Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ein anderer Imperator

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Händels Oper Giulio Cesare in Egitto gehört zu den bekanntesten und am häufigsten aufgeführten Barock-Opern. Wer aber kennt die Vertonung dieses Stoffes durch den 1692 geborenen Geminiano Giacomelli, der zunächst als Hofkomponist in Parma wirkte und dann an die Kirche S. Giovanni in Piacenza wechselte? Cesare in Egitto (der Vorname fehlt also im Titel) auf ein Libretto von Carlo Goldoni und Domenico Lalli ist seine einzige Oper, uraufgeführt 1735 in Mailand und noch im selben Jahr in Venedig nachgespielt. Alpha hat das Werk als Weltersteinspielung auf drei CDs in einer schmucken Schachtel mit altägyptischer Wandmalerei auf dem Cover veröffentlicht (ALPHA1141). Die Aufnahme stammt aus dem Innsbrucker Landestheater, wo sie im August des vergangenen Jahres live mitgeschnitten wurde. Dort ist Ottavio Dantone Musikalischer Leiter der Festwochen der Alten Musik und steht daher auch am Pult der Accademia Bizantina, die er seit 1996 leitet. Von ihm (und Bernardo Ticci) stammt die kritische Edition für die Aufnahme, welche Material aus den Versionen für Venedig und Mailand verwendet.

Ungewöhnlich ist die Besetzung, denn der Titelheld ist – anders als bei Händel – ein Sopran und Cleopatra ein Mezzo. Die Italienerin Arianna Vendittelli ist eine lyrische Sopranistin, der die erste Arie des Werkes, Cesares Auftritt „Cadrà quel disumano“, zufällt. Sie singt den lebhaften Titel mit Energie, ohne naturgemäß eine maskuline Stimmung evozieren zu können. Noch weniger gelingt ihr das im getragenen „Bella, tel dica amore“, einem Liebesbekenntnis der zärtlichen Art. Am überzeugendsten sind das mit heftiger Wucht vorgetragene „Col vincitor mi brando“ im 2. Akt, in dem auch die rasenden Koloraturläufe beeindrucken, und ihr finaler Auftritt mit „A un cor forte“.

Die Ungarin Emöke Baráth, renommiert in der Alte-Musik-Szene und früher selbst Sopran, hat nun in das Mezzo-Fach gewechselt. Ihr Klang ist freilich noch immer sopranig und die Auftrittsarie „Fier Leon di sdegno acceso“ von imposanter Virtuosität. Ähnlich bravourös und souverän präsentiert ist ihre Arie „Chiudo in petto un cor altero“, welche den 1. Akt beschließt.

Das Personal der Oper ist weitestgehend identisch mit Händels Dramma per musica, also finden sich hier auch Cornelia und Tolomeo. Erstere gibt Margherita Maria Sala mit expressivem Alt, der in seiner Vehemenz an den von Lucile Richardot erinnert, die Händels Cornelia in Salzburg gesungen hatte. Das ungestüm herausgestoßene „Oppressa, tradita“ zeigt die Figur im Ausnahmezustand. Tolomeo ist ein Tenor und in Gestalt von Valerio Contaldo ein robuster Vertreter seines Faches. Dennoch lässt er in seiner Arie „A quelle luci irate“ am Ende des 1. Aktes auch weichere Töne hören. Kontrastreich dazu sein heroischer Auftritt „Scende rapido spumante“ mit stürmischen Koloraturläufen, der den 2. Akt beschließt. Die Riege der Countertenöre vertreten Filippo Mineccia als General Achilla und der junge Federico Fiorio (er sogar ein Sopranist) als Cornelias Liebhaber Lepido. Mit seiner kindlichen Stimme wirkt er in dieser Rolle etwas unglaubhaft – passender besetzt war er als Cornelias Sohn Sesto in der Aufführung von Händels Oper bei den diesjährigen Salzburger Festspielen. Gleichwohl sorgt er in seinen Arien „Vibrano i Dei talora“ im 1. und „Vendetta mi chiede“ im 2. Akt für begeisternde Meisterschaft. Auch sein letztes Solo, „Scorre per l´onde ardito“ am Ende der Oper, ist ein Bravourstück par excellence. Mineccia bringt sich mit seinem charaktervollen Timbre und vehementem Vortrag vorteilhaft ein. Eindrucksvoll trumpft er in „Al vibrar della mia spada“ zu Beginn des 2. Aktes auf und hat im 3. mit „Nel sen mi giubila“ eine melodisch reizvolle Nummer.

Ottavio Dantone bemüht sich, die Längen des Werkes, bedingt auch durch ausgedehnte Rezitative und die Häufung der Gleichnis-Arien, mit Affekt geladenem und an Farben reichem Musizieren auszugleichen. Die einleitende zweiteilige Sinfonia ist ein rasanter Einstieg, doch hält sich.  dieser Eindruck nicht durchgängig, was eher am Werk als an der Interpretation liegt. Ob es sich als Repertoire-Stück halten wird, ist fraglich. Aber viele Arien sind reizvoll und taugen durchaus für Arien-Alben von Sängern oder deren Konzertprogramme (02.10.25). Bernd Hoppe

Festivals 2025

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Auch in diesem Jahr sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel. Eine Auflistung alle Festival-Beiträge finden sie hier.

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Teatro Regio di Parma: Das 25. Festival Verdi im Zeichen Shakespeares. „Sciopero“, das Unwort der frühen Jahre, als ich regelmäßig in mehrere italienische Theater reiste, ist wieder da. Damals musste man regelmäßig auf Zugstreiks gefasst sein, die allerdings durch einen gut funktionierenden Überlandbusverkehr abgefedert wurden, oder auf Aktionen, die den Theaterbetrieb lahmlegten, so dass es durchaus passieren konnte, dass die Zuschauer bereits auf den Dirigenten warten und stattdessen die Intendanz die kurzfristige Absage der Aufführung verkündete.

Der aktuelle Generalstreik betraf auch die Falstaff-Premiere im Teatro Regio und machte somit die sogfältige Planung des Festival Verdi kaputt, das sein 25jähriges Jubiläum im Zeichen Shakespeares begehen wollte. Vielleicht liege ich falsch. Aber mir erschien das diesjährige Programm ohnehin etwas bescheiden. Was daran liegen mag, dass das Rahmenprogramm von der Verdi-Street Parade bis zu den unzähligen Verdi-Off Programmpunkten in Lauf der zehn Jahre, die dieses Neben-Festival besteht, immer reichhaltiger wurde. Und Verdi hat eben nicht mehr Opern nach Shakespeare komponiert.

Es bleibt im Jubiläumsjahr also bei drei Opern, im Gegensatz zu vier Opern in zurückliegenden Jahren, davon eine in einer bereits gezeigten Inszenierung. Dies wäre der Falstaff gewesen, mit dem Jacopo Spirei einen Blick ins Brexit-England geworfen hatte, wo sich unter dem Blick von Elisabeth II. nichts zum Guten wendete. Das Thema ist gewichtig: Shakespeare war, neben Schiller und Victor Hugo, der Schwerpunkte in Verdis literarischer Beschäftigung. Die Shakespeare-Bewunderung umspannt Verdis gesamtes Schaffen und mehr als ein halbes Jahrhundert vom frühen Macbeth (1847) bis zum späten Otello (1887) und dem Schwanengesang Falstaff (1893), von der Romantik bis zum Anbruch der Moderne, von der Belcanto-Oper bis zum Musikdrama. Vom politischen Drama, in das kein Lichtstrahl fällt, bis zur dunklen Eifersuchtstragödie des Otello, mit dem, wie der künstlerische Leiter Alessio Vlad unterstreicht, Verdi gar bis zum Expressionismus vorstieß.

Für seine erste Oper nach einem Stück des verehrten Shakespeare hatte Verdi 1846 noch selbst das Prosa-Szenarium mit den Höhepunkten des Dramas mit der Prophezeiung der Hexen, dem Mordplan, der Ermordung des Königs Duncan, dem Bankett und der Nachtwandelszene entworfen. Der von Verdi bereits bei Ernani und I due Foscari beschäftigte Francesco Maria Piave brachte das Gerüste in Reime und stellte das Libretto fertig. Verdi war unzufrieden und demütigte Piave, indem er Andrea Maffei für Korrekturen heranzog. Bei den anschließenden, reich dokumentierten Proben im Frühjahr 1847 in Florenz kümmerte sich Verdi, der im Vorjahr aufgrund eines Burnout noch ein halbes Jahr pausieren musste, um alles, feilte an allem und jedem sowohl bei szenischen wie musikalischen Belangen und erwies sich erstmals als der Mann des Theaters, der er fortan blieb. Vor allem die Bankettszene mit der Erscheinung des toten Banquo wollte er mit allen Mitteln der Illusionskunst dargestellt sehen. Die Uraufführung war ein Ereignis. Für Paris arbeitete Verdi die Oper 18 Jahre später um, denn „Es gibt das Stücke“, wie er meinte, „die entweder schwach sind oder, was noch schlimmer ist, gar keinen Charakter haben“.

Das Festival Verdi kehrte im Jubiläumsjahr zur Urfassung von 1847 zurück, die hier bereits 2018 gespielt wurde und durchaus ihre Meriten hat. Acht Jahre später lässt sich die aktuelle Neuinszenierung der Urfassung im Teatro Verdi in Busseto deutlich mit der späteren Version vergleichen, die man aufgrund der gerade erst im Vorjahr gezeigten ersten szenischen Aufführung der (bereits 2020 konzertant gespielten) Versione francese, Paris 1865 noch in bester Erinnerung hat. Diese 1874 in italienischer Sprache erstmals an der Mailänder Scala erklungene Fassung hat sich seither durchgesetzt. Die Cabaletta der Lady zu Beginn des zweiten Aktes „Trionfai“ ersetzte Verdi später durch „La luce langue“. Neben dem Duett Lady/ Macbeth „Ora di morte“ anstelle der Cabaletta „Vada in fiamme“ des Macbeth im dritten Akt, besteht die wesentliche Änderung im neuen Finale mit der abschließenden Schlachtfuge statt der ursprünglichen Szene des Macbeth „Mal per me“.

Verdi Festival Parma 2025: Verdis „Macbeth“ 1847/Szene/Roberto Ricci Teatro Regio di Parma

Bei der Aufführung im kleinen Teatro Verdi in Busseto (4. Oktober) hätte man vielleicht erwartet, dass Regisseur Manuel Renga, in Erinnerung durch seinen hiesigen Falstaff sowie Chiara e Serafina beim Donizetti Festival, mit den technischen Möglichkeiten und Gegebenheiten eines historischen Theaters arbeitet, wie sie Verdi im Teatro della Pergola mit den dortigen Versenkungen ausnützte, stattdessen umrahmt er den Orchestergraben durch eine großzügige, von den Akteuren bespielte Treppenanlage, wodurch das Orchester quasi zum Träger der Handlung wird. Das ist ganz geschickt, denn Francesco Lanzillotta lässt den Macbeth in der ganzen knarzigen Wildheit aus Verdis frühen Jahren erklingen, hat aber den Nachteil, dass der ohnehin unglaublich kleine Zuschauerraum durch wegfallende Reihen zusätzlich verkleinert wird. Aus der Loge ist das wunderbar anzusehen, denn wir sind ganz nah am Geschehen und die Sänger streifen mit ihren Kostümen fast über unsere Brüstung. Besonders wirkungsvoll erscheint die Szene beim Hexensabbat, als Macbeth neuerlich die Wesen befragt und erfährt, dass ein von einer Frau Geborener ihn töten und er regieren werde, bis sich der Wald von Birnam auf ihn zubewegt, sowie die anschließende Prozession der acht Könige. Obwohl die Stimmen der Erscheinungen aus einer Loge kommen und die Könige durch ein Schatten- und Puppenspiel illustriert werden, blicken Macbeth und die Hexen tief in den Graben, wo die Musik das Drama entzündet und das Phantastische in die Realität eindringt. Regisseur Renga hält sich nicht mit tiefenpsychologischen Schachzügen auf und stellt das Übernatürliche ins Zentrum, die schwarzen Frauen, die mit allerlei Gerätschaften, Schattenfiguren, Seilen und Schriftstücken in die Vergangenheit und Zukunft blicken können: „Vaticinio“ sagt die Leuchtschrift quer über der Waldszene mit den Hexen, die „Prophezeiung“ erfüllt sich, bestimmt zugleich die Realität, die Rengas Ausstatter Aurelio Colombo mit zeitlosen Kostümen in eine weiße Kastenbühne packt, wo die Lady auf den Gatten wartet, wo Duncans nackter Körper aufgebahrt ist, wo das Bankett stattfindet und Macbeth den Teufel und die Mächte der Hölle selbst zu sehen glaubt; dazu eine Waschschüssel mit schwarzer Flüssigkeit, in der sich Macbeth und die Lady die Hände so schmutzig machen, dass sie nie wieder sauber werden. Das ist sinnfällig, einfach, wirkungsvoll. Lanzillotta zaubert mit dem Chor des Teatro Regio di Parma und dem Orchestra Giovanile Italia mit der ganzen Überwältigungskunst, zu der Verdi fähig ist. Gespielt wurde die kritische Edition von David Lawton. Das ergibt nicht nur im ersten Finale einen Raumeffekt von vibrierender Intensität und Dichte, der die Zuschauer in das Geschehen hineinzoomt, sondern zeigt, wie Verdis moderne psychologisierende Anlage in Belcantoschablonen eindringt und wie gestisch motiviert seine Musik ist. Rau, grell, aber auch federnd und elegant. Der von Mozart und Rossini kommende Baritono nobile Vito Priante ist die richtige Besetzung für die Titelrolle, die er erstmals sang. Die sicherlich recht konventionelle, doch wiederum sehr schöne Cabaletta „Vada in fiamma“ gewinnt durch einen Sänger dieses Typs an Überzeugungskraft, darüber hinaus besitzt der Bariton eine durchgehend dunkle und reiche Substanz, die auch den reflektierenden Momenten gerecht wird. Maria Cristina Bellantuono gelingt als Lady ein Kraftakt, der nicht überall möglich scheint. Die 33jährige aus Bari stammende Sopranistin hält sich nicht bei kleinen Rollen auf, hat schon vor zwei Jahren im dortigen Teatro Petruzzelli Turandot gesungen und macht deutlich, dass Verdis erste Lady eine überragende Koloraturvirtuosin war, so markant klingen die Gruppetti, kristallin die Verzierungen und gestochen klar die Höhen in „Vieni t’affretta“ und der Arie „Or tutti sorgete“ sowie in der hochromantisch virtuosen Arie „Trionfai“, doch die Partie ist auch kräftezehrend strapaziös, wodurch die ohnehin erkämpfte Mittellage und Tiefe vielfach noch trotziger klingt. Eine Wucht ist der 31jährige Adolfo Corrado, dessen voluminöser, tiefschwarzer Bass, unerschütterlich wie eine Klangsäule steht. Matteo Roma, der den Macduff sang, dürfte sich eher im lyrischen Fach wohlfühlen, während Francesco Congiu als Malcolm Potenzial für die italienische jungen Helden von Puccini und Verdi erkennen ließ. Markant die in Pesaro ausgebildete Melissa D’Ottavi als tonschöne Dama di Lady Macbeth.

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Mit Otello war Verdi erstmals nach langer Unterbrechung wieder zu Shakespeare zurückgekehrt. Nach sechsjähriger, anhand Verdis Briefwechsel mit Boito reich dokumentierter Entstehungszeit und 16 Jahre nach seiner letzten Oper (Aida 1871) kam es, abgesehen von den Neufassungen des Simon Boccanegra und Don Carlos, wieder zu einer veritablen Premiere, die sich für den 74jährigen Verdi am 5.2.1887 an der Mailänder Scala zu einem Triumph gestaltete. Fünf Monate später erklang die Oper bereits in Parma, wo Roberto Abbado sie zur Eröffnung des Festival Verdi jetzt erstmals in der von Linda B. Fairtile besorgten neuen Edizione critica dirigierte, ohne einen ähnlich starken Eindruck wie der Macbeth-Kollege zu hinterlassen. Mit der Filarmonia Arturo Toscanini warf Abbado einen, vielleicht auch beeinflusst von der Inszenierung, kühl analytischen Blick auf das Werk, zu dem er keine Beziehung aufzubauen scheint. Die Konversationsszenen, Rede und Gegenrede in den Szenen Otellos mit Desdemona sowie in Jagos Momenten mit Cassio und Rodrigo, wirken merkwürdig gestelzt, ein großer dramatischer Fluss aus geballten Chorszenen, deklamatorischen Monumenten und ariosen Blöcken stellte sich nicht ein, selbst der formidable Chor des Teatro Regio wirkte in der Sturmszene zu Beginn oder im großen Concertato des dritten Akts wie ausgebremst. Erst im vierten Akt stellte sich eine Dringlichkeit und Wort-Musik-Einheit ein, die der Aufführung ansonsten so ganz abging. In der zweiten Aufführung (5. Oktober) sprang Jusif Eyvazov für den indisponierten Fabio Sartori ein. Dieser Otello ist ein erfahrener Feldherr, der schon viele Schlachten geschlagen hat, das Timbre ist etwas gräulich geworden, die Klangqualität wirkt nicht mehr einheitlich glänzend. Eyvazov ist ein routinierter, robuster, doch genauer Otello, der sich den dramatischen Herausforderungen in die Arme wirft, die Monologe scharf meißelt, während die Pianopassage („Venere splende“) nicht seine Sache sind. Für die Desdemona hat Mariangela Sicilia einen engelsgleich duldenden Lirico-Spinto- Sopran mit einem edlen Silberstreifen in der Höhe, während Mittellage und Tiefe nicht von gleicher Qualität und Substanz sind. Der Höhepunkt ist zweifellos Ariunbaatar Ganbaatar, ein Stimmwunder wie sein unwesentlich älterer mongolischer Landsmann Amartuvshin Enkhbat. Ganbaatar singt mit noch weicherem Legato, eindringlicherer Textbehandlung, und er ist ein guter Schauspieler. Der häufig von ausgeprägten Charakterstimmen gesungene Jago wirkt durch Ganbaatars sinnlichen Schöngesang noch abgefeimter, noch abgrundtief böser. Der in Parma, wo er bereits den Riccardo sang, geförderte Davide Tuscano ist als Cassio Inbegriff des nice guy. Wie all den vor ihr gesungenen Vertrauten und Freundinnen gab Natalia Gavrilan auch der Emilia starkes Profil.

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Verdi Festival Parma 2025: Verdis „Otello“ 1847/Szene/Roberto Ricci Teatro Regio di Parma

Bei den Eröffnungspremieren setzt das Festival Verdi lieber auf die vertrauten Handschriften von Regisseuren wie Pizzi, Kokkos, de Ana, Lievi oder Audi als die Buhgewitter bei Jung-RegisseurInnen wie Carrasco oder Duos vom Kaliber Ricci/Forte zu riskieren. Nach diesem Muster fiel Otello in die Hände des verdienten Schauspiel-Regisseurs Federico Tiezzi, der ab den 1990er Jahren auch Opern inszenierte, darunter den Simon Boccanegra an der Berliner Staatsoper. Tiezzi verhielt sich unauffällig, beschriftete die schwarzen Bühnenwände mit zentralen Begriffen wie „morte“, „nulla“, „fazzoletto“ und „dolore“, die vom Regen teilweise wieder wegwischt werden, und ließ Clowns und Tänzer venezianische Lockerheit verströmen. Der schwarze Kasten trägt eindeutig die Handschrift der einstigen Ronconi-Mitstreiterin und stilprägenden Szenografin Margherita Palli. Die Altmeisterin stattete ihn mit Leuchtstelen und -tafeln, Podesten und Tischen auf eleganten Rahmen puristisch aus, unterteilte ihn gelegentlich durch rote Vorhänge oder gab durch eine schmale Öffnung den Blick auf den Weltraum frei. Im dritten Akt weisen kämpfende oder zum Sprung ansetzende Raubtiere in Museumsvitrinen, zwischen denen der Chor in Konzertkleidung Aufstellung nimmt, auf die Zerrissenheit der Handlung hin. Erst im vierten Akt, der sich inmitten der weiten, leeren Bühne auf ein kleines, modernes Zimmer konzertiert, in dem nur Desdemona und Otello Platz haben, kommen sich Musik und Drama nahe. Der Raum wird nahezu zur Gänze von einem Bett samt bespanntem Kopfteil ausgefüllt, wie es in vielen Schlafzimmern Parmas stehen könnte, und schimmert im grünlich diffusen Licht eines Edward Hopper, wobei Tiezzi die Mischung aus Traum und Realismus in den Fotos von Gregory Crewdson als Anregung nennt. Rolf Fath

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Bayreuth Baroque Opera Festival: Lustvolles Barock-Spektakel. Im nach stilvoller Restaurierung 2018 wieder eröffneten  Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth gibt es seit 2020   alljährlich im Spätsommer ein Festival, das der Countertenor Max Emanuel Cencic gegründet hat. Neben seiner Funktion als Intendant wirkt er auch als Sänger und Regisseur, ist der Spiritus rector des Unternehmens, welches sich vor allem der Opera seria des frühen 18. Jahrhunderts widmet. Nach Werken von Porpora, Vinci, Vivaldi, Monteverdi und Händel in den vergangenen Jahren stand in dieser Saison der in Venedig wirkende und dort 1676 gestorbene Komponist Francesco Cavalli im Mittelpunkt des Programms, womit man einen Schritt zurück in das 17. Jahrhundert ging.

Die Festspieleröffnung galt dem Dramma per musica von 1666 Pompeo Magno, einer venezianischen Karnevalsoper. Die in Rom verortete Handlung um Konsul Pompeo und Issicratea, Königin von Ponto, sowie deren totgeglaubten Gemahl Mitridate und Sohn Farnace verlegte Cenic nach Venedig mit seinem bunten, ausgelassenen Karnevalstreiben, bevölkerte die Szene mit vielerlei Figuren, die man von den Straßen der Lagunenstadt kennt – Damen, Kavaliere, Kurtisanen, Nonnen, Kleriker, Intriganten, verwirrte Alte, Kleinwüchsige. Letztere sorgten en travestie mit zur Schau gestellten üppigen (Stoff-)Brüsten für besonderes Aufsehen. Corina Gramosteanu hatte aber auch Kostüme von opulenter Eleganz geschaffen mit edlen Materialien, stilvollen Ornamenten und subtilen Farben. Die Welt der Commedia dell´arte wurde lebendig in Kleidung und Masken, in drastischen erotischen Details, aber auch im turbulenten Treiben der Akteure. Sie alle – Sänger wie Komparsen – waren mit totalem Einsatz, atemberaubendem Tempo, ansteckender Spielfreude und imponierender körperlicher Agilität dabei. Chiara d´Anna als Bewegungscoach hatte vorzügliche Arbeit geleistet, für  jede Figur das für sie typische Bewegungsvokabular gefunden. Auf Venedig stimmte auch Helmut Stürmers Bühne mit ihrem Portal, über dem der venezianische geflügelte Löwe thront, und einem Saal mit Säulen, Podesten und bunten Glasfenstern ein.

Cavalli „Pompeo Magno“ Bayreuth Baroque 2025/ Foto © Clemens Manser Photography

Ein exzellentes Ensemble brachte Cavallis Musik mit Elan und Vitalität zum Klingen. Nicht weniger als acht Countertenöre mit Vertretern aus mehreren Generationen waren vertreten, darunter das Urgestein der Gattung Dominique Visse, der als Diener Delfo wie stets lustvoll krähte. Dagegen war der Italiener Nicoló Balducci als Pompeos Sohn Sesto ein Newcomer und mit seiner klangvollen, ausgewogenen Stimme sowie den bravourösen Koloraturläufen mehr als willkommen. Im schwarz/goldenen, reich verzierten Wams war er auch optisch ein Blickfang. Zur jüngeren Generation zählt auch der österreichische Counter Alois Mühlbacher, der als Issicrateas und Mitridates Sohn Farnace im weißen Pierrot-Kostüm jugendlich keusche Klänge einbrachte und später auch noch als halbnackter Amor mit weißen Flügeln und knappem Lendenschurz auftrat. Renommiert ist Valer Sabadus durch seine zahlreichen Tondokumente und Auftritte bei Musikfestivals. Auch bei Bayreuth Baroque war er schon zu Gast. Hier sang er solide den Servilio und hatte Gelegenheit für muntere Liebesspiele mit seiner angebeteten Giulia, Tochter des römischen Konsuls Cesare, im großen Doppelbett. Charaktervolle stimmliche Counter-Momente brachten Kacper Szelazek als exaltiert grölende Arpalia, Issicrateas Dienerin, sowie Pierre Lenoir und Angelo Kidoniefs als Primo und Secondo Prencipe ein.

