzufriedenheit wie Nihilismus auszudrücken. Er war einfach nur unterhaltsam und hat Spaß gemacht. Die Lieder wurden für diesen Anlass von Fabio Maestri orchestriert und vor dem Vorhang von vier jungen Sängern auf einfache Weise präsentiert: Vittoriana De Amicis, Andreas Niño, Paola Nevi und Gurgen Baveyan. In der Oper spielte der bekannte und lustige Buffo-Bass Pietro Spagnoli die Rolle des Tobia Mill und die exzellente Paola Leoci seine hübsche Tochter Fanni. Ihr Liebhaber Edoardo wurde von Jack Swanson gespielt, und der Kanadier Slook, der mit einem Bären im Schlepptau auftauchte, wurde von Matt Olivieri dargestellt. Ramiro Mataran und Inés Lorann waren die beiden Diener Norton und Clarina. Der ehemalige Tenor Laurence Dale inszenierte eine charmante, traditionelle und lustige Produktion. Auf der Bühne stand ein realistisches zweistöckiges georgianisches Londoner Reihenhaus, und die Sänger trugen historische Kostüme. Der einzige Misston war der Bär, der fast während der gesamten Oper auf der Bühne blieb und den Witz zermürbte. Christopher Franklin dirigierte.

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Wenn es ein Gegenmittel zur nihilistischen Zelmira gab, dann war es der letzte Teil der Messe für Rossini, Verdis „Libera me, Domine”, ein großer Schrei nach Freiheit und Sinn, gerichtet an ein kaltes Universum und gesungen von der großartigen Vasilisa Berzhanskaya. Das Universum mag nicht zuhören, aber der verzweifelte Schrei, eines der größten Werke Verdis, ist an sich schon eine Bestätigung der größten Aufgabe der Kunst – uns in der Weite von Zeit und Raum einen Sinn zu geben. Charles Jernigan/DeeplL/G. H.

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Salzburger Festspiele 2025: Counter-Gipfel. Noch nie gab es im Salzburger Festspielsommer eine derart hohe Beteiligung von Counter/Falsetisten wie in diesem Jahr. Schon in der Eröffnungsproduktion mit einem Barockwerk – Händels Giulio Cesare in Egitto -, mit dem der russische Regisseur Dmitri Tscherniakov sein Debüt in Salzburg gab, waren vier Vertreter dieser Stimmgattung besetzt. Ohne Zweifel führte sie der Franzose Christophe Dumaux als Titelheld an. Viele Jahre war er auf die Partie des Tolomeo abonniert, die er weltweit und bei allen großen internationalen Festivals gesungen hat. Für die Interpretation der Titelrolle hat er sich viel Zeit gelassen – mit dem Ergebnis einer bewundernswerten Vollkommenheit. Schon der Auftritt mit „Presti omai l´egizia terra“ war in seiner energischen Attacke fulminant, ähnlich rasant das Solo „Empio, dirò, tu sei“. Dazu kontrastierte das lieblich intonierte „Se in fiorito ameno prato“ mit imitierten Vogelstimmen zauberhaft und geradezu magische Wirkung hatte „Aure, deh, per pietà“ mit berückend schwebenden Tönen.

Ihm fast ebenbürtig der ukrainische Sänger Yuriy Minenko als Tolomeo, auch er eine Größe im internationalen Barock-Geschehen. Der Regisseur zeichnet ihn als fiesen, effeminierten Schurken und lässt ihn sein Entrée „L´ empio, sleale“ mit hysterischer Aggressivität vortragen. Aber Minenko kann später auch die Schönheit seines Timbres zeigen und mit einer kunstvollen Kadenz imponieren.

Salzburger Festspiele 2025: „Giulio Cesare“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Ein relativ neuer Name ist der italienische Sopranist  Federico Fiorio, der aber bereits an der Mailänder Scala aufgetreten ist und bei den jüngsten Festspielen Potsdam Sanssouci in Galuppis Didone abbandonata beeindruckte. Mir war sein Sesto bei aller zur Schau gestellten Virtuosität zu kindlich im Klang, ungeachtet der Tatsache, dass die Rolle einen Sänger mit jugendlicher Stimme verlangt. Wie alle Figuren in diesem unterirdischen Gefängnis ist auch er traumatisiert, allein die flatternden Hände bei „Svegliatevi nel core“ zeigen seinen pathologischen Zustand an. Später wird er eine Art Veitstanz aufführen und völlig die Kontrolle über seine Aktionen verlieren, was der Interpret mit bewundernswertem körperlichem Einsatz zeigt. Vierter Counter war der junge Amerikaner Jake Ingbar als Nireno mit auffallend klangvoller Stimme.

Gefeiert wurde Olga Kulchynska für ihre Cleopatra, mit der sie ein beachtliches Salzburg-Debüt gab. Optisch als billige Nutte eher abstoßend, gelang es ihr doch, die Gefühle für Cesare und ihre Ängste um sein Leben glaubhaft zu vermitteln. Die makellose Technik erlaubte ihr einen bravourösen Vortrag der fordernden Arien und auch die lyrischen Passagen gelangen ihr vortrefflich. Zwitschernd klang „Non disperar“, verführerisch „V´adoro, pupille“, tragisch umflort „Piangerò“ und gebührend bravourös „Da tempeste“. Einzig das recht anonyme Timbre versagt die Einordnung der Stimme in eine von Weltrang.

Gespalten. waren die Meinungen über die französische Mezzosopranistin Lucile Richardot als Cornelia. Ihre Stimme mit maskulinem, extrem gutturalem Klang verfärbte sie bis zur Hässlichkeit. Die Ausbrüche bis zum veristischen Schrei verfehlten zuweilen nicht ihre Wirkung, waren aber kaum noch in die Kategorie Gesang einzuordnen. Echte männlich-tiefe Töne brachten der moldawische Bariton Andrey Zhilikhovsky als Achilla und Robert Raso vom Young Singers Project als Curio ein. Ersterer trumpfte bei „Tu sei il cor“ mit energischer, ausladender Stimme auf, während Raso die Rezitative resolut formulierte.

Das zentrale Thema des diesjährigen Festspielprogramms, Machtkampf und Krieg, war deprimierend, doch angesichts der aktuellen Weltlage nachvollziehbar. Und natürlich war es auch in dieser Eröffnungsproduktion präsent. Wie stets fungierte Tcherniakov als sein eigener Bühnenbildner und hatte im Haus für Mozart einen unterirdischen Bunker auf die Bühne gestellt, in welchen die Protagonisten geflüchtet waren und dort in klaustrophobischer Enge eingepfercht sind. Ihre Machtkämpfe setzen sie dennoch fort. Der Einheitsschauplatz evozierte eine szenische Eintönigkeit. Elena Zaytsevsas moderne Kostüme bewegten sich im sattsam bekannten Spektrum von Business-Anzügen, Lederjacken, Hoodies und einem pinkfarbenen Girly-Outfit für Cleopatra mit Felljacke und langer Perücke. Befremdlich waren einige Ideen des Regisseurs, wie Tolomeos versuchte Vergewaltigung der Cornelia, die sich ihm angeekelt entzieht, aber darauf ihren eigenen Sohn Sesto sexuell bedrängt und damit eine inzestuöse Neigung offenbart. Auch die permanente Korrektur ihres Make-up´s während der Trauergesänge um den ermordeten Gatten schien unpassend. An Komik grenzten der schier endlos verblutende Achilla und Sesto, der am Ende den Verstand verliert und in einen Wahnsinnstanz verfällt. Vorhersehbar, dass Tschernjakov auch dem lieto fine nicht traute. Alle singen von Freude und Lust, doch eine ohrenbetäubende Explosion zeigt unmissverständlich an, dass die Wirklichkeit eine andere Sprache spricht.

Mit alarmierendem Sirenengeheul begann die Aufführung auch akustisch verstörend. Aber dann setzte die Musik ein, welche Emmanuelle Haim mit ihrem Concert d´Astrée in aggressiver Härte und schonungsloser Dramatik erklingen ließ. Da waren die weichen Streichertöne, die ziselierten Gambenakkorde und feinen Bläserpassagen der Bühnenmusik ein wunderbarer Kontrast zu den fiebrigen, harsch pulsierenden Passagen. Aus dem Orchestergraben sang der Bachchor Salzburg (Einstudierung: Michael Schneider) und sorgte gleichermaßen für dramatische Effekte (wie im Schlachtruf „Mora Cesare, mora“) und versöhnliche Harmonie (wie im Finale „Ritorni omai nel nostro core“) – wenn dies auch von der Regie nicht bedient wurde. Aber musikalisch war diese Festspieleröffnung verheißungsvoll (14. 8. 2025).

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Salzburger Festspiele 2025: „Drei Schwestern“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Die Besetzungsliste einer weiteren Neuproduktion, Peter Eötvös´ Oper Tri Sestri (Drei Schwestern) (Uraufführung am 13. März 1998 in der Opéra de Lyon) wies gleichfalls vier Counter auf, dazu als komischen Verfremdungseffekt den orgelnden polnischen Bass Aleksander Teliga in einer Travestie-Rolle – der Amme Anfisa. Das Trio der drei hohen Männerstimmen in den Titelrollen sorgte in Salzburg für eine Sensation. Der Sopranist Dennis Orellana als Irina sowie die Counter Cameron Shabazi als Mascha und Aryeh Nussbaum Cohen als Olga hatten den Abend schon im Prolog für sich entschieden, wo sie in schlichten weißen Kleidern (Kostüme: Emma Ryott) an ihr bisheriges Leben erinnern und von einem Neuanfang träumen. Wunderbar vereinten  sich die drei Stimmen zu einem harmonischen Zusammenklang, getragen von der sphärischen Musik des ungarischen Komponisten, die 1998 uraufgeführt wurde. Der französische Dirigent Maxime Pascal breitete sie mit dem Klangforum Wien atmosphärisch aus, gab auch ihren winselnden, lärmenden Passagen gebührenden Raum. Alphonse Cemin leitete ein unsichtbares Orchester hinter der Bühne.

An Tschechows Schauspiel Drei Schwestern mit seinen intimen Kammerspiel-Szenen, mit seiner Bühne voller Birken darf man bei der Vertonung und bei der Inszenierung von Evgeny Titov nicht denken. Sie fügt sich ganz ein in das aktuelle Thema der Festspiele, zeigt eine apokalyptische Trümmerlandschaft aus geborstenem Beton und zerstörten Eisenbahnschienen im Nebel (Bühne: Rufus Didwiszus). Die Akteure müssen über riesige Gesteinsbrocken balancieren, wobei der vierte Counter, Kangmin Justin Kim in der Rolle der hysterischen und extravagant gewandeten Natascha, Andrejs Frau, dem Bruder der Schwestern, durch seine geradezu artistische Gewandtheit besonderes Aufsehen erregte. Die Hoffnung, welche Eötvös´ Musik auch innewohnt, atmet die Szenerie nicht. Der Krieg ist allgegenwärtig, wenn Soldaten mit den Utensilien des Kriegers die Bühne stürmen und Brände aufflammen. Die zugemauerten Arkaden der Felsenreitschule suggerieren zudem eine bedrückende Eingeschlossenheit.

Im Unterschied zum Schauspiel haben der Komponist und sein Librettist Claus H. Henneberg die Oper in drei Sequenzen aufgeteilt, in denen Irina, Mascha und Andrej aus ihren individuellen Blickwinkeln erzählen. Den Anfang macht Irina, die jüngste der Schwestern, der die Oboe zugeordnet ist und die von Baron Tusenbach (Mikolaj Trabka mit obertonreichem Bariton) geliebt wird. Orellana verlieh ihr einen feinen, träumerischen Sopranklang. Auch der Stabshauptmann Soljony (Anthony Robin Schneider mit sonorem Bass) liebt Irina, was zum Duell mit dem Baron führt, in dem dieser sein Leben verliert.

Die zweite Sequenz ist Andrej vorbehalten, der sich in Selbstvorwürfen quält. Seine Frau Natascha hat ein Verhältnis mit Protopopow (Henry Diaz), was der Choreograf Otto Pichler in einer Liebesszene pantomimisch umgesetzt hat. Der südafrikanischer Bariton Jacques Imbrallo zeigt sich als Andrej schonungslos nackt, so die Sinnlosigkeit seiner Existenz darstellend. Die Sequenz III ist Mascha vorbehalten, der die Klarinette gehört und die von dem Batteriekommandanten Werschinin (Ivan Ludlow mit potentem Bariton und starker Aura ) fasziniert ist. Der Abschied von ihm wegen seiner privaten Probleme ist für Mascha schmerzlich. Shahbazi bestach durch seine elegante, attraktive Erscheinung und die sinnliche, dunkel timbrierte Stimme. Der Bass Andrei Valentiy gab Maschas Ehemann Kulygin als skurrile Figur. An Irinas Namenstag erscheint er mit roter Clownsnase und langen Eselsohren, um ihr ein Geschenk zu machen. Valentiy formte daraus ein Kabinettstück und imponierte darüber hinaus mit seiner prachtvoll sonoren Stimme. Der dritten Schwester, Olga, ist keine Sequenz gewidmet, wohl aber ein Instrument – die Flöte.

Zwei Zeichen der Hoffnung setzte der Regisseur am Ende dennoch gegen Tristesse, Verzweiflung und Apokalypse.  Irina malt auf eine weiße Mauer mit Kohle einen Tunnel als möglichen Ausweg und  das Alte Mütterchen (Eva Christine Just) steigt aus ihrem Krankenbett, um von der vierstöckigen Schokoladentorte zu kosten. Selten gab es für eine zeitgenössische Oper solch euphorischen Jubel wie in der Felsenreitschule am 12. 8. 2025.

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Salzburger Festspiele 2025: „Maria Stuarda“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Für die Vielseitigkeit des diesjährigen Festspielprogramms stand auch die Inszenierung von Donizettis Maria Stuarda. Die 1835 uraufgeführte Tragedia lirica zeigte Regisseur Ulrich Rasche im Großen Festspielhaus als Machtkampf der beiden Königinnen Elisabetta und Maria. Jeder ist ein eigenes Reich zugeordnet, welches sie nie verlassen und auch in ihrem Duett die Trennung beibehalten werden. Rasche als sein eigener Bühnenbildner hat dafür zwei riesige drehbare Scheiben installiert, die auch kippen können und von unten illuminiert werden. Von oben senkt sich eine dritte Scheibe herab, welche als Leuchtkörper dient und zudem für die Projektion von Filmaufnahmen der Titelheldin (Video: Florian Hetz) genutzt wird. Umgeben werden die beiden Herrscherinnen von ihren Höflingen (Tänzer der Salzburg Experimental Academy), die sich in der Choreografie von Paul Blackman bewegen – zumeist gegen die Drehrichtung der Scheibe – oder im Gleichschritt marschieren, gegen Ende halbnackt und zunehmend gekrümmt erscheinen. Auch die beiden Regentinnen sind in ständiger Bewegung, um sich gegen die Drehung der Scheiben zu behaupten. Irgendwann ähnelt Elisabetta in ihrer gebeugten, gebrechlichen Haltung, sich mühsam vorwärts schleppend, gar einer Mutter Courage. Kate Lindsey, in Salzburg ein häufig gesehener Gast, gab sie mit strengem, stark gutturalem Mezzo, dem gelegentlich ein heulendem  Beiklang eigen war. In der Erscheinung imponierte die herrscherliche, stolze, hochmütige Aura, im Ausdruck ihre Energie und Entschlossenheit. Von Sara Schwartz zumeist in Schwarz gekleidet, ist sie ein starker Kontrast zu Maria ganz in Weiß. Lisette Oropesa, kürzlich bei ihrem Rollendebüt am Teatro Real in Madrid gefeiert, war eine empfindsame schottische Königin mit weichem, lyrischem Koloratursopran. Die Auftrittskavatine „Guarda: su´ prati appare“ besaß Süße und Leuchtkraft, die Cabaletta „O nube“ Verve und strahlende Spitzentöne. Tief empfunden war ihre Preghiera vor dem Tod auf dem Schafott, bei der sie in einem transparenten hautfarbenen Hosenanzug aus glitzerndem Stoff auftreten muss – ein absurder Einfall der Kostümbildnerin. Auch Antonello Manacordas forsche Leitung der Wiener Philharmoniker wurde gelegentlich zum Problem, wenn das auftrumpfende Orchester den Sängerinnen alle Reserven abverlangte. Mit seinem robusten Latino-Tenor hatte Bekhzod Davronov als Roberto keine Mühe, sich gegen die Wiener Musiker durchzusetzen. Zur Optik als jugendlicher Beau korrespondierten seine strahlenden Spitzentöne und die Italianità seines Vortrags. Der russische Bass Aleksei Kulagin gab den Talbot mit ausladender, körniger Stimme, Thomas Lehman den Cecil mit solidem Bariton. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Alan Woodbridge) sang aus dem Off, was gelegentlich zu Koordinationsproblemen mit dem Orchester führte. Das Publikum am 11. 8. 2025, mit der Interpretation von Belcanto-Opern in Salzburg nicht eben verwöhnt, feierte die Sänger ausnahmslos euphorisch.

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Salzburger Festspiele 2025: „Hotel Metamorphosis“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Traditionell wurde eine Produktion von den Pfingstfestspielen Salzburg in das Sommerprogramm übernommen – in diesem Jahr Barrie Koskys schon im Juni gefeiertes Vivaldi-Pasticcio Hotel Metamorphosis. Michael Levine hatte die Geschichte in einem Hotelzimmer mit Doppelbett und variierenden Gemälden verortet, welche mythologische Szenen zeigen: Pygmalion und seine Statue, Arachne und Minerva, Myrrha, Echo und Narcissus, Orpheus und Eurydice. Die Geschichten stammen aus Ovids Metamorphosen, deren berühmteste die von Orpheus ist, den Angela Winkler im schwarzen Hosenanzug (Kostüme: Klaus Bruns) mit ihrer bekannt manierierten kindlichen Stimme sprach und dabei einige Konzentrationsprobleme offenbarte. Auch Pfingst-Prinzipalin Cecila Bartoli als Eurydice (im roten Kleid) und Arachne (im bunten Hosenanzug und Turban) brauchte eine Zeit, um ihre Form zu finden. Bei „Quell`augellin che canta“ aus La Silvia entzückte sie mit den imitierten, kichernden und gackernden Vogelstimmen, bei „Dite, oimè“ aus La fida ninfa beeindruckten der schmerzliche Ausdruck und die souveräne hohe Lage. Am Ende tritt sie noch einmal als Eurydice auf, nun im schwarzen Kleid, und imponierte mit langen Bögen bei „Sposa… son disprezzata“ aus Giacomellis Il Bajazet und „Gelido in ogni vena“ aus Il Farnace, bei dem die Stimme wie erfroren klirrte. Auch Philippe Jaroussky, ein Veteran in der Counter-Szene, offenbarte als Pygmalion und Narcissus stimmliche Defizite.  Überzeugend war aber der träumerische Klang in „Tu dormi in tante pene“ aus Tito Manlio.

Zum Star der Aufführung avancierte die französisch-italienische Mezzosopranistin Lea Desandre als Statua,  Myrrha und Echo. Als Myrrha brillierte sie mit der Bravour-Nummer „Agitata da due venti“ aus La Griselda (früher selbst ein Ganzstück der Bartoli), wozu das lyrisch gesponnene „Non ti lusinghi la crudeltade“ aus Tito Manlio ein schöner Kontrast war. Berührend auch die Arie „Sonno, se pur sei sonno“ aus dieser Oper, die Myrrha nach ihrer Verwandlung in einen Baum singt. Überwältigend schließlich Desandre als Echo mit der Arie „Zeffiretti che sussurrate“ aus Ercole sul Termodonte mit dem reizend imitierten Vogelzwitschern. Die Besetzung komplettierte die russisch-schweizerische Merzzosopranistin Nadezhda Karyazina als Minerva, Nutrice und Juno. Als Minerva begann sie mit wimmernder Fistelstimme, als Nutrice trumpfte sie mit „Nel ,profondo cieco mondo“ aus Orlando furioso energisch auf und als Juno berührte sie mit „Ho nel petto un cor si forte“ aus Il Giustino.

Il Canto di Orfeo (Einstudierung: Jacopo Facchini) hatte in mehreren Szenen Gelegenheit für klangvolle Auftritte („Dell´ aura al sussurrar“ aus Dorilla in Tempe oder mit dem finalen  „Sileant zephyri“).

Optisch wurde die Aufführung entscheidend geprägt von Otto Pichlers choreografierten Tanzszenen, die an seine Arbeiten in den Musicals an der Berliner Komischen Oper erinnerten. Vor allem zu Beginn des 2. Aktes mussten die Tänzer in bunten Röckchen und mit Blütenkränzen im Haar zur Sinfonia aus Dorilla in Tempe hopsen und kreischen. Im Finale sorgten sie beim Concerto grosso auf das „La Follia“-Thema von Geminiani immerhin für eine strengere Form. Exzellent war das orchestrale Niveau, das Gianluca Capuano mit Les Musiciens du Prince – Monaco bot. Ein reiches Farbspektrum schloss flirrende, harsche und klirrende Töne ein. Zu hören waren zärtliche, sinnliche und dramatisch explosive Momente, welche das Seelenleben der Protagonisten plastisch widerspiegelten. Das Publikum im Haus für Mozart am 13. 8. 2025 feierte die Interpreten anhaltend. Bernd Hoppe

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Quietschekuh und Rumpelkammer: Bayreuther Festspiele 2025 –  Die Meistersinger von Nürnberg unter Daniele Gatti und Tristan und Isolde unter Semyon Bychkov. Die rot-grün-bunte aufblasbare Kuh, deren durchgebogener Rücken und das nach oben gestreckter Euter die Nürnberger Festwiese überspannen, schwebt unantastbar über Jubel und Frohsinn, Schunkelei und Gruppentanz. Zwar hatte Beckmesser ihr kurzfristig die Luft rausgelassen, was zum Abbruch der Fröhlichkeit geführt hätte, doch Allkümmerer Sachs erkennt rechtzeitig die Notlage und verbindet Stecker und Kabel wieder. Das wäre auch zu schade gewesen. Das Bild wird in Erinnerung bleiben: eine Festwiese in quietschbunter 70er Jahre Optik als Mischung aus Volksfest und Vereinsabend, Musikantenstadl, Schlagerparade, Bauerntheater und Faschingssitzung mit zwei Merkel-Doubles, blond geschneckerlte Schlagerfuzzis, viel Volk in zünftigen Lederhosen und Dirndln. Und ganz viele Zipfelmützen, die an diesem Abend nie fehlen, als rote Vorgartenzwergmützen, fahle Narren- oder verzierte Faschingskappen.

Bayreuth 2025: „Die Meistersinger von Nürnberg“/Szene/©Enrico Nawrath press

Wie als Warnung wurde Regisseur Matthias Davids als Musicalregisseur angekündigt. Tatsächlich hat er seit 30 Jahren landauf landab an unterschiedlichsten Häusern gelegentlich Opern und Operetten, doch vor allem Musicals inszeniert. Und ich erinnere mich auch mal Gershwins Crazy for you von ihm gesehen zu haben. Gelernt hat er daraus ein Gefühl für Timing, die Mischung aus sentimentalen und leidenschaftlichen, aus kleinen und großen Szenen. Langweilig darf es nie sein. Das alles passt zu den Meistersingern, die Davids bewusst als Gegenentwurf zu Barrie Koskys und Katherina Wagners Geschichtsstunden und der jahrzehntelange Öde bei Wolfgang Wagners als – und das will bei den Längen der Schusterstube etwas bedeuten – nie langweiliges komödiantisches Entertainment bringt. Das war vielen zu leicht, zu heiter, zu oberflächlich. „Das Ganze war halt eine Farce und weiter nichts“, würde die lebenskluge Marschallin aus der anderen großen deutschen Musikkomödie sagen, die die Gefühlslage der Beteiligten erkannt hat. Oberflächlich ist Davids nie. Und die Bilder von Andrew Edwards bleiben in Erinnerung. Die sehr schmalen und sehr hohen, umsichtig mit einem Warnhinweis versehenen Stufen, die zu einem Kirchlein führen, aus dem anfangs die Kirchgänger strömen, angetan entweder in Trachten der Dürer- und Wagner-Zeit oder gar im modetrendigen Männerwickelrock. Auf der Fläche daneben treffen sich Eva und Stolzing erstmals. Er hat ein Herzchen aus Papierfliegern auf den Boden gelegt und flattert mit zwei Papierflügeln wie ein verliebter Teenager-Engel. Anschließend schwenkt die Handlung in das Innere eines Versammlungsraums. Im zweien Akt dann die bunt illuminierte, mittelalterliche Gasse mit den wie im Erzgebirge gedrechselten Häusern von Sachs und Pogner, samt Bäumchen von der Märklin-Eisenbahn und einer zum Bücherschrank umfunktionierten Telefonzelle. Am Ende des Aktes bricht ein Pandämonium aus, die Bäume scheinen sich zu biegen, die Häuser rücken auseinander, die Dächer heben sich, eine wütende Prügelei beginnt, die zwischenzeitlich zwischen den Hauptbeteiligten im Boxring geführt wird. Und schließlich diese Festwiese, die aus der krähwinkelschen Enge in die Weitläufigkeit der gegenwärtigen Unterhaltungsbranche führt. Ähnlich bunt – und stillos würde manch einer meinen – hat Susanne Hubrich die Kostüme zusammengesucht als habe ganz Nürnberg im Second-Hand-Laden gewühlt, doch auch mit viel Sinn für aparte Kombinationen und Details bis hin zu dem Harlekins-Wams und den roten Socken des Sachs und seinen guten Maßschuhen, die er im dritten Akt trägt, oder den wechselnden Outfits des Beckmesser. Davids hat die Figuren eindringlich gezeichnet. Herrscht anfangs noch ein gestelzter Vorzeigeton mit demonstrativen und jedes Wort untermalenden Gesten, so gewinnen die Figuren langsam an Leben und Individualität, vor allem Stolzing und Eva wirken wie Zeitgenossen. Eva wird am Ende zur treibenden Kraft, schält sich aus der Festwiesendeko, in der sie wie ein aufgerüschter Hauptgewinn vorgeführt wird, verabschiedet sich von der Amme, gibt dem Vater die Preiskette, ergreift ihren Junker, der nach seiner Ablehnung der Meisterwürde von Sachs ausgiebig belehrt wurde und nun etwas hilflos herumsteht, und flieht ihm aus dem Treiben.

Bayreuth 2025: „Die Meistersinger von Nürnberg“/Szene/©Enrico Nawrath press

Auch Sachs selbst hat neben allen besserwisserischen Lehrer-Lämpel-Zügen grüblerisch selbstquälerische und durchaus selbstironische Momente. Wie Georg Zeppenfeld diese Entwicklung darstellerisch zeigt, ist großartig. Nicht weniger bewundernswert die, man muss schon sagen, vokale Bravour, mit der er trotz des etwas sehr beiläufigen Flieder-Monologs die Partie trägt und bis zu den Schlusssequenzen mit seinem klaren, hohen Bass und auch in der vierten Aufführung nie nachlassender Kraft (11. August) meisterlich durchleuchtet, auch wenn man sich eine opulentere, profundere Stimme vorstellen könnte. Zeppenfeld führt eine großartige Besetzung an, die es in dieser fabelhaften Geschlossenheit auf dem Grünen Hügel auch nicht alle Jahrzehnte gibt. Sachsens Sparringpartner ist Beckmesser, mit dem er nach dem Schlussgesang die endlosen Diskussionen weiterführen wird. Michael Nagy ist darstellerisch ebenso großartig, wobei ich es interessanter gefunden hatte, wenn die Regie auf einige klamaukige Züge verzichtet hätte und den aparten Sänger mit seinem schönen Kavaliersbariton als echten Konkurrenten zum favorisierten Ritter aufgebaut hätte. Der Ritter ist ein Dutt tragender Teddy im blauen Anzug. Michael Spyres singt den Stolzing mit edelzartem, groß aufblühendem Ton, goldenen Timbre, in jeder Lage speziellem Klang und endlosem Atem, schön phrasiert und textdeutlich und einer heldenhaften Leichtigkeit, wie wenn er nach „Parnass und Paradies“ noch Rossinis Koloraturen versprühen könnte. Da ist alles zwingend erfasst. Nach dem sehr guten, doch keineswegs überrumpelnden Wagner-Debüt mit dem Lohengrin im Vorjahr in Straßburg hat Spyres mit Stolzing seine ideale Wagner-Partie gefunden. Im Frühjahr geht es an der Met mit dem Tristan weiter. Dort hat Christina Nilsson kürzlich die Aida gesungen. Mit kühl gestähltem, fast schon dramatischem Sopran ist die junge Schwedin eine auffallende Eva, die sich in den Szenen mit Sachs im zweiten und dritten Akt nicht unterbuttern lässt, die Pep hat und das Quintett mit ruhigem Strahl und sattem Klang anführt. Ausgezeichnet der bestechend artikulierende, in der Höhe etwas verunsicherte und mit einem großen Spieltenor singende Matthias Stier als David. Christa Mayers schuf mit der Magdalene eine pralle Figur, unter den allesamt individuell gezeichneten Meistern fielen Daniel Jenz als Balthasar Zorn, Matthew Newlin als kettenrauchender Ulrich Eisslinger, Patrick Zielke als Hans Foltz und Jordan Shanahan als gemütlicher Kothner auf. Ein schwarzer Fleck: der eigentlich schön, doch klein, völlig unidiomatisch und unverständlich klingende Pogner des Jongmin Park. Und Daniele Gatti? Ihm eilt die Regie zur Hilfe, lässt über den betulichen und langsamen Anfang hinweghören, bis sein ausziseliertes Musizieren und die Sicherheit, mit der er Orchester und den etwas kleiner als früher besetzten Chor führt und steigert, im dritten Akt an Überzeugungskraft gewinnt. Am Ende grenzenloser Jubel, einige Buhs für den Dirigenten.

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Bayreuth 2025: „Tristan und Isdolde“/Szene/©Enrico Nawrath press

Rätselhaft, dunkel, raunend tags zuvor die zweite von fünf Aufführungen von Tristan und Isolde (10. August). Die Inszenierung des isländische Regisseurs Thorleifur Örn Arnarsson, der mit Inszenierungen der Edda und Orestie, aber auch von Lohengrin 2014 in Augsburg und Parsifal 2023 in Hannover aufgefallen ist und prädestiniert für geheimnisvolle Urstoffe scheint, hatte im Vorjahr die kurzlebige Tristan-Inszenierung Roland Schwabs aus dem Jahr 2022 abgelöst. Isolde, die bald ihren Bräutigam Marke treffen wird, schleppt im wahrsten Sinn des Wortes einen immensen Ballast an Erinnerungen mit sich, der in Form des gewaltigen weißen Reifrocks, welcher sich wie eine Insel um sie herum ausdehnt und wallt, alles andere auf der nur wegen der herunterhängen Taue als Schiff erkenntlichen Bühne in den Hintergrund treten lässt. Ein Riss im Boden steht für den Riss in der Welt und die unerfüllte Sehnsucht der Liebenden. Das weiße Gewand, das Isolde wie einen Engel erscheinen lässt, ist bereits über und über beschrieben, und immer noch kritzelt die Tagebuchschreiberin Isolde weiter, ruft sich die zurückliegende Begegnung mit Tristan in Erinnerung, bei der sich beide ineinander verliebten: „Vergeltung“, „Rache“, „Tantris“ usw. Da braucht es keinen Liebestrank mehr, damit beide bei der Überfahrt von Irland nach Cornwall, wohin Tristan die Braut Isolde führen soll, neuerlich entflammen. Im undurchschaubaren Hantieren mit Liebes- und Todestrank ist es unwichtig, zu welchem Trank sie greifen. Um die beiden war es bereits geschehen, so das Regieteam im Programmheft, sobald Isolde sagt, „Er sah mir in die Augen“.

Ganz entfliehen können sie dem Ballast, der Vergangenheit und ihrer Geschichte nicht, wenn man die Anhäufung von Gegenständen, die ab dem Erscheinen Markes am Ende des ersten Aktes fortan das vom litauischen Bühnenbildner Vytautas Narbutas voll geräumte Schiffsinnere bestimmen, als eine solche Last nimmt. Es ist ein Lager oder Speicher, durch den dicke Röhren und Leitungen führen, angefüllt mit dem kulturgeschichtlichen Treibsand aus mehreren Jahrhunderten, Kruscht und Krempel, die wahllos und schwer zu erkennen durcheinanderliegen, Karyatiden, ein Röhrenradio, ein alter Globus, Büsten und Amphoren, Bilder, vielleicht eines von Caspar David Friedrich, das Ziffernblatt einer Comtoise, die Statue eines Kriegers. Das Vergangene lässt sich nicht wegräumen und bestimmt bis zu Tristans Fieberfantasien die Handlung. Im zweiten Akt verspielen sich Tristan und Isolde ein wenig mit dem Zeugs. Tristan erbittet von Isolde den tödlichen Schwertstoß, dem sie ihm einst verweigerte. Indem er schließlich selbstmörderisch zum Todestrank greift, entgeht er Melots Hieb. Im dritten wird Tristan auf einem der Stühle sterbend zusammenbrechen, die anderen, ohnehin zu Stichwortgebern reduziert, sinken auf den Lagern zusammen. Arnarssons Inszenierung lässt den Betrachter ratlos und verwirrt zurück.

Bayreuth 2025: „Tristan und Isdolde“/Szene/©Enrico Nawrath press

Es ist der große Abend des Semyon Bychkov, der die „Handlung in drei Aufzügen“ mit dem in Bestform spielenden Festspielorchester mit ausgepichter Klangdelikatesse aufdröselt, so detailverliebt, dass man scheinbar nie gehörte Details neu beachtet, dabei bei durchaus ausladenden Tempi von großer Spannung und Intensität bereits in der sich sehrend ballenden und steigernden Einleitung mit dem berühmten Tristan-Akkord. Sensibel leuchtet er, wie in der Einleitung zum dritten Akt, Farben und Nuancen vorimpressionistisch aus und gibt den zartesten Pianissimi Gehalt, kreiert zu Beginn des zweiten Aktes ein sensuelles Fluidum, in dem sich Camilla Nylunds schöner Sopran ebenso edel entfaltet wie im bemerkenswert sicher gesteigerten Liebestod, den Isolde mit dem Gifttrank herbeiführt; nur aus Liebe stirbt man eben doch nicht. Ihrem durch und durch lyrischen Sopran mag es im ersten Akt etwas an hochdramatischem Fundament fehlen, was vor allem neben dem brünstig lauten Andreas Schager auffällt, doch im zweiten Akt ist besticht sie durch einen ruhigen und sicheren Strahl und ein feines Piano bei verinnerlichtem Ausdruck und Gestaltung. Schagers Tristan ist bis zu den letzten „Isolde“-Rufen ein kämpfender, mit voller Kraft und ungeniertem Ausdruck singender und sich verausgabender Held, der sich nur selten leisere, dann ins Sprechen abgleitende Töne gestattet und sich lieber auf die pure Kraft seines robusten und metallisch schwingenden Tenors verlässt. Wirklich zusammen passen die beiden Stimmen nicht. Ekaterina Gubanova macht als Brangäne durch ihre gute Höhe bei merklich blassem Mezzosopran auf sich aufmerksam, Jordan Shanahan ist ein sympathischer Diener seines Herrn, Günther Groissböck gibt den Marke mit überzeugender Gestaltung und Ausdruck und einem bedenklich festgefahrenen Bass. Festspielwürdig der feinstimmige junge Seemann von Matthew Newlin und der Hirte des Daniel Jens, weniger der Melot des Alexander Grassauer. Rolf Fath

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Bad Wildbad: Otello mit Happy End beim 36. Rossini in Wildbad-Festival. Geballtes Programm. In zehn Tage hat Rossini in Wildbad diesmal alle Aufführungen und Konzerte gepackt. Das hat durchaus Reiz für anreisende Liebhaber, die nach der Eröffnung mit der Petite Messe Solennelle auf dem Baumwipfelpfad an verlängerten Wochenenden vormittags und abends La Cenerentola, die einzige aktuelle szenische Neuinszenierung, oder den Einakter L’inganno felice genießen können. Oder die Klavieroper Un avvertimento ai gelosi des legendären Rossini-Tenors und Gesangslehrers Manuel Garcia, von dessen Gelegenheitsstücken für seine Gesangsschüler das Festival bereits einige aufgeführt hat. Alle drei im Königlichen Kurtheater. Dennoch wirkt das diesjährige Angebot sparsam und ausgedünnt. Die große Rarität, die Grand opéra Pierre de Médicis des Józef Michał Ksawery Poniatowski (1816–1873), fand als einmalige konzertante Aufführung statt. Der in Rom geborene Großneffe des letzten polnischen Königs war als Sänger, Komponist und Diplomat ein Kosmopolit. Er lernte Rossini in Paris kennen, wo er sich 1853 niederließ, ab 1873 das Théâtre Italien leitet und seine Oper Pierre de Médicis (1860) in der Opéra Le Peletier zur Uraufführung brachte.

„Baritenor“ Manuel Garcia Vater als Rossinis Otello von 1816/Wikipedia

Auch die die zweite Rarität, Rossinis Otello in einer bislang in modernen Zeit nicht aufgeführten Fassung aus Rom von 1820 mit Happy End, erlebte nur eine konzertante Aufführung. Unvergessen die Aufführung des Otello beim 20. Rossini in Wildbad-Festival im Juli 2008 mit Jessica Pratt und Michael Spyres (Naxos 8.660275-76), die beide vom Enztal aus ihre Karriere starteten. Nun übernahm Francesco Meli, der sich Ende 2024 in Venedig erstmals an Verdis Otello getraut hatte, die Titelrolle; versierte Rossini-Tenöre würden den Weg andersrum wählen. Meli leitet übrigens das Opernstudio des Teatro San Carlo in seiner Geburtsstadt Genua, von dem die Produktion von Un avvertimento ai gelosi stammt. Diana Haller, die hier schon von Tancredi bis Isolier vielfach reüssiert hat und mittlerweile auch Sopran-Partien (Elettra) singt, ist erstmals die Desdemona. Die verbindende Konstante wäre Antonino Fogliani gewesen, der offenbar in vorletzter Minute durch Nicola Pascoli ersetzt werden musste, der sich im Vorjahr bei Michele Carafas Masaniello mit der heiklen Akustik der schmalen und langgestreckten Trinkhalle vertraut gemacht hatte.

Otello war nach Elisabetta, regina d’Inghilterra die zweite der neun ernsten Opern, die Rossini für das Teatro San Carlo in Neapel schrieb. Er war 23 Jahre alt, als ihn Domenico Barbaja 1815 zum musikalischen Leiter der beiden Königlichen Theater Neapels, des Teatro San Carlo und des Teatro des Fondo, ernannte mit der Auflage jedes Jahr zwei Opern zu schreiben. Für das San Carlo, das am prächtigsten ausgestattete Theater Italiens, schuf er fortan seine experimentierfreudigsten Seria-Opern. Der Vertrag erlaubte Rossini auch umfangreich für andere Theater zu arbeiten. Als er nach Il Barbiere di Siviglia in Rom nach Neapel zurückkehrte, hatte ein Feuer das Teatro San Carlo Opfer zerstört, weshalb der unliebsame – „Ich erinnere mich nicht, mich jemals so abgemüht zu haben“, schrieb er nach Hause –und vielfach verschobene Otello am 4. Dezember 1816 im kleineren Teatro del Fondo uraufgeführt wurde. Das Libretto des Francesco Berio di Salsa wurde so lange belächelt, bis man feststellte, dass sich der literarisch gebildete Marchese nicht direkt auf Shakespeare bezogen hatte und in den 1970 Jahren zeitgenössische Shakespeare-Adaptionen von Jean-François Ducis (1792) und Giovanni Carlo Baron Cosenza (1813) als Quellen ausgemacht wurden. Der dritte Akt mit dem Lied des Gondoliere, der Canzone des Desdemona und dem gegen den Sturm ankämpfenden einzigen Duett, das Desdemona und Otello haben, entspricht dagegen Shakespeares Drama.

Davon entfernte sich Rossini in seiner für die Karnevalssaison 1819/20 bestimmten Fassung mit Lieto fine, also einem Happy End, für das Teatro Argentina in Rom, die am 26. Dezember 1819 ihre erste Aufführung erlebte. In dieser Fassung versucht Desdemona Otello von Jagos Intrige zu überzeugen, der aus Rache für ihre Zurückweisung Otellos Eifersucht angefeuert habe. Zögernd lässt Otello seinen Dolch fallen. Der Doge kommt. Otello erfährt, dass der Nebenbuhler Rodrigo das gemeinsame Duell, mit dem der zweite Akt geendet hatte, überlebt hat und Jago seine Intrige zugegeben hat. Der Bösewicht wird zum Tod verdammt. Elmiro akzeptiert Otello als Schwiegersohn.

Rossinis römischer „Otello“ von 1819 in Bad Wildbad 2025/Foto Magdalena Kiwior

Das Festival nennt es eine moderne Premiere. Das Label Opera Rara hat bei seiner Otello-Einspielung 1998 diese Fassung als Anhang berücksichtigt, beim Festival della Valle d’Itria in Martina Franca war im Jahr darauf eine seltsame Mischfassung mit diesem Finale zu hören. Doch Rossini in Wildbad kann tatsächlich die Moderne Erstaufführung der vollständigen Fassung für Rom für sich beanspruchen. Die Änderungen, für die Rossini bereits vorhandene Stücke anpasste, sind umfangreicher als es zunächst den Anschein haben mag und rücken das Paar Desdemona und Otello stärker in den Mittelpunkt: Statt ihres Duetts mit Emilia, mit dem Desdemona im ersten Akt quasi als scheues Mädchen eingeführt wird, erhält sie nun eine Kavatine mit Chor (Quanto è grato all’alma mia), die aus der Elisabetta stammt und einer ersten Sopranistin würdig ist. Für das entfallene Duett wird Emilia zu Beginn des zweiten Aktes durch die Arie entschädigt, welche die Vertraute Isaura in Tancredi gesungen hatte (Tu che i miseri conforti).

Die junge Mezzosopranistin Verena Kronbichler polierte das lähmende Füllsel zum vokalem Juwel auf. Rodrigos hochvirtuoses, brillantes Showstück fällt dagegen weg. Neu ist vor seiner Begegnung mit Jago eine Szene des Otello, die aus Cimarosas Penelope stammt (Smarrita quest’alma). Im dritten Akt verzichtet Rossini auf das hübsche Lied des Gondoliere mit seinen Dante-Versen und lässt die Liebenden nach Desdemonas Weidenlied und ihrem Gebet im Duett aus Armida (Amor! Possente nome) mit dem hymnischen Schlussteil Cara per te quest’anima wieder zueinanderfinden. Ein kurzer Rundgesang aus Ricciardo e Zoraide besiegelt das glückliche Ende (Or più dolci intorno al core). Die kleinen Partien des Lucio und Gondoliere entfallen, der Chor ist ein reiner Männerchor. Gianmarco Rossini, hat, wie er in seinem Revisionsbericht darlegt, weit mehr Quellen aufgetan als sie bei der Herausgabe der Kritischen Edition der Fondazione Rossini berücksichtigt wurden.

Dieser Otello ist nicht den umfassenden Mosè in Egitto und Maometto-Überarbeitungen für Paris vergleichbar, dennoch ist er ein neues Stück, das Nicola Pascoli mit Begeisterung und Temperament in die Trinkhalle stemmte, wobei ihm das ungestüm aufspielende Orchester der Krakauer Szymanowski-Philharmonie mit Leidenschaft folgte. Auch wenn manche Feinheiten der Lautstärke zum Opfer fielen, gelang es dem Orchester auf die zahlreichen instrumentalen Solomomente hinzuweisen, gelegentlich fehlende Innenspannung und Dichte ersetzte Pascoli durch effektvoll gesteigerte Finali, in denen der Chor der Szymanowski-Philharmonie durch fabelhafte Tenöre auffiel. Die Besetzung war gediegen. Francesco Meli, der Otellos Sieg Vincemmo, o prodi gleich mit der Kraft und dem bronzenen Edelmetall eines Verdischen Esultate verkündete, tat sich nicht leicht, seinem schweren und etwas angedickten Ton die nötige Geschmeidigkeit und Eleganz zu geben oder ein schönes Piano zu singen und setzte durchgehend auf einen massiven und einförmigen Ausdruck. Meli, den man kaum noch mit dem Belcanto-Repertoire und den Rossini-Partien der Anfängerjahre, die er vor rund 15 Jahren langsam hinter sich gelassen hat, in Verbindung bringt, wird diesen neuerlichen Versuch mit Rossini vermutlich so schnell nicht wiederholen, doch Respekt, wie er sich die Partie, mit der er gegen Ende merklich zu kämpfen hatte, zu eigen machte und aus den Rezitativen alles rausholt.