In der Titelrolle gab Max Emanuel Cencic keinen virilen, auftrumpfenden Helden, sondern einen gebrechlichen alten Mann mit weißem Haar, was zur stimmlichen Verfassung des Counters harmonierte. Doch nach verhaltenem Beginn gewann die Stimme an Fülle und Durchschlagskraft, gefiel besonders im sanften Schlaflied („Sonno, placido nume“) am Endes des 1. Aktes. Zwei Damen werden heiß umworben in diesem Stück. Pompeo begehrt Giulia, deren. Herz jedoch Servilio gehört. Die belgische Sopranistin Sophie Junker sang sie mit schöner lyrischer Substanz bei lebhaftem Agieren. Sesto wirbt vergeblich um Issicratea, die ihrem Gemahl Mitridate die Treue hält. Die Argentinierin Mariana Flores war die Primadonna des Abends und trug gebührend hoheitsvolle Roben. Mit flammendem, strengem Sopran von resoluter Attacke und fulminantem Ausdruck sowie einem vehementen Koloraturfeuerwerk setzte sie sich souverän an die Spitze des Ensembles. Der italienische Tenor Valerio Contaldo formte ein eindrückliches Porträt des Mitridate, der Arpalia tötet, am Ende aber seine Tat gesteht und von Pompeo begnadigt wird. Die baritonal getönte Stimme sorgte mit virilem Duktus in der Arie „Tormentosa gelosia“ für einen vokalen Höhepunkt.

Die Besetzung ergänzten der niederländische Charaktertenor Marcel Beekman, der als die verrückte Alte Atrea ein Kabinettstück bot und kicherte, winselte, keifte, der britische lyrische Tenor Nicholas Scott, der als Claudio, Sohn des Cesare, in „Rendimi la mia pace“ nachdrücklich auftrumpfte, und der begabte junge Bariton Victor Sicard als Cesare. Am Ende gibt es einen fröhlichen, jauchzenden Abgesang, den Farnace anstimmt und der den glücklichen Ausgang preist („Imparate, o mortali“).

Leonardo García-Alarcón spornte hier mit seiner Cappella Mediterranea, die er 2005 gegründet hatte, alle Sänger noch einmal an. Seine Leitung voller Energie und Schwung trug den vierstündigen Abend, was ihm und den Mitwirkenden am Ende euphorische Publikumsovationen bescherte. Das Residenzorchester des Bayreuth Baroque Opera Festival 2025 hatte mit seinem Musizieren voller Spannung und Klangreichtum immer wieder begeistert – mit festlichem Bläserglanz, federnden Rhythmen, majestätischen Märschen, aber auch lyrischen Inseln und kammermusikalischer Delikatesse in den Ritornellen (6. 9. 2025).

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Das Orchester mit seinem argentinischen Dirigenten begleitete auch mehrere Solisten bei ihren Konzerten, welche traditionell zum Festival gehören. Am 5. September war der italienische Countertenor Carlo Vistoli mit seinem Programm Opera Antica zu erleben. Konzeptionell korrespondierte der Abend mit der Cavalli-Oper, bot er doch Werke von Zeitgenossen des Komponisten, wie Antonio Cesti, Claudio Monteverdi und Alessandro Stradella. Reizvolle instrumentale Einlagen – u.a. eine Sinfonia aus Cavallis Erismena, die Xácara del primer tono von Lucas Ruiz de. Ribayaz, die Tarantela von Santiago de Murcia und die Ciacona in B-Dur von Antonio Caldara – sorgten für vielfarbige Klänge, rasante Steigerungen und melancholische Episoden.

Vistoli besitzt (für mich) den schönsten Countertenor unserer Zeit. Die Stimme ist rund, weich, warm und ausgeglichen, kann zärtlich schwärmen, ergreifend klagen, aber auch männlich auftrumpfen. Im ersten Teil stellte er Szenen aus fünf Opern Cavalliis vor, beginnend mit dem Lamento des Apollo aus Gli amori di Apollo e Dafne, bei dem die Stimme sogleich in ihrem Wohllaut. berührte. Ein schöner Wechsel dazu war der freudige Überschwang des Xerse, „Ombra mai fu“, aus der gleichnamigen Oper, die zu Händels getragener Version einen starken Kontrast bildete. Immer wieder wechselten die Emotionen – ob im flehentlichen Lamento des Idraspe aus Erismena, der heiteren Arie des Giasone, „Delizie, contenti“, aus der gleichnamigen Oper oder der inbrünstigen Arie des Endimione, „Lucidissima face“, aus La Calisto. Aus Monteverdis Poppea stellte Vistoli zwei Szenen des Ottone vor – das schwärmerische „E pur io torno“ und das verzweifelt klagende „I miei subiti sdegni“. Der affektreiche Gesang des Solisten und seine vorbildliche Wortbehandlung imponierten immer wieder – so in der  erregten Arie des Alidoro aus Cestis L´Orontea oder in zwei Szenen des Nino aus Stradellas Il Trespolo tutore. Da gab es im Dialog mit der Flöte auch bravouröse Koloraturgirlanden zu hören und am Ende in der Wahnsinnsszene des Nino ganz sanftes, entrücktes Verlöschen. Zwei Gesänge von Monteverdi – „Voglio di vita uscir“ und „Si dolce è ´l tormento“ – als Zugaben beendeten diesen beglückenden Abend im Markgräflichen Opernhaus. Bernd Hoppe       .

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Pacinis Amazilia bei Festival Il Belcanto Ritrovato im italienischen Fano (Apulien): Vor fast genau zweihundert Jahren, am 6. Juli 1825, wurde Giovanni Pacinis Oper Amazilia im Teatro San Carlo in Neapel mit einer wirklich bemerkenswerten Besetzung aufgeführt.

Nun, am 23. August 2025, wurde die Oper im Rahmen des jährlichen Festivals Il Bel Canto Ritrovato (IBR) im Teatro della Fortuna in Fano, Italien, zum ersten Mal in einer vollständigen modernen Aufführung wiederbelebt. Das IBR möchte das umfangreiche Erbe der italienischen Oper erkunden, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, einer Zeit, in der selbst das kleinste Dorf auf der italienischen Halbinsel wahrscheinlich ein Opernhaus hatte und das Operngeschäft seinen größten und intensivsten Höhepunkt erreichte.

Amazilia mit einem Libretto von Giovanni Schmidt, hat eine interessante und verworrene Geschichte, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe(dazu auch die beiden Artikel in operalounge.de, s. am Ende), und lag Pacini offensichtlich sehr am Herzen Pacini sehr am Herzen, da sie während der Flitterwochen des Komponisten mit seiner ersten Frau geschrieben wurde und er sein zweites Kind nach der Heldin benannte. Pacini, der während seiner langen Karriere fast 80 Opern schrieb, war 29 Jahre alt, als er Amazilia komponierte; es war seine 28. Oper.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Konzertausschnitt/Foto Luigi Angelucci

Die beeindruckende Besetzung der Oper bei ihrer Uraufführung 1825 in Neapel im Rahmen der Geburtstags-Feierlichkeiten für die bourbonische Königin Maria Isabella umfasste den Tenor Giovanni David als Zadir, den Bass Luigi Lablache als Cabana und die Sopranistin Joséphine Fodor-Mainvielle als Amazilla selbst. Ihre Virtuosität macht eine Wiederaufführung der Oper heute schwierig, da nicht viele Sänger die Musik, die Pacini dem Original-Cast zu singen gab, bewältigen können.

Ursprünglich ein Einakter, wurde die Oper 1827 in Wien in einem erweiterten Format mit einer neu komponierten Ouvertüre und zwei neuen Gesangsnummern präsentiert und in zwei Akte unterteilt. Es war diese Fassung, die in Fano vom Bel Canto Ritrovato in einer neuen kritischen Ausgabe von Gianmarco Rossi aufgeführt wurde.

Die einfache Story, die in Florida spielt, handelt von der Rivalität zweier Stammesführer, Cabana und Zadir, um die Hand von Amazilia, einer indianischen Jungfrau, die zum Stamm von Cabana gehört. Die spanischen Konquistadoren schweben im Hintergrund und sorgen für einen Deus ex machina, um die Rivalität beizulegen und ein glückliches Ende herbeizuführen, nachdem Zadir einen Kampf gegen Cabana verloren hat und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll.

Da das Werk für die Geburtstagsfeier einer Königin mit spanischer Abstammung geschrieben wurde, diente das Lob der spanischen Weisheit und Friedensstiftung unter den Konquistadoren, so ungerechtfertigt es auch war, als nicht allzu subtile Art, der Königin ein Kompliment zu machen, und auch als Möglichkeit, die Geschichte an der berüchtigten neapolitanischen Zensur vorbeizuschmuggeln, die Monate zuvor ein ähnlich benanntes Pastiche verboten hatte

.In vielerlei Hinsicht ist Pacini der faszinierendste der weniger bekannten Opernkomponisten im Italien des 19. Jahrhunderts, weil er zu seiner Zeit so beliebt war und weil er so viel geschrieben hat; bei Pacini gibt es eine Menge Musik für Musikwissenschaftler und Opernhäuser zu entdecken, die mutig genug sind, etwas anderes zu versuchen, als immer wieder dieselben wenigen Titel zu recyceln. Die Musik von Amazilia bietet viele wunderbare Momente, und selbst manche eher formelhaften Passagen sind melodiös.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Konzertausschnitt/Foto Luigi Angelucci

Man könnte mit der völlig unbekannten Sinfonia beginnen, die Pacini für Wien schrieb, weil die Wiener erwarteten, dass eine Oper eine vollständige, formelle Ouvertüre haben sollte. (Donizetti musste derselben Tradition folgen.) Die Sinfonia in diesem Fall ist absichtlich rau und laut und voller Kesselpauken, vielleicht als Vorahnung der Welt der Indianerstämme, deren Konflikte die Grundlage der Geschichte bilden, aber sie ist gut aufgebaut und zweifellos eine Verbeugung vor dem symphonischen, „germanischen” Musikgeschmack der Österreicher. Einige der langsamen Stücke sind ebenfalls bestens komponiert und einprägsam, wie zum Beispiel Zadies eröffnende Cavatina „Come mai calmar le pene” und Amazilias wunderschöne „Ah! Non fia mai ver”.

Pacini wurde wegen seiner Kreativität und seiner Gewandtheit in dieser Form als „Maestro delle Cabalette” bekannt, und die Cabaletten in Amazilia sind immer eingängig und interessant aufgebaut, angefangen mit Cabanas „Paventi il perfido”. Zadirs „Io ti vidi, t’adorai” war so beliebt, dass Mauro Giuliani ein Thema und Variationen für Gitarre darauf komponierte. Und während wir Cabaletten normalerweise als schnelle Stücke betrachten, die im Kontrast zu den langsamen Cantabiles einer Cavatina oder einer Arie stehen, war Pacini seinen Komponistenkollegen um Jahre voraus,  als er die doppelt so schnelle Cabaletta „Parmi vederlo” schrieb, ein Jahrzehnt, bevor Donizetti eine langsame Cabaletta für das Finale  seiner Lucrezia Borgia komponierte. „Parmi vederlo” beginnt mit einem traurigen Adagio, gefolgt von einer teuflisch schwierigen schnellen Koloratur, die Amazillas Qualen wirkungsvoll zum Ausdruck bringt, als sie glaubt, dass Zadir auf den Scheiterhaufen kommen wird „Parmi vederlo” war so beliebt (und ungewöhnlich), dass es Sopranistinnen wie Giuditta Pasta und Giulia Grisi als „Aria di baule” diente, die es in verschiedene Opern einfügten, in denen sie auftraten. Selbst in unserer Zeit hat Beverly Sills es in ihre Aufführungen von Rossinis Assedio di Corinto aufgenommen; es ist in der kommerziellen Sills-Aufnahme der Oper erhalten geblieben, aber Pacini wird als Urheber nicht genannt…

In Amazilia gibt es keine großartigen Ensembles, wie sie Rossini in den 1810er und 1820er Jahren schrieb, aber das Trio für die drei Hauptdarsteller, das in der Zwei-Akt-Fassung als Finale des ersten Aktes dient, ist spannend und angemessen klimatisch. Das kleine finaletto, das die Oper beendet, ist jedoch etwas enttäuschend, ebenso wie das gesamte lieto fine mit seinem absurden Lob der spanischen Konquistadoren. Tatsächlich kann sich Amazilia nie ganz von ihrem ursprünglichen Zweck als Geburtstagsgeschenk für Königin Maria Isabella lösen. Am Ende hat man das Gefühl, dass der Komponist und sein Librettist eine willkürliche Frist für ihr Werk erreicht hatten und das Drama schnell beendeten, damit die Königsfamilie weiter essen und trinken konnte, wodurch die Oper ziemlich unerwartet und abrupt endet.

.Das IBR versammelte eine Gruppe talentierter junger Sänger für ihre einzige Aufführung. Amazilia selbst wurde von Paola Leoci gesungen, die sich durch ihre technische Meisterschaft und ihr engagiertes Einbringen in die Rolle auszeichnete. Leoci hatte gerade die weibliche Hauptrolle der Fanni in La cambiale di matrimonio beim Rossini-Festival gesungen. Sie passte die Soubretten-Stimme, die sie für Fanni in der leichten Komödie verwendet hatte, erfolgreich an die dramatischeren Anforderungen und die größere Beweglichkeit an, die für Amazilia erforderlich waren. Ihre atemberaubende Darbietung der teuflisch schwierigen Koloratur in „Parmi vederlo” konnte sich durchaus mit der von Sills aufgenommenen Version messen – und diesmal wussten wir, dass sie von Pacini stammte.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Schluss-Applaus/Foto Luigi Angelucci

Wenn die Rolle der Amazilia für jede Sängerin eine Herausforderung darstellt, dann ist die Tenorrolle des Zadir, die für Giovanni David geschrieben wurde, vielleicht noch schwieriger. Das IBR gab uns Manuel Amati, der die extrem hohen Töne sang und die schwierige Koloratur meisterte, für die David berühmt war, obwohl Amati eine eher kleine Stimme besitzt. Bass Giorgio Caoduro vervollständigte das Trio der Hauptdarsteller als Cabana. Auch seine Rolle ist extrem schwierig; der ursprüngliche Cabana, Luigi Lablache, war der berühmteste Bass in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Caoduro begann etwas zögerlich, da er sofort mit einer großen Arie mit einer technisch anspruchsvollen Cabaletta konfrontiert war, wurde aber im Laufe der Aufführung immer stärker und sicherer; er war sehr gut in seinem „Wiener” Duett mit Amazilia, „Tu sprezzar gli affetti miei”. Die Nebenrollen wurden von Mariano Orozco (Orozimbo), Naomi Umani (Mila) und Michele Albiati (Alvaro) wahrgenommen. Das Orchestra Sinfonica G. Rossini und der Chor des Teatro della Fortuna in Fano wurden von Enrico Lombardi geleitet. Lombardi hauchte Pacinis vergessener Musik neues Leben ein und zeigte uns einen Komponisten, der trotz seines Rufs, es mangele ihm an „Wissenschaft”, es verstand, interessante Orchesterwerke zu schreiben.

.Die Inszenierung war leicht halbszenisch, d. h. sie war mehr als ein reines Konzert mit Sängern, die vorne auf der Bühne standen, aber weniger als eine szenische Aufführung ohne Kulissen und Kostüme. Tomasso Casadei sorgte für passende Hintergrundprojektionen der im Libretto beschriebenen Schauplätze, darunter Floridas „bergiges” Gelände, eine Beschreibung, die jeden, der schon einmal in Florida war, zum Schmunzeln bringen dürfte.

Festival Il Belcanto Ritrovato in Fano: Die Macher mit Hausherrn/Intendanten Rudolf Colm in der Mitte/Foto Luigi Angelucci

Es ist unwahrscheinlich, dass Amazilia jemals außerhalb eines Festivals aufgeführt wird, da es sich um ein Geburtstagsgeschenk für einen längst vergessenen Monarchen handelt, das Werk ein abruptes Ende hat und es schwierig ist, Sänger zu finden, die die Musik singen können. Dennoch enthält es viele musikalische Juwelen, und die Aufführung trug dazu bei, unser Verständnis für einen Komponisten zu vertiefen, der zu lange im Schatten stand. Chronologisch gesehen liegt die Oper in Pacinis Karriere zwischen Alessandro nelle Indie (die in Neapel häufiger aufgeführt wurde als alle Opern, die Rossini für diese Stadt schrieb) und seinem L’ultimo giorno di Pompei, einem noch größeren Erfolg. Als solche ist sie Teil eines Trios, das den ersten Teil von Pacinis sehr fruchtbarer Karriere krönt.

Die Aufführung wurde von Bongiovanni aufgezeichnet und soll in etwa einem Jahr erscheinen. Zum ersten Mal hat das IBR eine kritische Ausgabe seiner Hauptoper herausgebracht, die in diesem Fall von dem hervorragenden jungen Musikwissenschaftler Gianmarco Rossi erstellt wurde – ein wirklicher Beitrag zur Musikwissenschaft.

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Das IBR-Festival bestand nicht nur aus Amazilia. Es gab zahlreiche Konzerte und Vorträge rund um Pacini, aber die Konzerte umfassten auch faszinierende Musik von anderen Komponisten, die heute noch unbekannter sind als Pacini. Es gab ein Konzert mit Orchesterauszügen aus Opern, die an der Scala uraufgeführt wurden, aber von sizilianischen Komponisten geschrieben worden waren; mehrere davon waren Werke von PaciniIl barone di Dolsheim (1818), La vestale (1823) und I cavalieri di Valenza (1828). Giulias Arie mit Harfe „Io son rea, né imploro” aus La Vestale war äußerst schön, die beste von allen.

Festival Il Belcanto Ritrovato 2025: Nicola Vaccai (* 15. März 1790 in Tolentino bei Ancona; † 5. August 1848 in Pesaro) war einer der aufgeführten Komponisten/Wikipedia

Aber es gab auch Stücke aus Mario Aspas I due Savoiardi (1838), Pietro Coppolas La festa della Rosa (1836) und Placido Mandanicis Il Buontempone di Porta Ticinese (1841). Coppola ist ein Komponist, der viel mehr Beachtung verdient; ein weiteres seiner Werke, Nina pazza per amore, war ein großer internationaler Erfolg und zu seiner Zeit ein größerer Kassenschlager als jede Oper von Rossini, während Mandanicis unwiderstehlicher Il Buontempone voller mitreißender Musik ist und Mailand auf einzigartige Weise feiert, so wie viele andere Opern untrennbar mit Rom, Venedig oder Neapel verbunden sind. Dieses Konzert wurde gekonnt begleitet vom Orchestra Sinfonica G. Rossini unter der Leitung von Daniele Agiman. Agiman war so begeistert von dem Trio aus Il Buontempone di Porta Ticinese, mit dem das Konzert endete, dass er selbst eine Zugabe (Encore) des gesamten Stücks forderte, noch bevor das Publikum dies tun konnte, und die drei talentierten Sänger der La Scala Accademia (Fan Zhou, Aldo Sartori und Sung Hwan Park) sangen es erneut. Das Publikum war begeistert.

Festival Il Belcanto Ritrovato 2025: Pietro Antonio Coppola (* 11. Dezember 1793 in Castrogiovanni; † 13. November 1877 in Catania)war einer der aufgeführten Komponisten/Wikipedia

Ein Open-Air-Konzert im Innenhof mit Blick auf das Haus von Nicola Vaccai feierte Werke von vier Komponisten aus Pesaro – natürlich Rossini, aber auch Vaccai und die fast völlig unbekannten Gioacchino Albertini und Vincenzo Federici. Weitere Werke von Pacini waren in einem Konzert zu hören, das seine Opern mit Passagen aus seinen künstlerischen Memoiren verband. Mit anderen Worten: Das IBR bot uns ein reichhaltiges Programm seines Hauptkomponisten Pacini, aber auch Kostproben anderer einst beliebter Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in Vergessenheit geraten sind, und erfüllte damit seine Mission, dieses reiche Erbe für das Vergnügen des heutigen Publikums zu erschließen. Das IBR, das nun bereits im vierten Jahr erfolgreich stattfindet, ist auch für den erfahrensten Opernliebhaber wieder eine lehrreiche Erfahrung. CDs mit den Werken des letzten Jahres, Luigi Rossis La casa disabitata und einem Konzert mit Auszügen von Vaccai, sind jetzt beim Label Bongiovanni erhältlich.

Abgesehen von der Figur in der Oper (und dem Namen von Pacinis Tochter) ist „Amazilia” der Name einer Kolibri-Gattung, die denselben Namensstamm hat wie die Heldin der Oper. Das IBR trägt mit seinen zahlreichen wissenschaftlichen und künstlerischen Initiativen dazu bei, dass diese seltenen und farbenprächtigen Geschöpfe wieder fliegen können. Charles Jernigan/DeepL/G.H.

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Dazu auch bei operlounge.de: Pacinis Kinder sowie Die vergessene Oper: Pacinis Amazilia

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36. Musikfest Bremen: Musikalische Glanzlichter: Halbszenische Opernaufführungen haben eine schöne Tradition beim Musikfest an der Weser. Fast immer sind sie hochkarätig besetzt mit exzellenten Solisten und einem renommierten Dirigenten. Im Konzertsaal Die Glocke stand am 27. 8. 2025 bei Mozarts Die Zauberflöte der junge Finne Tarmo Peltokoski vor der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, seit Anfang 2022 Principal Guest Conductor des Orchesters. Seine eminente musikalische Begabung offenbarte sich bereits in der Ouvertüre, die er spannungsvoll und kontrastreich aufbaute. Feierlich und würdevoll erklang die Einleitung zum 2. Aufzug, wobei Transparenz und Schlankheit des Klanges stets gewahrt blieben. Das ChorWerkRuhr (Einstudierung: Michael Alber) absolvierte zuverlässig seine Auftritte von der Empore. Romain Gilbert hatte die Handlung an der Rampe diskret, doch spielfreudig arrangiert, wobei er von Hervé Garys Lichtdesign unterstützt wurde, welches besonders mit den Rot- und Blau-Tönen bei der Feuer- und Wasserprobe Sinn machte.

Ein Salzburg würdiges Ensemble sorgte für einen Abend voller Sängerglanz, angeführt vom Schweizer Tenor Mauro Peter, der den Tamino schon  2018 in der verunglückten Inszenierung von Lydia Steier bei den Salzburger Festspielen gesungen hatte. Sein kultivierter lyrischer Tenor hat mittlerweile an Farbe, Volumen und Kraft gewonnen. Das verhalf der gefühlvoll vorgetragenen „Bildnis“-Arie zu starker Wirkung und erbrachte für „Wie stark ist nicht dein Zauberton“ eine ideale Balance von Virtuosität und Emphase. Eine perfekte Besetzung war auch für seine Pamina gefunden worden, denn Elsa Dreisig wartete mit leuchtendem Sopran, innigem Gefühl und bester Stimmführung auf. Während ihre Ausflüge in das italienische und französische Fach in der Vergangenheit zwiespältig ausfielen, konnte sie hier in ihrem ureigenen  Repertoire überzeugen und mit der Arie „Ach, ich fühl´s“ für ein sängerisches Glanzlicht sorgen. Nicht weniger als eine Sensation markierte der Auftritt von Kathryn Lewek als Königin der Nacht. Man muss schon an Edda Moser oder Diana Damrau in ihrer besten Zeit zurückdenken, um ein vergleichbares Niveau zu finden. Mit dunkel grundiertem, fülligem Sopran von warmem Klang konnte sie die mütterlichen Gefühle der Figur plastisch transportieren, mit rasender Attacke, phänomenalen Koloraturläufen und gestochenen staccati gleich Messerstichen ihren Rachefuror verdeutlichen. Von seltener klanglicher Homogenität erklang das Trio der drei Damen mit Silja Aalto, Iris van Wijnen und Marie Seidler. Dies ist auch den Solisten der St. Florianer Sängerknaben zu bescheinigen, die die Gesänge der Drei Knaben wohllautend und intonationsrein vortrugen. Nobel und sonor erklang der schlanke Bass von Manuel Winckhier in Sarastros beiden Arien, mit beeindruckender Autorität im letzten Auftritt des Priesters „Die Strahlen der Sonne“. Der ungarische Bassbariton Marcell Bakonyi gefiel mit potenter, kerniger Stimme als Sprecher und gab darüber hinaus noch den Zweiten Geharnischten, assistiert vom slowenischen Tenor Martin Logar als Erstem. Scharfzüngig und grell charakterisierte Andreas Conrad den Monostatos.