Souverän und triumphierend, wie eine Königin der Trinkhalle, sang Diana Haller mit einer von den runden Tiefen bis zu den aufblitzenden Höhen durchgehend schön verblendeten Stimme eine leidenschaftlich glühende Desdemona, die heftig und selbstbewusst mit manchmal etwas harschem Tonsatz für ihre Liebe kämpft und dabei seelenvolle Töne für das Weidenlied und das Gebet findet. Juan de Dios Mateos war mit seinem leichten hohen, doch auch etwas unruhigen Tenor ein eher larmoyanter denn kämpferischer Rodrigo, der chinesische Tenor Anle Gou gab dem Jago hell durchdringende Spitzentöne, als Elmiro bestach der souveräne Nathanaël Tavernier durch wohltuende Bassautorität in den Ensembles.  Rolf Fath

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Österreich – Graz: Die 40. Styriarte mit dem Motto Raum & Klang. Die steirischen Festspiele feierten in diesem Jahr ein stattliches Jubiläum, wenn auch überschattet durch die jüngsten erschreckenden Ereignisse in der Stadt. Im  Eröffnungskonzert am 20. 6. 2025 in der Helmut List Halle gedachte man dann auch mit einer Schweigeminute der Opfer. In einer Fotoausstellung im Foyer wurden 40 Bilder gezeigt, welche an die beteiligten Künstler erinnerten, vor allem natürlich an Nikolaus Harnoncourt, den Pionier des Unternehmens. Es war eine treffliche Idee, das Programm mit Johann Sebastian Bachs Partita in d, BWV 1004 für Violine solo zu beginnen – mit Thomas Zehetmair als Interpret, der dieses Werk schon beim 1. Konzert der Styriarte 1985 im Schloss Eggenberg gespielt hatte. Er fungierte dann auch als inspirierender Dirigent des Styriarte Festspiel-Orchesters bei Mozarts Sinfonia concertante in Es, KV 364 und der Sinfonie Nr. 41 in C. KV 551 „Jupiter“.

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Schloss Eggenberg war am nächsten Abend auch der Schauplatz für die diesjährige Opernproduktion – Antonio Draghis Ballettoper Gl´incantesimi disciolti, die 1673 im Schloss Eggenberg anlässlich der Hochzeit von Kaiser Leopold I. mit Erzherzogin Claudia Felizitas von Tirol  aufgeführt wurde. Draghi war Hofkomponist des Kaisers und verarbeitete im Stück auch die Intrigen, welche sich im Vorfeld der Vermählung am Wiener Hof ereignet hatten und den Bund fast verhindert hätten. In der von ihm erdachten Geschichte verlieben sich das Glück und der Gute Wille, werden aber durch den missgünstigen Neid sowie Selbstsucht und Lüge verhext und kommen erst durch die Zuneigung und den zur Vernunft geläuterten Neid zum glücklichen Ende.

Im prachtvollen Planetensaal des Schlosses hatte Dramaturg Thomas Höft eine deutsche Fassung unter dem Titel Das verwunschene Glück erstellt – eine freie Übersetzung des originalen Aufgelöste Zaubereien. Sein szenisches Arrangement wurde dominiert durch Lilli Hartmanns fast lebensgroße Handpuppen, die den allegorischen Figuren zugeordnet waren und entfernt am Arcimboldos Gemälde mit den Köpfen aus Früchten und Gemüse erinnerten. Geführt wurden sie von den Sängern und vier Tänzerinnen, die in der Choreografie von Mareike Franz pantomimische Episoden ausführten, zuweilen an den Ausdruckstanz der 1930er Jahre erinnerten und mit hüpfenden, zappelnden, hopsenden Figuren auch banales Vokabular auszuführen hatten. Die Optik war durch diese verschiedenen Elemente etwas überladen, zumal in diesem mit Gemälden reich dekorierten Saal – hier wäre eine Reduzierung vorteilhafter gewesen.

Die Aufführung hatte ihre Meriten durch das farbenreiche musikalische Klangbild, welches Michael Hell als Dirigent am Cembalo mit dem Ensemble Ärt House 17 verantwortete. Da die originale Partitur nur in Teilen erhalten ist und die bei der Uraufführung gespielten Ballettmusiken gänzlich verloren sind, hat Hell Instrumentalmusiken von zeitgenössischen Komponisten eingefügt. Diese Intermezzi von Biber (eine Sinfonia), Schmelzer (eine Gigue) und Rittler (eine Ciaconna) bringen rhythmisch prägnante Momente, Trompetengeschmetter und festlichen Fanfarenglanz ein, bedeuten zweifellos eine Bereicherung des musikalischen Kosmos.

Styriarte 2025: Antonio Draghis Oper “ Gl´incantesimi disciolti“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Auf recht unterschiedlichem Niveau singt die Besetzung. Dominiert wird sie von den beiden Sopranen. Die junge Johanna Rosa Falkinger erfreut als Glück mit klangvoller, leuchtender Stimme, während die gestandene Sophie Daneman als Lüge noch immer mit souveränem Vortrag und makellosen Koloraturen besticht. Reizvoll dunkel timbriert ist der Mezzo von Anna Manske als Neid, der sich später in die Vernunft wandelt. Kraftvoll-energisch trumpft Julian Habermann als Zuneigung auf, während die beiden Veteranen der Gesangsszene – Markus Schäfer als Selbstsucht und Dietrich Henschel als Guter Rat – mit überreifen, teils verquollenen oder matten Stimmen Wünsche offen lassen. Das Publikum applaudierte begeistert, dankbar für diese Wiederentdeckung einer barocken Preziose. Bernd Hoppe

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Potsdam-Sanssouci: Grand Tour bei den Musikfestspielen.  Alljährlich bieten die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci ein attraktives Programm unter einem originellen Motto. Diesmal lautet es vom 13. bis 29. Juni Grand Tour und widmet sich dem Reisen in die Musikmetropolen von London über Paris und Wien bis Venedig. Gleich das Eröffnungskonzert am 13. 6. in der Friedenskirche mit dem Thema Dr. Burneys Reiseführer erinnerte an den britischen Organisten und Komponisten Charles Burney, der zwei ausgedehnte Reisen auf den Kontinent unternahm, um das Musikleben der einzelnen Länder kennenzulernen. Der zweite Ausflug 1772 führte ihn auch nach Berlin und Potsdam.

Das Konzert mit dem polnischen, auf Alte Musik spezialisierten Ensemble (oh!) ORKIESTRA unter Leitung seiner Gründerin Martyna Pastuszka offerierte ein anspruchsvolles und abwechslungsreiches Programm, das die einzelnen Reise-Etappen nachzeichnete. Der Auftakt mit der Ouvertüre zu Carl Heinrich Grauns Oper Catone in Utica     führte nach Berlin, wo dieser Komponist das Musikleben. der deutschen Hauptstadt maßstäblich bestimmte. Mit seiner Oper Cleopatra e Cesare wurde das Opernhaus Unter den Linden, das Friedrich II. hatte erbauen lassen,  1742 festlich eröffnet. Die Ouvertüre dazu erklang im 2. Teil und weckte lebendige Erinnerungen an die Aufführung unter René Jacobs in der Staatsoper 1992, welche die beliebten Barocktage des Hauses eröffnete. Beide Titel Grauns demonstrierten den musikantischen Schwung des Orchesters und dessen exzellentes spielerisches Niveau. Auch das Flötenkonzert G-Dur von Johann Joachim Quantz, den Burney in Berlin getroffen hatte, war ein Verweis auf die preußische Metropole. Die namhafte Flötistin Laura Quesada brillierte mit ihrem virtuosen Vortrag – heiter-beschwingt im Allegro assai, träumerisch-empfindsam im Arioso e mesto und brillant im Presto.

Vokalsolist des Abends war der renommierte Countertenor Max Emanuel Cencic, der eine reich gefüllte Pralinenschachtel öffnete und eine Preziose nach der anderen servierte. Der Beginn mit der Arie „Sol da te“ aus Antonio Vivaldis Orlando furioso führte nach Venedig, wo das Werk 1727 uraufgeführt wurde. Die Nummer ist ein Dialog zwischen Instrument und Stimme. Laura Quesada an der Traversflöte war dem Sänger eine inspirierende Partnerin. Der Counter ließ eine runde und warme Stimme von hoher Kultur hören. Imponierend waren die großen Atemreserven, die ihm lange Bögen ermöglichten. Noch eindrucksvoller war sein zweiter Beitrag – die berühmte Arie „Va tacito“ des Giulio Cesare aus Händels gleichnamiger Oper, womit die Reise zurück nach London führte. Hier war der Hornist Bart Aerbeydt der kompetente Partner im musikalischen Dialog. Cencic fühlte sich in diesem höher notierten Stück hörbar heimisch, sang mit Aplomb und Verve und variierte das Da capo spannungsreich. Ein Werk Händels, Flavio. Re de´Langobardi, 1723 in London uraufgeführt, markierte auch den virtuosen Schlusspunkt des offiziellen Programms. Cencic hatte es 2023 bei seinem Festival Bayreuth Baroque inszeniert und selbst die Partie des Guido, von Senesino kreiert, gesungen. In dessen Arie „Rompo i lacci“ setzte Cencic energische Akzente, imponierte mit stupenden Koloraturgirlanden und schoss im Da capo effektvolle Raketentöne ab. Das Orchester sorgte mit seiner Affekt betonten Begleitung für große Wirkung, hatte darüber hinaus in zwei Stücken Gelegenheit, Abstecher nach Wien und Prag zu unternehmen. Für ersteren diente die Sinfonia G-Dur von Karl (oder Joseph?) Kohaut – beschwingt im Allegro assai, elegisch-sanft im Andante und hurtig eilend im Presto. In Böhmen war Josef Myslivecek einst gefeiert, bis der Erfolg ausblieb und er in Italien Karriere machte. Seine Sinfonie G-Dur ist anfangs von pastoraler Stimmung, findet aber im Prestissimo zu einem ausgelassenen Finale.

Zwei Arien von Johann Adolf Hasse, mit dessen Werk sich der Sänger seit langem beschäftigt, hatten nach Neapel und Dresden geführt. Tigrane wurde 1729 am Teatro San Bartolomeo von Napoli uraufgeführt. „Solca il mar“ des Titelhelden ist eine Gleichnis-Arie, welche die Gefahren des tobenden Meeres beschreibt. Entsprechend stürmisch ist der Gesangsduktus, entsprechend halsbrecherisch sind die Koloraturen. Nicht weniger glanzvoll meisterte der Solist die Arie des Aminta „Siam navi all´onde algenti“ aus L´Olimpiade, die 1756 am Dresdner Hoftheater zur Premiere kam. Nicht fehlen in der Auswahl durfte Nicola Antonio Porpora. Der große Konkurrent Händels in London brachte 1733 seine Arianna in Nasso heraus – vier Wochen vor der Arianna in Creta seines Rivalen. Cencic beeindruckte mit der getragenen Arie des Teseo „Nume che reggi il mare“. Effektvoller waren freilich die beiden Zugaben aus Händels Poro – „Vedrai con tuo periglio“ und „Senza procelle ancora si perde“. Den Titelhelden der Oper hatte bei der Uraufführung in London 1731 der berühmte Kastrat Senesino gesungen. Entsprechend hoch sind die virtuosen Ansprüche der beiden Arien und Cencic konnte damit seinen Auftritt glanzvoll krönen.

Das Eröffnungskonzert, dessen Mitwirkenden vom Publikum in der ausverkauften Friedenskirche begeistert gefeiert wurden, war ein stimmungsvoller Auftakt auf zwei Wochen Festspiele, die noch manche Rarität offerieren.

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Prinzipalin und Dirigentin Dortothée Oberlinger in Potsdam 2025/Foto Stefan Gloede

Liebeswahnsinn: Immer wieder bewundert man den Spürsinn und die Entdeckerfreude der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci mit ihrer Künstlerischen Leiterin Dorothee Oberlinger. In diesem Sommer wartete man mit einer besonderen Rarität auf – einem Werk des 1654 geborenen Komponisten Agostino Steffani, der in Hannover als Hofkapellmeister wirkte. Im Schlossopernhaus der Stadt wurde 1691 sein Orlando generoso uraufgeführt, der nun in der Pflanzenhalle der Orangerie als die diesjährige szenische Produktion der Festspiele erklang. Das Libretto von Ortensio Mauro fußt auf Ariostos Epos Orlando furioso und erzählt von Paaren, die sich nicht finden können. Da sind Ruggiero und Bradamante, deren Heirat der mächtige Magier Atlante verhindern will, sowie die chinesische Prinzessin Angelica, Tochter des Galafro, und ihr heimlicher Geliebter Medoro. In sie ist hoffnungslos auch Orlando verliebt, was den Titelhelden zunehmend in den Wahnsinn treibt. Das Stück ist voll von den in Barock-Opern üblichen Verwirrungen und Verstrickungen, was das Verständnis der Handlung nicht eben erleichtert.

Die deutsch-britische Regisseurin Jean Renshaw hat das Geschehen in die Gegenwart verlegt, jedes historische Kolorit und jeden exotischen Zauber vermieden. Dafür sind Smartphones und moderne Schusswaffen im Einsatz. Die spartanische, stimmungsarme Bühne des Ausstatters Alfred Peter zeigt zwischen zwei weißen Wänden mit je einer Tür, welche mit In und Out gekennzeichnet sind, einen Tisch, der zum Schauplatz brutaler Attacken wird. Dafür ist neben Galafro vor allem Brunello (Martin Dvorák) zuständig – ein Tänzer, der mit seiner Partnerin Melissa (Katharina Weidenhofer) auch für die Choreografie voller bizarrer  Körperverrenkungen zuständig war. Für diese tänzerischen Intermezzi dienten andere Kompositionen Steffanis – die Sonate da camera à 3  und Auszüge aus seiner Oper Niobe, regina di Tebe, welche 2010 an der Covent Garden Opera London eine glanzvolle Aufführung erlebte.

Steffanis „Orlando generoso“ in Potsdam 2025/Szene/Foto Stefan Gloede

Dorothee Oberlinger hat mit ihrer musikalischen Assistentin Olga Watts und der Regisseurin das Aufführungsmaterial für die gespielte Fassung erstellt. Sie dirigiert ihr ENSEMBLE 1700, das hinter der Spielfläche postiert ist und Steffanis vielfarbige Musik mit ihren herrlichen Duetten, den klagenden Arien und der reizvollen Instrumentation zum Klingen bringt. Tänzerisch beschwingt und mit federndem Rhythmus sind die Intermezzi besondere Höhepunkte der Aufführung.

Die exemplarische Besetzung verleiht der Produktion einen Ausnahmerang. Die Sänger in Uniformen, Business-Anzügen oder Abendkleidern, zunehmend verschmutzt oder blutverschmiert, agieren mit gespannter Intensität und bis an die Grenze gehender körperlicher Verausgabung. Mehr als die Regie tragen sie den über dreistündigen Abend mit ihrem darstellerischen Einsatz und dem expressiven Gesang. Der renommierte Countertenor Terry Wey als Titelheld konnte schon in dessen Auftrittsarie „In quest´alma“ den seelischen Konflikt der Figur plastisch umreißen und zudem mit bravourösen Koloraturgirlanden brillieren. Furios seine „Furien“-Arie, die vom Orchester mit spannenden Affekten begleitet wird, von starker Wirkung sein letztes, auftrumpfendes Duett mit Angelica, welches das Orchester mit stampfendem Rhythmus untermalt. Kontrastreich dazu gab er den zahlreichen Lamenti der Partie innige Empfindung und eine wunderbar schwebende Gesangslinie. In der Parade der Counter hinterließ auch der Däne Morten Grove Frandsen als Ruggiero einen glänzenden Eindruck. Die klangvolle Stimme harmonierte perfekt in den Duetten mit Bradamante und Angelica, bewältigte auch die vehemente „Gelosia“-Arie souverän. Der spanische Counter Gabriel Díaz als Galafro sang den Tyrannen mit gebührend reifer Stimme. Am Ende, wenn Bradamante und Ruggiero sich getrennt haben und seine Tochter mit Medoro fortgegangen ist, bleibt er verwirrt und allein zurück – eine zeitgemäße Deutung des lieto fine, die auch nicht der festlichen Musik mit dem Schlusschor „Amanti fortunati“ und der beschwingten Chaconne en rondeau entspricht.

Agostino Steffani/Gemälde von Ludovico Kapper/Wikipedia

Die exzellente Sopran-Riege wurde angeführt von der Französin Hélène Walter als Angelica, deren obertonreiche, innige Stimme die Figur eindrücklich profilierte. Ihr dramatisches Vermögen gestattete ihr auch beeindruckend extrovertierte Momente. Nicht nach stand ihr Shira Patchornik aus Israel als Bradamante mit exzessivem Engagement und totalem stimmlichem Einsatz. Fulminant ihre Attacke in der Arie „Troppo rapido“, berührend die Empfindsamkeit in „S´hò perduto ogni mio bene“. Von androgyner Erscheinung und ebensolchem Mezzo-Timbre war Natalia Kowalek eine ideale Interpretin für die Partie en travestie des Medoro. Auch ihre Arien  bewegten sich in extremen Gefühlszuständen und wurden mit entsprechend leidenschaftlichem, erregtem, rasendem Ausdruck sowie reicher Farbpalette interpretiert. Imponierende bassprofunde Töne brachte Sreten Manojlovic als zynischer Atlante ein. Sein gewaltiges stimmliches Potential gab den  Arien „Non voglio cedere“ und „Ombre del cieco abisso“ grandiose Wirkung. Am Ende der 2. Vorstellung am 24. 6. 2025 (nach der Premiere am Vorabend) feierte das Publikum das Ensemble anhaltend – dankbar für die Wiederentdeckung einer Rarität und beglückt über das musikalische Niveau. 

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Noch eine Sternstunde: Auch die zweite Opernproduktion im diesjährigen Festspielprogramm widmete sich mit Baldassare Galuppis Didone abbandonata einer Rarität. Der Stoff um das Liebespaar Dido und Aeneas ist mit dem Libretto von Metastasio (nach Vergils Aeneis) viele Male vertont worden, darunter von Porpora, Vinci, Hasse und Jomelli. Die bekanntester Version ist jene von Henry Purcell, die allerdings auf einem Libretto von Nahum Tate fußt. Metastasio schrieb seinen Text 1724 und bearbeitete ihn für den spanischen Hof in Madrid 1752 auf Bitten des Kastratenstars Farinelli neu. Auch Galuppi, dessen Urfassung 1740 in Modena ihre Premiere erlebte, stellte eine Neuvertonung vor, die am 28. 6. 2025 im Nikolaisaal in konzertanter Form als Version Madrid 1752 erklang.

Baldassare Galuppi/Wikipedia

Das Ensemble NEREYDAS musizierte unter seinem Gründer Ulises Illàn mit hinreißendem Elan, hoher musikantischer Kultur und reichem Farbspektrum. Markante  orchestrale Höhepunkte waren die einleitende dreiteilige Sinfonia mit dem lebhaften Presto, dem kantablen Andante und dem beschwingten Non tanto allegro, die pompöse Marcia und die stürmische Sinfonia im 3. Akt, die gleich einer battaglia vorüber fegt sowie die stürmische Sinfonia per l´incendio mit dem effektvollen Einsatz von Donnerblech und Windmaschine.

Wieder war eine exemplarische Besetzung zu erleben, die keine Schwachstelle aufwies und einige spektakuläre Interpreten offerierte. Deren Sensation war für mich der amerikanischen Tenor Joshua Sanders als maurischer König Iarba – eine veritable Idomeneo-Stimme mit kultiviertem Vortrag und vielfarbiger Klangpalette. Die furiose, vom Orchester vehement begleitete Arie im 1. Akt „Non ho pace“ zeigte seine auftrumpfende Attacke, wie auch die Arie „Fosca nube“ im 2. Akt einen fulminanten Schwung. Höhepunkt seiner Interpretation war die triumphale, von Trompeten begleitete Arie „Cadrà fra poco in cenere“ am Schluss, welche brausende Meereswogen. und tobende Stürme suggeriert. Und der Sänger erschien sogar ganz am Ende noch einmal als Meeresgott Nettuno, der mit seiner Arie „Tacete, o mie procelle“ die Oper feierlich beschließt.

Den bravourösesten Auftritt hatte der Sopranist Federico Fiorio als Enea zu absolvieren. Er ist kein Unbekannter in Potsdam, hatte er doch schon im Vorjahr in der Aufführung von Grauns Adriano (der gerade als CD erschienen ist) mitgewirkt. Bei Purcell ist die Rolle einem Bariton anvertraut, was eine männlichere Wirkung  evoziert, als das einer hohen, hellen Sopranstimme möglich ist. Aber die technischen Fertigkeiten des Sängers und sein bis in die Extremhöhe gerundeter Klang nötigten Bewunderung ab. Auf das Schönste entfaltete sich die Stimme in der klagenden Arie „Tormento il più crudele“ und Atem beraubend in der Aria di bravura „A trionfar mi chiama“. Pompös eingeleitet mit Pauken und wirbelnden Streicherfiguren, konnte der Sänger hier mit Koloraturen, staccati und Extremtönen in der Höhe ein Feuerwerk an Virtuosität entfachen. Prominentester Vertreter in der Solistenriege war der italienische Counter Filippo Mineccia als Osmida, Vertrauter der Königin Didone. Auch er kein Unbekannter in Potsdam wie bei vielen anderen internationalen Festivals, bedauerte man bei ihm am meisten die fehlende Szene, ist er doch ein engagierter Darsteller mit starker Aura und expressiver Gestik. Die klangvolle Stimme war schon in seiner Auftrittsarie „Tu mi scorgi“ zu vernehmen, und auch „Quando l´onda“ im 3. Akt imponierte durch den virilen Zugriff.

View of a scene from the opera „Didone abbandonata“ (Act I, Scene 9) by Metastasio and Galuppi, organised by Farinelli at the Coliseo del Buen Retiro Between 1754 and 1759, 1754 and 1759/ Ricordi Archivio Storica

In der Titelrolle ließ die französische Mezzosopranistin Natalie Pérez eine noble Stimme von hoher Kultur und schlankem Volumen hören. Die untere Lage wirkte gelegentlich etwas verhalten, aber der Vortrag war energisch und passioniert, was ihrer großen Arie „Son regina“ einen selbstbewussten Zuschnitt verlieh. Das wiegende Melos der Arie „Ah! non lasciarmi“ lag ihr besonders und beklemmende Wirkung erreichte sie mit ihrer finalen Arie „Vado… Ma dove?“, welche nach einem aufgewühlten Recitativo accompagnato den verwirrten Zustand der Königin aufzeigt.

Nicht weniger edel klang der Sopran von Alexandra Tarniceru als Didones Schwester Selene. Die Rumänin imponierte schon durch ihre hoheitsvolle Aura, was die edle Stimme von hoher Musikalität und feinem Gespür noch unterstrich. „Ardi per me“ im 2. Akt zeichnete sich durch den inbrünstigen Vortrag aus, „Io d´amore“ im 3. durch die schmerzliche Empfindung. Einem weiteren Sopran war die Partie (en travestie) des Araspe, Vertrauter Iarbas und verliebt in Selene, anvertraut. Die Italienerin Carlotta Colombo sang sie beherzt und mit frischem Ton. Die Aufführung, die dem Festspiel-Almanach dieses Jahres ein weiteres Ruhmesblatt hinzufügte, wurde vom Publikum enthusiastisch gefeiert (Foto oben Stefan Gloede). Bernd Hoppe

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 

 

Saint-Saens Oper „Lancêtre“

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Better today than yesterday? The Palazzetto Bru Zane’s series of recordings of the complete operas of Saint-Saëns, begun in 2012, now continues with the release of one of his most mysterious works. For L’Ancêtre, unlike Phryné or La Princesse jaune, is a score that the history of French music has stubbornly ignored and whose title says little about its subject matter. One never ceases to be surprised by opera houses’ general lack of interest in Saint-Saëns’s output for the theatre, even though his Danse macabre, his concertos for piano and cello and the Bacchanal from Samson et Dalila are constantly heard. Let us examine whether the quality of L’Ancêtre justifies its subsequent neglect.