Wie oft war auch hier Papageno ein Publikumsliebling. Der Schweizer Bariton Äneas Humm sang ihn mit angenehmer Stimme, allerdings gespreizt gesprochenem Dialog und überflüssigen Extempores sowie einer gänzlich überflüssigen Einlage mit dem Song „The Sound of Silence“. An seiner Seite war Miriam Kutrowatz eine reizende Papagena – in der Verkleidung als altes Weib zunächst keifend und krächzend, nach der Demaskierung dann aber entzückend singend. Der Abend, welcher in seiner musikalischen Perfektion viele internationale Festspielaufführungen übertraf, wurde vom Publikum gebührend bejubelt.

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Stets gehören auch Konzertabende mit Interpreten von Weltrang zum Programm des Musikfestes. Am 28. 8. 2025 war Gelegenheit, die finnische Sopranistin Camilla Nylund zu erleben. Das Programm, Von Heldinnen und Helden betitelt, bot zwei der forderndsten Finalszenen der gesamten Opernliteratur: „Starke Scheite“ aus Wagners Götterdämmerung und den Schlussgesang der Salome aus Strauss´ Oper. Zudem war das zweite renommierte  Orchester der Hansestadt zu hören – die Bremer Philharmoniker unter ihrem GMD Marko Letonja. Das Konzert markierte eine würdige Feier zum 200. Jubiläum des Klangkörpers. Brahms´ „Akademische Festouvertüre“ war ein schwungvoller Auftakt mit seinen Anklängen an Studentenlieder.

Camilla Nylund hatte als Einstieg Elisabeths Hallen-Arie aus Tannhäuser gewählt, in der die Stimme leicht verhärtet klang. Dann aber Brünnildes Weltabschied in einem silbernen, eng anliegenden Kleid, das die Sängerin umschloss wie ein stählerner Panzer und auch optisch einer Walküre entsprach. Grandios meisterte sie mit ihrem kraftvollen Sopran und unangefochtenen Spitzentönen die lange Szene, dominierte bis zum letzten Moment das Orchester, welches der Dirigent groß aufrauschen ließ.

Nach der Pause Richard Strauss mit seiner „Sinfonischen Fantasie“ aus Die Frau ohne Schatten, welche 1946 entstand und Motive aus dem monumentalen Werk vereint. Klänge, Farben, Lyrismen und Dissonanzen fügten sich in der Wiedergabe des Orchesters zu einem Klangrausch von magischer Wirkung. Auch der nachfolgende „Tanz der sieben Schleier“ aus Salome verfehlte in der lasziven Atmosphäre und orgiastischen Steigerung nicht seinen Effekt. Zweifellos besitzt Nylunds Stimme eine neue Qualität und Dimension, was auch Salomes Schlussgesang bewies. In ihrem Charakter, ihrer Klangfarbe ist sie nicht eigentlich hochdramatisch, wohl aber in ihrer Leistungsfähigkeit. Und so bot sie auch als Salome einen mühelos bewältigten Auftritt von ekstatischer Steigerung und tranceartigem Schluss, der in seiner Tragik tief berührte.

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Verdienstvoll und vom Publikum hoch geschätzt sind die Veranstaltungen des Musikfestes in Bremens Umgebung. Der prachtvolle Dom zu Verden ist ein solcher Ort, wo am 29. 8. 2025 Mozarts Requiem d-Moll KV 626 erklang. Hochrangige Interpreten der Barock-Szene waren versammelt, so das 1990 von Václaw Luks gegründete Collegium 1704 und das 2005 von ihm ergänzte Collegium Vocale 1704. Der Dirigent entschied sich für die von Eybler und Süssmayr vollendete Fassung des von Mozart als Torso hinterlassenen Werkes. Und er stellte ihm ein hierzulande unbekanntes Stabat Mater von Frantisek Ignác Tuma voran, welches der 1704 geborene böhmische Komponist ca. 1750 schuf. Das Werk von strenger Schlichtheit ist nur sparsam instrumentiert und atmet kaum barocken Geist. Fast mutet es modern an, wie hier alte und neue Stile kombiniert sind. Orchester und Chor beeindruckten mit hoher Klangkultur und das Solistenquartett konnte in zwei Duetten bereits seine Qualität herausstellen, wie es danach bei Mozarts Werk noch deutlicher wurde. Tereza Zimkovás Sopran war von keuschem Klang, der Mezzo von Henriette Gödde dagegen eher von fraulicher Sinnlichkeit. Herausragend war der Tenor von Krystian Adam in seiner Potenz und Substanz, Tomás Selc komplettierte mit einem Bass von warmem, weichem Klang. Der Gesang des Chores war überwältigend, ob im Kyrie mit seiner apokalyptischen Dimension, dem gewaltigen Confutatis maledictis oder dem erhabenen Agnus Dei. Und am Ende überraschten die 17 Sängerinnen und Sänger noch mit einer unbekannten Zugabe – einem frühen A-capella-Werk von Zelenka, das den Abend bewegend und würdig beschloss. Bernd Hoppe

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LGBT in Pesaro 2025: Das Rossini Opera Festival endete mit einer hervorragenden Aufführung der Missa, die Verdi nach Rossinis Tod im Jahr 1868 für ihn organisiert hatte. Sie besteht aus 13 Sätzen, die jeweils von einem anderen Komponisten der damaligen Zeit komponiert wurden (der letzte von Verdi selbst), wurde jedoch zu Verdis Lebzeiten nie aufgeführt und blieb tatsächlich unaufgeführt, bis sie 1970 von David Rosen entdeckt und 1988 in Deutschland aufgeführt (und anschließend aufgenommen) wurde. Sie war zuvor noch nie beim Rossini-Festival aufgeführt worden. Die Qualität der einzelnen Abschnitte ist unterschiedlich, aber der letzte Abschnitt von Verdi, den er später in seine Requiem-Messe für Manzoni übernahm, ist glühend.

Ansonsten bestand das Festival aus drei Hauptopern – der Rarität Zelmira, einer skurrilen Interpretation von L’Italiana in Algeri und Rossinis erster aufgeführter Oper, La cambiale di matrimonio, die zusammen mit seiner Liedersammlung „Soirèes Musicales” aufgeführt wurde.

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Rossini Opera Festival 2025: „Zelmira“/Szene/Foto Amati Bacciardi

Zelmira wurde mit einer spektakulären Besetzung von Sängern unter der Leitung von Giorgio Sagripanti mit dem Orchester des Teatro Communale in Bologna in einer Inszenierung des spanischen Regisseurs Calixto Bieito aufgeführt. Bieito machte sich zunächst in der Opernwelt einen Namen, indem er Standardwerke auf subversive Weise mit viel Nacktheit, Gewalt und explizitem Sex inszenierte und damit das biedere Opernpublikum in Europa schockierte – ein Quentin Tarantino der Opernwelt. Nun scheint Bieito sich von der Infragestellung westlicher Werte, wie sie in kulturellen Ikonen wie Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ oder Bizets „Carmen“ verkörpert sind, zu einer völlig nihilistischen Welt des unerbittlichen Negativismus und der Sinnlosigkeit weiterentwickelt zu haben.

In dieser Inszenierung von Zelmira gab es keine Nacktheit und die Gewalt wurde gedämpft, aber die Inszenierung untergrub alle Werte, die wir normalerweise mit der Oper und Rossini verbinden, und suggerierte, dass alles an der sozialen und kulturellen Erfahrung der Oper bedeutungslos ist – die Musik, die Aufführung, die Inszenierung und das Publikum selbst. (…) Der Sinn der Inszenierung bestand darin, dass sie sinnlos war: Nichts hatte irgendeine Bedeutung. Es gab keine Übertitel, um der Handlung zu folgen, wahrscheinlich weil die Inszenierung so oft im Widerspruch zum Libretto stand, aber auch weil die gesungenen Worte bedeutungslos sind. Der Nihilismus, ein in Europa und Amerika mittlerweile weit verbreitetes Phänomen, da so viele Institutionen und Persönlichkeiten ihre Bedeutung verloren haben – Religion, Politik, demokratische Institutionen und die Künste –, scheint in Bieitos Inszenierung nun auch die Oper befallen zu haben. Die Gründe, warum man in die Oper geht, sind zunichte gemacht. Selbst die Handlungen, die mit einem Opernabend verbunden sind – Ticket kaufen, sich ankleiden, anreisen, zuhören, applaudieren – sind bedeutungslos. Bieito verspottet weniger die Institution oder das Publikum, als dass er uns sagt, dass eine kulturelle Handlung nicht mehr Bedeutung hat als alles andere.

Wenn die „Bedeutung” Bedeutungslosigkeit ist, dann sahen wir keinen Grund zu bleiben. Wir gingen in der Pause. Eineinhalb Stunden totale Negation waren genug. Wenn die Musik wertlos war, die harte Arbeit der Sänger und des Orchesters bedeutungslos und die Inszenierung ein endloser Kreislauf sich wiederholender Handlungen ohne jeden Grund, warum dann bleiben? Unser Akt des Nihilismus bestand darin, zu gehen und ein Eis zu kaufen. Italienisches Gelato an sich ist anti-nihilistisch. Oder vielleicht war Bieito einfach nur verwirrt und hatte keine Ahnung, was er tat.

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Rossini Opera Festival 2025: „L´Italiana in Algeri“/Szene/Foto Amati Bacciardi

Rosetta Cucchis Inszenierung von Italiana in Algeri befand sich gewissermaßen am anderen Ende des philosophischen Spektrums. Sie interpretierte die Geschichte von Isabella, der Italienerin auf der Suche nach ihrem lange verschollenen Freund Lindoro, neu als eine Gruppe von Drag Queens, deren Bus auf einer Reise eine Panne hat. „Isabella und ihre Mädchen” werden von den Polizisten unter Mustafà verhaftet, einem despotischen Herrscher, der von seiner Frau Elvira gelangweilt ist. Die gestrandeten italienischen Drag Queens versprechen ihm eine Art neue Stimulation, sexuell oder anderweitig. In einer cleveren Vorführung vor der Oper hält die Gruppe mit einem regenbogenfarbenen VW-Bus vor dem Teatro Rossini und die „Polizei“ jagt die extravagant gekleideten Drag Queens, um sie schließlich ins Theater zu treiben, damit die Oper beginnen kann. Es ist ein lustiges Durcheinander in wilden Kleidern und leuchtenden Farben.

.Cucchi verwendet Isabellas patriotische Arie „Pensa alla patria”, um eine Art ernsthafte Aussage über die Befreiung von Homosexuellen oder die Akzeptanz von Drag Queens oder die Freiheit, sein Leben so zu leben, wie man es für richtig hält, zu machen, aber es passt nicht zum Text, und tatsächlich funktioniert die ganze Drag-Überlagerung nicht: Isabella ist eindeutig eine Frau, eine Mezzosopranistin, und kein Mann in Frauenkleidung. Sie sucht einen Liebhaber, der ein Mann ist (Lindoro). Die Inszenierung entpuppt sich als Camp-Übung und nicht als ernsthafter Aufruf zur Befreiung, trotz alter Wochenschauen, die Demonstranten für die Befreiung von Homosexuellen, für Transsexuellenrechte oder für Drag Queens zeigen. Cucchi glaubt eindeutig, dass eine soziale Sache im Gegensatz zu Bieito eine Bedeutung hat, aber sie hat das falsche Mittel gewählt, um ihre Ansicht zu verbreiten. Italiana ist eine köstliche Opera buffa: Sie verspottet alberne „Türken” und italienische Männer (Taddeo), preist aber die Macht und Intelligenz italienischer Frauen. Es ist nicht La Cage aux Folles oder Priscilla, Queen of the Desert. Der Gesang war sehr gut. Daniella Barcelona ist mit 59 Jahren immer noch wunderbar, und die beiden Buffo-Bässe Giorgi Manoshvili und Misha Kiria waren in der Tat sehr gut. Der Tenor Josh Lovell hat eine liebliche tenore di grazia-Stimme, aber er hat einige hohe Töne ziemlich schlecht getroffen, und seine Stimme ist in seiner Arie im zweiten Akt gebrochen. Vielleicht war das alles nur ein Insider-Witz: Daniella Barcelona hat ihre Karriere in Travesti-Rollen verbracht, in denen sie als Mann verkleidet war. Können wir sie als „Drag King” bezeichnen?

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Rossini Opera Festival 2025: „La cambiale di matrimonio“/Szene/Foto Amati Bacciardi

Der dritte Abend war eine Art Doppelvorstellung. Die Einakter-Oper war Rossinis Cambiale di matrimonio, die mit vier Sängern kombiniert wurde, die die „Soirées Musicales” aufführten, eine Sammlung von zwölf Liedern, die Rossini in den frühen 1830er Jahren komponiert hatte. Dieser eher seltsame Abend versuchte nicht, eine Aussage zu einem aktuellen gesellschaftlichen Thema (Drag Queens) zu machen oder eine gesellschaftliche Unzufriedenheit wie Nihilismus auszudrücken. Er war einfach nur unterhaltsam und hat Spaß gemacht. Die Lieder wurden für diesen Anlass von Fabio Maestri orchestriert und vor dem Vorhang von vier jungen Sängern auf einfache Weise präsentiert: Vittoriana De Amicis, Andreas Niño, Paola Nevi und Gurgen Baveyan. In der Oper spielte der bekannte und lustige Buffo-Bass Pietro Spagnoli die Rolle des Tobia Mill und die exzellente Paola Leoci seine hübsche Tochter Fanni. Ihr Liebhaber Edoardo wurde von Jack Swanson gespielt, und der Kanadier Slook, der mit einem Bären im Schlepptau auftauchte, wurde von Matt Olivieri dargestellt. Ramiro Mataran und Inés Lorann waren die beiden Diener Norton und Clarina. Der ehemalige Tenor Laurence Dale inszenierte eine charmante, traditionelle und lustige Produktion. Auf der Bühne stand ein realistisches zweistöckiges georgianisches Londoner Reihenhaus, und die Sänger trugen historische Kostüme. Der einzige Misston war der Bär, der fast während der gesamten Oper auf der Bühne blieb und den Witz zermürbte. Christopher Franklin dirigierte.

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Wenn es ein Gegenmittel zur nihilistischen Zelmira gab, dann war es der letzte Teil der Messe für Rossini, Verdis „Libera me, Domine”, ein großer Schrei nach Freiheit und Sinn, gerichtet an ein kaltes Universum und gesungen von der großartigen Vasilisa Berzhanskaya. Das Universum mag nicht zuhören, aber der verzweifelte Schrei, eines der größten Werke Verdis, ist an sich schon eine Bestätigung der größten Aufgabe der Kunst – uns in der Weite von Zeit und Raum einen Sinn zu geben. Charles Jernigan/DeeplL/G. H.

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Salzburger Festspiele 2025: Counter-Gipfel. Noch nie gab es im Salzburger Festspielsommer eine derart hohe Beteiligung von Counter/Falsetisten wie in diesem Jahr. Schon in der Eröffnungsproduktion mit einem Barockwerk – Händels Giulio Cesare in Egitto -, mit dem der russische Regisseur Dmitri Tscherniakov sein Debüt in Salzburg gab, waren vier Vertreter dieser Stimmgattung besetzt. Ohne Zweifel führte sie der Franzose Christophe Dumaux als Titelheld an. Viele Jahre war er auf die Partie des Tolomeo abonniert, die er weltweit und bei allen großen internationalen Festivals gesungen hat. Für die Interpretation der Titelrolle hat er sich viel Zeit gelassen – mit dem Ergebnis einer bewundernswerten Vollkommenheit. Schon der Auftritt mit „Presti omai l´egizia terra“ war in seiner energischen Attacke fulminant, ähnlich rasant das Solo „Empio, dirò, tu sei“. Dazu kontrastierte das lieblich intonierte „Se in fiorito ameno prato“ mit imitierten Vogelstimmen zauberhaft und geradezu magische Wirkung hatte „Aure, deh, per pietà“ mit berückend schwebenden Tönen.

Ihm fast ebenbürtig der ukrainische Sänger Yuriy Minenko als Tolomeo, auch er eine Größe im internationalen Barock-Geschehen. Der Regisseur zeichnet ihn als fiesen, effeminierten Schurken und lässt ihn sein Entrée „L´ empio, sleale“ mit hysterischer Aggressivität vortragen. Aber Minenko kann später auch die Schönheit seines Timbres zeigen und mit einer kunstvollen Kadenz imponieren.

Salzburger Festspiele 2025: „Giulio Cesare“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Ein relativ neuer Name ist der italienische Sopranist  Federico Fiorio, der aber bereits an der Mailänder Scala aufgetreten ist und bei den jüngsten Festspielen Potsdam Sanssouci in Galuppis Didone abbandonata beeindruckte. Mir war sein Sesto bei aller zur Schau gestellten Virtuosität zu kindlich im Klang, ungeachtet der Tatsache, dass die Rolle einen Sänger mit jugendlicher Stimme verlangt. Wie alle Figuren in diesem unterirdischen Gefängnis ist auch er traumatisiert, allein die flatternden Hände bei „Svegliatevi nel core“ zeigen seinen pathologischen Zustand an. Später wird er eine Art Veitstanz aufführen und völlig die Kontrolle über seine Aktionen verlieren, was der Interpret mit bewundernswertem körperlichem Einsatz zeigt. Vierter Counter war der junge Amerikaner Jake Ingbar als Nireno mit auffallend klangvoller Stimme.

Gefeiert wurde Olga Kulchynska für ihre Cleopatra, mit der sie ein beachtliches Salzburg-Debüt gab. Optisch als billige Nutte eher abstoßend, gelang es ihr doch, die Gefühle für Cesare und ihre Ängste um sein Leben glaubhaft zu vermitteln. Die makellose Technik erlaubte ihr einen bravourösen Vortrag der fordernden Arien und auch die lyrischen Passagen gelangen ihr vortrefflich. Zwitschernd klang „Non disperar“, verführerisch „V´adoro, pupille“, tragisch umflort „Piangerò“ und gebührend bravourös „Da tempeste“. Einzig das recht anonyme Timbre versagt die Einordnung der Stimme in eine von Weltrang.

Gespalten. waren die Meinungen über die französische Mezzosopranistin Lucile Richardot als Cornelia. Ihre Stimme mit maskulinem, extrem gutturalem Klang verfärbte sie bis zur Hässlichkeit. Die Ausbrüche bis zum veristischen Schrei verfehlten zuweilen nicht ihre Wirkung, waren aber kaum noch in die Kategorie Gesang einzuordnen. Echte männlich-tiefe Töne brachten der moldawische Bariton Andrey Zhilikhovsky als Achilla und Robert Raso vom Young Singers Project als Curio ein. Ersterer trumpfte bei „Tu sei il cor“ mit energischer, ausladender Stimme auf, während Raso die Rezitative resolut formulierte.

Das zentrale Thema des diesjährigen Festspielprogramms, Machtkampf und Krieg, war deprimierend, doch angesichts der aktuellen Weltlage nachvollziehbar. Und natürlich war es auch in dieser Eröffnungsproduktion präsent. Wie stets fungierte Tcherniakov als sein eigener Bühnenbildner und hatte im Haus für Mozart einen unterirdischen Bunker auf die Bühne gestellt, in welchen die Protagonisten geflüchtet waren und dort in klaustrophobischer Enge eingepfercht sind. Ihre Machtkämpfe setzen sie dennoch fort. Der Einheitsschauplatz evozierte eine szenische Eintönigkeit. Elena Zaytsevsas moderne Kostüme bewegten sich im sattsam bekannten Spektrum von Business-Anzügen, Lederjacken, Hoodies und einem pinkfarbenen Girly-Outfit für Cleopatra mit Felljacke und langer Perücke. Befremdlich waren einige Ideen des Regisseurs, wie Tolomeos versuchte Vergewaltigung der Cornelia, die sich ihm angeekelt entzieht, aber darauf ihren eigenen Sohn Sesto sexuell bedrängt und damit eine inzestuöse Neigung offenbart. Auch die permanente Korrektur ihres Make-up´s während der Trauergesänge um den ermordeten Gatten schien unpassend. An Komik grenzten der schier endlos verblutende Achilla und Sesto, der am Ende den Verstand verliert und in einen Wahnsinnstanz verfällt. Vorhersehbar, dass Tschernjakov auch dem lieto fine nicht traute. Alle singen von Freude und Lust, doch eine ohrenbetäubende Explosion zeigt unmissverständlich an, dass die Wirklichkeit eine andere Sprache spricht.

Mit alarmierendem Sirenengeheul begann die Aufführung auch akustisch verstörend. Aber dann setzte die Musik ein, welche Emmanuelle Haim mit ihrem Concert d´Astrée in aggressiver Härte und schonungsloser Dramatik erklingen ließ. Da waren die weichen Streichertöne, die ziselierten Gambenakkorde und feinen Bläserpassagen der Bühnenmusik ein wunderbarer Kontrast zu den fiebrigen, harsch pulsierenden Passagen. Aus dem Orchestergraben sang der Bachchor Salzburg (Einstudierung: Michael Schneider) und sorgte gleichermaßen für dramatische Effekte (wie im Schlachtruf „Mora Cesare, mora“) und versöhnliche Harmonie (wie im Finale „Ritorni omai nel nostro core“) – wenn dies auch von der Regie nicht bedient wurde. Aber musikalisch war diese Festspieleröffnung verheißungsvoll (14. 8. 2025).

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Salzburger Festspiele 2025: „Drei Schwestern“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Die Besetzungsliste einer weiteren Neuproduktion, Peter Eötvös´ Oper Tri Sestri (Drei Schwestern) (Uraufführung am 13. März 1998 in der Opéra de Lyon) wies gleichfalls vier Counter auf, dazu als komischen Verfremdungseffekt den orgelnden polnischen Bass Aleksander Teliga in einer Travestie-Rolle – der Amme Anfisa. Das Trio der drei hohen Männerstimmen in den Titelrollen sorgte in Salzburg für eine Sensation. Der Sopranist Dennis Orellana als Irina sowie die Counter Cameron Shabazi als Mascha und Aryeh Nussbaum Cohen als Olga hatten den Abend schon im Prolog für sich entschieden, wo sie in schlichten weißen Kleidern (Kostüme: Emma Ryott) an ihr bisheriges Leben erinnern und von einem Neuanfang träumen. Wunderbar vereinten  sich die drei Stimmen zu einem harmonischen Zusammenklang, getragen von der sphärischen Musik des ungarischen Komponisten, die 1998 uraufgeführt wurde. Der französische Dirigent Maxime Pascal breitete sie mit dem Klangforum Wien atmosphärisch aus, gab auch ihren winselnden, lärmenden Passagen gebührenden Raum. Alphonse Cemin leitete ein unsichtbares Orchester hinter der Bühne.

An Tschechows Schauspiel Drei Schwestern mit seinen intimen Kammerspiel-Szenen, mit seiner Bühne voller Birken darf man bei der Vertonung und bei der Inszenierung von Evgeny Titov nicht denken. Sie fügt sich ganz ein in das aktuelle Thema der Festspiele, zeigt eine apokalyptische Trümmerlandschaft aus geborstenem Beton und zerstörten Eisenbahnschienen im Nebel (Bühne: Rufus Didwiszus). Die Akteure müssen über riesige Gesteinsbrocken balancieren, wobei der vierte Counter, Kangmin Justin Kim in der Rolle der hysterischen und extravagant gewandeten Natascha, Andrejs Frau, dem Bruder der Schwestern, durch seine geradezu artistische Gewandtheit besonderes Aufsehen erregte. Die Hoffnung, welche Eötvös´ Musik auch innewohnt, atmet die Szenerie nicht. Der Krieg ist allgegenwärtig, wenn Soldaten mit den Utensilien des Kriegers die Bühne stürmen und Brände aufflammen. Die zugemauerten Arkaden der Felsenreitschule suggerieren zudem eine bedrückende Eingeschlossenheit.

Im Unterschied zum Schauspiel haben der Komponist und sein Librettist Claus H. Henneberg die Oper in drei Sequenzen aufgeteilt, in denen Irina, Mascha und Andrej aus ihren individuellen Blickwinkeln erzählen. Den Anfang macht Irina, die jüngste der Schwestern, der die Oboe zugeordnet ist und die von Baron Tusenbach (Mikolaj Trabka mit obertonreichem Bariton) geliebt wird. Orellana verlieh ihr einen feinen, träumerischen Sopranklang. Auch der Stabshauptmann Soljony (Anthony Robin Schneider mit sonorem Bass) liebt Irina, was zum Duell mit dem Baron führt, in dem dieser sein Leben verliert.

Die zweite Sequenz ist Andrej vorbehalten, der sich in Selbstvorwürfen quält. Seine Frau Natascha hat ein Verhältnis mit Protopopow (Henry Diaz), was der Choreograf Otto Pichler in einer Liebesszene pantomimisch umgesetzt hat. Der südafrikanischer Bariton Jacques Imbrallo zeigt sich als Andrej schonungslos nackt, so die Sinnlosigkeit seiner Existenz darstellend. Die Sequenz III ist Mascha vorbehalten, der die Klarinette gehört und die von dem Batteriekommandanten Werschinin (Ivan Ludlow mit potentem Bariton und starker Aura ) fasziniert ist. Der Abschied von ihm wegen seiner privaten Probleme ist für Mascha schmerzlich. Shahbazi bestach durch seine elegante, attraktive Erscheinung und die sinnliche, dunkel timbrierte Stimme. Der Bass Andrei Valentiy gab Maschas Ehemann Kulygin als skurrile Figur. An Irinas Namenstag erscheint er mit roter Clownsnase und langen Eselsohren, um ihr ein Geschenk zu machen. Valentiy formte daraus ein Kabinettstück und imponierte darüber hinaus mit seiner prachtvoll sonoren Stimme. Der dritten Schwester, Olga, ist keine Sequenz gewidmet, wohl aber ein Instrument – die Flöte.

Zwei Zeichen der Hoffnung setzte der Regisseur am Ende dennoch gegen Tristesse, Verzweiflung und Apokalypse.  Irina malt auf eine weiße Mauer mit Kohle einen Tunnel als möglichen Ausweg und  das Alte Mütterchen (Eva Christine Just) steigt aus ihrem Krankenbett, um von der vierstöckigen Schokoladentorte zu kosten. Selten gab es für eine zeitgenössische Oper solch euphorischen Jubel wie in der Felsenreitschule am 12. 8. 2025.

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Salzburger Festspiele 2025: „Maria Stuarda“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Für die Vielseitigkeit des diesjährigen Festspielprogramms stand auch die Inszenierung von Donizettis Maria Stuarda. Die 1835 uraufgeführte Tragedia lirica zeigte Regisseur Ulrich Rasche im Großen Festspielhaus als Machtkampf der beiden Königinnen Elisabetta und Maria. Jeder ist ein eigenes Reich zugeordnet, welches sie nie verlassen und auch in ihrem Duett die Trennung beibehalten werden. Rasche als sein eigener Bühnenbildner hat dafür zwei riesige drehbare Scheiben installiert, die auch kippen können und von unten illuminiert werden. Von oben senkt sich eine dritte Scheibe herab, welche als Leuchtkörper dient und zudem für die Projektion von Filmaufnahmen der Titelheldin (Video: Florian Hetz) genutzt wird. Umgeben werden die beiden Herrscherinnen von ihren Höflingen (Tänzer der Salzburg Experimental Academy), die sich in der Choreografie von Paul Blackman bewegen – zumeist gegen die Drehrichtung der Scheibe – oder im Gleichschritt marschieren, gegen Ende halbnackt und zunehmend gekrümmt erscheinen. Auch die beiden Regentinnen sind in ständiger Bewegung, um sich gegen die Drehung der Scheiben zu behaupten. Irgendwann ähnelt Elisabetta in ihrer gebeugten, gebrechlichen Haltung, sich mühsam vorwärts schleppend, gar einer Mutter Courage. Kate Lindsey, in Salzburg ein häufig gesehener Gast, gab sie mit strengem, stark gutturalem Mezzo, dem gelegentlich ein heulendem  Beiklang eigen war. In der Erscheinung imponierte die herrscherliche, stolze, hochmütige Aura, im Ausdruck ihre Energie und Entschlossenheit. Von Sara Schwartz zumeist in Schwarz gekleidet, ist sie ein starker Kontrast zu Maria ganz in Weiß. Lisette Oropesa, kürzlich bei ihrem Rollendebüt am Teatro Real in Madrid gefeiert, war eine empfindsame schottische Königin mit weichem, lyrischem Koloratursopran. Die Auftrittskavatine „Guarda: su´ prati appare“ besaß Süße und Leuchtkraft, die Cabaletta „O nube“ Verve und strahlende Spitzentöne. Tief empfunden war ihre Preghiera vor dem Tod auf dem Schafott, bei der sie in einem transparenten hautfarbenen Hosenanzug aus glitzerndem Stoff auftreten muss – ein absurder Einfall der Kostümbildnerin. Auch Antonello Manacordas forsche Leitung der Wiener Philharmoniker wurde gelegentlich zum Problem, wenn das auftrumpfende Orchester den Sängerinnen alle Reserven abverlangte. Mit seinem robusten Latino-Tenor hatte Bekhzod Davronov als Roberto keine Mühe, sich gegen die Wiener Musiker durchzusetzen. Zur Optik als jugendlicher Beau korrespondierten seine strahlenden Spitzentöne und die Italianità seines Vortrags. Der russische Bass Aleksei Kulagin gab den Talbot mit ausladender, körniger Stimme, Thomas Lehman den Cecil mit solidem Bariton. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Alan Woodbridge) sang aus dem Off, was gelegentlich zu Koordinationsproblemen mit dem Orchester führte. Das Publikum am 11. 8. 2025, mit der Interpretation von Belcanto-Opern in Salzburg nicht eben verwöhnt, feierte die Sänger ausnahmslos euphorisch.

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Salzburger Festspiele 2025: „Hotel Metamorphosis“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Traditionell wurde eine Produktion von den Pfingstfestspielen Salzburg in das Sommerprogramm übernommen – in diesem Jahr Barrie Koskys schon im Juni gefeiertes Vivaldi-Pasticcio Hotel Metamorphosis. Michael Levine hatte die Geschichte in einem Hotelzimmer mit Doppelbett und variierenden Gemälden verortet, welche mythologische Szenen zeigen: Pygmalion und seine Statue, Arachne und Minerva, Myrrha, Echo und Narcissus, Orpheus und Eurydice. Die Geschichten stammen aus Ovids Metamorphosen, deren berühmteste die von Orpheus ist, den Angela Winkler im schwarzen Hosenanzug (Kostüme: Klaus Bruns) mit ihrer bekannt manierierten kindlichen Stimme sprach und dabei einige Konzentrationsprobleme offenbarte. Auch Pfingst-Prinzipalin Cecila Bartoli als Eurydice (im roten Kleid) und Arachne (im bunten Hosenanzug und Turban) brauchte eine Zeit, um ihre Form zu finden. Bei „Quell`augellin che canta“ aus La Silvia entzückte sie mit den imitierten, kichernden und gackernden Vogelstimmen, bei „Dite, oimè“ aus La fida ninfa beeindruckten der schmerzliche Ausdruck und die souveräne hohe Lage. Am Ende tritt sie noch einmal als Eurydice auf, nun im schwarzen Kleid, und imponierte mit langen Bögen bei „Sposa… son disprezzata“ aus Giacomellis Il Bajazet und „Gelido in ogni vena“ aus Il Farnace, bei dem die Stimme wie erfroren klirrte. Auch Philippe Jaroussky, ein Veteran in der Counter-Szene, offenbarte als Pygmalion und Narcissus stimmliche Defizite.  Überzeugend war aber der träumerische Klang in „Tu dormi in tante pene“ aus Tito Manlio.

Zum Star der Aufführung avancierte die französisch-italienische Mezzosopranistin Lea Desandre als Statua,  Myrrha und Echo. Als Myrrha brillierte sie mit der Bravour-Nummer „Agitata da due venti“ aus La Griselda (früher selbst ein Ganzstück der Bartoli), wozu das lyrisch gesponnene „Non ti lusinghi la crudeltade“ aus Tito Manlio ein schöner Kontrast war. Berührend auch die Arie „Sonno, se pur sei sonno“ aus dieser Oper, die Myrrha nach ihrer Verwandlung in einen Baum singt. Überwältigend schließlich Desandre als Echo mit der Arie „Zeffiretti che sussurrate“ aus Ercole sul Termodonte mit dem reizend imitierten Vogelzwitschern. Die Besetzung komplettierte die russisch-schweizerische Merzzosopranistin Nadezhda Karyazina als Minerva, Nutrice und Juno. Als Minerva begann sie mit wimmernder Fistelstimme, als Nutrice trumpfte sie mit „Nel ,profondo cieco mondo“ aus Orlando furioso energisch auf und als Juno berührte sie mit „Ho nel petto un cor si forte“ aus Il Giustino.

Il Canto di Orfeo (Einstudierung: Jacopo Facchini) hatte in mehreren Szenen Gelegenheit für klangvolle Auftritte („Dell´ aura al sussurrar“ aus Dorilla in Tempe oder mit dem finalen  „Sileant zephyri“).

Optisch wurde die Aufführung entscheidend geprägt von Otto Pichlers choreografierten Tanzszenen, die an seine Arbeiten in den Musicals an der Berliner Komischen Oper erinnerten. Vor allem zu Beginn des 2. Aktes mussten die Tänzer in bunten Röckchen und mit Blütenkränzen im Haar zur Sinfonia aus Dorilla in Tempe hopsen und kreischen. Im Finale sorgten sie beim Concerto grosso auf das „La Follia“-Thema von Geminiani immerhin für eine strengere Form. Exzellent war das orchestrale Niveau, das Gianluca Capuano mit Les Musiciens du Prince – Monaco bot. Ein reiches Farbspektrum schloss flirrende, harsche und klirrende Töne ein. Zu hören waren zärtliche, sinnliche und dramatisch explosive Momente, welche das Seelenleben der Protagonisten plastisch widerspiegelten. Das Publikum im Haus für Mozart am 13. 8. 2025 feierte die Interpreten anhaltend. Bernd Hoppe

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Quietschekuh und Rumpelkammer: Bayreuther Festspiele 2025 –  Die Meistersinger von Nürnberg unter Daniele Gatti und Tristan und Isolde unter Semyon Bychkov. Die rot-grün-bunte aufblasbare Kuh, deren durchgebogener Rücken und das nach oben gestreckter Euter die Nürnberger Festwiese überspannen, schwebt unantastbar über Jubel und Frohsinn, Schunkelei und Gruppentanz. Zwar hatte Beckmesser ihr kurzfristig die Luft rausgelassen, was zum Abbruch der Fröhlichkeit geführt hätte, doch Allkümmerer Sachs erkennt rechtzeitig die Notlage und verbindet Stecker und Kabel wieder. Das wäre auch zu schade gewesen. Das Bild wird in Erinnerung bleiben: eine Festwiese in quietschbunter 70er Jahre Optik als Mischung aus Volksfest und Vereinsabend, Musikantenstadl, Schlagerparade, Bauerntheater und Faschingssitzung mit zwei Merkel-Doubles, blond geschneckerlte Schlagerfuzzis, viel Volk in zünftigen Lederhosen und Dirndln. Und ganz viele Zipfelmützen, die an diesem Abend nie fehlen, als rote Vorgartenzwergmützen, fahle Narren- oder verzierte Faschingskappen.

Bayreuth 2025: „Die Meistersinger von Nürnberg“/Szene/©Enrico Nawrath press

Wie als Warnung wurde Regisseur Matthias Davids als Musicalregisseur angekündigt. Tatsächlich hat er seit 30 Jahren landauf landab an unterschiedlichsten Häusern gelegentlich Opern und Operetten, doch vor allem Musicals inszeniert. Und ich erinnere mich auch mal Gershwins Crazy for you von ihm gesehen zu haben. Gelernt hat er daraus ein Gefühl für Timing, die Mischung aus sentimentalen und leidenschaftlichen, aus kleinen und großen Szenen. Langweilig darf es nie sein. Das alles passt zu den Meistersingern, die Davids bewusst als Gegenentwurf zu Barrie Koskys und Katherina Wagners Geschichtsstunden und der jahrzehntelange Öde bei Wolfgang Wagners als – und das will bei den Längen der Schusterstube etwas bedeuten – nie langweiliges komödiantisches Entertainment bringt. Das war vielen zu leicht, zu heiter, zu oberflächlich. „Das Ganze war halt eine Farce und weiter nichts“, würde die lebenskluge Marschallin aus der anderen großen deutschen Musikkomödie sagen, die die Gefühlslage der Beteiligten erkannt hat. Oberflächlich ist Davids nie. Und die Bilder von Andrew Edwards bleiben in Erinnerung. Die sehr schmalen und sehr hohen, umsichtig mit einem Warnhinweis versehenen Stufen, die zu einem Kirchlein führen, aus dem anfangs die Kirchgänger strömen, angetan entweder in Trachten der Dürer- und Wagner-Zeit oder gar im modetrendigen Männerwickelrock. Auf der Fläche daneben treffen sich Eva und Stolzing erstmals. Er hat ein Herzchen aus Papierfliegern auf den Boden gelegt und flattert mit zwei Papierflügeln wie ein verliebter Teenager-Engel. Anschließend schwenkt die Handlung in das Innere eines Versammlungsraums. Im zweien Akt dann die bunt illuminierte, mittelalterliche Gasse mit den wie im Erzgebirge gedrechselten Häusern von Sachs und Pogner, samt Bäumchen von der Märklin-Eisenbahn und einer zum Bücherschrank umfunktionierten Telefonzelle. Am Ende des Aktes bricht ein Pandämonium aus, die Bäume scheinen sich zu biegen, die Häuser rücken auseinander, die Dächer heben sich, eine wütende Prügelei beginnt, die zwischenzeitlich zwischen den Hauptbeteiligten im Boxring geführt wird. Und schließlich diese Festwiese, die aus der krähwinkelschen Enge in die Weitläufigkeit der gegenwärtigen Unterhaltungsbranche führt. Ähnlich bunt – und stillos würde manch einer meinen – hat Susanne Hubrich die Kostüme zusammengesucht als habe ganz Nürnberg im Second-Hand-Laden gewühlt, doch auch mit viel Sinn für aparte Kombinationen und Details bis hin zu dem Harlekins-Wams und den roten Socken des Sachs und seinen guten Maßschuhen, die er im dritten Akt trägt, oder den wechselnden Outfits des Beckmesser. Davids hat die Figuren eindringlich gezeichnet. Herrscht anfangs noch ein gestelzter Vorzeigeton mit demonstrativen und jedes Wort untermalenden Gesten, so gewinnen die Figuren langsam an Leben und Individualität, vor allem Stolzing und Eva wirken wie Zeitgenossen. Eva wird am Ende zur treibenden Kraft, schält sich aus der Festwiesendeko, in der sie wie ein aufgerüschter Hauptgewinn vorgeführt wird, verabschiedet sich von der Amme, gibt dem Vater die Preiskette, ergreift ihren Junker, der nach seiner Ablehnung der Meisterwürde von Sachs ausgiebig belehrt wurde und nun etwas hilflos herumsteht, und flieht ihm aus dem Treiben.

Bayreuth 2025: „Die Meistersinger von Nürnberg“/Szene/©Enrico Nawrath press

Auch Sachs selbst hat neben allen besserwisserischen Lehrer-Lämpel-Zügen grüblerisch selbstquälerische und durchaus selbstironische Momente. Wie Georg Zeppenfeld diese Entwicklung darstellerisch zeigt, ist großartig. Nicht weniger bewundernswert die, man muss schon sagen, vokale Bravour, mit der er trotz des etwas sehr beiläufigen Flieder-Monologs die Partie trägt und bis zu den Schlusssequenzen mit seinem klaren, hohen Bass und auch in der vierten Aufführung nie nachlassender Kraft (11. August) meisterlich durchleuchtet, auch wenn man sich eine opulentere, profundere Stimme vorstellen könnte. Zeppenfeld führt eine großartige Besetzung an, die es in dieser fabelhaften Geschlossenheit auf dem Grünen Hügel auch nicht alle Jahrzehnte gibt. Sachsens Sparringpartner ist Beckmesser, mit dem er nach dem Schlussgesang die endlosen Diskussionen weiterführen wird. Michael Nagy ist darstellerisch ebenso großartig, wobei ich es interessanter gefunden hatte, wenn die Regie auf einige klamaukige Züge verzichtet hätte und den aparten Sänger mit seinem schönen Kavaliersbariton als echten Konkurrenten zum favorisierten Ritter aufgebaut hätte. Der Ritter ist ein Dutt tragender Teddy im blauen Anzug. Michael Spyres singt den Stolzing mit edelzartem, groß aufblühendem Ton, goldenen Timbre, in jeder Lage speziellem Klang und endlosem Atem, schön phrasiert und textdeutlich und einer heldenhaften Leichtigkeit, wie wenn er nach „Parnass und Paradies“ noch Rossinis Koloraturen versprühen könnte. Da ist alles zwingend erfasst. Nach dem sehr guten, doch keineswegs überrumpelnden Wagner-Debüt mit dem Lohengrin im Vorjahr in Straßburg hat Spyres mit Stolzing seine ideale Wagner-Partie gefunden. Im Frühjahr geht es an der Met mit dem Tristan weiter. Dort hat Christina Nilsson kürzlich die Aida gesungen. Mit kühl gestähltem, fast schon dramatischem Sopran ist die junge Schwedin eine auffallende Eva, die sich in den Szenen mit Sachs im zweiten und dritten Akt nicht unterbuttern lässt, die Pep hat und das Quintett mit ruhigem Strahl und sattem Klang anführt. Ausgezeichnet der bestechend artikulierende, in der Höhe etwas verunsicherte und mit einem großen Spieltenor singende Matthias Stier als David. Christa Mayers schuf mit der Magdalene eine pralle Figur, unter den allesamt individuell gezeichneten Meistern fielen Daniel Jenz als Balthasar Zorn, Matthew Newlin als kettenrauchender Ulrich Eisslinger, Patrick Zielke als Hans Foltz und Jordan Shanahan als gemütlicher Kothner auf. Ein schwarzer Fleck: der eigentlich schön, doch klein, völlig unidiomatisch und unverständlich klingende Pogner des Jongmin Park. Und Daniele Gatti? Ihm eilt die Regie zur Hilfe, lässt über den betulichen und langsamen Anfang hinweghören, bis sein ausziseliertes Musizieren und die Sicherheit, mit der er Orchester und den etwas kleiner als früher besetzten Chor führt und steigert, im dritten Akt an Überzeugungskraft gewinnt. Am Ende grenzenloser Jubel, einige Buhs für den Dirigenten.

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Bayreuth 2025: „Tristan und Isdolde“/Szene/©Enrico Nawrath press

Rätselhaft, dunkel, raunend tags zuvor die zweite von fünf Aufführungen von Tristan und Isolde (10. August). Die Inszenierung des isländische Regisseurs Thorleifur Örn Arnarsson, der mit Inszenierungen der Edda und Orestie, aber auch von Lohengrin 2014 in Augsburg und Parsifal 2023 in Hannover aufgefallen ist und prädestiniert für geheimnisvolle Urstoffe scheint, hatte im Vorjahr die kurzlebige Tristan-Inszenierung Roland Schwabs aus dem Jahr 2022 abgelöst. Isolde, die bald ihren Bräutigam Marke treffen wird, schleppt im wahrsten Sinn des Wortes einen immensen Ballast an Erinnerungen mit sich, der in Form des gewaltigen weißen Reifrocks, welcher sich wie eine Insel um sie herum ausdehnt und wallt, alles andere auf der nur wegen der herunterhängen Taue als Schiff erkenntlichen Bühne in den Hintergrund treten lässt. Ein Riss im Boden steht für den Riss in der Welt und die unerfüllte Sehnsucht der Liebenden. Das weiße Gewand, das Isolde wie einen Engel erscheinen lässt, ist bereits über und über beschrieben, und immer noch kritzelt die Tagebuchschreiberin Isolde weiter, ruft sich die zurückliegende Begegnung mit Tristan in Erinnerung, bei der sich beide ineinander verliebten: „Vergeltung“, „Rache“, „Tantris“ usw. Da braucht es keinen Liebestrank mehr, damit beide bei der Überfahrt von Irland nach Cornwall, wohin Tristan die Braut Isolde führen soll, neuerlich entflammen. Im undurchschaubaren Hantieren mit Liebes- und Todestrank ist es unwichtig, zu welchem Trank sie greifen. Um die beiden war es bereits geschehen, so das Regieteam im Programmheft, sobald Isolde sagt, „Er sah mir in die Augen“.

Ganz entfliehen können sie dem Ballast, der Vergangenheit und ihrer Geschichte nicht, wenn man die Anhäufung von Gegenständen, die ab dem Erscheinen Markes am Ende des ersten Aktes fortan das vom litauischen Bühnenbildner Vytautas Narbutas voll geräumte Schiffsinnere bestimmen, als eine solche Last nimmt. Es ist ein Lager oder Speicher, durch den dicke Röhren und Leitungen führen, angefüllt mit dem kulturgeschichtlichen Treibsand aus mehreren Jahrhunderten, Kruscht und Krempel, die wahllos und schwer zu erkennen durcheinanderliegen, Karyatiden, ein Röhrenradio, ein alter Globus, Büsten und Amphoren, Bilder, vielleicht eines von Caspar David Friedrich, das Ziffernblatt einer Comtoise, die Statue eines Kriegers. Das Vergangene lässt sich nicht wegräumen und bestimmt bis zu Tristans Fieberfantasien die Handlung. Im zweiten Akt verspielen sich Tristan und Isolde ein wenig mit dem Zeugs. Tristan erbittet von Isolde den tödlichen Schwertstoß, dem sie ihm einst verweigerte. Indem er schließlich selbstmörderisch zum Todestrank greift, entgeht er Melots Hieb. Im dritten wird Tristan auf einem der Stühle sterbend zusammenbrechen, die anderen, ohnehin zu Stichwortgebern reduziert, sinken auf den Lagern zusammen. Arnarssons Inszenierung lässt den Betrachter ratlos und verwirrt zurück.

Bayreuth 2025: „Tristan und Isdolde“/Szene/©Enrico Nawrath press

Es ist der große Abend des Semyon Bychkov, der die „Handlung in drei Aufzügen“ mit dem in Bestform spielenden Festspielorchester mit ausgepichter Klangdelikatesse aufdröselt, so detailverliebt, dass man scheinbar nie gehörte Details neu beachtet, dabei bei durchaus ausladenden Tempi von großer Spannung und Intensität bereits in der sich sehrend ballenden und steigernden Einleitung mit dem berühmten Tristan-Akkord. Sensibel leuchtet er, wie in der Einleitung zum dritten Akt, Farben und Nuancen vorimpressionistisch aus und gibt den zartesten Pianissimi Gehalt, kreiert zu Beginn des zweiten Aktes ein sensuelles Fluidum, in dem sich Camilla Nylunds schöner Sopran ebenso edel entfaltet wie im bemerkenswert sicher gesteigerten Liebestod, den Isolde mit dem Gifttrank herbeiführt; nur aus Liebe stirbt man eben doch nicht. Ihrem durch und durch lyrischen Sopran mag es im ersten Akt etwas an hochdramatischem Fundament fehlen, was vor allem neben dem brünstig lauten Andreas Schager auffällt, doch im zweiten Akt ist besticht sie durch einen ruhigen und sicheren Strahl und ein feines Piano bei verinnerlichtem Ausdruck und Gestaltung. Schagers Tristan ist bis zu den letzten „Isolde“-Rufen ein kämpfender, mit voller Kraft und ungeniertem Ausdruck singender und sich verausgabender Held, der sich nur selten leisere, dann ins Sprechen abgleitende Töne gestattet und sich lieber auf die pure Kraft seines robusten und metallisch schwingenden Tenors verlässt. Wirklich zusammen passen die beiden Stimmen nicht. Ekaterina Gubanova macht als Brangäne durch ihre gute Höhe bei merklich blassem Mezzosopran auf sich aufmerksam, Jordan Shanahan ist ein sympathischer Diener seines Herrn, Günther Groissböck gibt den Marke mit überzeugender Gestaltung und Ausdruck und einem bedenklich festgefahrenen Bass. Festspielwürdig der feinstimmige junge Seemann von Matthew Newlin und der Hirte des Daniel Jens, weniger der Melot des Alexander Grassauer. Rolf Fath

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Bad Wildbad: Otello mit Happy End beim 36. Rossini in Wildbad-Festival. Geballtes Programm. In zehn Tage hat Rossini in Wildbad diesmal alle Aufführungen und Konzerte gepackt. Das hat durchaus Reiz für anreisende Liebhaber, die nach der Eröffnung mit der Petite Messe Solennelle auf dem Baumwipfelpfad an verlängerten Wochenenden vormittags und abends La Cenerentola, die einzige aktuelle szenische Neuinszenierung, oder den Einakter L’inganno felice genießen können. Oder die Klavieroper Un avvertimento ai gelosi des legendären Rossini-Tenors und Gesangslehrers Manuel Garcia, von dessen Gelegenheitsstücken für seine Gesangsschüler das Festival bereits einige aufgeführt hat. Alle drei im Königlichen Kurtheater. Dennoch wirkt das diesjährige Angebot sparsam und ausgedünnt. Die große Rarität, die Grand opéra Pierre de Médicis des Józef Michał Ksawery Poniatowski (1816–1873), fand als einmalige konzertante Aufführung statt. Der in Rom geborene Großneffe des letzten polnischen Königs war als Sänger, Komponist und Diplomat ein Kosmopolit. Er lernte Rossini in Paris kennen, wo er sich 1853 niederließ, ab 1873 das Théâtre Italien leitet und seine Oper Pierre de Médicis (1860) in der Opéra Le Peletier zur Uraufführung brachte.