Rather than proposing an answer to the question by means of musicological analysis, perhaps it would be preferable to give the music critics of our day a chance to speak, those journalists who hastened to express their views following the concert performance given in Monaco in October 2024, from which this recording derives. And let us see if today’s discourse matches the – thoroughly enthusiastic – reaction of those who were present at the world premiere (including Gabriel Fauré himself).

François Laurent (Diapason) went so far as to describe the opera as ‘a marvel’ in which ‘nothing drags, the action flows. […] Old Saint- Saëns seeks to astonish his audience at every turn’. Laurent Bury (Classica) called it a ‘brief but powerful piece’, with ‘well-characterised protagonists’ and a libretto that is ‘wholly effective in its tragic character’. For Damien Dutilleul (Olyrix), L’Ancêtre is ‘musically very rich. It is the work of an audacious, mature composer. Several numbers, especially ensembles and choruses, are particularly striking’. Jany Campello (Resmusica) appreciated the ‘concision’ and ‘luxuriance’ of a score that ‘unwinds a dramatic thread of rare tension, particularly from Act Two onwards. […] The variety of effects and orchestral colours, the absence of longueurs, and the vitality of his music prevent boredom, and offer moments of great beauty […] right up to a vocal quartet of overwhelming lyricism’. According to Clément Mariage (Forum Opéra), the music is particularly ‘inspired’, contriving ‘highly successful dramatic episodes. […] What’s more, the orchestration of the work is highly meticulous’, especially the final ‘passionate lyrical outpouring, staggering in its sensuality and pain’. Finally, Laurent Bury (again, but this time writing for Concertclassic) praises ‘a concision and freedom rare in Saint-Saëns, who does not feel obliged to adopt the austere drapery of antiquity and allows himself more flexible forms’; the critic confessed himself ‘struck by certain motifs whose dramatic efficacy almost seems to prefigure the film music of Bernard Herrmann’.

What can we conclude from this chorus of praise, whose unanimity even surpasses the reviews of the premiere (which one might well put down to a polite esteem for the elderly Saint-Saëns)? Firstly, that the tireless work of institutions that go out prospecting for buried treasure can bear fruit and is not in vain. But also that such dormant works must be championed with enthusiasm and talent by artists conscious of their responsibility in this mission of resurrection. For all the aforementioned commentators praised the quality of a team of performers fully committed to the work’s revival. Which is why we would like to pay heartfelt tribute to the instrumentalists, conductor and singers who strove to give L’Ancêtre a new lease of life. For if the score is the prerequisite for displaying the artist’s talent, it is the latter’s sensitivity and exacting standards that transcend that score and raise it to new heights. And, finally, we wish to put in a word for the enthusiasm of our collaboration with the Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo and its conductor Kazuki Yamada, a joint effort initiated and sustained thanks to Didier de Cottignies, to whom we express our warm gratitude for having made this adventure possible. Thanks to him, from now on it will be a pleasure to listen to our ancestors. Alexandre Dratwicki (Palazzetto Bru Zane)

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Camille Saint-Saens (1835-1921): L’Ancetre (Deluxe-Ausgabe im Hardcover-Buch); Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada

2 CDs; Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada/Bru Zane

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Eine Besprechung folgt zeitnah/ g.h.

Ambitioniert in die Sackgasse

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Die einheimische Presse feierte die Neuproduktion von Les contes d´Hoffmann bei den Salzburger Festspielen 2024 als großes künstlerisches Ereignis, und auch das Premierenpublikum zeigte sich angetan von der Regiearbeit von Mariame Clément und dem Dirigat von Marc Minkowski. Nun gibt es die Produktion als Bluray und DVD und fordert dem Betrachter bzw. Hörer ein Höchstmaß an Geduld ab. Das von Offenbach nicht vollendete und vielen Verschlimmbesserungen und Vervollständigungen unterworfene Werk wurde  zuletzt 2003 bei den Salzburger Festspielen gegeben, davor waren über zwanzig Jahre vergangen, bis man es hier hatte erleben dürfen, und die Erwartungen waren entsprechend hoch gespannt, besonders weil man wie inzwischen allüberall „die weibliche Perspektive“ erwartete. Gewählt worden war die Rezitativfassung von Michael Kaye und Jean-Christoph Keck.

Nun ist die Handlung des Werks zwar keine verworrene, aber eine doch recht komplizierte mit einer Rahmenhandlung, innerhalb derer sich drei Episoden, des Dichters Suche nach der wahren Liebe darstellend, abspielen, während im Epilog deutlich wird, dass Hoffmann sich selbst um die wahre Liebe, die Stellas, durch seine Trunksucht gebracht, sie an den ewigen Gegenspieler verloren hat.

Die drei Episoden führen Hoffmann in das Berlin seiner Zeit, in dem ihn Doktor Miracle mit der Puppe Olympia verzaubert,  nach Venedig zur Kurtisane Giulietta, wo er auf den Romantiker Schlemil trifft, und in das Haus der Sängerin Antonia, die von einer tödlichen Krankheit bedroht ist. Mehr Abwechslung, mehr interessante Milieus  können nicht sein, doch die Regie macht alles zunichte, indem sie aus dem Dichter Hofmann einen Regisseur macht, der allerdings oft mit einer Kamera, vor allem aber mit einem Einkaufswagen voller Filmrollen, aber auch Schnapsflaschen über die Einheitsbühne von Julia Hansen schlurft, das nützliche Gerät sogar zur Schlafstätte umzufunktionieren weiß, der Bösewicht sein Filmproduzent ist.  Da der Tenor aber nicht nur der Regisseur Hoffmann, sondern auch dieser selbst in seinen Episodenfilmen, die er umgeben von einer Überfülle umher wieselnden Personals dreht, ist,  singt der Regisseur, während der stumme Hoffmann in den Episoden zwar hübsch anzusehen, aber halt stumm ist. Trostlos ist die Optik, denn vor einer grauen Betonwand gibt es nur kleine Szenen-Ausschnitte, so aus dem Musikzimmer der Antonia, ganz und gar trostlos ist die Kulisse für den Venedig-Akt, der durch kümmerliche Leuchtstäbe dargestellt wird. Nicht nur für  die übervölkerte potthässliche Bühne, sondern auch für die ebensolchen Kostüme  ist Julia Hansen verantwortlich, die offensichtlich ein Faible für untragbare BHs hat, die auch mal explodieren können, oft gerade  von einer Walküre abgelegt zu sein scheinen und wie fast alle Kostüme höchst unkleidsam bis der Lächerlichkeit anheimgebend gegenüber dem Sopran sind. Ausgemerzt ist alles, was dem Stück seine lokale und zeitliche Gebundenheit und Farbigkeit verlieh, angefangen vom Weinkeller Lutters, Lächerliches hinzugefügt wie das Komponieren der Barcarole auf einer öden Parkbank bis hin zum geschmacklosen Auftischen von  Spaghetti mit Tomatensoße plus Parmesan und Schlagrahm.  Das Schicksal des unglücklichen Poeten geht unter in einem Wust von Darstelllern, Nebenhandlungen, witzig sein sollenden Einfällen. Der Verzicht auf viele dieser Einfälle wäre der vom Grundgedanken her gar nicht so abwegigen Regieidee dienlich gewesen.

Marc Minkowski steht Jacques Offenbach, so sollte man meinen, durchaus nahe, hat für diesen Hofmann aber nicht die notwendige leichte Hand, lastet mit den Wienern eher schwer auf der Partitur als sie aufblühen, ihre Eleganz entfalten, ihre Straffheit Triumphe feiern zu lassen. In den Achtzigern war Placido Domingo, gleichzeitig und danach Neil Shikoff nicht nur in Salzburg der Hoffmann vom Dienst. Benjamin Bernheim ist natürlich schon einmal als Muttersprachler prädestiniert für die Partie, geht aber im Inszenierungswust häufig visuell unter und wirkt insgesamt wie von recht leichter vokaler Statur, nur wenn er nicht gleichzeitig szenisch heftig beansprucht wird, wird man gewahr, was vokal in ihm steckt. Wunderbar in jeder Hinsicht und sich in jeder noch so umtriebigen Szene visuell wie vokal behauptend ist Kate Lindsley als Muse. Kathryn Lewek singt alle vier Frauenrollen, ist in keiner ein Ausfall und doch nicht die Idealbesetzung, da nicht einmal im heimischen Koloratursopranfach Außerordentliches leistend. Recht eintönig, wenn auch machtvoll gebietend gibt Christian Van Horn die Bösewichter, auf deren aufsehenerregende Optik man viel Aufmerksamkeit verschwendet hatte. Marc Mauillon kann dem Couplet des Frantz nicht viel Hörenswertes entlocken, eindrucksvoll ist die Stimme der Mutter mit der von Géraldine Chauvet.

Die Aufnahme ist ein trauriges Beispiel dafür, dass auch noch so viel szenische Masse nicht für musikalische Klasse garantieren kann, im Gegenteil (Unitel 811904). Ingrid Wanja

Gemischtwarenladen

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Lumina (die Leuchtende, Lichter) heißt das neue Recital von Samuel Mariño bei DECCA, das im Oktober 2024 in Berlin und im Dezember desselben Jahres in London aufgenommen wurde (487 1226). Über diese Neuaufnahme werden sich Liebhaber der bemerkenswerten Stimme des Sopranisten aus Venezuela freuen, doch müssen sie eine Programmauswahl hinnehmen, die einem Gemischtwarenladen gleichkommt. Sie reicht vom Barock über die Romantik bis zum Piaf-Chanson. Der Einstieg mit Almirenas Arie „Lascia ch´io pianga“ aus Händels Rinaldo ist erwartungsgemäß, wenn das Tempo auch extrem verlangsamt wirkt. Die Stimme klingt keusch, was auf fast jede Nummer zutrifft und damit eine gewisse Einförmigkeit evoziert. Schon der nächste Titel, Schuberts „Ave Maria“, scheint fragwürdig, zumal das Arrangement von Chris Hazell für die von Ben Palmer geleitete Covent Garden Sinfonia geschmäcklerisch wirkt in seinem wolkigen Sound. Gänzlich unerwartet erklingt Marguerite Monnots „Hymne à l´amour“, unsterblich durch die Interpretation von Edith Piaf. Muss dieser Ausflug in die Unterhaltungsmusik sein? Wenigstens bleibt die Begleitung von Jonathan Ware am Klavier im schlichten Bereich. Auch Rusalkas Lied an den Mond aus Dvoráks Oper ist eine befremdliche Wahl trotz der des einfühlsamen Vortrags und melancholischen Stimmung, welche der Interpret erzeugt, ebenso Liszts „Oh! quand je dors“, das der Sänger mit der Begleitung von Ware übermäßig aufrauschen lässt. Mit Caccinis träumerisch vorgetragenem „Amarilli, mia bella“ geht es zurück in den Frühbarock, mit „Ombra mai fu“ aus Serse erklingt eine der berühmtesten Arien Händels, leider in einem schwammigen Arrangement. Aber Mariños Stimme ist schwebend, und und ausgeglichen.

Die letzten Titel der Programmauswahl sind dann wieder Außenseiter – Hahns „À Chloris“, Canteloubes „Bailèro“ aus den Chants d´Auvergne in voluminösem Klang, Strauss´ Lied „Morgen!“, von Ware am Flügel zauberisch intoniert, aber von Mariño mit zu kindlichem Klang angestimmt, das irische Traditional „The Last Rose of Summer“ in traumversunkener Wiedergabe und Rachmaninoffs „Vocalise“, in der er die Stimme mühelos strömen lässt. Eine dramaturgische Konzeption mag man in dieser Auswahl nicht erkennen, sie scheint eher dem „Best of“ verpflichtet.

So verständlich das Bemühen des Sängers um eine Repertoire-Erweiterung ins lyrische Fach anmutet – Mariño sollte sich auf das Repertoire konzentrieren, in welchem er durch seine Auftritte bei internationalen Produktionen und Festivals Aufsehen erregt hat – den Barock. Mit den Werken von Porpora, Vinci, Giacomelli, Vivaldi, Graun u.a. gibt es ein reiches Bestätigungsfeld für den Sänger mit seiner Stimme. Bernd Hoppe

Gladys Kuchta

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Bei youtube gibts – in grauer Qualität, aber immerhin – den wunderbaren alten TV-Film der Elektra (unter Leopold Ludwig mit Regina Resnik, Ingrid Bjoner, Helmut Melchert, Hans Sotin und einer ganzen Garde von ersten Sängern jener Zeit),  1968 in der Regie von Joachim Hess im Deutschen Fernsehen und danach eine Zeitlkang als Gratisstream der Hamburgischen Staatsoper gezeigt. Den Soundtrack gab´s mal bei Ponto (wie auch eine 3-CD-Box mit Live-Ausschnitten). Aber anders als andere Opern aus dieser Hamburger Serie ist Elektra nie als DVD herausgegeben worden – das selbe Schicksal teilen die Arabella mit Arleen Saunders und die Martha unter Stein. Elektra ist die Berliner Hochdramatische Gladys Kuchta.

Und bei erneutem Anschauen/Anhören verbeuge ich mich einmal mehr vor meiner Isolde, Turandot, Leonore, Senta oder Brünnhilde und eben Elektra meiner Lehrjahre an der Deutschen Oper Berlin.  Damals eher schnöde ihre Dauerpräsenz beklagend, bin ich heute demütig und preise sie als eine der wirklich wichtigen Nachkriegsstimmen, ohne die das große Repertoire in Deutschland und vor allem an der Deutschen Oper Berlin nicht hätte stattfinden können. Ich muss gestehen, wir haben damals im 2. Rang uns über die gewisse Schärfe der Stimme beklagt, auch über ihr nicht immer so liebenswürdiges und etwas nasales Timbre. Und eine Hollywood-Schönheit war sie nicht. Aber mit heutigen Ohren gehört, staune ich über ihr ungeheures Engagement, über ihre Emphase (Schluss Elektra und vor allem in ihrer Glanzpartie der Isolde), über ihr schieres Beharrungsvermögen (neben dem stentoralen Beirer damals keine kleine Leistung, der aber ihre letzte Isolde an der DOB nicht schmälern konnte). Sie war eine Bedeutende, wie ich heute reumütig und bewundernd erkenne.

Gladys Kuchta in „Elektra“/ ARD/Produziert von Polyphon Film- und Fernsehgesellschaft für NDR © Polyphon 1968; Regie: Joachim Hess; Ausstattung: Herbert Kirchhoff/ Screenshot 

Die Kuchta war der Inbegriff der tüchtigen Amerikanerin an den deutschen Bühnen jener Jahre. Ihre Karriere reichte von Berlin und Kassel, Hamburg bis nach Buenos Aires, mit Umwegen u. a. über London, die Met und San Francisco. Auch sie hatte das Pech, im immer größer werdenden Schatten der Nilsson zu stehen, neben der sie manche Sieglinde singen musste, während sie an anderen Häusern eben in den großen Rollen ihres Fachs glänzen konnte (ein Lebenslauf findet sich am Ende dieses Beitrags).

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Ihre Dokumente auf dem offiziellen Markt sind wenige (der „berühmte“ Fidelio unter Bamberger von 1965/ Concert Hall/ Nonesuch, die Giulietta im quergeschnittenen, deutschen Hoffmann unter Kraus bei DG jener Jahre, die Sopranpartie in Beethovens Neunter/ dto. bei Concert Hall und anderen sowie bei DG in Kagels Staatstheater 1971).

Live ist sie besser repräsentiert, aber nur für Sammler, und die meisten Dokumente sind auch schwer zu ergattern (so als Senta und Isolde neben Beirer in Buenos Aires 1964, ebendort auch als Turandot neben der jungen Caballé 1965 sowie die Brünnhilde im dortigen Ring ebenfalls 1964; vom Berliner Stammhaus DOB gibt es Zeugnisse ihrer Lady Macbeth neben William Dooley 1963, Isolde neben Beirer 1964 und mehr; aus Bayreuth ist sie Sammlern ein Begriff als GötterdämmerungsBrünnhilde 1968 und 1969 sowie bei youtube Ausschnitte aus dem letzten Akt Götterdämmerung unter Lorin Maazel 1971 im sehr eindrucksvollen Konzert optisch ; als Abigaille trifft man sie in San Francisco 1964 an; und an der Met ist sie mit der Sieglinde (neben Vickers und Nilsson 1961) auch Brünnhilde, sowie als Donna Anna neben Peerce 1963 belegt. Der Mabeth von der DOB mit William Dooley ist gerade wieder aufgetaucht. Ganz sicher habe ich einige Auftritte ausgelassen, mea culpa.

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Diese eindrucksvolle Wieder-Begegnung mit Gladys Kuchta als Elektra nun wollen wir mit einem Artikel würdigen.Also bringen wir noch einmal ein historisches Porträt von ihr, das wir 2017 bereits veröffentlichten und das  Peter Maria Katona, seit 1983 machtvoller Besetzungschef des Royal Opera House Covent Garden, für unsere Kollegen der deutschen Opernzeitschrift Opernwelt 1967 in Berlin geführt hatte und das sowohl seine Eindrücke von ihr auf der Bühne beschreibt, wie auch die Künstlerin selbst zu Wort kommen lässt. Dank an beide, den Autor wie die OpernweltG. H.

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Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Ihre Brünnhilde in Sellners neuem Berliner Ring (von 1967/ G. H.) ist wieder ein vorläufiger Höhe­punkt in der Karriere dieser sympathischen Sängerin und rechten Vollblutkünstlerin, die in den letzten Jahren in einer beständigen Entwicklung ganz in das große Fach des schweren Wagner-Soprans hineingewachsen ist. Beständigkeit – das scheint überhaupt einer der Momente zu sein, die für die Lauf­bahn von Gladys Kuchta leitend waren. Sie lässt sich nicht von der allgemeinen Hetze des Berufes mitreißen – obwohl sie nun eine der höchst raren echten „Hochdramatischen“ ist, die heute gewiss an einer Hand abzuzählen sind.

Natürlich singt sie mittlerweile an allen gro­ßen Häusern der Alten und der Neuen Welt, doch sie ist auch nunmehr zehn Jahre ihrer Berliner Oper treu geblieben. Während so manchem in den letzten Jahren Berlin bloß als Sprungbrett für dann recht unruhige und wechselhafte Karrieren diente. Gladys Kuchta weiß –  und sie betont es gerne -, was ein künstlerisches Domizil, eine kontinuierliche Arbeit mit wesentlichen Regisseuren an ein und demselben Haus bedeutet.

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

Diese Einstellung verrät auch unschwer ihr sehr folgerichtiger Aufstieg selbst: Geboren in Massachusetts und „solange sie sich besinnen kann“ zum Singen entschlossen, studierte sie fünf Jahre in New York und kam dann 1952 mit einem Fulbright-Stipendium nach Italien. Ein halber Zufall ergab es, dass sie schon wenige Wochen später von Tullio Serafin für den Don Giovanni nach Florenz geholt wurde (sie sang damals die Elvira und, pikanterweise, Birgit Nilsson die An­na).

Die Zeit in der Provinz – die fünf Jahre in Kassel zeigen es – hat sie keineswegs als raschen „Absprung“ nach oben betrachtet, sondern als ganz entscheidende und in Ruhe genutzte Vorbereitung: „Natürlich – manche Karrieren gehen gleich kurz und steil hinauf und werden als Sensation aufgemacht, doch dann geht es meist ebenso so steil wieder herunter, nur dann spricht niemand mehr davon. Es hat mir, gerade als Amerikanerin, die in Amerika und Italien im Grunde nur die Stagione kannte, sehr gut getan, hier in Deutschland in einem Ensemble und unter erfahrenen Regisseuren zu wachsen. Das ist eine absolute Notwendigkeit, schon um über­haupt erst einmal Sicherheit und solide Grundlagen zu gewinnen. Nur so kann sinn­voll gearbeitet werden, kann ein Sänger und eine Persönlichkeit sich entwickeln. Das ist ja genau der Punkt, warum es fast überhaupt keine Heldenstimmen mehr gibt und alles sich wundert, warum zum Beispiel keine Siegfried-Tenöre nachwachsen – Leute wollen sich einfach nicht in Ruhe entwickeln, sondern meinen, gar schon als schwere Hel­den auf die Welt zu kommen. Und bis sie kaum dreißig sind, ist das Material dann verbraucht, ehe es sich richtig entfalten konnte. Ich habe selbst ganz lyrisch angefan­gen und nichts forciert.“

Erst 1961, so erzählt sie, fragte Professor Seefehlner in Berlin sie, warum sie noch nicht das schwere Fach sän­ge. „Nun, ich habe gesagt: Man hat mir noch keine Chance gegeben. Und als wir dann da­nach über die Elektra-Neuinszenierung sprachen, in der ich die Chrysothemis singen sollte, sagte ich einfach: Lassen Sie mich doch die Elektra singen.  Und so kam es dann eben.“

as Lady Macbeth mit William Dooley/Buhs/DOB

Als Lady Macbeth mit William Dooley and der DOB/Buhs/DOB

Sie ist ein Star ohne Allüren, nennt als Hob­by sehr hausfrauliche Neigungen und ist eine charmante Erzählerin, der man es so kaum glauben würde, dass ihr auf der Bühne die wilden Elektra-Figuren weitaus lieber sind als die freundlich-damenhaften. „Ich habe Mozart immer gerne gesungen, aber auch nicht zuviel – nach einiger Zeit fühle ich mich da eingeengt, es ist mir zu wenig Spielraum im Temperament. Die Gräfin etwa möchte ich nie wieder singen – stimm­lich ist das gar kein Problem, aber im Spiel“ – sie musste so sehr Dame sein – „und das widerstrebte mir immer.“ Es klingt wohl scherzhaft, aber man kann sie durchaus ver­stehen, wenn man gerade ihre Elektra gese­hen hat: Sie hat zum Stimmfach auch das fu­riose Temperament, das sie nicht so gerne zurückdrängen lässt.