„Baritenor“ Manuel Garcia Vater als Rossinis Otello von 1816/Wikipedia

Auch die die zweite Rarität, Rossinis Otello in einer bislang in modernen Zeit nicht aufgeführten Fassung aus Rom von 1820 mit Happy End, erlebte nur eine konzertante Aufführung. Unvergessen die Aufführung des Otello beim 20. Rossini in Wildbad-Festival im Juli 2008 mit Jessica Pratt und Michael Spyres (Naxos 8.660275-76), die beide vom Enztal aus ihre Karriere starteten. Nun übernahm Francesco Meli, der sich Ende 2024 in Venedig erstmals an Verdis Otello getraut hatte, die Titelrolle; versierte Rossini-Tenöre würden den Weg andersrum wählen. Meli leitet übrigens das Opernstudio des Teatro San Carlo in seiner Geburtsstadt Genua, von dem die Produktion von Un avvertimento ai gelosi stammt. Diana Haller, die hier schon von Tancredi bis Isolier vielfach reüssiert hat und mittlerweile auch Sopran-Partien (Elettra) singt, ist erstmals die Desdemona. Die verbindende Konstante wäre Antonino Fogliani gewesen, der offenbar in vorletzter Minute durch Nicola Pascoli ersetzt werden musste, der sich im Vorjahr bei Michele Carafas Masaniello mit der heiklen Akustik der schmalen und langgestreckten Trinkhalle vertraut gemacht hatte.

Otello war nach Elisabetta, regina d’Inghilterra die zweite der neun ernsten Opern, die Rossini für das Teatro San Carlo in Neapel schrieb. Er war 23 Jahre alt, als ihn Domenico Barbaja 1815 zum musikalischen Leiter der beiden Königlichen Theater Neapels, des Teatro San Carlo und des Teatro des Fondo, ernannte mit der Auflage jedes Jahr zwei Opern zu schreiben. Für das San Carlo, das am prächtigsten ausgestattete Theater Italiens, schuf er fortan seine experimentierfreudigsten Seria-Opern. Der Vertrag erlaubte Rossini auch umfangreich für andere Theater zu arbeiten. Als er nach Il Barbiere di Siviglia in Rom nach Neapel zurückkehrte, hatte ein Feuer das Teatro San Carlo Opfer zerstört, weshalb der unliebsame – „Ich erinnere mich nicht, mich jemals so abgemüht zu haben“, schrieb er nach Hause –und vielfach verschobene Otello am 4. Dezember 1816 im kleineren Teatro del Fondo uraufgeführt wurde. Das Libretto des Francesco Berio di Salsa wurde so lange belächelt, bis man feststellte, dass sich der literarisch gebildete Marchese nicht direkt auf Shakespeare bezogen hatte und in den 1970 Jahren zeitgenössische Shakespeare-Adaptionen von Jean-François Ducis (1792) und Giovanni Carlo Baron Cosenza (1813) als Quellen ausgemacht wurden. Der dritte Akt mit dem Lied des Gondoliere, der Canzone des Desdemona und dem gegen den Sturm ankämpfenden einzigen Duett, das Desdemona und Otello haben, entspricht dagegen Shakespeares Drama.

Davon entfernte sich Rossini in seiner für die Karnevalssaison 1819/20 bestimmten Fassung mit Lieto fine, also einem Happy End, für das Teatro Argentina in Rom, die am 26. Dezember 1819 ihre erste Aufführung erlebte. In dieser Fassung versucht Desdemona Otello von Jagos Intrige zu überzeugen, der aus Rache für ihre Zurückweisung Otellos Eifersucht angefeuert habe. Zögernd lässt Otello seinen Dolch fallen. Der Doge kommt. Otello erfährt, dass der Nebenbuhler Rodrigo das gemeinsame Duell, mit dem der zweite Akt geendet hatte, überlebt hat und Jago seine Intrige zugegeben hat. Der Bösewicht wird zum Tod verdammt. Elmiro akzeptiert Otello als Schwiegersohn.

Rossinis römischer „Otello“ von 1819 in Bad Wildbad 2025/Foto Magdalena Kiwior

Das Festival nennt es eine moderne Premiere. Das Label Opera Rara hat bei seiner Otello-Einspielung 1998 diese Fassung als Anhang berücksichtigt, beim Festival della Valle d’Itria in Martina Franca war im Jahr darauf eine seltsame Mischfassung mit diesem Finale zu hören. Doch Rossini in Wildbad kann tatsächlich die Moderne Erstaufführung der vollständigen Fassung für Rom für sich beanspruchen. Die Änderungen, für die Rossini bereits vorhandene Stücke anpasste, sind umfangreicher als es zunächst den Anschein haben mag und rücken das Paar Desdemona und Otello stärker in den Mittelpunkt: Statt ihres Duetts mit Emilia, mit dem Desdemona im ersten Akt quasi als scheues Mädchen eingeführt wird, erhält sie nun eine Kavatine mit Chor (Quanto è grato all’alma mia), die aus der Elisabetta stammt und einer ersten Sopranistin würdig ist. Für das entfallene Duett wird Emilia zu Beginn des zweiten Aktes durch die Arie entschädigt, welche die Vertraute Isaura in Tancredi gesungen hatte (Tu che i miseri conforti).

Die junge Mezzosopranistin Verena Kronbichler polierte das lähmende Füllsel zum vokalem Juwel auf. Rodrigos hochvirtuoses, brillantes Showstück fällt dagegen weg. Neu ist vor seiner Begegnung mit Jago eine Szene des Otello, die aus Cimarosas Penelope stammt (Smarrita quest’alma). Im dritten Akt verzichtet Rossini auf das hübsche Lied des Gondoliere mit seinen Dante-Versen und lässt die Liebenden nach Desdemonas Weidenlied und ihrem Gebet im Duett aus Armida (Amor! Possente nome) mit dem hymnischen Schlussteil Cara per te quest’anima wieder zueinanderfinden. Ein kurzer Rundgesang aus Ricciardo e Zoraide besiegelt das glückliche Ende (Or più dolci intorno al core). Die kleinen Partien des Lucio und Gondoliere entfallen, der Chor ist ein reiner Männerchor. Gianmarco Rossini, hat, wie er in seinem Revisionsbericht darlegt, weit mehr Quellen aufgetan als sie bei der Herausgabe der Kritischen Edition der Fondazione Rossini berücksichtigt wurden.

Dieser Otello ist nicht den umfassenden Mosè in Egitto und Maometto-Überarbeitungen für Paris vergleichbar, dennoch ist er ein neues Stück, das Nicola Pascoli mit Begeisterung und Temperament in die Trinkhalle stemmte, wobei ihm das ungestüm aufspielende Orchester der Krakauer Szymanowski-Philharmonie mit Leidenschaft folgte. Auch wenn manche Feinheiten der Lautstärke zum Opfer fielen, gelang es dem Orchester auf die zahlreichen instrumentalen Solomomente hinzuweisen, gelegentlich fehlende Innenspannung und Dichte ersetzte Pascoli durch effektvoll gesteigerte Finali, in denen der Chor der Szymanowski-Philharmonie durch fabelhafte Tenöre auffiel. Die Besetzung war gediegen. Francesco Meli, der Otellos Sieg Vincemmo, o prodi gleich mit der Kraft und dem bronzenen Edelmetall eines Verdischen Esultate verkündete, tat sich nicht leicht, seinem schweren und etwas angedickten Ton die nötige Geschmeidigkeit und Eleganz zu geben oder ein schönes Piano zu singen und setzte durchgehend auf einen massiven und einförmigen Ausdruck. Meli, den man kaum noch mit dem Belcanto-Repertoire und den Rossini-Partien der Anfängerjahre, die er vor rund 15 Jahren langsam hinter sich gelassen hat, in Verbindung bringt, wird diesen neuerlichen Versuch mit Rossini vermutlich so schnell nicht wiederholen, doch Respekt, wie er sich die Partie, mit der er gegen Ende merklich zu kämpfen hatte, zu eigen machte und aus den Rezitativen alles rausholt.

Souverän und triumphierend, wie eine Königin der Trinkhalle, sang Diana Haller mit einer von den runden Tiefen bis zu den aufblitzenden Höhen durchgehend schön verblendeten Stimme eine leidenschaftlich glühende Desdemona, die heftig und selbstbewusst mit manchmal etwas harschem Tonsatz für ihre Liebe kämpft und dabei seelenvolle Töne für das Weidenlied und das Gebet findet. Juan de Dios Mateos war mit seinem leichten hohen, doch auch etwas unruhigen Tenor ein eher larmoyanter denn kämpferischer Rodrigo, der chinesische Tenor Anle Gou gab dem Jago hell durchdringende Spitzentöne, als Elmiro bestach der souveräne Nathanaël Tavernier durch wohltuende Bassautorität in den Ensembles.  Rolf Fath

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Österreich – Graz: Die 40. Styriarte mit dem Motto Raum & Klang. Die steirischen Festspiele feierten in diesem Jahr ein stattliches Jubiläum, wenn auch überschattet durch die jüngsten erschreckenden Ereignisse in der Stadt. Im  Eröffnungskonzert am 20. 6. 2025 in der Helmut List Halle gedachte man dann auch mit einer Schweigeminute der Opfer. In einer Fotoausstellung im Foyer wurden 40 Bilder gezeigt, welche an die beteiligten Künstler erinnerten, vor allem natürlich an Nikolaus Harnoncourt, den Pionier des Unternehmens. Es war eine treffliche Idee, das Programm mit Johann Sebastian Bachs Partita in d, BWV 1004 für Violine solo zu beginnen – mit Thomas Zehetmair als Interpret, der dieses Werk schon beim 1. Konzert der Styriarte 1985 im Schloss Eggenberg gespielt hatte. Er fungierte dann auch als inspirierender Dirigent des Styriarte Festspiel-Orchesters bei Mozarts Sinfonia concertante in Es, KV 364 und der Sinfonie Nr. 41 in C. KV 551 „Jupiter“.

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Schloss Eggenberg war am nächsten Abend auch der Schauplatz für die diesjährige Opernproduktion – Antonio Draghis Ballettoper Gl´incantesimi disciolti, die 1673 im Schloss Eggenberg anlässlich der Hochzeit von Kaiser Leopold I. mit Erzherzogin Claudia Felizitas von Tirol  aufgeführt wurde. Draghi war Hofkomponist des Kaisers und verarbeitete im Stück auch die Intrigen, welche sich im Vorfeld der Vermählung am Wiener Hof ereignet hatten und den Bund fast verhindert hätten. In der von ihm erdachten Geschichte verlieben sich das Glück und der Gute Wille, werden aber durch den missgünstigen Neid sowie Selbstsucht und Lüge verhext und kommen erst durch die Zuneigung und den zur Vernunft geläuterten Neid zum glücklichen Ende.

Im prachtvollen Planetensaal des Schlosses hatte Dramaturg Thomas Höft eine deutsche Fassung unter dem Titel Das verwunschene Glück erstellt – eine freie Übersetzung des originalen Aufgelöste Zaubereien. Sein szenisches Arrangement wurde dominiert durch Lilli Hartmanns fast lebensgroße Handpuppen, die den allegorischen Figuren zugeordnet waren und entfernt am Arcimboldos Gemälde mit den Köpfen aus Früchten und Gemüse erinnerten. Geführt wurden sie von den Sängern und vier Tänzerinnen, die in der Choreografie von Mareike Franz pantomimische Episoden ausführten, zuweilen an den Ausdruckstanz der 1930er Jahre erinnerten und mit hüpfenden, zappelnden, hopsenden Figuren auch banales Vokabular auszuführen hatten. Die Optik war durch diese verschiedenen Elemente etwas überladen, zumal in diesem mit Gemälden reich dekorierten Saal – hier wäre eine Reduzierung vorteilhafter gewesen.

Die Aufführung hatte ihre Meriten durch das farbenreiche musikalische Klangbild, welches Michael Hell als Dirigent am Cembalo mit dem Ensemble Ärt House 17 verantwortete. Da die originale Partitur nur in Teilen erhalten ist und die bei der Uraufführung gespielten Ballettmusiken gänzlich verloren sind, hat Hell Instrumentalmusiken von zeitgenössischen Komponisten eingefügt. Diese Intermezzi von Biber (eine Sinfonia), Schmelzer (eine Gigue) und Rittler (eine Ciaconna) bringen rhythmisch prägnante Momente, Trompetengeschmetter und festlichen Fanfarenglanz ein, bedeuten zweifellos eine Bereicherung des musikalischen Kosmos.

Styriarte 2025: Antonio Draghis Oper “ Gl´incantesimi disciolti“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Auf recht unterschiedlichem Niveau singt die Besetzung. Dominiert wird sie von den beiden Sopranen. Die junge Johanna Rosa Falkinger erfreut als Glück mit klangvoller, leuchtender Stimme, während die gestandene Sophie Daneman als Lüge noch immer mit souveränem Vortrag und makellosen Koloraturen besticht. Reizvoll dunkel timbriert ist der Mezzo von Anna Manske als Neid, der sich später in die Vernunft wandelt. Kraftvoll-energisch trumpft Julian Habermann als Zuneigung auf, während die beiden Veteranen der Gesangsszene – Markus Schäfer als Selbstsucht und Dietrich Henschel als Guter Rat – mit überreifen, teils verquollenen oder matten Stimmen Wünsche offen lassen. Das Publikum applaudierte begeistert, dankbar für diese Wiederentdeckung einer barocken Preziose. Bernd Hoppe

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Potsdam-Sanssouci: Grand Tour bei den Musikfestspielen.  Alljährlich bieten die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci ein attraktives Programm unter einem originellen Motto. Diesmal lautet es vom 13. bis 29. Juni Grand Tour und widmet sich dem Reisen in die Musikmetropolen von London über Paris und Wien bis Venedig. Gleich das Eröffnungskonzert am 13. 6. in der Friedenskirche mit dem Thema Dr. Burneys Reiseführer erinnerte an den britischen Organisten und Komponisten Charles Burney, der zwei ausgedehnte Reisen auf den Kontinent unternahm, um das Musikleben der einzelnen Länder kennenzulernen. Der zweite Ausflug 1772 führte ihn auch nach Berlin und Potsdam.

Das Konzert mit dem polnischen, auf Alte Musik spezialisierten Ensemble (oh!) ORKIESTRA unter Leitung seiner Gründerin Martyna Pastuszka offerierte ein anspruchsvolles und abwechslungsreiches Programm, das die einzelnen Reise-Etappen nachzeichnete. Der Auftakt mit der Ouvertüre zu Carl Heinrich Grauns Oper Catone in Utica     führte nach Berlin, wo dieser Komponist das Musikleben. der deutschen Hauptstadt maßstäblich bestimmte. Mit seiner Oper Cleopatra e Cesare wurde das Opernhaus Unter den Linden, das Friedrich II. hatte erbauen lassen,  1742 festlich eröffnet. Die Ouvertüre dazu erklang im 2. Teil und weckte lebendige Erinnerungen an die Aufführung unter René Jacobs in der Staatsoper 1992, welche die beliebten Barocktage des Hauses eröffnete. Beide Titel Grauns demonstrierten den musikantischen Schwung des Orchesters und dessen exzellentes spielerisches Niveau. Auch das Flötenkonzert G-Dur von Johann Joachim Quantz, den Burney in Berlin getroffen hatte, war ein Verweis auf die preußische Metropole. Die namhafte Flötistin Laura Quesada brillierte mit ihrem virtuosen Vortrag – heiter-beschwingt im Allegro assai, träumerisch-empfindsam im Arioso e mesto und brillant im Presto.

Vokalsolist des Abends war der renommierte Countertenor Max Emanuel Cencic, der eine reich gefüllte Pralinenschachtel öffnete und eine Preziose nach der anderen servierte. Der Beginn mit der Arie „Sol da te“ aus Antonio Vivaldis Orlando furioso führte nach Venedig, wo das Werk 1727 uraufgeführt wurde. Die Nummer ist ein Dialog zwischen Instrument und Stimme. Laura Quesada an der Traversflöte war dem Sänger eine inspirierende Partnerin. Der Counter ließ eine runde und warme Stimme von hoher Kultur hören. Imponierend waren die großen Atemreserven, die ihm lange Bögen ermöglichten. Noch eindrucksvoller war sein zweiter Beitrag – die berühmte Arie „Va tacito“ des Giulio Cesare aus Händels gleichnamiger Oper, womit die Reise zurück nach London führte. Hier war der Hornist Bart Aerbeydt der kompetente Partner im musikalischen Dialog. Cencic fühlte sich in diesem höher notierten Stück hörbar heimisch, sang mit Aplomb und Verve und variierte das Da capo spannungsreich. Ein Werk Händels, Flavio. Re de´Langobardi, 1723 in London uraufgeführt, markierte auch den virtuosen Schlusspunkt des offiziellen Programms. Cencic hatte es 2023 bei seinem Festival Bayreuth Baroque inszeniert und selbst die Partie des Guido, von Senesino kreiert, gesungen. In dessen Arie „Rompo i lacci“ setzte Cencic energische Akzente, imponierte mit stupenden Koloraturgirlanden und schoss im Da capo effektvolle Raketentöne ab. Das Orchester sorgte mit seiner Affekt betonten Begleitung für große Wirkung, hatte darüber hinaus in zwei Stücken Gelegenheit, Abstecher nach Wien und Prag zu unternehmen. Für ersteren diente die Sinfonia G-Dur von Karl (oder Joseph?) Kohaut – beschwingt im Allegro assai, elegisch-sanft im Andante und hurtig eilend im Presto. In Böhmen war Josef Myslivecek einst gefeiert, bis der Erfolg ausblieb und er in Italien Karriere machte. Seine Sinfonie G-Dur ist anfangs von pastoraler Stimmung, findet aber im Prestissimo zu einem ausgelassenen Finale.

Zwei Arien von Johann Adolf Hasse, mit dessen Werk sich der Sänger seit langem beschäftigt, hatten nach Neapel und Dresden geführt. Tigrane wurde 1729 am Teatro San Bartolomeo von Napoli uraufgeführt. „Solca il mar“ des Titelhelden ist eine Gleichnis-Arie, welche die Gefahren des tobenden Meeres beschreibt. Entsprechend stürmisch ist der Gesangsduktus, entsprechend halsbrecherisch sind die Koloraturen. Nicht weniger glanzvoll meisterte der Solist die Arie des Aminta „Siam navi all´onde algenti“ aus L´Olimpiade, die 1756 am Dresdner Hoftheater zur Premiere kam. Nicht fehlen in der Auswahl durfte Nicola Antonio Porpora. Der große Konkurrent Händels in London brachte 1733 seine Arianna in Nasso heraus – vier Wochen vor der Arianna in Creta seines Rivalen. Cencic beeindruckte mit der getragenen Arie des Teseo „Nume che reggi il mare“. Effektvoller waren freilich die beiden Zugaben aus Händels Poro – „Vedrai con tuo periglio“ und „Senza procelle ancora si perde“. Den Titelhelden der Oper hatte bei der Uraufführung in London 1731 der berühmte Kastrat Senesino gesungen. Entsprechend hoch sind die virtuosen Ansprüche der beiden Arien und Cencic konnte damit seinen Auftritt glanzvoll krönen.

Das Eröffnungskonzert, dessen Mitwirkenden vom Publikum in der ausverkauften Friedenskirche begeistert gefeiert wurden, war ein stimmungsvoller Auftakt auf zwei Wochen Festspiele, die noch manche Rarität offerieren.

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Prinzipalin und Dirigentin Dortothée Oberlinger in Potsdam 2025/Foto Stefan Gloede

Liebeswahnsinn: Immer wieder bewundert man den Spürsinn und die Entdeckerfreude der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci mit ihrer Künstlerischen Leiterin Dorothee Oberlinger. In diesem Sommer wartete man mit einer besonderen Rarität auf – einem Werk des 1654 geborenen Komponisten Agostino Steffani, der in Hannover als Hofkapellmeister wirkte. Im Schlossopernhaus der Stadt wurde 1691 sein Orlando generoso uraufgeführt, der nun in der Pflanzenhalle der Orangerie als die diesjährige szenische Produktion der Festspiele erklang. Das Libretto von Ortensio Mauro fußt auf Ariostos Epos Orlando furioso und erzählt von Paaren, die sich nicht finden können. Da sind Ruggiero und Bradamante, deren Heirat der mächtige Magier Atlante verhindern will, sowie die chinesische Prinzessin Angelica, Tochter des Galafro, und ihr heimlicher Geliebter Medoro. In sie ist hoffnungslos auch Orlando verliebt, was den Titelhelden zunehmend in den Wahnsinn treibt. Das Stück ist voll von den in Barock-Opern üblichen Verwirrungen und Verstrickungen, was das Verständnis der Handlung nicht eben erleichtert.

Die deutsch-britische Regisseurin Jean Renshaw hat das Geschehen in die Gegenwart verlegt, jedes historische Kolorit und jeden exotischen Zauber vermieden. Dafür sind Smartphones und moderne Schusswaffen im Einsatz. Die spartanische, stimmungsarme Bühne des Ausstatters Alfred Peter zeigt zwischen zwei weißen Wänden mit je einer Tür, welche mit In und Out gekennzeichnet sind, einen Tisch, der zum Schauplatz brutaler Attacken wird. Dafür ist neben Galafro vor allem Brunello (Martin Dvorák) zuständig – ein Tänzer, der mit seiner Partnerin Melissa (Katharina Weidenhofer) auch für die Choreografie voller bizarrer  Körperverrenkungen zuständig war. Für diese tänzerischen Intermezzi dienten andere Kompositionen Steffanis – die Sonate da camera à 3  und Auszüge aus seiner Oper Niobe, regina di Tebe, welche 2010 an der Covent Garden Opera London eine glanzvolle Aufführung erlebte.

Steffanis „Orlando generoso“ in Potsdam 2025/Szene/Foto Stefan Gloede

Dorothee Oberlinger hat mit ihrer musikalischen Assistentin Olga Watts und der Regisseurin das Aufführungsmaterial für die gespielte Fassung erstellt. Sie dirigiert ihr ENSEMBLE 1700, das hinter der Spielfläche postiert ist und Steffanis vielfarbige Musik mit ihren herrlichen Duetten, den klagenden Arien und der reizvollen Instrumentation zum Klingen bringt. Tänzerisch beschwingt und mit federndem Rhythmus sind die Intermezzi besondere Höhepunkte der Aufführung.

Die exemplarische Besetzung verleiht der Produktion einen Ausnahmerang. Die Sänger in Uniformen, Business-Anzügen oder Abendkleidern, zunehmend verschmutzt oder blutverschmiert, agieren mit gespannter Intensität und bis an die Grenze gehender körperlicher Verausgabung. Mehr als die Regie tragen sie den über dreistündigen Abend mit ihrem darstellerischen Einsatz und dem expressiven Gesang. Der renommierte Countertenor Terry Wey als Titelheld konnte schon in dessen Auftrittsarie „In quest´alma“ den seelischen Konflikt der Figur plastisch umreißen und zudem mit bravourösen Koloraturgirlanden brillieren. Furios seine „Furien“-Arie, die vom Orchester mit spannenden Affekten begleitet wird, von starker Wirkung sein letztes, auftrumpfendes Duett mit Angelica, welches das Orchester mit stampfendem Rhythmus untermalt. Kontrastreich dazu gab er den zahlreichen Lamenti der Partie innige Empfindung und eine wunderbar schwebende Gesangslinie. In der Parade der Counter hinterließ auch der Däne Morten Grove Frandsen als Ruggiero einen glänzenden Eindruck. Die klangvolle Stimme harmonierte perfekt in den Duetten mit Bradamante und Angelica, bewältigte auch die vehemente „Gelosia“-Arie souverän. Der spanische Counter Gabriel Díaz als Galafro sang den Tyrannen mit gebührend reifer Stimme. Am Ende, wenn Bradamante und Ruggiero sich getrennt haben und seine Tochter mit Medoro fortgegangen ist, bleibt er verwirrt und allein zurück – eine zeitgemäße Deutung des lieto fine, die auch nicht der festlichen Musik mit dem Schlusschor „Amanti fortunati“ und der beschwingten Chaconne en rondeau entspricht.

Agostino Steffani/Gemälde von Ludovico Kapper/Wikipedia

Die exzellente Sopran-Riege wurde angeführt von der Französin Hélène Walter als Angelica, deren obertonreiche, innige Stimme die Figur eindrücklich profilierte. Ihr dramatisches Vermögen gestattete ihr auch beeindruckend extrovertierte Momente. Nicht nach stand ihr Shira Patchornik aus Israel als Bradamante mit exzessivem Engagement und totalem stimmlichem Einsatz. Fulminant ihre Attacke in der Arie „Troppo rapido“, berührend die Empfindsamkeit in „S´hò perduto ogni mio bene“. Von androgyner Erscheinung und ebensolchem Mezzo-Timbre war Natalia Kowalek eine ideale Interpretin für die Partie en travestie des Medoro. Auch ihre Arien  bewegten sich in extremen Gefühlszuständen und wurden mit entsprechend leidenschaftlichem, erregtem, rasendem Ausdruck sowie reicher Farbpalette interpretiert. Imponierende bassprofunde Töne brachte Sreten Manojlovic als zynischer Atlante ein. Sein gewaltiges stimmliches Potential gab den  Arien „Non voglio cedere“ und „Ombre del cieco abisso“ grandiose Wirkung. Am Ende der 2. Vorstellung am 24. 6. 2025 (nach der Premiere am Vorabend) feierte das Publikum das Ensemble anhaltend – dankbar für die Wiederentdeckung einer Rarität und beglückt über das musikalische Niveau. 

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Noch eine Sternstunde: Auch die zweite Opernproduktion im diesjährigen Festspielprogramm widmete sich mit Baldassare Galuppis Didone abbandonata einer Rarität. Der Stoff um das Liebespaar Dido und Aeneas ist mit dem Libretto von Metastasio (nach Vergils Aeneis) viele Male vertont worden, darunter von Porpora, Vinci, Hasse und Jomelli. Die bekanntester Version ist jene von Henry Purcell, die allerdings auf einem Libretto von Nahum Tate fußt. Metastasio schrieb seinen Text 1724 und bearbeitete ihn für den spanischen Hof in Madrid 1752 auf Bitten des Kastratenstars Farinelli neu. Auch Galuppi, dessen Urfassung 1740 in Modena ihre Premiere erlebte, stellte eine Neuvertonung vor, die am 28. 6. 2025 im Nikolaisaal in konzertanter Form als Version Madrid 1752 erklang.

Baldassare Galuppi/Wikipedia

Das Ensemble NEREYDAS musizierte unter seinem Gründer Ulises Illàn mit hinreißendem Elan, hoher musikantischer Kultur und reichem Farbspektrum. Markante  orchestrale Höhepunkte waren die einleitende dreiteilige Sinfonia mit dem lebhaften Presto, dem kantablen Andante und dem beschwingten Non tanto allegro, die pompöse Marcia und die stürmische Sinfonia im 3. Akt, die gleich einer battaglia vorüber fegt sowie die stürmische Sinfonia per l´incendio mit dem effektvollen Einsatz von Donnerblech und Windmaschine.

Wieder war eine exemplarische Besetzung zu erleben, die keine Schwachstelle aufwies und einige spektakuläre Interpreten offerierte. Deren Sensation war für mich der amerikanischen Tenor Joshua Sanders als maurischer König Iarba – eine veritable Idomeneo-Stimme mit kultiviertem Vortrag und vielfarbiger Klangpalette. Die furiose, vom Orchester vehement begleitete Arie im 1. Akt „Non ho pace“ zeigte seine auftrumpfende Attacke, wie auch die Arie „Fosca nube“ im 2. Akt einen fulminanten Schwung. Höhepunkt seiner Interpretation war die triumphale, von Trompeten begleitete Arie „Cadrà fra poco in cenere“ am Schluss, welche brausende Meereswogen. und tobende Stürme suggeriert. Und der Sänger erschien sogar ganz am Ende noch einmal als Meeresgott Nettuno, der mit seiner Arie „Tacete, o mie procelle“ die Oper feierlich beschließt.

Den bravourösesten Auftritt hatte der Sopranist Federico Fiorio als Enea zu absolvieren. Er ist kein Unbekannter in Potsdam, hatte er doch schon im Vorjahr in der Aufführung von Grauns Adriano (der gerade als CD erschienen ist) mitgewirkt. Bei Purcell ist die Rolle einem Bariton anvertraut, was eine männlichere Wirkung  evoziert, als das einer hohen, hellen Sopranstimme möglich ist. Aber die technischen Fertigkeiten des Sängers und sein bis in die Extremhöhe gerundeter Klang nötigten Bewunderung ab. Auf das Schönste entfaltete sich die Stimme in der klagenden Arie „Tormento il più crudele“ und Atem beraubend in der Aria di bravura „A trionfar mi chiama“. Pompös eingeleitet mit Pauken und wirbelnden Streicherfiguren, konnte der Sänger hier mit Koloraturen, staccati und Extremtönen in der Höhe ein Feuerwerk an Virtuosität entfachen. Prominentester Vertreter in der Solistenriege war der italienische Counter Filippo Mineccia als Osmida, Vertrauter der Königin Didone. Auch er kein Unbekannter in Potsdam wie bei vielen anderen internationalen Festivals, bedauerte man bei ihm am meisten die fehlende Szene, ist er doch ein engagierter Darsteller mit starker Aura und expressiver Gestik. Die klangvolle Stimme war schon in seiner Auftrittsarie „Tu mi scorgi“ zu vernehmen, und auch „Quando l´onda“ im 3. Akt imponierte durch den virilen Zugriff.

View of a scene from the opera „Didone abbandonata“ (Act I, Scene 9) by Metastasio and Galuppi, organised by Farinelli at the Coliseo del Buen Retiro Between 1754 and 1759, 1754 and 1759/ Ricordi Archivio Storica

In der Titelrolle ließ die französische Mezzosopranistin Natalie Pérez eine noble Stimme von hoher Kultur und schlankem Volumen hören. Die untere Lage wirkte gelegentlich etwas verhalten, aber der Vortrag war energisch und passioniert, was ihrer großen Arie „Son regina“ einen selbstbewussten Zuschnitt verlieh. Das wiegende Melos der Arie „Ah! non lasciarmi“ lag ihr besonders und beklemmende Wirkung erreichte sie mit ihrer finalen Arie „Vado… Ma dove?“, welche nach einem aufgewühlten Recitativo accompagnato den verwirrten Zustand der Königin aufzeigt.

Nicht weniger edel klang der Sopran von Alexandra Tarniceru als Didones Schwester Selene. Die Rumänin imponierte schon durch ihre hoheitsvolle Aura, was die edle Stimme von hoher Musikalität und feinem Gespür noch unterstrich. „Ardi per me“ im 2. Akt zeichnete sich durch den inbrünstigen Vortrag aus, „Io d´amore“ im 3. durch die schmerzliche Empfindung. Einem weiteren Sopran war die Partie (en travestie) des Araspe, Vertrauter Iarbas und verliebt in Selene, anvertraut. Die Italienerin Carlotta Colombo sang sie beherzt und mit frischem Ton. Die Aufführung, die dem Festspiel-Almanach dieses Jahres ein weiteres Ruhmesblatt hinzufügte, wurde vom Publikum enthusiastisch gefeiert (Foto oben Stefan Gloede). Bernd Hoppe

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 

 

Meilenstein

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Johann Adolf Hasses Namen verbinden wir heute fast immer mit dem Dresdner Barock. Er war dort sehr lange der führende Hofkomponist und er war berühmt für seine opulenten großen (und langen!) Opern. Jetzt finden wir ihn plötzlich ganz woanders wieder, nämlich in der Wiener Klassik. Das Label Harmonia Mundi France hat seine kleine Wiener Oper Piramo e Tispe von 1768 aufgenommen, also ein Spätwerk. Josef Haydn war da schon 36 Jahre alt, Beethoven noch nicht geboren, erst 1770. Mozart war zwölf Jahre alt.

Passt diese Oper in das übliche Bild von Johann Adolf Hasse? Eigentlich nicht, weil diese kurze Oper in jeder Hinsicht ungewöhnlich ist. Überraschend ist vor allem, dass es eben diese aufregenden Spätwerke von ihm gibt, die wir so gar nicht zur Kenntnis nehmen. Hasse ist sehr alt geworden, 84 Jahre, für die damalige Zeit eine Leistung. Er hat Mitte 60 noch diese großen Reformbewegungen der Oper erlebt, vor allem in Wien. Das fand er  sehr inspirierend und hat hier eine Musik geschrieben, bei der man schon spürt, dass die Veränderungen dieser Musik-Szene in Wien ihn sehr erreichten.

Seine kleinbesetzte Drei-Personen-Oper ist so innovativ, dass er in Wien wahrscheinlich kein großes Haus dafür finden konnte oder wollte. Der Tenor des Abends war auch der Librettist. Wien als Schauplatz war Hasse neue Heimat. Er hatte diesen schrecklichen Siebenjährigen Krieg in Dresden erlebt. Dort ist sein Haus abgebrannt. Er zog nach Wien um und erlebte nun diese gluckischen Reformbestrebungen. Piramo e Tisbe ist seine Reaktion darauf. Drei Personen, eine ganz eng zusammengedrängte Handlung, ganz viele Orchesterrezitative, Accompagnato. Nicht nur Arien, sondern auch Duette. Und die Melodien sind auch konziser als in seinen vorangegangenen Opern. Oft gibt es nur wenige Verzierungen. Hasse hat Gluck nicht direkt imitiert, aber man spürt schon dessen Einfluss.

Johann Adolph Hasse (italianisiert Giovanni Adolfo, darauf basierend verbreitet auch Johann Adolf Hasse; getauft am 25. März 1699 in Bergedorf; † 16. Dezember 1783 in Venedig)/Wikipedia

Der Plot ist ja bekannt. Es geht um ein Liebespaar, dessen Vater nicht will dass sie sich kriegen. Die Familien sind verfeindet, beide Liebenden planen die Flucht. Piramo glaubt aber durch ein groteskes Missverständnis, dass Tisbe von einem Löwen gefressen wurde und bringt sich um. Die arme Tisbe tötet sich neben dem sterbenden Piramo. Sie finden sterbend zusammen. Der hinzukommende Vater ist so erschüttert, dass er sich auch ersticht. Alle tot. Alle tot! Das klingt fast wie eine Parodie. Aber das stammt von Ovid, bei dem sich auch Shakespeare bedient hat.  Die damalige opera seria kannte bis aus wenige Ausnahmen keine tragischen Schlüsse. Hier nun sterben dann wirklich alle drei.

Die beiden Liebenden dieser Aufnahme sind wirklich superb, zwei Soprane übrigen. Sie hauchen sehr anrührend ihr Leben aus, fast schon wie bei Bellini später. Adieu, adieu, adieu. Ach, zum Sterben schön dieses Duett. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist doch  erstaunlich, dass Hasse noch in so hohem Alter diese Verwandlung oder diese so sinnliche Wandlung mitgemacht hat. Wirklich erstaunlich. Denn es gibt ja auch ganz andere Komponisten, die ihren Stil gnadenlos beibehalten haben, während alles um sie herum sich veränderte.

Hasse war, soweit wir wissen, sehr, sehr stolz auf seine späte Oper.  Er hat das Ganze als ein Hauptwerk betrachtet. Und wenn man die übliche Länge der frühen Hasse-Opern betrachtet ist dies schon ein Instant-Hasse.

Warum wird es so selten oder so gut wie nie gespielt? Die Musikwelt ignoriert diese Epoche zwischen 1750 und 1800 ist immer noch zu sehr. Man hat den Eindruck, dass wir aus den 1710er bis -40er Jahren unendlich viel serviert bekommen, zum Teil auch Drittrangiges. Das überschwemmt den Markt, während eben diese spannende Szene nach 1750, ab der es dann erst so richtig losgeht in der Oper und wo dann wirklich die großen Reformen-Bewegungen kommen, vernachlässigt werden. Traetta, Piccini, Sarti, Salieri, Johann Christian Bach spielen kaum eine Rolle auf dem Aufnahme- oder Festival-Markt. Und deshalb sind solche Produktionen wie diese aus Berlin bei dem verdienstvollen Label cpo absolut hilfreich und wichtig, weil sie auf Geniales jenseits von Gluck und Mozart hinweisen.

Diese Oper ist wirklich ein Meilenstein. Die Akademie für Alte Musik unter Bernhard Forck hat das erkannt und glücklicherweise eingespielt. Die Aufnahme macht überstreckend glücklich. Das hat nicht nur mit der Einfühlsamkeit und Leidenschaft zu tun, mit der sich hier die Ackermus an die Wiederentdeckung der Oper macht. Das Werk hat es wirklich in sich. Es erfordert relativ junge, frische Stimmen, damit die Handlung plausibel sein soll. Und zugleich müssen diese Sänger aber auch wirklich was leisten. Sie haben eine enorme Skala an Ausdrucksfacetten zu stemmen. Beide, Piramus und Tispe, haben im zweiten Akt riesige Solonummern, fast schon kleine Solokantaten, wo sie Schmerz, Trauer, Hoffnung ausdrücken müssen. Beide, Annett Fritsch und Roberta Mamelli, machen das sehr packend und eben auch sehr nuanciert und filigran.

Bei den Aufführungen letzten Sommer in Berlin, die dieser Aufnahme vorangingen, hat sofort gespürt, dass beide sich mochten, dass sie harmonierten, dass ihnen die Oper einen riesigen Spaß machte. Und eben diese Harmonie, diese Lust ist mit Geld nicht zu kaufen. Das ist dann eben einfach Glück. Und dies Glück hört man eben. Jeremy Oden als Vater manchmal ein bisschen zu introvertiert, und es gibt auch Momente, wo es in den Szenen der Sängerinnen auch ein bisschen an Opulenz fehlt. Aber bei Hasses Wiener Premiere in beengten Umständen haben ja auch keine Megastars gesungen. Insofern bildet die Aufnahme das gut ab. Dieser intime, schlanke Ton ist mit diesen kleineren Stimmen recht authentisch. Zusammen genommen ist dies hier Instant-Hasse mit hoher Qualität (harmonia mundi france 905393.94). M. K./G. H.

Vielbeiniges

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Bei OPUS ARTE: The Wayne McGregor Collection: In einem Schuber mit drei DVDs bringt OPUS ARTE mehrere Arbeiten des Choreografen Wayne McGregor heraus, die zwischen 2006 und 2021 entstanden sind und bisher als Einzelausgaben erhältlich waren (OA138080). Der Brite ist Resident Choreographer des Royal Ballet London, für das all seine Stücke entstanden sind und dort auch uraufgeführt wurden.

Die älteste Kreation ist ein Dreiteiler mit dem Titel Chroma/Infra/Limen aus den Jahren 2006, 2008 und 2009. Erste Solisten der Compagnie, darunter Federico Bonelli, Sarah Lamb, Steven McRae, Tamara Rojo, Edward Watson, tanzen in Chroma zu einer Kombination aus der Originalmusik von Joby Talbot und musikalischen Arrangements von Jack White. Die weiße Bühne des Architekten John Pawson zeigt eine Box, aus der drei Tänzerpaare auftreten. Danach wechseln Gruppenformationen, Pas de deux und solistische Auftritte.

Für Infra schuf Max Richter die Klangfolie. Hier kommen Leanne Benjamin und Ricardo Cervera sowie Marianela Nuñez und Eric Underwood auf der Bühne von Julian Opie in emotionalen Pas de deux zum Einsatz.

In Limen wird zu Kaija Saariahos Cello-Konzert Notes on Light getanzt, begleitet von Tatsuo Miyajimas und Lucy Carters Lichtinstallationen. Die Bewegungen sind abrupt und gekrümmt. McGregor wollte einen Schwellenzustand, einen Übergang von Licht und Dunkelheit, ja Leben und Tod darstellen.

2015 kam das Tanzstück Woolf Works heraus, welches in drei Teilen Bezug nimmt auf Virginia Woolf´s Romane Mrs. Dalloway, Orlando und The Waves. Einbezogen sind Ausschnitte aus Briefen, Tagebüchern und Essays der Schriftstellerin, die der Sprecherin Gillian Anderson übertragen wurden. Es war das erste abendfüllende Ballett des Choreografen für die Londoner Compagnie. Die Musik von Max Richter interpretiert das Orchestra of the Royal Opera House unter Leitung von Koen Kessels. Die Bühne mit Video-Installationen ist eine Gemeinschaftsarbeit des Choreografen mit Ciguë und We Not I. Moritz Junge kreierte die Kostüme.

In der Besetzung findet sich mit Alessandra Ferri eine Ikone der Tanzwelt. Erste Londoner Kräfte – Federico Bonelli, Natalia Osipova, Matthew Ball, Steven McRae, Sarah Lamb, Francesca Hayward – stehen ihr zur Seite und sorgen für starke Eindrücke. Auffallend bei I Now, I Then (aus Mrs. Dalloway) sind die homoerotischen Passagen in den Frauentänzen, was an die Affinität der Schriftstellerin zum eigenen Geschlecht erinnert. Auch emotionale Beziehungen in den Männer-Duos sind zu sehen.

In Becomings (aus Orlando) sind die Kostüme von historischer Pracht und vorwiegend in Goldtönen gehalten. Die hämmernde Musik ist strapaziös, die Choreografie von raffinierter Extravaganz. Sie endet in einem wilden Wirbel aller beteiligter Tänzer. In Tuesday (aus The Waves) hat die Ferri Federico Bonelli als Partner in einem sensiblen Duo. Über ihnen sieht man das tobende Meer in einem schwarz/weiß Foto. Später steht Sarah Lamb im Zentrum, umgeben von einer Schar jugendlicher Tänzer beiderlei Geschlechts.

The Dante Project entstand 2021 im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Musik von Thomas Adès tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean schuf für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird, und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Stimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der die Rolle des Dante als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere betrachtet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt Marcelino Sambé als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Viele Mitglieder der Gruppe haben neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sieht man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Showcase for the Royal Ballet. Vom Royal Ballet London bringt OPUS ARTE eine Blue-ray Disc mit dem Ballett Don Quixote heraus, die im Oktober/November 2023 gefilmt wurde (OABD7279D). Es ist Carlos Acostas Choreografie (nach Marius Petipa) aus dem Jahre 2013, welche OPUS ARTE bereits im Entstehungsjahr aufgezeichnet und veröffentlicht hatte. Der Superstar der Company, der mit dieser Produktion sein Debüt als Choreograf gab, tanzte damals selbst die Rolle des Basilio –  an der Seite von Marianela Nuñez, der unvergleichlichen Ausnahmetänzerin des Ensembles. Es spricht für die Bedeutung dieser Produktion, dass das Label sie nun zum zweiten Mal als Bilddokument veröffentlicht.

Angetreten ist eine junge Besetzung, die derzeit das Niveau des Royal Ballet mitbestimmt. Der junge Matthew Ball, erfolgreich als Romeo und in den Prinzen-Rollen, hat das schier übermenschliche Amt übernommen, als Basilio gegen Carlos Acosta anzutreten. Seine Trümpfe sind Jugendlichkeit, Eleganz und Bravour, die strotzende Kraft und virile Energie seines Vorgängers sind ihm nicht gegeben. Dafür wirken seine Variationen leicht und spielerisch. Glanzvoll gerät der Pas de deux am Ende des 1. Aktes, wo Ball spektakuläre einarmige Hebungen gelingen. Dazu ist beider Tanz im 2. Akt in neoklassischem Stil ein starker Kontrast und stellt den beiden Interpreten ein schönes Zeugnis für Empfindsamkeit und lyrische Noblesse aus.

Auch die brasilianische Tänzerin Mayara Magri als Kitri hat es schwer, gegen die Nuñez zu bestehen. Aber sie schlägt sich achtbar mit solider Technik und schöner Präsenz. Freilich hat sie nicht das südländische Temperament und das rasante Tempo ihrer Konkurrentin, wirkt gemäßigter und kontrollierter in ihren Auftritten. Zu großer Form gelangt sie mit ihrem Partner im Grand pas de deux des Finales, den beide, weiß/gold kostümiert, in hoheitsvoller Attitüde absolvieren. Sie imponiert mit sicheren Balancen und einer kapriziösen Variation, er mit bravourösen Sprüngen und Pirouetten. Bei der Live-Übertragung in die Kinos geschah Magri ein Lapsus im letzten Solo, der hier korrigiert ist.

Das zweite Paar Espada/Mercedes ist mit dem flamboyanten Calvin Richardson und der aufreizenden Leticia Dias sehr wirkungsvoll besetzt. Beider Auftritt in der Taverne ist Aufsehen erregend. Schon 2013 war Gary Avis als Lorenzo dabei und er – ein Urgestein der Company – gibt nun höchstselbst den wunderlichen  Titelhelden mit Würde und Charme. Köstlich ist James Hay als exaltierter, effeminierter Gamache, der sich vergeblich um Kitris Gunst bemüht. Im Weißen Bild des Zaubergartens brillieren Annette Buvoli als Königin der Dryaden und Isabella Gasparini als Amour. Hinreißend ist das Corps de ballet, für das Acosta noch einige zusätzliche Tänze erdacht hat, die spanisches Flair und südliches Temperament einbringen.

Nicht zuletzt trägt Tim Hatleys stimmungsvolle Ausstattung zum Fest für das Auge bei. Und für das Ohr sorgt Valery Ovsyanikov am Pult des Orchestra of the Royal Opera House, das die Musik von Ludwig Minkus mit Esprit und Verve serviert. Bernd Hoppe

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Bei NAXOS: Tschaikowsky-Lieder szenisch. An der Oper Frankfurt hat Christof Loy an einem Abend Tschaikowsky-Lieder szenisch arrangiert – unter dem Titel NONE BUT THE LONELY HEART ist dieses Programm jetzt bei NAXOS auf einer Blu-ray Disc erschienen, gefilmt zwischen dem 24. und 26. Februar 2021 (NBD0181V). Herbert Murauers Ausstattung wurde von Loys Stockholmer Inszenierung der Fedora Giordanos übernommen, die nach Frankfurt wechseln sollte, was sich wegen der Pandemie nicht realisieren ließ. Der Bühnenraum ist ein multifunktionales Zimmer, tapeziert und gediegen  möbliert, welches an einen bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert, wo man sich zum gemeinsamen Singen oder Musizieren traf. Die szenische Atmosphäre erinnert an die intimen Szenen in Eugen Onegin. An der  hinteren Wand befindet sich ein prachtvoller mattgoldener Bilderrahmen, in den mehrfach die Köpfe der Sänger als schwarz/weiß Aufnahmen projiziert werden (Video: Ruth Stofer).

Die 24 Romanzen, die aus über 100 Liedern ausgewählt wurden, interpretieren fünf Sänger, die von den Pianisten Mariusz Klubczuk und Nikolai Petersen begleitet werden. Ein Instrumentalstück aus der Feder Tschaikowskys – das Adagio cantabile. aus dem Sextett d-Moll, Souvenir de Florence, op. 70 – spielen Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters.