Sie probt ausgesprochen gerne – „weil man in jeder neuen Arbeit an einer Partie auch immer wieder etwas Neues herausfinden und sich deutlich machen kann“. Die Gepflogen­heit, bis in die letzten Proben hinein nur zu markieren oder gar im Play-back-Verfahren nur stumm von einer Position in die andere zu agieren, liegt ihr gar nicht: „Eine Partie muss als Ganzes entstehen und nicht aus Stücken. Gestik, Aktion und voller stimm­licher Einsatz müssen organisch zusammen­passen und auch so immer wieder geprobt werden.“

als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

Als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

So wird schon deutlich – obwohl sie gern und viel reist -, dass sie doch das Ideal kon­zentrierter Ensemblearbeit ganz für sich angenommen hat und daran „deutscher als die Deutschen“ festhalten möchte. „Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich in Deutschland jetzt auch schon Stagione-Gewohnheiten aus­breiten, und das gerade von einigen ent­scheidenden Theatermännern auch noch ge­fördert wird. Das ist kein gesunder Nähr­boden für das Theater. Aber das kommt auch durch den Einfluss der viel schnelllebigeren Massenmedien; und besonders die Schall­platte tut ein Übriges. Gewiss: Die Schallplatte ist großartig, weil sie Musik zu Leuten bringt, die sonst nicht damit in Berührung kämen. Auf der anderen Seite aber vermittelt sie ein ganz falsches Bild, eine falsche Perfektion, die im Theater nie und nimmer zu erreichen ist. Und mancher Künstler setzt sich selbst im Studio einen Maßstab, vor dem er auf der Bühne glatt versagt.“

Nach den Dirigenten gefragt, unter denen sie gesungen hat, zählt sie eigentlich die meisten großen Namen auf, die heute zu nennen sind, und berichtet von manchem für sie bestim-menden Erlebnis. Eines allerdings ist beson­ders erzählenswert, zumal da es ihr nicht nur künstlerisch einen unvergesslichen Eindruck gemacht hat, sondern auch den Reiz des Ku­riosen besitzt. Und zwar war es während ihrer New Yorker Studienzeit, als für eine Benefiz-Aufführung von Verdis Requiem, das Arturo Toscanini leitete, ein Chor von hundertzwanzig Solisten (!) zusammenge­stellt wurde – überwiegend Studenten und Kirchensänger. „Die Auswahl war schon sehr streng. Ich zählte dann sogar zu den vier Solosopranen des Kyrie. Grace Hoffman war übrigens auch dabei. Als wir zur ersten Probe kamen, hat wohl kaum die Hälfte von uns gesungen, so fasziniert waren wir von Toscaninis unerhört überlegener Persön­lichkeit und Ausstrahlung. Aber auch so einen Chorklang habe ich nie wieder gehört – das Rex tremendae, gesungen von dreißig aus­gesucht schönen Bass-Stimmen, hörte sich ein­fach unbeschreiblich an. Wir alle sangen übri­gens umsonst – auch die Solisten, darunter Di Stefano und Siepi.“ Ihr Bericht lässt sich nachprüfen – das Konzert wurde damals live mitgeschnitten und kam später als (noch heute im Katalog stehende) Plattenaufnahme heraus. Unter diesen Umständen kam es also zu Gladys Kuchtas erster Platte!

Gladys Kuchta als Färbersfrau mit Grace Hoffman in Berlin/Buhs/DOB

Doch nach dem Blick in die Vergangenheit – die Pläne für die Zukunft? „Nun, zu­nächst einmal Brünnhilden und kein Ende. Ein Ring nach dem anderen.“ Und auch sonst: Wagner über Wagner, wäre hinzuzu­fügen. So sehr sie da auch in ihrem Element ist: Interessante neue Rollen würden sie na­türlich besonders reizen, zumal in dem schwe­ren Fach eben relativ wenig Gelegenheit dazu gegeben ist. Sie würde gern moderne Partien singen – Liebermanns Penelope steht zum Beispiel auf dem Wunschzettel». Oder so etwas wie eine „Lulu für dramatischen So­pran“. Überhaupt ist sie aller modernen Mu­sik erstaunlich zugetan – von der Ansicht, die moderne Oper befinde sich in einer star­ken Krise oder nähere sich einem toten Grenzbereich, will sie gar nichts wissen. „Ich habe ein altes Lexikon von 1827. Da steht über Beethoven zu lesen: Er geht bis an die Gren­ze des Möglichen. Wo gibt es also absolute Grenzen? Wer will denn wissen, ob nicht all das, was heute schon als Grenze betrachtet werden soll, in fünfzig oder hundert Jahren einmal als Neuanfang gewertet werden wird? Ich würde nie eine Rolle ablehnen aus Be­quemlichkeit oder weil ich sie selbst nicht gleich begreife. Es müsste aber natürlich etwas sein, was mich zu singen und darzustellen wirklich reizt – wie eben die Penelope – und was nicht der Stimme schadet. Die Marie im Wozzeck habe ich zum Beispiel in Kassel ja gesungen – das war allerdings eine für die Stimme äußerst gefährliche Partie, die ich auch nicht mehr singen möchte. Ich sollte sie ja auch an der Met machen, aber das habe ich abgelehnt. Wenn man diese Rolle so sin­gen soll, wie sie im Notentext dasteht, ohne es sich bequem zu machen, und gleichzeitig mit allem Einsatz und Temperament – das zerreißt auf die Dauer wirklich die Stimme.“

Gerade dieses Beispiel zeigt vielleicht am klarsten, wie präzise und bewusst sie arbeiten will, eben „genau so zu singen, wie es da­steht“. Sie macht sich niemals etwas leicht. Ih­re Partien sind – und das verdient hervor­gehoben zu werden, gerade weil es nicht die Regel ist – musikalisch bis ins kleinste De­tail ausgearbeitet und gegenwärtig. Jede Ak­zentuierung, dynamische Werte und Abstu­fungen, die (besonders im italienischen Fach) gerne mit Sorglosigkeit übergangen werden, realisiert sie mit ganz auffälliger und er­staunlicher Konsequenz. Diese zunächst vom rein musikalischen ausgehende Ausformung ist dann eine denkbar sichere Basis für die dramatische Realisierung. In wirklich emi­nenter Weise verbindet sich die vorbildlich balancierte Gesangslinie – ohne je ins Grelle, Scharfe zu geraten – mit starker dramati­scher Projektion, fern von allem kalten, „keimfreien“ Glanz. Und dann eben natür­lich: Gladys Kuchta hat ein geradezu erup­tives Bühnentemperament, und ihre Lieb­lingsrollen, die ihr besondere Gelegenheit geben, dies zur Geltung kommen zu lassen – also Elektra, die Färberin, Isolde und Brünnhilde -, sind gleichzeitig nicht zufäl­lig auch ihre hervorragendsten Leistungen.

Ihre Elektra hat vom Auftrittsmonolog bis hin zur Ekstase des Schlusses eine ständig zu­nehmende intensive Gewalt. Dabei breitet sie schon in dem ersten Monolog die ganze Ge­spanntheit der Figur aus, mit einer expressi­ven stimmlichen Vehemenz, die normaler­weise schon den Verbrauch der rein physi­schen Möglichkeiten bedeuten müsste, doch der Kuchta stehen, und das gilt generell, im­mer noch außerordentliche Steigerungen zur Verfügung. Ich habe eigentlich nie entdecken können, dass sie sich in irgendwelchen Passa­gen einmal ausruht, „auf halbe Kraft schal­tet“, was ja durchaus legitim wäre.

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als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Ihre wichtigsten Rollen, mit denen sie zwischen Hamburg und Rom ein ebenso begehrter Gast ist wie etwa an der Met und in Buenos Aires, umfassen außer dem ganzen Wagner-Fach die großen dramatischen Partien: Turandot, Lady Macbeth, Ariadne, Fidelio und auch noch die Verdi-Amelia, Tosca, Donna Anna. Zwei seien hier noch herausgehoben: die Färberin in der Frau ohne Schatten und die Götterdämmerung-Brünnhilde. Beide Male verlangt in diesen Rollen der Mittelakt dramatische Ausbrüche bis an die Grenze des Möglichen. Die lyrische Linie, die dann das Duett des dritten Aktes der Färberin abver­langt, ist eine kaum lösbare Aufgabe, doch gerade diese Stelle ließ Gladys Kuchta beide Male, wie ich sie sah, zum stärksten gesang­lichen Eindruck der Berliner Aufführung werden, die ja auch sonst wahrlich an sängerischen Höhepunkten nicht arm war. Vor kurzem schließlich die Götterdämmerung: Nach der exzessiven Dramatik von Eid und Racheschwur sang sie die „Starken Scheite“ mit einer herrlichen inneren Gelassenheit und stimmlichen Ruhe, die kein Zeichen vorheriger Beanspruchung verriet. Die kantablen, leisen Stellen dieses Schlussgesanges (vor allem die Anrufung „O ihr, der Eide ewiger Hüter!“) kamen mit einer fast liedhaften Lauterkeit des Tones, die ebenso im szenisch-dramatischen Ausdruckswert wie als persönliche Lei­stung und menschliche Äußerung zutiefst be­wegend erschien. Peter Maria Katona

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als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

Noch kurz ein Blick in das tüchtige Wikipedia mit Dank: Gladys Kuchta (* 16. Juni 1915 in Chikopee, Massachusetts; † 7. Oktober 1998 in Hamburg) war eine US-amerikanische Opernsängerin (Sopran). Ihre Familie stammte aus Polen. Sie absolvierte ihre Gesangsausbildung an der Mannes School sowie an der Juilliard School of Music in New York. Eine ihrer Gesangspädagoginnen war Zinaida Lisitchkina. Anfang der 1950er Jahre setzte sie ihre Gesangsausbildung in Italien fort, wo sie 1952 in Florenz als Donna Elvira in der Oper Don Giovanni debütierte. Ein Jahr später übernahm sie ein Engagement am Stadttheater von Flensburg. Von 1954 bis 1958 gehörte sie zum Ensemble des Staatstheater Kassel. Anschließend war sie festes Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin. Dort gab die Künstlerin, einen Tag nach ihrem 60. Geburtstag, ihre Abschiedsvorstellung, als Isolde in Tristan und Isolde.

Gladys Kuchta sang auf den großen Opernbühnen dieser Welt u. a. in Wien, London, Dresden, Düsseldorf, Florenz, Stuttgart, München, Bayreuth, San Francisco, Buenos Aires, Edinburgh, Hamburg, Rom, New York, Stockholm, Paris etc. Dabei arbeitete sie mit den großen Dirigenten der Zeit zusammen, allen voran Karl Böhm, Herbert von Karajan, Lorin Maazel und Leopold Ludwig. Die Sopranistin wirkte 1968 an der ersten Studio-Operngesamtproduktion in Farbe für das Fernsehen mit. Sie verkörperte die Elektra in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss. Ein weiterer Höhepunkt ihrer internationalen Karriere war das Gastspiel der Deutschen Oper Berlin 1963 in Tokyo. Dort sang sie die erste Isolde im asiatischen Raum.

Neben ihrer Bühnenpräsenz war die Künstlerin weltweit als Lied- und Konzertsängerin engagiert. Ferner war sie als Gesangspädagogin an der Folkwang-Schule in Essen tätig. Zu ihren Schülern gehören Albert Dohmen, Hans-Peter König, Andreas Förster, Vuokko Kekäläinen u. a. m.

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Wir danken der Opernwelt (und dort besonders der ehemaligen Archivarin Andrea Müller für ihre Grabungen im Archiv) für die Genehmigung zum Nachdruck dieses Artikels, der eben dort in der Nummer 8/1967 und bei uns 2017 erstmals erschien. Der Autor Peter Katona ist berühmt als casting director des Royal Opera Hauses Covent Garden, und er wird sein Jugendwerk sicher mit einem Lächeln noch einmal sehen. Dank geht auch an die wie stets liebenswürdige Pressefrau Bettina Raeder damals von der Deutschen Oper, die die Fotos von Ilse Buhs heraussuchte und überhaupt für uns Berliner Journalisten unvergessen ist.  G. H.

In Bild und Ton

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Die Veröffentlichungen des französischen Labels CVS sind stets hochwertig und informativ ausgestattet, doch die Neuaufnahme von Jean-Baptiste Lullys Atys ist eine  besonders aufwändige Ausgabe mit zwei CDs, einer DVD und einer Blu-Ray (CVS113). Das Cover verzeichnet Leonardo García-Alarcón als Dirigenten und Angelin Preljocaj als Regisseur und Choreografen – eine Zusammenarbeit auf exzeptionellem Niveau. Der argentinische Dirigent leitet die  von ihm 2005 gegründete Cappella Mediterranea, der französische Choreograf gründete 1984 seine eigene Compagnie, arbeitet hier aber mit dem Ballet du Grand Théâtre de Genève zusammen.

Lullys Tragédie lirique wurde 1676 in Paris uraufgeführt und sogleich als „die Oper des Königs“ eingestuft – so hoch schätzte der Monarch das Werk. Es erzählt von der Liebe der Göttin Cybele zum Jüngling Atys, der die Nymphe Sangaride liebt. Deren Hochzeit mit dem phrygischen König  Célénus, einem Freund von Atys, steht bevor. Atys unterbricht die Hochzeitsfeier und flieht mit Sangaride. Cybele ruft aus Rache die Furie Alecton herbei, die Atys verhext. In Wahn hält er Sangaride für ein Ungeheuer und tötet sie. Wieder bei Sinnen, nimmt er sich das Leben und wird von Cybele in eine Pinie verwandelt.

Preljocaj inszeniert die Handlung im März 2022 in der Opéra Royal de Versailles in einer monochromen Optik. Die Bühne von Prune Nourry wird dominiert von einer hellgrauen archaischen Mauer im Hintergrund. Auch die Kostüme von Jeanne Vicérial werden von grauen Farben beherrscht, ergänzt um dunkelblaue und schwarze Töne.

Der amerikanische Tenor Matthew Newlin, dem Berliner Publikum als Tenor in der Winterreise beim Staatsballett erinnerlich, profiliert im mausgrauen Jogging-Anzug mit Kapuze die Titelrolle eindrucksvoll mit expressiver Stimme und hohem darstellerischem Engagement. Wie auch die anderen Sänger hat ihn der Regisseur/Choreograf zu erstaunlichen körperlichen Aktionen befähigt. Eine furiose Cybèle gibt Giuseppina Bridelli mit strengem Sopran, auch sie bewunderungswürdig im tänzerischen Gestus. Ein lyrischeres Naturell ist Ana Quintans eigen, die der Sangaride einen weichen Umriss verleiht. Der Bassbariton Andreas Wolf ist der sonor tönende König Célénus. Von starker Wirkung sind Preljocajs choreografierte Gruppenszenen, welche die Tänzer aus Genf mit Passion und suggestiver Körpersprache umsetzen. Nicht zuletzt trägt die Capella Mediterranea mit ihrem farbigen Spiel und dem tänzerischen Duktus, der besonders in den orchestralen Nummern (Préludes, Entrées, Ritournelles) zu faszinierender Wirkung kommt, zum Erfolg der Produktion bei. Bernd Hoppe (11.08.25)

Giovanni Pacinis „Amazilia“

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Giovanni Pacini war 29 Jahre alt und hatte bereits 27 Opern komponiert, als seine Amazilia am 6. Juli 1825 im Teatro San Carlo uraufgeführt wurde. Politisch war es eine Oper, die eng mit Neapel und der spanischstämmigen Herrscherfamilie Bourbon verbunden war und indirekt deren Geschichte lobte, indem sie die Behandlung der Ureinwohner Nordamerikas durch die spanischen Konquistadoren in einem positiven Licht darstellte.

Ein schöner Mann und so erfolgreich bei den Damen: Giovanni Pacini/Wikipedia

Die Handlung spielt im Florida des 16. Jahrhunderts und zeigt zwei verfeindete Indianerstämme. Der eine, der an der „Grenze Floridas“ lebt, wird von Cabana angeführt, der andere, namenlose Stamm unter der Führung von Miscou besetzt die „Hügel von Luisiana“, ein fruchtbares Gebiet, das einst von Cabanas Volk bewohnt war. Amazilia, ein Mitglied des Florida/Cabana-Stammes, ist in Zadir, den Sohn von Miscou, verliebt. Vor dem Hintergrund der bewaffneten spanischen Konquistadoren möchte Miscou (der in der Oper nie auftritt) einen Friedensvertrag mit Cabana schließen und sich gegen die Spanier verbünden, und Zadir will den Vertrag durch die Heirat mit Amazilia besiegeln. Cabana jedoch will Amazilia für sich selbst, weshalb er jeglichen Vertrag ablehnt. Cabana und Zadir kämpfen um Amazilia, und Cabana gewinnt. Das Gesetz der Stämme verurteilt den Verlierer zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Zadir, der der Gefangennahme entkommen ist, will Amazilia zu seinem Vater Miscou bringen, als er von Cabana gefasst wird. Gerade als sein tragisches Schicksal besiegelt scheint, taucht wie ein Deus ex machina ein bewaffnetes spanisches Korps unter Captain Alvaro auf. Sie haben einen Vertrag mit Miscou geschlossen und befreien nun Zadir und nehmen Cabana gefangen, sodass die Liebenden einer glücklichen Zukunft entgegensehen und Cabana vor sich hin murren kann.

Pacinis „Amazilia“: Figurine für Cabano (Luigi Lablache) von Carlo Dellarocca zur Uraufführung 1825/Archivio Storico Ricordi/Wikipedia

Der Librettist Giovanni Schmidt (von dem keine Abbildung zu finden ist/G.H.) musste für seine Inspiration nicht lange suchen: Sein eigenes Libretto für Gli americani, das von Giacomo Tritto vertont wurde (Neapel: San Carlo, 1802), war die wichtigste Quelle. Gli americani, das 1805 am San Carlo wiederaufgenommen wurde, schmeichelte dem spanischen Erbe der Monarchie, als Ferdinand I. Neapel regierte. Nach einer Pause, als Napoleon Bonaparte die Bourbonen zur Flucht nach Sizilien zwang, kehrten sie im Mai 1815 nach Neapel zurück, nachdem die Österreicher Murat in der Schlacht von Tolentino besiegt hatten und Ferdinand wieder auf den Thron gesetzt worden war. Zehn Jahre später, als Ferdinands Sohn Francesco 1825 den Thron bestieg, wurde die alte Geschichte in einem leicht veränderten Rahmen wiederbelebt, um dem neuen König und seiner Königin Maria Isabella von Spanien zu schmeicheln. Schmidt reduzierte sein Libretto auf einen Akt, verlegte den Schauplatz nach Florida, und es wurde als Geburtstagsfeier für die Königin aufgeführt.

Abgesehen von der üblichen opernhaften Dreiecksbeziehung, die in der primitiven Wildnis Floridas ebenso verbreitet zu sein scheint wie im alten Rom oder im mittelalterlichen Europa, ist die ziemlich explizite Moral von Schmidts Werk, dass das überlegene und wohltätige europäische (spanische) Recht über das barbarische Recht der Ureinwohner („selvaggi“) triumphiert. Es gibt keine Todesstrafe durch den aufgeklärten Spanier. (Schmidt vergisst dabei geflissentlich die Inquisition oder die spanische Gepflogenheit des Autodafés.) Die Spanier, in der Oper durch Alvaro verkörpert, sind ganz auf Respekt gegenüber den Ureinwohnern bedacht und versorgen sie sanft mit europäischer Aufklärung. Vermutlich hat Maria Isabella das gutgeheißen.

Pacinis „Amazilia“: Giovanni David sang die Tenorpartie des Zadir bei der Uraufführung 1825/Wikipedia

Tatsächlich war an Schmidts Libretto nichts neu. Die ursprüngliche Quelle war Jean-François Marmontels Roman Les Incas, ou La destruction de l’empire du Pérou aus dem Jahr 1777. In Italien verarbeitete Andrea Willi einen Teil von Marmontels Geschichte bald zu einem fünfaktigen Drama mit dem Titel La vergine dei sole, das 1780 in Venedig uraufgeführt wurde. La vergine dei sole spielt in Ecuador in der Nähe von Quito und handelt von Cora, einer Inka-Jungfrau und Priesterin des Sonnengottes, und Alonso, einem spanischen Adligen, die sich ineinander verlieben. Als ein Vulkan ausbricht und den Sonnentempel zerstört, rettet Alonso Cora, doch sie hat gegen das Gesetz der Inka verstoßen, indem sie das heilige Gelände verlassen hat, und wird zum Tode verurteilt. Alonso schwört, mit ihr zu sterben, doch am Ende wird ihr vergeben und ein aufgeklärteres Gesetz setzt sich durch.

Diese Werke dienten als Vorlage für mindestens elf Opern (nicht nur) in Italien vor Pacinis Werk und mehrere Ballette. Zu den bekanntesten Komponisten, die Opern zu dieser Geschichte unter verschiedenen Titeln (La Vergine dei sole oder Alonso e Cora oder Idaiaide oder Gii americani) schrieben, gehörten Giuseppe Sarti, Giacomo Tritto, Domenico Cimarosa und Giovanni Simone Mayr. Tritto schuf zwei völlig unterschiedliche Opern zu diesem Thema – die erste mit einem Libretto von Carlo Giuseppe Lanfranchi mit dem Titel La vergine dei sole (Neapel, 1786) und Gii americani mit einem Libretto von Schmidt (Neapel, 1802). Mayrs Alonso e Cora, die 1803 an der Scala uraufgeführt wurde, wurde 1815, kurz nach der triumphalen Rückkehr Ferdinands nach der Schlacht von Tolentino, in einer überarbeiteten Fassung unter dem einfachen Titel Cora am San Carlo aufgeführt. Eine Oper zu diesem Thema von Francesco Bianchi mit einem Libretto von Francesco Maria Foppa (Venedig, 1786) hatte bereits eine Figur namens Amazili eingeführt, die die Freundin/Begleiterin von Cora ist.

Pacinis „Amazilia“: Josephine Mainville sang die Titelpartie in der Uraufführung 1825/Ipernity

In der Oper Gii americani von Schmidt/Tritto handelt die Liebesgeschichte immer noch von einem Spanier (namens Gonzalvo) und einer einheimischen Jungfrau, die nun jedoch Amazilia heißt. Der Name stammt von einer völlig anderen Figur in Marmontels Roman von 1777. In Les Incas… ist Amazili eine Inka-Jungfrau, die von den grausamen spanischen Konquistadoren gefangen gehalten wird, die Cortez in Mexiko übertrumpfen wollen, indem sie das Inka-Reich in Peru erobern; Amazili und ihr Geliebter Telasco sind das Mittel, mit dem die Spanier an Orozimbo, den Anführer der Inkas, gelangen wollen. (Ironischerweise ist Marmontels Roman eine scharfe Anklage gegen die Grausamkeit der spanischen Konquistadoren in Amerika.) In Schmidt/Tritto ist Cabana jedoch Amazilias Vater und Orozimbo ihr Bruder. „Cora“ hat die Rolle ihrer „Vertrauten“ übernommen. Gonzalvo ist der Sohn von Arias Davila, einem kastilischen General.

Als Schmidt fast 25 Jahre später für Pacini schrieb, änderte er einige der Charakternamen, verlegte die Handlung nach Florida, stellte den Konflikt zwischen zwei einheimischen Stämmen in den Mittelpunkt und kehrte die Handlung von Marmontels Original komplett um, indem er die nun wohlwollenden spanischen Konquistadoren im letzten Moment eintreffen lässt, um den Streit beizulegen. Zu diesem Zeitpunkt ist es offensichtlich, dass die erstmals in La vergine del sole aufgeführte Geschichte stark von René de Chateaubriands Atala ou Les amours de deux sauvages dans le desert beeinflusst ist, das 1801 veröffentlicht wurde und unter indigenen Stämmen in Florida spielt. Pacini hatte tatsächlich eine Atala (Padua, 1813) komponiert, die auf Chateaubriands Novelle basiert und die tragische Liebe zwischen zwei amerikanischen Ureinwohnern, Chactas und Atala, erzählt; Chactas‘ Großvater ist Miscou, der Name eines der Stammeshäuptlinge in Amazilia.