Zentrales Motiv der Handlung ist ein Glas Wasser, zu dem der Protagonist (der Bariton Vladislav Sulimsky) immer wieder greift, womit an Tschaikowskys möglichen Suizid erinnert werden soll. Freilich sind die Umstände vom Tod des Komponisten bis heute ungeklärt – niemand weiß, ob eine Infektion mit der Cholera vorsätzlich oder unbewusst geschah. Sulimsky, dessen Physiognomie entfernt an die Tschaikowskys erinnert, eröffnet mit dem schwermütigen „Reconcilation“. Sein Bariton ist aufgeraut und vibrierend, doch stark im Ausdruck. Für das bekannte „Amid the din of the ball“ fehlt es ihm an Eleganz, das düstere „On yellow fields“ bekommt dagegen packende Kontur. In „Final“ schwingt er sogar das Tanzbein, geht das Lied doch auf ein Motiv aus dem Ballett The Sleeping Beauty zurück. Ausgelassen und lärmend beteiligen sich alle Sänger an dieser körperlichen Aktion. Ein leichterer, jugendlicher Bariton ist Mikolai Trabka eigen, der sich mit „I never spoke to her“ vorstellt. Ihm gehört die schönste Stimme, die sich in „The Night“ schwärmerisch verbreitet. „To forget so soon“ gehört zu den bekannteren Liedkompositionen des Meisters – dem Tenor Andrea Carè anvertraut, der es recht grobschlächtig vorträgt und in der darstellerischen Vehemenz Lenski mit seinen Zornesausbrüchen gleicht. Auch bei „Why?“ gerät er nach maßvollem Beginn ins Forcieren. Im Hosenanzug aus schwarzer Seide und im weißen Tüllrock geben die beiden Damen ein elegantes Bild ab – Olesya Golovneva/Sopran und Kelsey Lauritano/Mezzo vereinen ihre Stimmen mit strengem Vibrato anfangs zu Duetten mit herbem Klang. In ihrem Tutu und Ballettschuhen posiert die Sopranistin mit Figuren des klassischen Balletts und geht sogar auf die Spitze (Choreografie: Andreas Heise), stimmlich ist sie ein dramatischer Typ, der eine Lisa gut anstehen würde. Auch die Tatjana, an die das Lied „He loved me so“ erinnert, würde in ihr Repertoire passen. Das Lied, welches dem Programm den Titel gab, ist der Mezzosopranistin anvertraut, die es gemessen und auf Linie bedacht vorträgt. Auch „Frenzied nights“ profitiert von ihrer kulturvollen Interpretation.  Der Schluss, „Again as before alone“, gehört dem imaginären Tschaikowsky, der dem Lied die gebührende Melancholie gibt. Bernd Hoppe

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The Christopher Wheeldon Collection bei Opus Arte. Einen Schuber mit drei Blu-ray Discs veröffentlicht OPUS ARTE, welche einen Einblick in das Schaffen des britischen Choreografen Christopher Wheeldon, Artistic Associate des Royal Ballet, ermöglichen (OABD73198D). Drei seiner bekanntesten Ballette werden vorgestellt, deren ältestes (und bekanntestes) Alice´s Adventures in Wonderland von 2011 ist. Seit seiner umjubelten Uraufführung wird es weltweit gespielt, auch das Bayerische Staatsballett München hat die Choreografie in seinem Repertoire. Hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahre 2017 zu sehen, die viele Principals der Londoner Compagnie vereint, angeführt von der bezaubernden Lauren Cuthbertson in der Titelrolle und Federico Bonelli als ihrem Freund Jack und später verwandeltem Herzbuben. Eine Glanzrolle in diesem Stück ist die exzentrische Herzkönigin, der Laura Morera einen gebührend extravaganten Umriss gibt. Auch die Doppelrolle des Zauberers und verrückten Hutmachers ist ein Fest für einen Tänzer von Ausnahmeformat – einfach wie geschaffen für den unvergleichlichen Steven McRae. Neben der tänzerischen Pracht sorgt auch die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley für optische Freuden und nicht zuletzt trägt Joby Talbots schwungvolle Musik zum stimmigen Gesamteindruck bei.

Ähnlich erfolgreich ist das im April 2014 herausgekommene Shakespeare-Ballett The Winter´s Tale, das hier in einer Aufzeichnung aus der Uraufführungsserie zu sehen ist. Wieder waren Wheeldons regelmäßige Mitarbeiter – der Komponist Joby Talbot und der Designer Bob Crowley – mit am Werk. Erzählt wird die Geschichte des eifersüchtigen Königs Leontes (Edward Watson in psychopathischer Intensität bis zum Wahnsinn), der seine schwangere Gattin Hermione (Lauren Cuthbertson mit viel Liebreiz und tiefer Empfindung) des Ehebruchs mit seinem Freund Polixenes (Federico Bonelli mit sinnlicher Aura) bezichtigt. 17 Jahre später spielt der 2. Akt in Böhmen, wohin die Tochter des Paares Perdida (Sarah Lamb von bezaubernder Anmut) mit ihrem Geliebten Florizel (Steven McRae mit hinreißender Vitalität und starker Ausstrahlung) fliehen konnte. Zurück nach Sizilien führt der 3. Akt, welcher die Versöhnung von Leontes und Hermione schildert. Zum Erfolg der Produktion, die inzwischen auch beim Hamburg Ballett gezeigt wurde, tragen auch das Orchestra of the Royal Opera House und der Dirigent David Briskin bei.

Das dritte (und aktuellste) Ballett trägt den Titel Like Water for Chocolate und ist eine Koproduktion mit dem American Ballet Theatre. Sie wurde im Juni 2022 im Royal Opera House London uraufgeführt, wovon auch der DVD-Mitschnitt stammt. Wieder ist das Trio Christopher Wheeldon (Choreografie), Joby Talbot (Musik) und Bob Crowley (Ausstattung) künstlerisch verantwortlich. Das Ballett wurde durch den mexikanischen Roman „Bittersüße Schokolade“ von Laura Esquivel inspiriert – eine Familiensaga von magischem Realismus in Mexiko um 1910. Die zentrale Figur ist Tita, verliebt in den Nachbarn Pedro, den sie jedoch nicht heiraten darf gemäß einer Familientradition, sich um die alte Mutter, Mama Elena, sorgen zu müssen. Statt ihrer ist Pedro die Hand Ihrer Schwester Rosaura versprochen. Dieser hofft, durch die Heirat näher bei seiner einzigen Liebe Tita zu sein. Ein Jahr ist vergangen und Rosaura hat Probleme, ihr neu geborenes Baby zu stillen. Wie durch ein Wunder kann Tita dieses Amt übernehmen, was Pedros Liebe zu ihr noch verstärkt. Ein nächtliches Treffen mit Tita wird gestört von Elena und Rosaura – Pedro muss mit seiner Frau und dem Baby die Farm verlassen. Die Magd Chenca übermittelt die Nachricht vom Tod des Kindes, Tita beschuldigt ihre Mutter als die Verursacherin des Unglücks. Ihren emotionalen Kollaps will Doktor John Brown in seinem Haus in Texas heilen. Er liebt Tita und will sie heiraten. Sie willigt ein trotz ihrer fehlenden Gefühle für diesen Mann, bei dem sie sich aber Frieden und Sicherheit verspricht. Die inzwischen verstorbene Mutter wird aufgebahrt, unter den Trauernden sind Pedro und Rosaura mit ihrer neuen Tochter Esperanza. In einer Kassette entdeckt Rosaura ein Tagebuch ihrer Mutter, welches ihre Liebe zu einem Mann namens José enthüllt, doch bestimmten die Eltern eine Heirat mit Juan de la Garza, Titas Vater. Die Liebenden wollten fliehen, doch Juan wird von Elenas Brüdern getötet. Dr. John gibt seine Verlobung mit Tita bekannt, aber Pedro erklärt ihr seine unverbrüchliche Liebe. Beider leidenschaftliche Verbindung endet in einer schrecklichen Vision – dem Erscheinen von Elenas Geist. Tita offenbart Dr. John ihre anhaltende Liebe zu Pedro und gibt ihm den Ring zurück.

Rosauras gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr, verursacht durch ihre Eifersucht. Ihre Tochter Esperanza, die mit Johns Sohn Alex scherzt, ruft sie gebieterisch zu sich und wiederholt damit das Verhalten ihrer Mutter. Bald hält Pedro seine tote Frau im Arm. 20 Jahre wird eine weitere Hochzeit gefeiert – die von Esperanza und Alex. Endlich sind die Familien in Liebe vereint.

Für diese vielschichtige Saga erdachte Christopher Wheeldon eine facettenreiche Tanzsprache, die ihre starke Wirkung ebenso aus den intimen Momenten der Protagonisten bezieht wie aus mitreißenden Gruppenszenen. Tita und Pedro tanzen am Ende einen neoklassischen Pas de deux von ekstatischer Hingabe als apotheotisches Bekenntnis zur Macht der Liebe.

Führende Solisten der Compagnie verzeichnet die Besetzungsliste. An ihrer Spitze zwei Principals: Francesca Hayward als Tita und Marcelino Sambé als Pedro. Die in Kenia geborene Britin und der Portugiese sind längst das neue Traumpaar in London. Beider Tanzduos sind aufgeladen von überschäumendem Temperament und erotischer Leidenschaft. Sambé ist ein Ausbund an Vitalität und jugendlichem Übermut, hinreißend in den fulminanten Sprüngen und virtuosen Hebefiguren. Hayward ist bezaubernd und anmutig, aber sie vermag auch den. Schmerz und die Trauer zu vermitteln, beginnend bei Pedros Hochzeit mit Rosaura, später beim Tod der Mutter und beim leidenschaftlichen Wiedersehen mit Pedro.

Laura Morera ist faszinierend als strenge, hartherzige Mama Elena – fanatisch, unnachgiebig und grausam. Rasant und hocherotisch ist sie in einer Rückblende mit ihrem Geliebten José  (Joseph Sissens von animalischer Sinnlichkeit), grotesk und fast eine Nachfolgerin der Herzkönigin als ihre eigene Geistererscheinung. Matthew Ball als fürsorglicher und großherzig liebender Dr John Brown ist ein Sympathieträger. Wheeldon hat für ihn und Tita zu Beginn des 2. Aktes ein inniges Duett erdacht, das beider Gefühle anschaulich schildert.

Bob Crowleys Ausstattung ist inspiriert von mexikanischer Kunst und Folklore, besitzt Strenge und Abstraktion, aber auch Naivität. Joby Talbots Musik lässt gleichfalls die Einflüsse mexikanischer Musiktradition hören, ist sehr rhythmisch betont und mit viel Schlagwerk instrumentiert. Am Ende rauscht sie hymnisch auf und bezieht auch noch die Gesangssolistin Sian Griffith ein. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt unter Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra mit südländischem Schwung und Temperament. Bernd Hoppe

Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Spannende Übernahme

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Das muss ein spannender Abend gewesen sein, als im April 2024  in Wuppertal Schönbergs Frau auf der Suche nach ihrem Geliebten durch den Wald irrt, wo Ethel Smyths Holzfäller Heinrich um das Zustandekommen seiner Heirat mit Röschen bangen muss. Mit dem nahezu zeitgleich entstandenen Mondram Erwartung und dem Music Drama Der Wald treffen Expressionismus auf Spätromantik.

Die Bilder von Manuel Schmitts Inszenierung, die die beiden kurzen Werke zu einem 1 ½ stündigen Opernabend verschränkten, sehen gut aus. Im Frühjahr 2026 soll der Abend in Wuppertal nochmals aufgenommen werden. Bereits jetzt hat cpo die CD von Ethel Smyths zweiter Oper veröffentlicht (1 CD 555650-2). 2024 war ein sensationell erfolgreiches Jahr für Smyth, die mit wankendem Erfolg ihre Opern stets für deutschen Bühnen vorbereitet hatte: Karlsruhe und Meiningen spielten The Wreckers, einmal in englischer, einmal in deutscher Sprache, im Februar 2025 folgte Schwerin mit Strandrecht, also der originalen deutschen Fassung der Wreckers. Die Begeisterung war stets groß.

Nun also der im April 1902 unter Karl Muck an der Berliner Hofoper uraufgeführte Der Wald, der anschließend an Covent Garden gespielt wurde und im folgenden Jahr als erste Oper einer Frau sogar an die Metropolitan Opera kam. Es sangen an der Met Johanna Gadski und Georg Anthes, also allererste Kräfte des deutschen Faches, das junge Liebespaar. Anschließend gab es Il Trovatore mit Lillian Nordica und Louise Homer. Bei der zweiten und letzten Aufführung an der Met wurde dem Smyth-Einakter La fille du régiment mit Marcella Sembrich vorangestellt.

Smyth (1858-1944) hatte am Leipziger Konservatorium studiert, bald eine Anhängerschaft gefunden, darunter Bruno Walter und Arthur Nikisch, und Freundschaft und Bekanntschaft mit Grieg, Brahms und Tschaikowsky geschlossen und ihren Erstling Fantasio 1889 in Weimar auf die Bühne gebracht. Sie war durch Ausbildung und Wirken eine deutsche Komponistin und erlag der Faszination des deutschen Waldes und der deutschen Romantik, die in ihm Abgründiges, Geheimnisvolles und Mythisches sah. Das wenig anspruchsvolle Libretto bastelte sie selbst zusammen. Muster dazu dürfte sie bei Weber, Marschner und Wagner gefunden haben: Die Hochzeit des Holzfällers Heinrich mit Röschens steht bevor. Röschen hat böse Vorahnungen. Tatsächlich erscheint Jolanthe, die Geliebte des Landgrafen Rudolf, der die Dorfleute nicht über den Weg trauen. Jolanthe will auch Heinrich für sich gewinnen: wenn er ihr Geliebter wird, will sie ihn vor der Todesstrafe wegen Wilderei eines Rehs bewahren. Heinrich bleibt seinem Röschen treu – und fällt. Röschen wirft die Arme ekstatisch nach oben und bricht über Heinrichs Leiche zusammen, „Gesiegt hat die Liebe, Liebe und Tod, Tod und Liebe. Heilger Wald, nimm uns auf!“

Das Stück beginn dramatisch wirkungs- und geheimnisvoll mit dem Prolog und Chor der Waldgeister, die im kurzen Epilog mit den gleichen Worten wiederkehren, „Vergänglich ist der Sterblichen Leid, vergänglich der Sterblichen kurze Lust. Wir aber leben uralt wie der Himmel und jung wie des Frühlings sich ewig erneuende Zauberpracht“.

Smyth findet für die Waldgeister sowie für die anschließenden Szenen des Hausierers, der Dorfleute und der Burschen einen frisch sprudelnden Ton wie von Mendelssohn, Weber, Schumann, Brahms abgeguckt. Alles handwerklich sauber illustriert, allerdings gelingt es ihr nie, das Dämonische, Finstere und Gefährlich musikalisch zu benennen, eine dramatische Entwicklung nachzuzeichnen, selbst bei dem Hornrufen begleiteten Erscheinen Jolanthes, als Röschen Vater bereits das drohende Unheil ahnt, oder den geschlossenen Nummern bleibt Smyth gräulich konventionell. Bald stellt sich Langeweile ein.

Patrick Hahn, Wuppertals junger GMD (*1995 Graz), der bereits im kommenden Jahr sein Amt aufgeben wird, nutzt die reichen instrumentalen Möglichkeiten. Seine Wiedergabe mit der dem Sinfonieorchester Wuppertal ist tadellos, besser kann man das vermutlich nicht machen. Die Besetzung der gegensätzlichen weiblichen Hauptfiguren mit der kindlich klingenden Mariya Taniguchi als Röschen und der kraftvoll dramatischen Mezzosopranistin Edith Grossmann als Jolanthe ist gut. Sangmin Jeon ist nicht der jugendliche Heldentenor, den es für den Heinrich bräuchte, Samueol Park unauffälliger Bariton besitzt zu wenig Gewicht für den Landgrafen Rudolf, bemerkenswert der Hausierer, den Zachary Wilsons mit frischem Bariton sang. Rolf Fath          

Thy hand, Joyce

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An Tondokumenten von Henry Purcells Dido & Aeneas besteht kein Mangel auf dem Musikmarkt, doch die Neuaufnahme bei ERATO ist mit einer exemplarischen Besetzung absolut konkurrenzfähig (5021732284884). Mit Joyce DiDonato und Michael Spyres in den Titelrollen sind zwei Sänger von Weltrang aufgeboten – beide singulär in der Vielfalt des Repertoires, in der technischen Vollkommenheit und Einzigartigkeit ihrer Timbres. Auch das begleitende Orchester, Il Pomo d´Oro, hat unter seinem Leiter Maxim Emelyanychev hohen Anteil am Ausnahmerang dieser Veröffentlichung. Sie wurde im Februar des vergangenen Jahres in der Philharmonie Essen aufgenommen und nun auf einer CD herausgebracht. Im Booklet findet sich neben den Künstlerfotos das Libretto von Nahum Tate im englischen Original sowie in französischer und deutscher Übersetzung.

Als Dido wartet DiDonato mit einer noblen Gestaltung auf, bleibt stets schlicht und diskret, sogar in der berühmten Schluss-Szene „When I am laid in earth“. Gerade weil sie in diesem Lamento auf jedes Pathos verzichtet, ist die Wirkung so stark, gipfelnde im ergreifenden „Remember me“. Danach singt Il Pomo d´Oro Choir (Einstudierung: Giuseppe Maletto) mit „With drooping wings“ einen nicht minder berührenden Abgesang. Dass die Partie des Aeneas so schmal ausgefallen ist. bedauert man angesichts der Ausnahmestimme des Baritenors Michael Spyres. Ihr dunkler, sinnlicher Klang ist erregend, im Auftritt bei „If not for mine“ auch von machtvoller Autorität. Bezaubernd singt Fatma Said die Belinda; ihre Soli am Ende des 1. Aktes, „Pursue thy conquest, Love“, und „Haste, haste to town“ im 2. sind hinreißend in ihrem stürmischen Jubel. Beth Taylor ist eine Sorceress mit üppigem Kontraalt, die bei „Wayward sisters“ furchterregend auftrumpft. Der Choir imponiert danach mit seinem Hohnlachen. Hugh Cutting ist der Spirit mit potentem Countertenor, Laurence Kilsby der Sailor mit frischem Tenor, der gemeinsam mit dem Chor bei „Come away“ für eine ausgelassene Szene sorgt.

Das Ensemble Il Pomo d´Oro lässt schon in der Overture aufhorchen mit gravitätischer Einleitung und dann rhythmisch federndem Klang. Der tänzerische Duktus des „Triumphing Dance“ am Ende des 1. Aktes und das folgende „Prelude for the Witches“ in seinem Dollergrollen sowie der „Echo Dance of Furies“ und „The Witches´ Dance“ sind weitere markante Szenen von orchestraler Pracht. Bernd Hoppe

Beachtlich

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Ein gutes Jahr für das alljährlich im Herbst stattfindende Donizetti-Festival in Bergamo war 1822, denn da wurde in Neapel des Sohnes der Stadt melodramma eroico Zoraida Di Granata uraufgeführt und stellte so nach 2022 beim Partner Wexford mit Tenor 2024 mit Mezzosopran für die Liebhaberpartie im restaurierten Teatro Sociale einen der Höhepunkte der Festspiele. Das zunächst mit großem Erfolg bedachte Werk, für dessen Tenorpartie der Komponist wegen plötzlicher Erkrankung des Sängers die Mezzofassung hatte komponieren müssen, sieht die Reconquista einmal nicht durch die Augen der christlichen Spanier, sondern die der ihren Staat auf iberischem Boden verteidigenden Mauren, die allerdings mehr mit Liebeshändeln als kriegerischen Aktionen befasst sind. Nachdem er ihrem Vater den Thron und das Leben entrissen hat, will Almuzir auch dessen Tochter heiraten, die allerdings bereits mit Abenamet verlobt ist. Dieser soll ausgeschaltet werden, indem er zwar eine Schlacht gegen die Spanier gewinnen darf, dabei aber durch Intrigen das heilige Banner der Mauren verliert. Um ihn vor dem Vollzug der Todesstrafe zu bewahren, verspricht Zoraida dem Tyrannen die Ehe, wird bei einem Treffen mit Abenament überrascht und wegen Untreue zum Tode verurteilt. Vor diesem rettet sie der in Lohengrin-Manier herbeigeeilte Abenament, und alles kann in Frieden und Freude enden, indem der Sieger zwar die Braut gewinnt, auf das Reich aber zugunsten des Gegners verzichtet. Das abschließende Rondo ist nicht der Titelfigur Zoraida vorbehalten, sondern wird vom Mezzosopran gesungen.

Trist und trübe ist trotz des glücklichen Ausgangs die Bühne von Gary McCann, der den Chor in Kostüme steckte, die  an Israelis oder Ukrainer  aus der abendlichen Tagesschau erinnern, in modernster Militärausrüstung, aber sich zwischen antiken Ruinen bewegend, die auch einen idyllischen Garten mit Erinnerungen wachrufendem Rosenstock in Form einer angeknabberten Säule darstellen müssen. Die Damen sind mit 50er-Jahre-Kleidchen plus Strickjacke auch nicht glamouröser bedacht, aber jeder Einwand gegen die Aufführung schwindet zunehmend, wenn der akustische Eindruck die Herrschaft übernimmt, beginnend mit der spannungs-, variations- und farbenreich die vorstellungseinleitenden Sinfonia unter Alberto Zanardi, der das Orchestra Gli Originali souverän durch die Partitur führt. „La regia funziona“, sie ist Bruno Ravella zu verdanken, und das ist schon viel.

Die eigentliche Sensation aber sind die Sänger, die die sich auf dem Anspruchsniveau einer Lucia di Lammermoor, man höre sich nur das Sextett an, bewegen, selbst die der „kleineren“ Partien, die der Tradition entsprechend von Mitgliedern der Bottega Donizetti gesungen werden. Dazu gehört immerhin die Basspartie des bösen Strippenziehers  Ali, dem Valerio Morelli einen fulminanten Auftritt im zweiten Akt verschafft und dem er durchgehend vokale Geschmeidigkeit und Durchschlagskraft verleiht. Ohne Asiaten auf der Opernbühne kommen auch die Italiener nicht mehr aus, und Konu Kim  verleiht dem intriganten, erst zum Schluss geläuterten Almuzir einen hellen Trompetenton, bejubelte Spitzentöne und einen insgesamt  instrumental geführten Tenor.  Schlank, hell und koloraturgewandt ist der Sopran von Zuzana Marková, sie singt ihre Partie voll lyrischer Emphase und bestreitet mit dem Tenor ein höchst anspruchsvolles Duett.  Ganz und gar wunderbar ist Cecilia Molinari als Abenamet mit dunkel getöntem, schön gerundetem, geschmeidigem Mezzosopran, der auch zur ungefährdeten heldischen Attacke fähig ist und im Rondo funkelt und leuchtet. Angenehmes steuert Lilla Takács als Ines bei, schüchtern bleibt Tuty Hernández als Almanzor. Markant sind die Herren vom Coro dell’Accademia Teatro alla Scala und insgesamt würde man bedauern, dass dieses wirklich zu Unrecht vergessene Werk wieder für zwei Jahrhunderte in der Versenkung verschwindet.  Immerhin hat Dynamic nun für die erste Video-Aufnahme gesorgt (Dynamic 58068). Ingrid Wanja           

90 Minuten Unterhaltung

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Durchaus keine Garantie dafür, die Lachmuskeln des Hörers zu strapazieren, gibt die Gattungsbezeichnung farsa, nach deren einer Uraufführung der Mutter Rossinis vom aufführenden Impresario sehr nachträglich zur Geburt des gerade seinen Ruhm beginnenden Komponisten gratuliert wurde. Es geht um L’inagnno felice mit durchaus ernstem Inhalt, der Wiederzusammenführung eines edlen Paares, das einst durch höfische Intrigen voneinander getrennt wurde, indem der Gatte die des Ehebruchs beschuldigte Gattin auf hoher See aussetzen ließ, ein Steiger sie rettete und als „Nichte“ in seinen Haushalt aufnahm und im Verlauf der Handlung erlebt, wie die beiden Liebenden einander wiederfinden, alle Missverständnisse aufgeklärt werden und dem lieto fine nichts mehr im Weg steht. Das der Doppel-CD beiliegende Booklet berichtet ausführlich über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Stücks, das etwa gleichzeitig mit dem frivolen und deshalb bald auf den Index gesetzten L’equivovo stravagante  komponiert wurde.

Nicht nur Pesaro und Bad Wildbad nahmen und nehmen sich unbekannterer Werke des Schwans von Pesaro an, sondern in diesem Fall auch das Reate Festival von Rieti, einer kleinen Stadt im nördlichen Lazio, nahe Umbrien, wo auch in diesem Herbst wieder ein Festival, allerdings für zeitgenössische Musik, stattfindet, während die vorliegende Aufnahme aus dem Jahre 2023 stammt. Das Verdienst der vorliegenden Doppel-CD gebührt dem Label cpo, das einen Vertrag mit dem die Sänger begleitenden Orchester THERESIA abgeschlossen hat.