Pacinis „Amazilia“:  Beverly Sills sang als Einschub Amazilias langsame Cabaletta „Parmi vederlo” dann in der Rolle der Pamira in Rossinis L’assedio di Corinto in den späten 1960er und 1970er Jahren an der Met und an der Scala. Dazu auch Thomas Lindner: „Parmi vederlo, ahi misero“ – Pacinis ‚Amazilia‘ und Rossinis ‚L’assedio di. Corinto‚, S. 87-92. in La Gazetta/Deutsche Rossini Gesellschaft

Die Geschichte von Amazilia mag „vecchio come Noe“ (eine Zeile, die Bellini verwendete, als er ein Libretto für Cesare in Egitto ablehnte, einen Titel, der bereits von Pacini komponiert worden war) gewesen sein, aber sie passte zur konservativen Bourbonenmonarchie von Neapel und den beiden Sizilien. Tritos Oper von 1786 hatte dort Premiere, als Ferdinand IV. regierte, bevor Napoleon ihn nach Sizilien verbannte, und Mayrs Cora wurde 1815 kurz nach der Vertreibung der Bonapartes und der Rückkehr Ferdinands aufgeführt. Ein Jahrzehnt später, als Ferdinand starb und sein Sohn Franz I. den Thron bestieg, feierte Amazilia, die neue Oper von Pacini und Schmidt – ganz im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Vorlage – erneut die Gnade und Aufklärung Spaniens.

Sie war am Abend des 6. Juli 1825 ein großer Erfolg mit einer Starbesetzung, darunter Luigi Lablache (Cabana), Josephine Fodor-Mainvielle (Amazilia) und Giovanni David (Zadir) neben Gaetano Chizola, Eloisa Manzochi und Domenico Pizzoni . Im folgenden Jahr wurde sie in Neapel wiederaufgenommen und im November 1826 an der Mailänder Scala, 1828 in Rom, 1829 in Palermo und 1832 in Messina aufgeführt. In seinen Memorie artistiche berichtet Pacini, dass der Impresario Barbaja das Werk 1826 auch nach Wien brachte und für diese Wiederaufnahme zwei zusätzliche Nummern komponierte, die die Oper so weit verlängerten, dass eine Fassung in zwei Akten gerechtfertigt war.

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Pacinis „Amazilia: Quasi Florida-Stimmung auf Anton Goerings Gemälde „Flamingos  in Venezuela“ 1855/Wikipedia

Musikalisch entspricht die Oper Pacinis früherem Stil, der, wie er selbst oft zugab, stark von Rossini beeinflusst war. Alexander Weatherson beschrieb die Partie der Amazilia im Newsletter der Donizetti Society vom Mai 1991. (1) Eine „fröhliche Sinfonia mit Crescendo; (2) Introduzione, Coro e Cavatina für Cabana. Der Eröffnungschor und das Cantabile („Tutto annunzia quella gloria“) sind reiner Rossini; die Cabaletta („Paventi il perfido“) ist kraftvoll, eingängig und weist bereits auf den frühen Verdi hin. Man versteht fast sofort, warum Pacini als „Maestro delle cabalette“ bezeichnet wurde! (3)  Zadirs Scena e Cavatina, „sehr hoch für die Stimme gesetzt“ (Weatherson). Das Cantabile („Come mai calmer le pene“) ähnelt einem der weniger bedeutenden Werke Rossinis in diesem Genre, aber dann setzt wieder die eingängige Cabaletta („lo ti vidi, t’adorai“) ein, die so bekannt war, dass Giuliani kurz nach ihrer Entstehung eine Reihe von Variationen darauf komponierte – und der italienische Patriot Giuseppe Mazzini seine Vorliebe für Giulianis Version zum Ausdruck brachte. (4) Duett für Amazilia und Zadir („Se non ti muove, o caro“), in dem die Liebenden ihre Situation beklagen. Das Duett ist mit drei Teilen sehr rossinianisch angelegt. Der mittlere Andante-Teil ist der attraktivste. (5) Scena e coro „Vi regga, vi guida“. Die Familien sorgen sich um die bevorstehenden Schlachten. (6) Terzetto („Frena quel labbro audace“). Dieses Trio bildet eine Art Finale in der Mitte der Oper in der Einakterfassung und schließt den ersten Akt in der Zweiachterfassung ab. Es hält sich eng an die Rossini-Formel: Allegro-Adagio-Allegro mit recht formelhafter Musik, obwohl das Adagio („Oh ciel! veggio svanita“) reizvoll ist.

Pacinis „Amazilia“ mit der Handlung in Florida – Anton Goehrings Gemälde „See in Venezuela“ kommt der Stimmung sehr nahe/Wikipedia

(6A) Duett („Tu sprezzar gli affetti miei“). Der zweite Akt der Zweiakter-Fassung (für Wien) beginnt mit einem sehr schönen Duett für Cabana und Amazilia. Weniger rossinianisch als einige andere Musikstücke, ist die Basslinie würdevoll, während Amazilias Gesangslinie blumiger ist. Hier scheint Pacini eher in seiner eigenen Sprache zu komponieren als in der Rossinis. (6B) Die zweite Nummer, die Pacini für die Zweiakter-Fassung hinzugefügt hat, ist eine erweiterte Szene für Zadir mit Chor. Die Arie selbst („Affanno spietato“) ist freier als üblich und sehr ausdrucksstark, während die Cabaletta Pacini in diesem Genre alle Ehre macht.

(7) Nun kehren wir zu der Musik zurück, die in beiden Fassungen zu finden ist, mit dem hübschen Frauenchor „Di pace la speme“. Ein ausgedehntes Rezitativ zwischen Orozimbo und seiner Tochter Mila ist musikalisch uninteressant, bereitet aber das Rettungsfinale durch die gütigen Spanier vor. Mila drückt ihr Entsetzen darüber aus, dass der Verlierer des Kampfes zwischen Cabana und Zadir auf den Scheiterhaufen kommen wird, und sagt, dass die Dinge in Europa anders sind: „Oh, wie anders sind die europäischen Sitten von den unseren! Kein Gefangener würde [dort] jemals auf den Scheiterhaufen kommen.“ Orozimbo bestätigt dies mit seiner eigenen Erfahrung, als er auf dem Schlachtfeld vom „starken Alonso“ besiegt wurde und nicht nur am Leben blieb, sondern auch seine Freiheit behielt.

Pacinis „Amazilia“: Das Teatro San Carlo Neapel um 1830/Wikipedia

(8) Dies ist die große Nummer für Amazilia mit einem ausgedehnten Rezitativ, einer Arie mit Chor und einer langsamen Cabaletta. Es ist zweifellos die beste Musik in der Oper. Die Arie („Ah! non fia mai ver“) ist ein wunderschönes Andante, voller Leidenschaft und Trauer, als sie erfährt, dass Zadir den Kampf gegen Cabana verloren hat. Die langsame Cabaletta („Parmi vederlo“) ist ungewöhnlich und im Stil Rossinis gehalten, aber in der Art der Musik für Maometto Secondo (vergl. Sills) und Le siege de Corinthe. Sie ist sehr blumig, aber voller Gefühl. (9) Das Finale beginnt mit einer langen orchestralen Einleitung, die ebenso wie Amazilias Kantabile „Dove sei, mio dolce amore“ eine Tragödie anzukündigen scheint. Sie glaubt, Zadir zu sehen, aber sie halluziniert. Doch dann taucht er tatsächlich auf, und in schneller Folge beginnen die Liebenden zu fliehen und werden von Cabana gefangen genommen, nur um sich der Ankunft der Spanier unter Alvaro zu stellen. Er nimmt Cabana gefangen und vereint die Liebenden so schnell, wie man „Vaudeville-Finale“ sagen kann, in einem weiteren Trio mit Pertichini für Alvaro und dem Chor („Mio core, ah! si, ti sento“). Die Spanier und Alvaro singen „Tutto cangio d’aspetto“, und das war nie wahrer. Die Musik klingt, als hätte Rossini sie selbst für eine seiner Komödien geschrieben.

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Pacinis „Amazilia“: das Innere Teatro San Carlo mit der Aufführung von „L´ultimo Giorno die Pompei“ Pacinis im Bühnenbild von Sanquirico/Wikipedia

So wichtig Amazilia für die Festigung Pacinis‘ Position bei den Bourbonen-Monarchen von Neapel (wo das Opernhaus an den Palast angrenzt) war, so sehr sprach seine nächste Oper, L’ultimo giorno di Pompeii, nicht nur die Bourbonen an, sondern bescherte ihm auch den größten Triumph der ersten Hälfte seiner künstlerischen Laufbahn. Die Monarchie hatte maßgeblich an der Ausgrabung Pompejis beteiligt, die unter Carlo I. begann und unter Ferdinando (sowie während der napoleonischen Zeit) fortgesetzt wurde. Bis 1825 war Pompeji zu einer Touristenattraktion geworden, da ausländische Besucher nach der Niederlage Murats nach Neapel zurückkehrten. Die erstaunlichen Entdeckungen wurden von der Monarchie genutzt, um die kulturelle und historische Bedeutung des Königreichs zu unterstreichen, und Pacinis neue Oper schürte das Interesse an Pompeji mit einer spektakulären Inszenierung, in der der Ausbruch des Vesuvs auf der Bühne zu sehen war. Wie wir noch sehen werden, spielte diese Oper auch eine Rolle im Leben von Amazilias Namensgeberin. Charles Jernigan/DeepL/G. H.

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Pacinis „Amazilia“: Luigi Lablache, hier mit Giulia Grisi in Bellinis „Puritani“/Wikipedia

Handlung. Die Szene spielt am Fluss. Cabana und die Wilden aus Florida marschieren an einem Fluss entlang, hinter dem in der Ferne die Hügel von Louisiana zu sehen sind. Die Sonne geht auf, Vorbote einer Zukunft voller Siege. Erste Szene. Die Wilden und ihr Häuptling haben ihren Weg fortgesetzt. Vom Fluss taucht vorsichtig Zadir auf, der seine Liebe zu Amazilia besingt und sich Sorgen macht, dass er die Empfehlungen seiner Geliebten nicht beachtet hat. Zweite Szene. Amazilia kommt hinzu und wirft Zadir seine Unvorsichtigkeit vor. Der Anführer der Wilden aus Louisiana hofft seinerseits, dass es noch Hoffnung für ihre Liebe gibt, und vertraut auf eine Verbindung mit Cabana. Amazilia glaubt hingegen nicht, dass dies möglich ist. Die beiden schwören sich Liebe, selbst wenn sie dafür sterben müssen, und verabschieden sich. Zadir geht zum Fluss, Amazilia kehrt zurück, woher sie gekommen ist. Dritte Szene. Auf der Bühne sehen wir Cabana, seinen Bruder Orozimbo und die Wilden. Die Frauen und Kinder verabschieden sich von ihren Familienoberhäuptern, die bereit für den Krieg sind. Vierte Szene. Orozimbo schlägt seinem Bruder vor, nicht zu kämpfen, sondern vielmehr den Frieden zwischen den Völkern zu fördern. Cabana lehnt dies jedoch vehement ab und beschuldigt Miscou, sich seines fruchtbaren Landes bemächtigt zu haben, und seinen Sohn Zadir, seinen Wert auf dem Schlachtfeld verachtet zu haben. Fünfte Szene. Ein Wilder kommt zu Cabana und Orozimbo und verlangt, Zadir zu sehen, den er im Auftrag von Miscou gebracht habe. Orozimbo überredet seinen Bruder, der jedoch misstrauisch ist, ihm zuzuhören. Sechste Szene. Zadir tritt ein, gefolgt von zwei Wilden, die jeweils einen Palmzweig in der Hand halten. Zadir bittet darum, die gegenseitigen Missstimmungen zugunsten eines Bündnisses gegen den spanischen Feind beizulegen. Cabana unterstellt, dass hinter dieser Bitte kein Wunsch nach Frieden, sondern nur Angst stecke. Zadir rechtfertigt die Angst, die Cabana selbst empfinden würde, wenn er den Spaniern gegenüberstünde.Er legt dann die Vereinbarung dar: Sie werden das Land teilen und Amazilia wird Zadir zur Frau gegeben. Cabana wirft ihm Arroganz vor und fordert ihn zum Schweigen auf.

Pacinis „Amazilia“: das Teatro della Fortuna in Fano, wo 2025 die Oper erstmals in moderner Zeit gegeben wird/Teatro della Fortuna

Siebte Szene. Zadir wird wütend. Die beiden schwören sich, sich auf dem Schlachtfeld zu vernichten, während Amazilia, die gerade hinzugekommen ist, verzweifelt. Als Zadir geht, erblickt er seine Geliebte und lässt sie an sich heran, indem er sie bei der Hand nimmt. Cabana will ihn töten, doch. Achte Szene. Amazilia hält ihn zurück. Zadir eilt davon, Cabana und seine Krieger wenden sich dem Fluss zu, Amazilia nimmt einen anderen Weg. Neunte Szene. Der Frauenchor besingt die verlorene Hoffnung auf Frieden zwischen den Völkern. Zehnte Szene. Orozimbo und Mila sprechen miteinander. Der erste erklärt ihr, dass Cabana nicht die Absicht hat, die Friedensforderungen anzunehmen, und dass er in seinem Feind zudem einen Rivalen in der Liebe gefunden hat. Die beiden sind besorgt über die Folgen, die ein Sieg Cabanas mit sich bringen würde. Elfte Szene. Die beiden werden von Amazilia eingeholt, die verzweifelt ist wegen dem, was geschehen wird. Plötzlich hört man Stimmen, die im Chor den Sieg Cabanas verkünden.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Rudolf Colm und seine Kollegen (u. a. der Sovrintendenti Saul Salucci, der direttore artistico Daniele Agiman und Paolo Rosetti)/IBR

Zwöflte Szene. Amazilia glaubt, dass Zadir im Kampf gefallen ist, aber der Chor der Wilden teilt ihr mit, dass ihr Geliebter gefangen genommen wurde und auf den Scheiterhaufen kommen soll. Amazilia geht weg, umarmt von ihrer Freundin Mila, gefolgt von den anderen Frauen. Dreizehnte Szene. Orozimbo versucht vergeblich, Cabana davon zu überzeugen, Zadir nicht zu töten, da er die Rache seines Vaters Miscou fürchtet. Cabara beruft sich daraufhin auf das Gesetz: Jeder, der gefangen genommen wird, muss auf dem Scheiterhaufen sterben.Vierzehnte Szene. Orozimbo, der allein zurückgeblieben ist, beschließt, sich von der Grausamkeit seines Bruders zu distanzieren. Die vierzehnte Szene spielt in einem Wald. Mila und Amazilia suchen nach Zadir, damit das Mädchen ihren Geliebten ein letztes Mal sehen kann. Fünfzehnte Szene. Amazilia glaubt, Zadir zu sehen. Sechzente Szene. Die beiden Liebenden begegnen sich und verlassen den Weg, um dem Überfall der Feinde zu entgehen. Siebzente Szene. Cabana und die Wilden erreichen die beiden Liebenden. Zadir schießt einen Pfeil auf Cabana. Achtzehnte Szene. Alvaro und die spanischen Krieger kommen hinzu und umzingeln die Wilden. Alvaro fordert sie auf, ihre Waffen fallen zu lassen, wie Miscou es getan hat. Die Wilden folgen dem Befehl. Cabana gehorcht nicht und wird gefangen genommen und ins spanische Lager verschleppt, während Amazilia und Zadir endlich wieder vereint sind. Wikipedia Italia/Deep/G. H.

Hanne-Lore Kuhse

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Spurensuche im Berliner Nordosten. Wo Pankow und Prenzlauer Berg aufeinander treffen, dort hat sie gelebt. Ein passender Ort. Zumal damals in der DDR. In Pankow wehte noch ein Hauch von Großbürgerlichkeit. Den Prenzlauer Berg hatten die Künstler in Beschlag. Die Opernsängerin Hanne-Lore Kuhse wohnte auf dieser Grenze in der Schonenschen Straße. Wenngleich Zufall, passt auch der Straßenname. Schonen hieß einst die südlichste Provinz Schwedens, direkt an der Ostsee gelegen.

Ihre Bindungen an den Norden bestanden lebenslang. Sie wurde am 28. März 1925 in Schwaan an der Müritz geboren. Es zog sie immer wieder dorthin. Der nordische Dialekt schlug bis zum Schluss durch. Selbst im Gesang. In Rezitativen und Dialogen sowieso. In einer Gesamtaufnahme der Zauberflöte (Suitner, ehemals Eterna/ Eurodisc), in der sie die Erste Dame singt, kann das nachgehört werden. Gestorben ist die Sängerin am 10. Dezember 1999 in Berlin. Ihr Wunsch war es, in Schwaan begraben zu werden. So geschah es auch. Dieser Stadt blieb sie treu, die Stadt ihr auch. Posthum wurde sie zur Ehrenbürgerin ernannt. Ihr Berliner Wohnhaus steht noch. Sträucher und Bäume haben den Garten in Besitz genommen. Die Rosenstöcke, denen ihre Liebe galt, haben überdauert. Ein heimlicher Blick über den Zaun. Hoffentlich sieht mich jetzt niemand. Ich habe Mühe, das alte Bild vom Haus, in dem ich gelegentlich freundlich aufgenommen wurde, wiederzufinden. Die Kuhse war eine perfekte Gastgeberin, empfing den Besucher im eleganten Hauskleid. Der Kaffee wurde in silbernem Geschirr serviert. Bei aller Distanz ließ sie keinen förmlichen Abstand aufkommen. Ihren Gästen gab sie das Gefühl, der Mittelpunkt des Geschehens zu sein und nicht sie selbst, die berühmte Sängerin.

Die Eterna-LP ist inzwischen auch auf CD bei Berlin Classics erschienen.

Erweitert um einen Bonus ist die Eterna-LP inzwischen auch auf CD bei Berlin Classics erschienen.

Erstmals hörte ich sie im Radio. Da war ich nicht älter als Vierzehn. Noch heute sehe ich mich in den Lautsprecher des Apparats hineinkriechen. Sie war oft zu hören. Oper war für mich Hanne-Lore Kuhse. Erst mit der Zeit kam ich hinter ihre Kunst. Großes, sich in der Mittellage reich verströmendes Volumen. Eine Stimme, die auch im Piano noch hochdramatisch ist. Ein Freund sagt, sie singe so erfüllt. Das stimmt. Immer natürlich, niemals auf den vordergründigen Effekt erpicht. Dem Werk verpflichtet und gegen die Verlockung immun, Grenzen zu durchbrechen. Ein heller, leuchtender Klang, dem es aber an Tiefe gebricht. Muss sie hinunter, büßt die Stimme an Kraft und Ausdruck ein. Sie besaß, was heute immer mehr verloren geht – ein unverwechselbares Timbre. Auch das weniger erfahrene Ohr dürfte sie mit Sicherheit unter hundert anderen heraushören. Später entdeckte ich für mich Ähnlichkeiten mit Eileen Farrell oder Helen Traubel, die sogar über Stimmliches hinausgehen. Auf Fotos lachen alle drei ganz herzlich. Am Ende will es gar scheinen, als hätten sie denselben Schneider gehabt. Schade, dass sich die Kuhse im Gegensatz zu ihren amerikanischen Kolleginnen nicht auch außerhalb der Oper künstlerisch betätigte – einen kurzen Fernsehausflug in die Operette nicht mitgerechnet –, es ließen sich gewiss noch mehr Gemeinsamkeiten feststellen.

Ein Bild auf den Anfängerzeit  1953 in Schwerin: Hanne-Lore Kurse als Frick im "Rheingold". Wotan ist Heinrich Geduldig. Foto: OBA

Ein Foto aus der Anfängerzeit 1953 in Schwerin: Hanne-Lore Kuhse als Fricka im „Rheingold“ mit Heinrich Geduldig als Wotan/ Foto: Archiv Kuhse

Zunächst war ihr in der DDR der Beginn einer bedeutsamen Karriere beschieden. Gleich nach dem Studium an den Konservatorien von Rostock und Berlin das erste Engagement an den Städtischen Bühnen Gera, wo sie sofort mit der Fidelio-Leonore konfrontiert wird. Ein gewagter Anfang, der ihr womöglich auch stimmliche Ressourcen kostete. Dann, von 1952 bis 1959, Staatstheater Schwerin mit Brünnhilde und Turandot und bis 1964 Opernhaus Leipzig. Bereits 1954 zur Kammersängerin ernannt, folgt sie 1964 einem Ruf an die Berliner Staatsoper, wo sie zwar wieder Fidelio-Leonore sowie Tosca, Donna Anna, Isolde, Abigail, Lady Macbeth und eine missglückte Turandot gab. Doch alsbald wurde es dort ruhig um sie. Die Gründe liegen im Dunkeln. Dem Vernehmen nach soll die im Ausland Gefeierte auch Feinde gehabt haben. Zur Wahrheit gehört, dass sie sich künstlerisch zu überleben begann. Der Typ der gestandenen Kammersängerin war nicht mehr gefragt. Es drängten jüngere Talente auf die Bühnen, denen die Rollen, die sie verkörperten, auch äußerlich mehr abgenommen wurden. Sie selbst trug es mit Fassung – und wohl auch mit Humor. Also dann eben Provinz! In Berlin Stimme des Falken, in Jena und in Magdeburg Brünnhilde in Konzerten. Und eben die Auftritte in den USA, wo sich niemand daran störte, wenn Frauen nicht über die Maße einer Barbiepuppe verfügten.

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Hanne-Lore Kuhse mit Erich Leinsdorf in Boston. Der Dirigent schätzte die Sängerin und begleitetet sie auch in Paris und London. - Foto: OBA

Hanne-Lore Kuhse mit Erich Leinsdorf in Boston. Der Dirigent schätzte die Sängerin und begleitetet sie auch in Paris und London / Foto: Archiv Kuhse

Doch zurück zu den Fakten. Die besagen, dass Hanne-Lore Kuhse ihre größten künstlerischen Erfolge außerhalb der DDR in den USA beschieden waren. New York 1967, Philharmonic Hall im Lincoln Center, Vier letzte Lieder von Richard Strauss und Ferruccio Busonis Turandot mit Plácido Domingo als Calaf. Isolde mit dem Heldentenor Ernst Gruber (Tristan), Ramón Vinay (Kurwenal) und Blanche Thebom (Brangäne) in Philadelphia. Der Mitschnitt ist bei Ponto erschienen Als Partnerin von Jon Vickers (Siegmund), Ingrid Bjoner (Sieglinde), Thomas Stewart (Wotan) und Nicola Moscona (Hunding) war sie die Brünnhilde in der Walküre der Connecticut Opera in Hartfort. In der Hollywood Bowl trat sie an der Seite von Jess Thomas in einem großen Wagnerkonzert in Erscheinung. Thomas war auch ihr Siegmund im ersten Walküre-Aufzug in Boston, der sich als Mitschnitt in privaten Sammlungen erhalten hat. Dort gastierte sie auch als Lady Macbeth an der Seite von Kostas Paskalis (Macbeth). Als Erich Leinsdorf das US-amerikanische Publikum in Tanglewood mit der Leonore, der Urfassung des Fidelio, vertraut machen wollten, holte er die Kuhse für die Titelpartie. Florestan war George Shirley, Pizarro Tom Krause. Leinsdorf schätzte die Sängerin und besetzte sie sogar als Fricka in konzertanten Szenen aus dem Rheingold, eine Rolle, die sie zuletzt Mitte der fünfziger Jahre in Schwerin gesungen hatte. Im französischen Rundfunk wurde erst vor wenigen Jahren ein Leinsdorf-Konzert des National Orchestra of France von 1968 erneut ausgestrahlt, das mit dem Schlussgesang der Brünnhilde aus der Götterdämmerung endete.

Eva Rieger kommt in ihrem Buch über Friedelind Wagner auch auf die Kurse zu sprechen (Pieper, ISBN 978-3-492-05489-8).

Eva Rieger kommt in ihrem Buch über Friedelind Wagner auch auf die Kuhse zu sprechen (Pieper, ISBN 978-3-492-05489-8).

Ein greifbar nahes Debüt als Isolde an der Met scheiterte an den Bürokraten in Ostberlin. Das Visum lag nicht rechtzeitig vor. Ihr erstes namhaftes Gastspiel auf internationalem Parkett absolvierte die später Weitgereiste 1956 in Nizza – und zwar als Senta im Fliegenden Holländer. Auf dem Programmzettel standen mit Hans Hotter (Holländer), Arnold van Mill (Daland) und Günther Treptow (Erik) prominente Namen. Später war sie oft London anzutreffen, wo die von ihrer Freundin Friedelind Wagner veranstaltete erste komplette Aufführung der Siegfried-Wagner-Oper Der Friedensengel für großes Aufsehen sorgte. Gemeinsam mit dem Dirigenten Leslie Head gelang es Friedelind, den Widerstand ihrer Mutter Winifred, die von Aufführungen der Opern ihres Mannes Siegfried nicht viel hielt, zu überlisten. Als Eigentümerin der Rechte stimmte sie schließlich der Aufführung zu uns reiste sogar selbst in London an. Die Kuhse sang die Mita, die weibliche Hauptfigur, Martha Mödl Frau Kathrin, die im Werk vielbeschäftigte Mutter des Wilfried (Raffaele Polani). Das Konzert in der Queen Elizabeth Hall vom 23. November 1975 gelangte über einen Rundfunkmitschnitt auf CD (Living Stage). In ihren Buch über Friedelind Wagner hat die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger auch dieses spannende Kapitel berührt. Unveröffentlicht hingegen blieb bisher das BBC-Band der konzertanten Aufführung des Kobold von 1980. Wieder stand Head am Pult.

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Diese RCA-LP mit einem klassischen Liederprogramm ist in New York produziert worden und nur noch antiquarisch erhältlich.

Diese RCA-LP mit einem klassischen Liederprogramm ist in New York produziert worden und nur noch antiquarisch erhältlich.

Sammler müssen keinen Mangel an Kuhse-Dokumenten beklagen. Von den offiziellen Titeln ist das meiste inzwischen als CD zugänglich. Allen voran die oft aufgelegte Gesamtaufnahme von Tiefland (zuletzt Brilliant Classics), die in der Diskographie dieser Oper nach wie vor einen ersten Rang behaupten dürfte. Nur noch musikhistorisch interessant ist Händels  Radamisto (Berlin Classics) aus Halle. Eine Aufnahme, die den Wandel der Zeiten gut überstanden hat, sind die Wesendonck-Lieder von Wagner und die Vier letzten Lieder von Strauss mit dem von Vaclav Neumann geleiteten Gewandhausorchester Leipzig. Ihr eigentliches Opernrepertoire, in dem neben Wagner auch Verdi präsent war, ist auf Tonträgern leider nur bruchstückhaft überliefert. Don Carlos (Elisabeth), Die Macht des Schicksals (Leonore), Macbeth (Lady) gibt es zumindest scheibchenweise, ebenso Elsa, Senta. Ihre Diskographie ist nur auf den ersten Blick relativ schmal, weil eben nicht alle Dokumente auf Platte bzw. CD gelangten. Die meisten Aufnahmen entstanden beim DDR-Rundfunk und werden im Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg aufbewahrt. Dazu kommen private Mitschnitte. Immerhin gibt es mit Hanne-Lore Kuhse siebzehn Operngesamtaufnahmen – live und Studio. Darunter sind Verdis Troubadour, Glucks Iphigenie in Tauris, Mussorgskys Boris Godunow und sogar Haydns La vera costanza. Mitgerechnet ist eine Rundfunk-Fidelio-Produktion, von der nur die Szenen der Leonore überlebten. Auch die im Rahmen der DVD-Felsenstein-Edition veröffentlichten Hoffmanns Erzählungen gehören in diese Aufzählung. Die Kuhse singt die Stimme der Mutter, wird aber weder im Vor- noch im Abspann erwähnt, was peinlich ist. Wer also die Edition besitzt, mache sich eine ergänzende Notiz. Und es tauchen immer wieder bislang unbekannte Dokumente auf, zuletzt Auszüge auf einem Konzert mit Wagners Tristan vom 18. Dezember 1967 im Salle Pleyel in Paris. Partner der Kuhse als Isolde sind der Heldentenor Claude Heater als Tristan und Grace Hoffman als Brangäne. Georges Sebastian leitet das Orchestre Lyrique del’RTF. Der filmische Mitschnitt wird im Institut National de l’audiovisuel (INA) bewahrt, einem öffentlich-rechtlichen Unternehmen, das alle französischen Rundfunk- und Fernsehproduktionen sammelt, um sie öffentlich zugänglich zu machen. Gegen Gebühr kann dass Video in Ausschnitten erworben weden.

Eine der gelungensten Einspielungen von Hanne-Lore Kuhse sind die "Vier letzten Lieder" und die "Wesendonck-Lieder"  - erschienen bei Berlin Classics.

Eine der gelungensten Einspielungen von Hanne-Lore Kuhse sind die „Vier letzten Lieder“ und die „Wesendonck-Lieder“ – ehemals Eterna und nun bei Berlin Classics.

Zudem existieren in Deutschland etliche Werke als sogenannte Querschnitte. Vierzehn Titel sind Chorwerke im weitesten Sinne, darunter dreimal Beethovens Neunte, Bruckners Te Deum, die Glagolitische Messe von Janácek oder das Deutsche Requiem von Brahms. Die Zahl der einzelnen Arien, Duette und Szenen aus Opern, darunter Mitschnitte aus Leipziger Anrechtskonzerten, beläuft sich auf fast fünfzig. Zugegeben: Statt der C-Dur-Messe, der Kantate auf den Tod Joseph II. oder der Konzertarien von Beethoven – mit Ausnahme von Ah, perfido! – hätte ich doch lieber das Verdi-Requiem, Schumanns Paradies und die Peri, Haydns Schöpfung oder Schönbergs Erwartung im Schrank. All das hat sie gesungen. Freilich findet sich auch in ihrem Plattennachlass inzwischen fast vergessene sozialistische Auftragswerke – darunter Siegfried Köhlers Reich des Menschen nach Gedichten des Dichters der DDR-Nationalhymne Johannes R. Becher, Günter Geislers Oratorium Schöpfer Mensch und das Mansfelder Oratorium von Ernst Hermann Meyer, das es im Rundfunkarchiv gleich zweifach gibt. Wer sich eine Vorstellung von Kuhses Gespür für Modernes machen will, sollte zu den Bruchstücken für Gesang aus Wozzeck und der Lulu-Suite mit dem Todesschrei greifen. Oder nach dem War Requiem von Britten, das sie zu einem verklärenden Schluss führt. Die von Herbert Kegel geleitete Eterna-Plattenproduktion in seltener deutscher Übersetzung, in der auch Peter Schreier und Günther Leib mitwirken, taucht immer mal wieder bei Ebay auf, noch aber nicht auf CD.

Hanne-Lore Kurse und Friedland Wagner mit Winifred Wagner in Bayreuth.- Foto: OBA

Hanne-Lore Kuhse und Friedelind Wagner mit Winifred Wagner in Bayreuth/ Foto: Archiv Kuhse

Wie in den Konzertsälen, so im Studio – immer wieder Lieder. Wolf, Berg sind auf CD zugänglich. Strauss und Wagner waren schon genannt. Alle Sammleranstrengungen wert ist eine von RCA in New York eingespielte Liederplatte, die neben Wolf auch Schubert und Brahms enthält. Als private Pressung, die endlich auch offiziell ans Licht kommen sollte, existiert auf zwei Platten der Mitschnitt eines Abends im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth vom August 1966: Carl Philipp Emanuel Bach, Mozart, Mahler, Schumann, Strauss, wieder Wesendonck-Lieder – und Siegfried Wagner. Nach Auffassung von Peter P. Pachl (1953-2021), des Begründers der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft, drangen dessen Lieder erst mit diesem Konzert ins Bewusstsein der musikliebenden Öffentlichkeit“.

Noch auf dem Höhepunkt widmet sie sich der Lehrtätigkeit, wurde eine gesuchte Gesangspädagogin – als Professorin an der DDR-Hochschule für Musik, bei internationalen Meisterkursen, die von Friedelind Wagner in England angeboten wurden und ganz privat zu Hause. Eine ihrer Schülerinnen war Gabriele Schnaut. In den schon erwähnten Buch von Eva Rieger erinnert sie sich an ihre Lehrerein Hanne-Lore Kuhse: Die Arbeit mit ihr tut mir sehr gut, ja, ich glaube, uns beiden macht es viel Spaß und Freude.“/Rüdiger Winter

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Foto oben: Im Spiegelbild ihrer Garderobe. Hanne-Lore Kurse 1967 mit Friedelind Wagner im Opernhauses von Philadelphia vor Beginn von Tristan und Isolde./Archiv Kuhse/Rüdiger Winter.

NEUBURGER KAMMEROPER

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Die Neuburger Kammeroper hat es sich zur Aufgabe gemacht, Opern aufzuführen, die in anderen Häusern der modernen Welt nur sehr selten oder gar nicht zu sehen sind. Diese werden während ihres kurzen Sommerfestivals im kleinen, hübschen Stadttheater in Neuburg an der Donau, einer malerischen bayerischen Stadt am Ufer der Donau, präsentiert. Das Festival findet seit 1969 statt und ist nun in seinem 57. Jahr, doch leider wird es das letzte Jahr für die Kammeroper sein, da die Stadt Neuburg ihre Fördermittel umgeschichtet hat und das Festival nicht mehr finanziert werden kann.

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Die Opern dieses Jahres werden also die letzten dieser unbekannten Werke sein: zwei Einakter des praktisch unbekannten belgischen Komponisten François-Auguste Gevaert (1828-1908), La comédie à la ville (Gent, 1849) und Le diable au moulin (Paris, 1859). Beide Opern wurden, wie es Tradition der Kammeroper ist, in deutscher Sprache gesungen, als

Neuburger Kammeroper zum letzten Mal: Gavaerts heitere Oper „So Eine Komödie!“ 2025/Szene/Foto Neuburger Kammeroper

So Eine Komödie! und Der Teufel von der Mühle.

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Gevaert, geboren in Huysse, Belgien, war von seinem Vater zum Bäcker berufen, doch der Dorfpfarrer überzeugte seine Eltern, ihm seinem musikalischen Talent zu folgen, was er in Belgien tat und mit dem Prix de Rome für seine Kantate Le Roi Lear belohnt wurde. Das zweijährige Reisestipendium wurde jedoch durch die Produktion seiner ersten Oper in Gent unterbrochen, einer der beiden Opern, die in Neuburg angeboten wurden, La comédie à la ville. 1853 ließ er sich in Paris nieder und produzierte mehrere Opern an der Opéra-Comique und am Théâtre-Lyrique, darunter Le diable au moulin im Jahr 1859.

1867 trat Gevaert die Nachfolge von Halévy als Leiter der Musikakademie an und war von da an wahrscheinlich eher als Lehrer denn als Komponist bekannt. 1870 kehrte er nach Belgien zurück und wurde Direktor des Königlichen Konservatoriums in Brüssel; er war Autor zahlreicher Monografien über Musik, von denen einige noch heute konsultiert werden.

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Neuburger Kammeroper: der Prinzipal Horst Vladar/NK

Die erste seiner Opern, die in Neuburg aufgeführt wurde, war Der Teufel von der Mühle mit einem Libretto des bekannten Pariser Librettisten-Duos Eugène Corman und Michel Carré (die unter anderem auch das Libretto zu Bizets Les pêcheurs de perles verfassten). Sie handelt von Antoine, einem Müller, dessen Launenhaftigkeit ihm den Spitznamen „Teufel” eingebracht hat und der beschließt, zu heiraten. Als der Bauer Boniface mit seiner hübschen Nichte Martha zur Mühle kommt, verlieben sich die beiden ineinander. Martha gewinnt Antoine für sich, indem sie ihm ein Spiegelbild ist – wenn er die beiden Diener Toinette und Fargeau beschimpft, tut sie es ihm gleich. Wenn er in Wut gerät, passt sie sich ihm an. Ihr Nachahmen seiner Ausbrüche überzeugt ihn, aber es lehrt ihn auch, sich mit Marthas Hilfe zu beherrschen. Alles endet glücklich.

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Neuburger Kammeroper: die Prinzipali Annette Vladar/NK

So Eine Komödie! handelt vom Pariser Kaufmann Durosier, der zwei Töchter hat, Isabelle und Angéline. Er möchte sie mit den Söhnen seiner Jugendfreunde verheiraten, die er jedoch noch nie gesehen hat, aber die Töchter sind in zwei Schauspieler verliebt, Flavigny und Grandval. Als Durosier die Schauspieler als Freier ablehnt, verkleiden sie sich als die Söhne seiner alten Freunde und benehmen sich so unmöglich, dass Durosier entsetzt ist. Als er entdeckt, dass die Schauspieler ihn so gründlich getäuscht haben, belohnt er ihre Klugheit mit den Händen seiner Töchter.

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Die Musik dieser kurzen Possen ist charmant, ohne besonders einprägsam zu sein. Wie zu erwarten, waren die Ensembles die reizvollsten Teile. Ich muss zugeben, dass mir Gevaerts Durchbruchstück „La comédie à la ville“ am besten gefallen hat; es ist leicht zu verstehen, warum seine ansteckende Fröhlichkeit Gevaerts Karriere erfolgreich ins Rollen gebracht hat. Es war auch ein kleiner Schock, direkt aus München zu kommen, wo wir zwei Tage vor diesen Einakter-Opern Lohengrin gesehen hatten. Lohengrin, mit seinem gewaltigen Chor und Orchester und seinen tiefen Wurzeln in der germanischen Mythologie, ist Welten entfernt von Gevaerts Einakter-Farces, obwohl sie aus derselben Zeit stammen – La comédie à la ville wurde 1849 uraufgeführt und Lohengrin 1850. Lohengrin ist natürlich ein Meisterwerk, das nie aus dem Repertoire verschwunden ist, während Gevaerts Farces uns eine alltägliche Welt der Musikkomödie zeigen, in der der Opernbesuch der Unterhaltung diente, um die Sorgen der realen Welt vergessen zu machen. Als solche sind diese Opern Teil einer langen Tradition der französischen Unterhaltungsmusik in kurzen Dosen.

Neuburger Kammeroper 1979/NK

Die sechs Sänger der Kammeroper übernahmen alle Rollen in beiden Werken. Stephan Hönig war Boniface, der Bauer, in Der Teufel, und Durosier, der Kaufmannsvater, in Eine Komödie; Karol Bettley war der Teufelsmüller und einer der Schauspieler, während Gabriel Goebel den anderen Schauspieler und den Knecht des Müllers spielte. Sarah-Léna Winterberg war Toinette, die Magd und eine von Durosiers Töchtern, während Elisabeth Zeiler die andere Tochter und die clevere Martha spielte, die den Müller imitiert. Horst Vlader, einer der Gründer des Ensembles, spielte in beiden Werken Komprimario-Rollen. Alle Sänger waren den musikalischen Anforderungen mühelos gewachsen, gut einstudiert und witzig. Jede Oper dauerte angenehme 90 Minuten.

Georg Hermansdorfer leitete die Mitglieder des Akademischen Orchesterverbandes München e.V. Der Chor aus lokalen Teilnehmern rundete das Ganze ab. Alle schienen sich gut zu amüsieren. Annette und Horst Vlader lieferten die deutschen Übersetzungen, und Horst Vlader war der Regisseur. Die Inszenierungen der Neuburger Kammeroper sind stets traditionell und kostümiert nach den Vorgaben des Komponisten und des Librettisten.

Neuburger Kammeroper 2020/NK

Die Bühnenbilder sind einfach, aber realistisch. Das ist weit entfernt von den lächerlichen Regie-Inszenierungen von heute, wie beispielsweise Lohengrin in München. Neuburg brauchte kein Video und keine Programmnotizen, um die seltsamen und unmusikalischen Konzepte des Regisseurs zu erklären.

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Das endgültige Programm der Kammeroper listete alle Werke auf, die seit 1969 aufgeführt wurden: 73 Opern von A. Adam bis N. Zingarelli; zwei Barbier von Sevilla, keine davon von Rossini; ein Türke in Italien, aber von Seydelmann. Wer? Einige der Namen der Komponisten sind mir vage bekannt, andere habe ich zumindest noch nie gehört – wie Gevaert. Es ist traurig, dass das Ensemble verschwindet. Seine Aufgabe wird in dieser Form nicht wieder erfüllt werden können. Die Stadt Neuburg hat einen Schatz verloren (Neuburger Kammeroper 1. August, 2025; François-Auguste Gevaert; Le diable au moulin/Der Teufel von der Mühle; La comédie à la ville/So Eine Komödie). Charles Jernigan/DeepL

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Neuburger Kammeroper 1994/NK

Über den Verein: „Seit einem Vierteljahrhundert behauptet die Neuburger Kammeroper ihren unverwechselbaren Platz in der Vielfalt des sommerlichen Festspielbetriebes. Komponisten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, die selbst dem Fachmann kaum mehr als namentlich bekannt sind, feierten mit ihren Bühnenwerken vitale Auferstehung aus langem Archivschlaf und bewiesen, daß sie – zuverlässig und liebevoll aufbereitet – auch einem heutigen Publikum durchaus noch etwas zu sagen haben.“ (Opernwelt – Oktober 1993)

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Über die Neuburger Kammeroper und ihre letzte Produktion: Wenn man in Neuburgs historischer Altstadt das hübsche Biedermeiertheater mit seinen zwei Rängen und den zierlichen Säulchen sieht, muß man sich als „Musenjünger“ wünschen, daß darin auch Werke des Musiktheaters ein wohlgestimmtes Publikum erfreuen. Das dachte sich auch der in Neuburg aufgewachsene Opernsänger und Regisseur Horst Vladar, als er 1969 mit Freunden die Neuburger Kammeroper gründete.

Neuburger Kammeroper 2014/NK

Keiner ahnte damals, daß sich das kaum subventionierte Unternehmen über 30 Jahre halten würde. Inzwischen fördern Stadt und Landkreis die Neuburger Kammeroper soweit, daß wenigstens jeden Sommer eine Produktion auf die Bühne kommt.Dies wird nur möglich, weil außer den Gesangssolisten und dem künstlerischen Führungsteam begeisterte Amateure – Orchester, Technik, Verwaltung – mitwirken. Diese Mischung gibt trotz aller Einschränkungen dem Unternehmen seinen besonderen Reiz.

Die Neuburger Kammeroper wurde über die Region hinaus bekannt, weil sie es sich zum Programm gemacht hat, nur Opern aufzuführen, die kaum an anderen Opernhäusern zu hören sind. Wo bringt man schon Opern von Komponisten wie z. B. Salieri, Himmel, Guglielmi, Philidor, della Maria, Fischietti, Logroscino, Mehul, Martin y Soler, Schweitzer, Isouard, Morlacchi, Galuppi, Gretry, Fioravanti, Danzi, Kreutzer, Mayr, Gaßmann? Verein Neuburger Kammeroper

Feuchter Rausch

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Zu oft sind weibliche Opernfiguren eher strahlende Heldinnen mit einem kleinen Knacks oder schöne Frauen im Bedrängnis. In Rameaus wohl berühmtester Oper Platée ist das ein bisschen anders. Da dreht sich alles um die Hässlichkeit. Ja:  Hässlichkeit! Und auch wer sich nicht mit Rameau auskennt bekommt diesen Eindruck spätestens, wenn er oder sie die neue Aufnahme beim Label Chateau de Versailles zur Hand nimmt. Auf dem Cover ist ein hellgrüner Frosch im weißen Brautkleid mit Diadem und Schleier zu sehen. Also eine Froschdame. So ein schräges Albumcover habe ich noch nie gesehen. Dieses Cover alleine lohnt schon den Kauf, eines der lustigsten Operncover seit langem. Absoluter Hingucker. Bei Rameau ist das eigentlich kein Frosch sondern eine Sumpf-Nymphe. Aber die sieht ja einem Frosch ziemlich ähnlich und gehört jetzt nicht wirklich zu den attraktiven Damen. Götter-Fürst Jupiter möchte in dieser Oper seiner Frau Juno ein für alle Mal beweisen, dass sie nicht eifersüchtig zu sein braucht. Dafür umwirbt er diese hässliche Nymphe. Und inszeniert das Ganze als Riesenhochzeit mit allem Pomp, um dann auf dem Höhepunkt seiner rasenden Gattin zu sagen: „Alles nur ein Joke“. Übrigens besonders abgefahren ist, dass Platée als eine Travestie-Rolle von einem hohen Tenor (einem haute-contre) gesungen wird, in diesem Fall von Matthias Vidal, der seinen Part auch prachtvoll ausführt (wenngleich er kein echter haute-contre im alten Sinne wie Michel Sénechal z. B. ist), und man merkt auch mit viel Genuss er seine Rolle auslebt.

Platée ist diese besagte hässliche Nymphe in der Oper und musikalisch auch eindrücklich gestaltet. Eine unattraktive Sumpf-Nympfe, die hier für einen Spaß missbraucht wird. Wir können darüber lachen, aber siehat ja auch was Tragisches. Ist das dem heutigen Publikum in einer Zeit von Mobbing, Scamming, Body-Shaming und so weiter überhaupt noch vermittelbar? Das Interessante ist ja, dass wir immer glauben, wir seien heute besonders sensibel in solchen Sachen, aber die Franzosen waren das damals auch schon. Auch 1745 war der Stoff brisant, zumal das Werk für eine Hochzeit, eine royale, aufgeführt wurde. Anlass der Aufführung war die Vermählung von Louis, Dauphin von Frankreich, Sohn König Ludwigs XV., mit der Infantin Maria Theresia von Spanien. Und die Braut war auch damals nicht so der wirkliche Hingucker. Viele waren nicht begeistert von dieser wenig sensiblen Handlung. Voltaire zum Beispiel regte sich furchtbar auf und fand das den Gipfel der Unanständigkeit. In seinem Totalverriss sagt er, alle Rameau-Opern seien unausgewogen, aber diese sei das abscheulichste Schauspiel, das er je gesehen und gehört habe. Und dann auch noch für eine königliche Hochzeit!

Grausame Streiche sind in der Oper ja keine Seltenheit. Man denke an Donizettis Don Pasquale bis zu Wolf-Ferraris Sly. Aber man kann dem ganzen auch eine tragische Komponente abgewinnen.  Platée lässt sich auch anders lesen, nämlich als eine Studie über Eitelkeit. Denn so ganz Opfer und unschuldig an der Situation ist die Nymphe ja nicht, weil sie total leichtgläubig sich eben für hochattraktiv hält. Sie findet es ganz normal, dass der Göttervater vorbeikommt und sie umwirbt. Das gehört sich so und steht ihr zu. Vielleicht ist dies auch eine Parodie auf dem Versailler Hof und dessen Umtriebe …

Charles-Antoine Coypel: Pierre Jélyotte in der Rolle der Nymphe Platée, um 1745/Wikipedia

Rameau zeigt sich hier als ein Komponist, der grausam und kalt mit der Umgebung spielt, was ich spannend auch vielschichtig finde. Die kommentierenden Chöre haben mitunter eine fast Offenbachsche, grelle Bosheit. Platée gehört ja zu den bekanntesten Opern von Jean-Philippe Rameau, auch zu den besten. Musikalisch ist dies vielleicht nicht die komplexeste davon. Da gibt es Opulenteres. Aber die Schrägheit des Stoffs allein lässt sie ein Publikumsrenner sein. Die relativ schlichte Handlung macht es auch möglich, dem Ganzen leicht zu folgen. Was nicht gerade der Normalzustand im Barocktheater ist. Und ein Tenor in Frauenkleidern macht auch immer was her.

Das Werk gehört tatsächlich zu den erfolgreichsten Bühnenwerken Rameaus überhaupt. Seit den 1950ern, als es (in Aix?) wiederentdeckt wurde, ist es immer wieder inszeniert worden.  Dagegen wurde recht selten eingespielt. Diese hier ist erst die fünfte Gesamtaufnahme. Das klingt paradox: So viele Inszenierungen und dann nur so wenige CD-Gesamtaufnahmen (optische gibts mehr).

Wer´s optisch nacherleben will hat an Marc Minkowskis/Laurent Pellys Pariser  Aufnahme seine ungezügelte Freude bei Arthaus.

Was sicherlich daran liegt, dass das Werk seine Hauptstärken in der Optik besitzt:  eben eine musikalisch illustrierte Ballett-Optik, eine komische Ballettoper.  Mit extrem vielen Tänzen. Die Männerrollen überwiegen massiv. Das ist auf der Bühne natürlich sehr lustig, aber akustisch ist diese von Voltaire bemerkte Unausgewogenheit sehr deutlich. Und auch ermüdend auf die Dauer. Immer dieses Jammern und eitle Gesinge von der Nymphe, und immer der hohe Tenor.  Dem muss man für eine rein akustische Wirkung gegensteuern und versuchen, die musikalische Textur spannend zu machen, um die fehlende Optik zu ersetzen. Ich finde man hat hier sehr erfolgreich sein Möglichstes gegeben. Und mit Valentin Tourné steht ein sehr junger Dirigent am Pult (28 letztes Jahr, als das aufgenommen wurde). Junge Menschen sind ja in der Regel ungeduldiger als ältere. Das ist in diesem Fall eine Tugend, weil Tourné sich nicht langweilen will und dem Ganzen viel Tempo gibt. Die orchestrale Seite ist einfach glänzend. Die Tänze glitzern hier in herrlichen Farben. Rhythmisch ist das Spiel sehr nervös und vorwärtsdrängend, pulsierend. Man wartet nicht während der Ballette darauf, dass endlich wieder gesungen wird. Ein Riesenverdienst, finde ich. Es liegt wirklich daran, dass die Tänze und die Sänger exzellent klingen. Diese Sängerriege überragt um die gefeierte Gesamtaufnahme unter William Christie (bei hmf). Voltaire hat ja nicht ganz unrecht, wenn er sagt, dass die Musik selber den Stimmen (zu) viel abverlangt. Diktion und Technik müssen perfekt sein bei einem so recht spannungslosen Werk, das sich auch mal dahinzieht. Und damit das Ganze für den Hörer witzig bleibt, muss man gute Stimmen haben, wie hier. Matthias Vidal singt die Titelpartie mit Aplomb. Hier ist er in seinem Element, hat diesen Mut zur Hässlichkeit und zur Selbstpersiflage und ringt dieser armen Nymphe sogar schöne Töne ab. Marie Lys in der Rolle des Wahnsinns ist auch persönlich der Wahnsinn, geht mit ihrer Koloraturarie absolut „wahnsinnig“ an ihre Grenzen, wirklich beglückend.

Ich würde diese Aufnahme auch klanglich den Vorzug vor der Christie-Einspielung geben, weil hier ist der Bühnenraum nicht so präsent wie in der Konkurrenzaufnahme ist. Die Mikros sind hier besser aufgestellt. Ich bin insgesamt sehr glücklich damit (mit Mathias Vidal, Marie Lys, Zachary Wilder, Alexandre Duhamel, Juliette Mey, David Witczak, Cecile Achille, Cyril Costanzo;  La Chapelle Harmonique; Leitung Valentin Tournet; Château de Versailles, 2 CD/CYS 153/ 24. 07. 25). M. K./S. L.

 

Herbert Blomstedt

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Der pure, nur dieser Gattung zugeneigte „Opern“freund wird auch von der mittlerweile dritten, erweiterten Auflage von Mission Musik, in dem Julia Spinola den schwedischen Dirigenten Herbert Blomstedt befragt, enttäuscht sein, denn Oper ist ihm wegen des Vibratos der Opernstimmen suspekt, führte sogar dazu, dass er einst seine Tätigkeit in Dresden bei der Staatskapelle  beendete. Diese sollte nach dem Wiederaufbau der Semperoper verstärkt Opern-, nicht vorwiegend Sinfonieorchester sein. Wer sich jedoch für klassische Musik generell interessiert, für den ist das Buch geradezu eine Offenbarung und zugleich ein Genuss, denn so tief-und hintergründig sind die Äußerungen des mittlerweile 97jährigen Dirigenten, dass der Leser meint, dieser fange mit seinen Ausführungen da erst an, wo andere längst die Waffen gestreckt haben.

Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, die jeweils mit der markantesten Aussage als Überschrift beginnen, es folgt die Nennung des Ereignisses, mit dem es verknüpft ist, und danach geht die Verfasserin meistens chronologisch vor. In der Neuauflage ist auch noch das Vorwort von 2017, dem Jahr der Ersterscheinung und zugleich von Blomstedts 90. Geburtstag, in dem Spinola ihre Vorgehensweise erläutert, als Anlass für den Wunsch nach einer Zusammenarbeit ein Konzert 2016 in Berlin ein Konzert mit Werken von Dvorak und Franz Berwald nennt, dem ein halbes Jahr lang Zusammenkünfte auf Gastspielreisen, im Ferienhaus in Schweden und anderswo folgten. Das letzte Kapitel entstand im Frühjahr 2025, zwischen beiden Ausgaben hatte des Dirigenten Interesse vor allem Brahms und Bruckner gegolten.

Geschickt wählt die Gesprächspartnerin Blomstdts zum Einstieg in ihr Buch eine Art Anekdote, die sich um einen Taktstock dreht, ein Werkzeug, das er meistens verschmäht, das er aber zu Ehren des Komponisten Wilhelm Stenhammar, dem es gehört hatte, zum Einsatz brachte.

An Goethes Vom Vater hab‘ ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabulieren erinnern die Aussagen des Dirigenten über sein adventistisches Elternhaus, auch der Sohn vereint in sich das Beharren auf einmal verinnerlichten Grundsätzen, verbunden mit Kompromissbereitschaft, so wenn es um Aufführungen oder Proben am adventistischen Sabbath geht. Beinahe noch mehr spricht für ihn, dass sonst kompromisslose Orchestermusiker sich auf seine Vorschläge einlassen, um ihn zu halten.

Blomstedt, so erfährt der Leser aus den ersten drei eher chronologisch gegliederten Kapiteln des Buchs, gelingt der Karrieresprung zu den ganz großen Orchestern dank des allerdings Nichteinmarsches der Volksarmee 1968 in die Tschechoslowakei, durch den Gewandhausorchester wie Staatskapelle ihrer tschechischen Dirigenten beraubt wurden. Ungemein interessant und sich deckend mit Passagen im Roman Uwe Tellkamps  Der Turm sind die Ausführungen über das Musikleben im von Blomstedt heiß geliebten Dresden und über das Verhalten der DDR gegenüber Künstlern in seiner ganzen Armseligkeit, was deren Ausbeutung  betraf. Gleichzeitig erkennt er, dass die quasi kulturelle Inzucht auch zur Bewahrung eines unverwechselbaren Orchesterklangs führte, der nach der Wende verloren ging.

In den Gesprächen mit Spinola bekennt sich der Dirigent dazu, ein „verkappter Romantiker“ zu sein, Vorbehalte gegenüber in der SU gelebt habenden Komponisten nur schwer überwinden zu können, und an Astrid Lindgrens Steuerprobleme erinnern die seinen, die ihn Schweden zugunsten Luzerns in der Schweiz verlassen lassen. Inzwischen ist er jedoch in sein Heimatland zurückgekehrt.

Das Buch ist außerordentlich faktenreich, erzählt von der Geigensammelsucht und kurz danach davon, was an teuren „Andenken“ er bereits der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, setzt sich mit der alten deutschen und modernen Orchesteraufstellung auseinander, bei der er die erstere wie  auch Christian Thielemann bevorzugt, und er wagt, wenn auch behut- und einfühlsame Kritik an Kollegen, wenn er mit den  Folgen von deren Wirken, so dem „dunklen und dicken“ Klang des Gewandhausorchesters zu kämpfen hat. Noch kritischer ist er wohl gegenüber sich selbst, wenn er das Urteil „Undankbarkeit“ durch eine amerikanische Mäzenin akzeptiert.

Unterhaltsam, tiefgründig und immer von großem Ernst erfüllt sind die Aussagen von Herbert Blomstedt, er ist bereit, einmal gefasste Meinungen zu korrigieren, so die über Richard Strauss oder Franz Liszt , tiefes Bedauern erfüllt ihn, wenn er den Verfall Leonard Bernsteins konstatieren muss, und ganz besonders berührt die Bereitschaft, seiner Gesprächspartnerin mit vielen Beispielen alles über Melodie, Metrum, Periodenbau oder Instrumentation zu erklären.

Während er mit den Jahren selbst immer sparsamer in seiner Dirigiergestik geworden ist, aber bereits von Anfang an genialisches Herumfuchteln verachtet hat, schätzt er hingegen „akribisches Proben“, nach dem sich im Konzert „neue Dimensionen öffnen“ können.

Die „Macht der Popmusik“ und die „Verkümmerung der ästhetischen Fähigkeiten“ machen dem Dirigenten Sorgen, und Themen wie diese werden nicht als Frage- und Antwortspiel, sondern in gegenseitiger Anregung und Ergänzung abgehandelt.

Wenn Herbert Blomstedt ein Konzert vorbereitet, dann bedeutet es für ihn nicht nur Proben mit dem Orchester, sondern auch eine intensive Beschäftigung mit dem Komponisten, so wie während der Entstehung des Buches mit Bachs Johannes-Passion, die ihn den Komponisten als „allgemeinen Christen“ und damit sich selbst nahe stehend empfinden lässt. Einen ähnlichen Stellenwert hat für ihn Mendelssohns Lobgesang. Der letzte Satz aber heißt: „Letzte Entscheidungen werden woanders gefällt“, worüber man nachdenken kann wie darüber, ob es den Herren Blomstedt und Barenboim noch gelingt, ihr Vorhaben, Furtwänglers Klavierkonzert aufzuführen, zu realisieren.

Der reichhaltige Anhang ist ebenfalls eine Erwähnung wert, so wie das Cover eine längere Betrachtung wegen des zugleich Skepsis, verhaltene Zustimmung signalisierenden Gesichtsausdrucks und des einen Einwand erahnen lassenden erhobenen Zeigefingers (Henschel Verlag und Bärenreiter Verlag 2025; 200 Seiten, zahlreiche Farbfotos; ISBN 978 3 89487 950 1 Henschel; ISBN 978 3 7618 2417 7 Bärenereiter; Foto oben Still aus dem MDR Film von Paul Smaczny/youtube ). Ingrid Wanja

Gefiedertes aus Apulien

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Das Festival della Valle d’Itria in Martina Franca ist nicht wirklich eines der größten aber doch eines der verdienstvollsten italienischen Festivals, im süditalienischen Apulien gelegen, mit Bari als dem nächsten Flughafen und nur wenige Kilometer entfernt von Alberobello, der Ortschaft mit den berühmten Trulli, putzigen Rundbauten, die wegen eines Verbots des Grundherren, „normale“ Häuser aus Stein zu erbauen, entstanden und nun seit langem (auch als gut klimatisierte Wohnungen) ein Hauptanziehungspunkt für Touristen sind.

Seit 1975 gibt es das Festival, das sich durchgehend, auch wenn Intendanten und direttori artistichi jeweils eigene Akzente setzen, der Wiederentdeckung in Vergessenheit geratener Werke widmet, namentlich der von ortsansässigen Komponisten der Vergangenheit und vor allem des Belcanto und der neapolitanischen Schule. Lange Jahre lang war Musikpapst Rodolfo Celletti maßgebend für viele Entdeckungen alter Kompositionen und junger Sänger, die hier ihre Karriere starteten. Für letztere, aber auch für opern-verpflichtete Journalisten, gab es jedes Jahr einen Preis, den 2002 der Herausgeber der operalounge, Geerd Heinsen, gewann. Wenige italienische Sänger wagten es damals, eine neue Partie anzunehmen, ohne vorher Celletti um Rat gefragt zu haben, und inzwischen trägt die dortige Accademia seinen Namen zu seinem Gedächtnis und als Anmeldung eines hohen Anspruchs. Wenngleich auch an seinen Nachfolger, den französischen Journalisten und Opernfachmann Sergio Segalini, erinnert werden muss.

Allerdings musste man und muss wohl immer noch  allerlei Unbill in Kauf nehmen, so erinnere ich mich an eine regenbedrohte Così fan tutte mit dem oft in Martina Franca wirkenden Fabio Luisi in einem Kino ohne Klimaanlage, und auch im Hauptspielort, dem Hof des Palazzo Ducale, musste man mit zeitweisem Stromausfall rechnen, so dass es lange Unterbrechungen und Pausen und einen sehr späten Heimweg nach Alberobello gab. Aber Italiener lieben ja Spätnächtliches, namentlich im heißen Sommer.

Im Jahr 2023 gab es im Teatro Verdi Florian Leopold Gassmanns dramma giocoso Gli Uccellatori, also die Vogelfänger, die nichts mit der Zauberflöte zu tun haben, wohl aber mit Mozart, denn seine Finta semplice musste 1774 in Wien der Gassmann-Oper weichen. Das Libretto stammt von Carlo Goldoni und ist eine typische Buffa, sogar eine, bei der die untere Schichte des Personals der oberen voraus hat, die Finali singen zu dürfen in einer Liebesgeschichte, in der es erst einmal kreuz und quer durch die sozialen Schichten geht, ehe sich Standesangehöriger zu Standesangehörigem findet, nur einer unverbunden übrig und ehelos bleibt.

Die Aufnahme enthält die Wiener Fassung, die im Unterschied zu der aus Venedig nicht nur Streicher erfordert, und das Orchestra ICO della Magna Grecia unter Enrico Pagano erweist sich als kompetente Begleitung für die Sänger, manchmal etwas unausgewogen, was das Verhältnis der Instrumentengruppen zueinander betrifft, aber insgesamt doch spritzig und spielfreudig.

Auch in Italien kommt man nicht mehr ohne nichtitalienische Sänger aus. Die eine große Virtuosität erfordernde Partie der Contessa Armelinda ist mit der Isländerin Bryndis Gutjónsdóttir besetzt, die einer Königin der Nacht würdige Koloraturen souverän beherrscht, die aber auch einen neckischen Soubrettenton annehmen kann. Diesen beherrscht souverän Angelica Disanto als Mariannina mit Frische, Klarheit und Pep, in Moll ausgesprochen apart klingend. Die dritte Dame ist Roccolina, der Justina Vaitkute einen satten Mezzosopran verleiht, der Schelm wie Sentimentalität im Timbre hat.

Die spektakuläre Tenorentdeckung wie einst mit Giuseppe Morino findet auf diesen CDs nicht statt. Etwas trocken, aber musikalisch nimmt sich Massimo Frigato des Riccardo an, mit beachtlicher Geläufigkeit meistert er  anspruchsvolle Verzierungen beachtlich. Zwischen Buffo- und Charaktertenor bewegt sich der Toniolo von Joan Folqué, der sich auch mal im Falsettone bewegt und von dem man in den Ensembles mehr Einsatz erwarten dürfte. Mit warmem, farbigem Bassbariton agiert der Cecco von Elia Colombotto mit viel Schalk in der manchmal etwas holprig eingesetzten Stimme. Huigang Liu ergänzt als vokal recht schüchterner Pierotto das Ensemble, also haben die Vogelfänger auch  Vogelnamen, was die so geehrten, die auch heute noch vereinzelt als winzige Kadaver auf den Märkten zum Verzehr angeboten werden, ihnen kaum danken würden (Dynamic CD58033.02). Ingrid Wanja     

Festspieldokument

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Adina oder Il Califo di Bagdad ( nicht zu verwechseln mit Boieldieus gleichnamiger Oper) heißt eine Farsa von Gioacchino Rossini, die ein heute nicht mehr bekannter Auftraggeber für eine heute ebenfalls nicht mehr identifizierbare Sopranistin bei Rossini und für das Sao Carlo von Lissabon bestellt hatte und die nicht wie vorgesehen 1818, sondern erst 1826 dort uraufgeführt wurde, als sie zusammen mit dem zweiten Akt von Semiramide endlich die Scheinwerfer, vielmehr das Kerzenlicht der Bühne erblickte. 2018, ein Jahr nach dem Tod von Alberto Zedda, der vielleicht noch an der Planung beteiligt gewesen war, fand man sich in Pesaro zur Zusammenarbeit mit dem Festival von Wexford, schon immer eine Adresse für erfolgreiche Ausgrabungen, zu einer Gemeinschaftsproduktion zusammen, die einen schönen Erfolg verbuchen konnte.

De Inhalt isst kurz und vollkommen schmerzlos schnell erzählt: Junges Mädchen glaubt Liebhaber tot und ist deshalb der Heirat mit reichem Alten nicht abgeneigt. Der Exgeliebte kehrt heil und gesund zurück, sie will mit ihm der drohenden Hochzeit entfliehen, beide werden gefasst, der Liebhaber soll sterben, aber rechtzeitig kommt durch ein Schmuckstück heraus, dass die treulose Geliebte eigentlich die Tochter des Alten ist, der verzeiht und glücklich wie alle anderen ist.

Dankenswerterweise hat sich C-Major der Produktion angenommen, so dass man einerseits allerbesten, spritzigsten Rossini voller Einfallsreichtum und andererseits die inzwischen zum Star gewordene Sopranistin Lisette Oropesa bewundern kann. Ein weiterer Glücksfall ist die optische Umsetzung durch die Regisseurin Rosetta Cucchi und ist es besonders die Bühne von Tiziano Santis, die aus einer dreistöckigen Hochzeitstorte, während der Sinfonia noch in Arbeit, besteht, in der unten der zu einer Art Geschäftsmann mutierte Califo zwischen orientalisch inspirierter Kachelwand und im üppigen Schaumbad residiert, in der Mitte Adina mit zwei stummen Gefährtinnen meistens vor dem Spiegel sitzt, darüber eine Gefängniszelle zeitweise ihren Liebhaber beherbergt und darüber noch ein als Dekor ein Zuckergussbrautpaar thront, das sich gern unter die zahlreichen Statisten am Boden mischt. Da gibt es unzählige, aber nie das Stück erschlagende Einfälle wie die unzähligen Koffer, die Adina auf ihrer Flucht mitnehmen will, oder die lustig charakterisierenden Kostüme von Claudia Pernigotti, die teilweise die Farben der Torte aufnehmen. Auch an die Lachmuskeln reizenden Requisiten fehlt es nicht, seien es die durch die Luft fliegenden Erdbeeren oder sogar ein herziger kleiner Hund, obwohl doch vor Tieren auf der Bühne immer gewarnt wird. Orientalisches wird nicht ganz verbannt, beschränkt sich aber auf Mokkakännchen oder Prunkkaftan.     

Nicht nur wegen des Entstehungsanlasses, wohl das Geschenk eines Liebhabers an einen Sopran, oder des Titels,  sondern auch wegen der Besetzung ist das eine ausgesprochene Primadonnenoper. Inzwischen ein Opernstar, ist Lisette Oropesa eine kapriziöse, zauberhafte Adina mit hellem, seidig schimmerndem, in der Höhe aufblühendem Sopran, apart timbriert, fein ausziselierte Verzierungen singend, die am Schluss die einer Primadonna zustehende Bravourarie hat und meistert. Levy Sekgapane aus Südafrika ist ihr Liebhaber Selimo mit hellem, etwas scharfem Tenor, sicher in der Höhe und ausbaufähig in der Mittellage und mit einem empfindsamen „Giusto Ciel“ brillierend. Einen schlanken, dunklen Bass hat Vito Priante für den Califo, präzise auch in den Prestissimi, darstellerisch die Wandlung vom rachsüchtigen Liebhaber zum liebevollen Vater glaubwürdig darstellend. Einen hellen, scharfen Charaktertenor hat Matteo Macchioni für den Ali, Davide Giangregorio erfreut als Mustafá mit weichem, warmem Bariton. Voller Spiel- und Sangesfreude ist der Coro del Teatro della Fortuna M. Agostini einer der Protagonisten, Diego Matheuz dirigiert das spielfreudige Orchestra Sinfonica G.Rossini, und alles in allem ist pures Vergnügen (Foto © Studio Amati Bacciardi (Rossini Opera Festival)/ C-Major 767204). Ingrid Wanja