Dirigent der Aufnahme ist der rossinierfahrene Alessandro De Marchi, der das mit leicht metallischem Klang aufwartende Orchester zügig vorantreibt, für ein sehr poetisch klingendes Finale sorgt und den der Partitur innewohnenden Esprit sehr schön zur Geltung bringt. Gut aufgehoben konnten sich hörbar die Sänger fühlen, die es in der auch für eine personen- und damit kostensparende Farsa ungewöhnlichen Zusammenstellung Sopran, Tenor, drei Bässe gibt.

Lieblich, weich und angenehm gerundet ist der Sopran von Miriam Albano, der sich schillernd zwischen Sopran- und Mezzoqualitäten bewegt, facettenreich die anspruchsvolle Partie der Isabella durchmisst und der dem Tenorpartner an Ausdrucksmöglichkeiten und Facettenreichtum weit überlegen ist. In der großen Arie „Al più dolce e caro oggetto“ überzeugt die Sängerin auch durch eine großzügige Phrasierung. Am besten in den markant dargebotenen Rezitativen macht sich der Tenor Antonio Garés, dessen Timbre ihn eher in Richtung Charaktertenor weist und der einen einmal gefundenen gerundeten Klang der Stimme nicht bis zum Ende einer Phrase durchhalten kann.

Angemessen unterschiedlich ist das Hörbild, das die drei Bässe vermitteln. Dem Bösewicht Ormondo wird von Giuseppe Toia dunkle Geschmeidigkeit verliehen, während der harmlosere Batone durch Luigi De Donato eher mit vokalen Buffoqualitäten ausgestattet wird. Mit sehr guter Diktion, mit Farbe und Buffo-Schalk in der Stimme, eher wie ein Bassbariton klingend, steuert Matteo Loi als Tarabotto  nachdrücklich eine dritte Variation einer tiefen Stimme bei.

Neunzig Minuten guter Unterhaltung werden durch die CDs garantiert, durch den einführenden gehaltvollen Text von Rossini-Spezialist Reto Müller bereichert durch mehr Wissen über Rossini und die Gattung Farsa (cpo 555 222-2). Ingrid Wanja              

Dostojewski-Schwerpunkt

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Dostojewski-Schwerpunkt beim Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2024: Der Spieler von Sergej Prokofjew nach dem gleichnamigen, quasi biografischen Roman (Unitel Bluray 811704) Dostojewskis, sodann Mieczyslaw Weinbergs Der Idiot nach seinem weitaus umfangreicheren, ebenfalls gleichnamigen Roman. Beide Aufführungen waren große Erfolge. Weinbergs mit der Zueignung an seinen Freund und Förderer „Im Angedenken an Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch“ versehene Oper der größere (Unitel Bluray 811504), weil unerwartet und künstlerisch bestechend.

Der 1919 Warschau geborene und 1996 in Moskau gestorbene Jude Weinberg gehört zu den großen (Wieder)Entdeckungen des Musiktheaters unseres Jahrhunderts. Von seinen zentralen, posthum uraufgeführten, doch Jahrzehnte zuvor entstandenen Opern Die Passagierin von 2010 und Der Idiot von 2013 erwies vor allem erste ihre Repertoiretauglichkeit, der Idiot gelangte nur wenige Male auf die Bühne. Mit seinem Idiot führt Weinberg auf frappierende Weise die große Traditionslinie der russischen Oper von Mussorgsky Dramen über Tschaikowskys Puschkin-Vertonungen und Prokofjews Krieg und Frieden und Der Spieler bis zu Schostakowitschs Werken zu einem Ende. Zweifellos ist Fürst Myschkin, der Idiot, ein Nachfahre des geheiligten Gottesnarren und hellsichtigen Schwachsinnigen, der die Wahrheit verkündet und in Mussorgskys Boris Godunow um das Vaterland weinen.  Myschkins Gegenspieler Rogoschin sagt zu ihm „Wahrhaftig, Fürst, du bist ja ganz und gar ein Jurodivyi“ – also ein Gottesnarr – „Und solche hat Gott der Herr lieb!“. Vielleicht ist damit zu erklären, weshalb sich Mieczyslaw Weinberg 1985 entschloss, die liebeswerte und rätselhafte Titelfigur von Dostojewskis umfangreichem Roman Der Idiot zum Helden seiner neuen, gleichfalls sehr umfangreichen Oper zu machen. Auf der riesigen Bühne der Felsenreitschule gestaltet Bogdan Volkov den charismatischen Fürsten, der in Russland ständig friert, mit keuscher Inbrunst, anmutig und liebeswert im Spiel, überzeugend im epileptischen Anfall wie in den langen philosophischen Ergüssen, die ihm Alexander Medvedev aufbürdet, der den 800-Seiten-Roman auf vier lange Akte eindampfte. Der an Mozart- und Belcanto-Partien geschulte Volkov singt mit feiner Artikulation und einem zarten lyrischen, doch silbrig zentrierten Ton, der im teilweise strapaziösen Dauereinsatz angesichts der kraftvollen Orchestrierung auch kernige Kraft zeigt und elastisch alle Stadien der Zerrissenheit aufgreift. Medvedev hat auch die weiteren Libretti Weinbergs geschrieben. Die Autoren bilden keine Gesellschaft der 1860er Jahre ab, sondern konzentrieren sich auf den unerschütterlich gutherzigen Fürsten, einen Epileptiker wie Dostojewski selbst, und seinen Gegenspieler Rogoschin. Die beiden lernen sich während einer ausgedehnten Zugfahrt kennen, als der Fürst nach längerem Sanatoriumsaufenthalt aus der Schweiz nach St. Petersburg zurückkehrt. Rogoschin erzählt von seiner Besessenheit für Natassja Filippowna. Beide buhlen fortan um Nastassja und wollen die Ehrlose durch Heirat aus den Fängen ihres ehemaligen Liebhabers Totsky befreien – Der Fürst aus Nächstenliebe und Menschlichkeit, Rogoschin aus Leidenschaft. Zwischenzeitlich glaubt der Fürst eine Leidenschaft für Aglaja, eine entfernte Verwandte, zu spüren. Am Ende ersticht Rogoschin Nastassja. Ausrine Stundyte setzt die Pracht ihres dramatischen Soprans ein, um die Widersprüchlichkeit der kapriziösen wie leidenschaftlichen Nastassja zu zeigen. Düster und roh, dann wieder versöhnlich gibt Vlasilav Sulimsky den Rogoschin mit bedrohlichem Bariton. Festspielwürdig und ausgezeichnet das gesamte Ensemble, darunter Margarita Nekrasova als lebenskluge Yepachina, Xenia Puskarz Thomas als Aglaja, der baritonal ungemein wandlungsfähige Iurii Samoilov als mephistophelischer Erzähler Lebedev, Pavol Breslik als Ganya. Es ist eine großartige Musik, in der Weinberg das polnische Erbe von Szymanowki bis Górecki leuchten lässt und russische Traditionen vom trocken Sprechgesang in Mussorgskys früher Heirat bis zu Schostakowitschs Ironie aufgreift. Das litauische Ausnahmetalent Mirga Gražinytė-Tyla entwirft diese höchst individuelle Theatermusik am Pult der Wiener Philharmoniker mit Eleganz und Bravour, weist nebst den spröde aufgeschichteten Textmassen auch den vokalen Inseln prägnante Wirkungen zu und entfacht in den verflochtenen Vokallinien Glut und Sinnlichkeit, verbindet eloquent beherzt Jazz-Elemente mit Klassizität.

Ebenso virtuos nutzt Krzysztof Warlikowski die schier unbespielbare breite Bühne der Felsenreitschule aus, die auf der DVD selten in der gnadenlosen Vierzig-Meter-Totale zu sehen ist, setzt gekonnt Video- und die wie auf einer großen altmodischen Schultafel gekritzelten Texteinblendungen ein. In dieser gefeierten und auch auf DVD sehenswerten Inszenierung verliert sich Warlikowski nicht in seine beliebten Assoziationen und Privatmytholgien, sondern bleibt dicht am Stück und setzt auf eine spannende und eindrucksvolle, geradezu virtuos lebendige Führung der Personen und scharfe psychologische Analyse. Mit wenigen prägnanten Strichen zeichnet er die kaltherzig und gierige St. Petersburger Gesellschaft und zeigt den Fürsten als einen Mann aus der Welt der Mathematik und Physik, der wie ein Doppelgänger von Holbeins Christus-Figur seiner brutalen Umgebung ausgeliefert ist. Die zahlreichen erdachten Nebenfiguren und Statisten unterstützen die Dichte der Aufführung, für die Malgorzata Szczęśniak die Felsenreitschule mit Paneelen verkleidet und Möglichkeiten für die Projektionen (Kamil Polak) geschaffen und die Bühne in fahrbare Raumsegmente aufgeteilt hat, darunter eine großzügige rote Sitzgruppe, die anfangs auch das Zugabteil darstellt .

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Ganz erstaunlich, wie es Sergej Prokofjews Oper Der Spieler plötzlich zu neuer und allgemeiner Wertschätzung bringt. Als ich den Spieler erstmals auf der Bühne sah, galt er als noch absolute Rarität, eher für ein Festival denn für den Normalbetrieb tauglich: Beim Maggio Musicale in Florenz gab man ihn 1986 als Il giocatore (immerhin mit Dessi und Souliotis). Ende der 1990er Jahre brachte Gergiev die Oper ins Festspielhaus nach Baden-Baden und bald wurde sie in Amsterdam, Basel, Mannheim und Frankfurt, sogar an der Mailänder Scala sowie an der Berliner und Wiener Staatsoper und im Frühjahr 2025 in Stuttgart gespielt. Als seien die Bühnen von einem Taumel erfasst wie der Hauslehrer Alexej, der im imaginären Roulettenburg sein Geld und Glück verspielt. Sogar bei den Salzburger Festspielen, wo im August 2024 der junge Timur Zangiev sein viel beachtetes Debüt mit Peter Sellars routiniert bildgewaltige Produktion in der Felsenreitschule gab und Asmik Grigorian das Werk dem Festspielpublikum schmackhaft zu machen versuchte. Das ist jetzt (Unitel Edition Bluray 811704) nachzuerleben.

Die Werkgeschichte ist, wie stets bei Prokofjew, kompliziert. Der Spieler ist Prokofjews erste Oper, die auf eine Bühne fand. Die während eines London-Aufenthaltes 1914 ins Auge gefasste Oper nach Dostojewskis autobiografisch verbrämten Roman Der Spieler war 1917 weitgehend fertig. Da die avisierte Aufführung am Mariinski Theater unrealistisch schien, entschloss sich Prokofjew zu einer Umarbeitung, die „im Wesentlichen eine völlige Neufassung wurde“ und 1929 in französischer Sprache als Le joueur in Brüssel zur Uraufführung gelangte. Der zuvor entstanden Einakter Maddalena erlebte seine erste Bühnenaufführung erst 1981 beim Festival Steirischer Herbst in Graz. Erst 1974 wurde Der Spieler am Bolschoi Theater aufgeführt, 1991schließlich in St. Petersburg, wo die Uraufführung ursprünglich hätte stattfinden sollen.

Tempo, Tempo, Tempo, ein atemloses Tempo herrscht in dieser Oper. Ein fiebriger Strudel des dialogischen Schlagabtauschs, der vom Orchester mit wütender Bravour unter Hochspannung gehalten wird und wozu Prokofjews Kommentar, er strebe nach Einfachheit und versuche es den Sängern nach Möglichkeit nicht schwer zu machen, wie Hohn klingt. Diesem hitzigen Tempo entspricht die bunte, dekadente Spielhallenwelt mit den darin wie Lampions oder außerirdische Flugkörper schwebenden Roulettetischen von George Tsypin und die heutigen bunten, abgerissenen und eleganten Outfits samt Handys, die Camille Assaf für diese Betrüger, Hochstapler, Heiratsschwindler und Fratzen geschaffenen hat: der General, der auf das Ableben der Babuschka spekuliert, hat sich das Flittchen Blanche geangelt, während seine Stieftochter Polina sich mit dem Marquis eingelassen hat, obwohl sie den Hauslehrer Alexej, den „Spieler“, liebt, den sie demütigt und quält.

Die Felsenreitschule ist zu groß. Und sie bleibt in ihren Dimensionen weitgehend ungenutzt. Sellars hat sich auf eine revuehaft großzügige Bebilderung verlassen, einen Teil der Bühne mit Rasenteppich bedeckt, stumme Nebenfiguren erdacht und die letzte Szene im Casino mit durch den Raum schwebenden Gestalten und öliger Schickeria aufgeputzt. Doch letztlich kapituliert er vor dem Stück und dem zur Karikatur verkommenen Personal. Als Video Director rückt er den Figuren im schummrigen Licht und immer neuen Blickwinkeln dicht auf die Pelle, so dass wir die aufgeheizte Atmosphäre und Schwüle bis zu den Schweißbächen des Protagonisten nachfühlen können. Sean Panikkar ist großartig als Andrej, der aus Sri Lanka stammende Amerikaner bewältigt diese ständig auf Hochtouren laufende Partie und die expressive Deklamation stimmlich geradezu leichtfüßig und mit lyrischer Geschmeidigkeit, er verleiht dem Polina in liebender Abhängigkeit ergebenen Glücksritter Tiefe und Leidenschaft, dazu eine Aufrichtigkeit, wodurch Andrej neben Polina zur einzigen Figur des Stückes wird, für die man ein wenig Mitgefühl aufbringt. Asmik Grigorian ist die geheimnisvolle wissende Polina. Mehr lässt sich aus der Figur nicht rausholen. Der bassgewaltige Peixin Chen ist ein eherner General, der seine Verzweiflung „Sie hat meine Erbschaft verspielt“ wie Peitschenhiebe knallen lässt, Juan Francisco Gatell ein spitztenoral schmeichelnder Marquis, der madagassische Bariton Michael Arivony fällt als Mr. Astley auf. Doch die geschliffenen Konversationsszenen bleiben vorerst nur artistisch. Leben haucht ihnen erst Violeta Urmana als Antonida Tarasevicheva ein. Die totkranke Großmutter, auf deren Ableben alle spekulieren, kommt offenbar direkt aus dem Duty-free-Shop, zwar im Rollstuhl, doch quicklebendig und mit einem Furor wie ein feuerspeiender Vulkan. Niveau erhält die Aufführung auch durch die Wiener Philharmoniker und Timur Zangiev, die Prokofjews knapp charakterisierende, durchkomponierte und in Kurzzeit hingeworfene Oper und ihre geschliffene Artistik virtuos umsetzen.  Rolf Fath

 

 

 

 

Biblische Träume

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Voll und ganz dem spätbarocken Wiener Imperialstil verpflichtet und damit ein Fest für die Ohren ist Antonio Caldaras Oratorium Gioseffo che interpreta i sogni, zumindest wenn es in einer so hochkarätigen Besetzung wie der vom November 2024, als das Werk in Turin im Tempio Valdese mit Chor und Orchester Consort Maghini unter Alessandro De Marchi aufgeführt wurde. Kaiser Karl VI. hatte sich an den Werken des zunächst in Venedig, dann in Mantua und Rom tätigen Komponisten in Barcelona erfreut und holte ihn deswegen nach seiner Krönung zum Deutschen Kaiser als Vizekapellmeister der Kaiserlichen Hofkapelle hinter Johann Joseph Fux  nach Wien. Oratorien verschönerten mit dem Alibi geistlicher Erbauung die ansonsten trübe Fastenzeit, standen aber, und dafür ist Gioseffo ein gutes Beispiel, an musikalischem Prunk den Opern in nichts nach.

Die „Handlung“ von Gioseffo allerdings weiß nichts von dem Verführungsversuch der Gattin des Potifar an Joseph, dem Sohn von Isaak und Rachel, sondern sieht ihn wegen der falschen Anschuldigung durch die Verschmähte bereits im Kerker, zusammen mit einem Bäcker und einem Mundschenk, denen er den Gehalt ihrer Traumphantasien erläutert. Als er den Pharao dessen Träume als die Prophezeiung der sieben fetten und sieben mageren Jahre deutet, befreit ihn dieser nicht nur aus dem Kerker, sondern setzt ihn zudem als König über Ägypten ein. Interessant ist die Figur des Testo, der erläutert, was den Rezitativen und Arien nicht zu entnehmen ist. Außerdem hat Caldara die Figur des untreuen Dieners Sedecia der biblischen Erzählung hinzugefügt. Das viersprachige Booklet liefert eine sehr ausführliche und erkenntnisfördernde Beschreibung des Inhalts, nicht nur den Text, sondern auch die musikalischen Formen betreffend.

Interessant ist das Oratorium nicht zuletzt durch den Einsatz so selten zu hörender Instrumente  wie dem Psalterium, einer Art Zither, und dem Chalumeau, eines Holzblasinstruments.

Bereits die Sinfonia vermeidet jegliche Fastendürrheit, sondern lässt den Hörer über die Entfaltung weltlichen Glanzes staunen, über den Farbenreichtum, die Üppigkeit des Klangs, den das Orchester jubelnd oder trauernd erzeugt. Mit einem Alt ist die Titelfigur besetzt. Margherita Maria Sala hat für sie einen satten, stets engagiert klingenden Klang, kostet die Raffinessen der Partitur aus, klingt manchmal etwas affektiert, eher aber raffinert, so beim Ritardando und dem bewegten und bewegenden „Libertà cara“. Einen körperreichen Bariton hat Mauro Borgioni für den Testo, der mit einem breiten Farbspektrum aufwartet,  sich in gewagte Verzierungen schmiegt und in bemerkenswerte Tiefen hinabsteigt. Den unglücklichen Panatiere singt Lorrie Garcia mit entsprechend tränenreichem Timbre, den glücklicheren Coppiere Eleonora Bellocci mit mädchen- bis jungenhaftem Sopran, der in seiner Jubelarie mit dem zitierten „dolce suono“ tatsächlich aufwarten kann. Autoritätsheischend und in „Non, più di me nun può“ Schärfen nicht vermeidend überzeugt Arianna Vendittelli ganz besonders mit einer fulminanten Kadenz. Viel vokale Autorität strahlt der Faraone von Luigi De Donato aus, gewagte Variationen auskostend und einen irrwitzig schwierigen Arienschluss nicht nur bewältigend, sondern hörbar genießend. So engagiert wie die Solisten und das Orchester lässt sich auch der Coro Maghini unter Claudio Chiavazza vernehmen und setzt einen leuchtenden Schlusspunkt (GCD 923543). Ingrid Wanja

Samaras´Oper „Medgé“

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Unsere Liebe zu griechischen Opern ist ja Lesern von operalounge.de hinlänglich bekannt, unsere Hochachtung vor dem griechischen Dirigent, Musikwissenschaftler und Musik-Archäologen Byron Fidetzis ja auch – wir haben vielfach über ihn berichtet und haben inzwischen doch eine Menge an unkeannten griechischen Operntiteln vorgestellt. So auch jetzt.

Im Februar 2025 gab es, nach der Oper Lionella 2023 (die noch auf eine Präsentation bei uns wartet, aber bei youtube nachzuerleben ist), die Oper Medgé von Spyros Samaras, dessen Rhea zu den einigermaßen bekannteren gehört und dessen Mademoiselle de Belles Iles ebenso wie seine Tigra bei Naxos als CD vorliegt.

Zum ersten Mal nun Spyros Samaras´Oper Medgé in Athen im Maria Callas Saal in neuer Orchestrierung durch Byron Fidetzis, da die Originalpartitur verschollen ist und es nur einen Libretto-Druck und einen Klavierauszug gibt. Wir halten diese Wiederbelebung, Nachschöpfung der Oper eines der bedeutendsten griechischen Komponisten für wichtig und bringen daher nachstehend einen einführenden Artikel von Giorgos Leotzakos sowie ein paar Worte von Byron Fidetzis zu seiner Arbeit an der Oper, gefolgt von einem Bericht über das Konzert selbst von Kostas Xakenis sowie eine ausführliche Inhaltsangabe. G.H.

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Foto von Samara mit Widmung 1913/ Samara Archive/Lyra

Zum Werk und seiner Entstehung ein Artikel von dem renommierten griechischen Musikwissenschaftler Giorgos Leotzakos. Als älteste erhaltene Oper von Spyros Samaras – ihre Komposition wurde bereits im Mai 1883 in der Pariser Presse angekündigt – erhält die Medgé eine wegweisende Bedeutung, sowohl für die Verfolgung der Entwicklung des Komponisten anhand von etwa zehn Opern, unter Berücksichtigung der unvollendeten Tígra, als auch für die weitere Verfolgung einiger möglicher Einflüsse auf die Entwicklung der späteren italienischen Oper und der veristischen Bewegung. Ihre Geschichte ist daher von großem Interesse.

Das Werk basiert auf einem Text von Pierre Elzéar (geb. Paris, 25. November 1849 – gest.?)In Wirklichkeit war Medgé sein einziges Libretto: Er wird zusammen mit drei anderen Mitverfassern des Librettos des Turms zu Babel, einer dreiaktigen komischen Oper (Opera buffa, Paris) in Musiklexika, selbst in französischen, nicht erwähnt (da irrt der Autor, Elzéar war in Paris als Librettist und Dichter sehr bekannt, zu seinen Freunden gehörten Fauré oder auch Pauline Viardot/G.H.).

Pierre Elzéar (Charles Jospeh Bonnier, dit Pierre)/OMU

Was jedoch die indische Geografie des Sujets betraf, so wusste Elzéar nichts von den drei Übeln seines Schicksals: Die Oper spielt in Mysore (indisch: Māisōr),  an der südwestlichen Spitze des indischen Subkontinents, während der Ganges, an dessen Ufern sich der letzte Akt abspielt, etwa am südwestlichen Ende des indischen Subkontinents, etwa… 2.000 Kilometer nördlich im Himalaya entspringt und in den Indischen Ozean in der Nähe von Kalkutta (Ganges-Delta) mündet.

Auf jeden Fall ist die Versuchung groß, Medgé mit der Lakmé Délibes´ zu vergleichen. Wir betonen jedoch nachdrücklich, dass die bislang älteste Information über Medgé aus der Musikzeitung vom 6. Mai 1883 stammt: Sie wurde offensichtlich schon lange vor der Premiere der Oper von Delibes an der Opéra-Comique (Salle Favart) am 14. April 1883 begonnen. (…) Alle Quellen stimmen darin überein, dass Samaras 1882 zum ersten Mal nach Paris kam: Nach unserem derzeitigen Wissensstand ist es nicht abwegig anzunehmen, dass sein Studium am Conservatoire, entweder bei Dubois oder bei Delibes, im Herbst 1882 begann. Zwischen Herbst 1882 und dem 6. Mai 1883 liegt höchstens ein halbes Jahr.

Samaras „Medgé“ im Konzert in Athen/Foto Maria Callas Saal

Samaras beginnt also Medgé, wobei er sich auf das stützt, was er vor allem von Giuseppe Stancampiano in Athen gelernt hat (a pupil of Mercadante, himself an opera conductor and music master, living in the Greek capital/Grove), mit dem er bei der Oper Olao zusammengearbeitet hat! Wir werden nachstehend sehen, wann, wie und wo die Bearbeitung abgeschlossen wurde. 1874 hatte Massenet das fast halbfertige Libretto zu Medgé für eine bestimmte Sängerin (Emma Calvé) abgelehnt, das ihm Édouard Blau und Louis Gallet vorgeschlagen hatten. Gallet unterzeichnete das Libretto einer der ersten Opern von Massenet, der indischen Handlung von  Le Roi de Lahore (Opéra Garnier, 27. April 1877). Diese wird für Samaras wohl entscheidender gewesen sein, obwohl auch Lakmé als möglicher thematischer Einfluss für Samaras Oper angesehen wird. Jedenfalls irrt ein bedeutender Biograf Massenets, der Elzéar völlig ignoriert, wenn er behauptet, dass „mit aller Wahrscheinlichkeit” Samaras das Libretto vertonte, das Massenet 1874 abgelehnt hatte.

Immerhin wurde am 23. Januar 1877 (St. Petersburg) auch ein berühmtes „indische” Ballett La Bajadere aufgeführt, inspiriert von Sakuntala des großen indischen Dichters Kalidasa, in der Choreografie von Marius Petipa und der Musik von Ludwig Minkus, während schon viel früher, 1861, Gounod zu einem Text von Jules Barbier ein Lied gleichen Sujets für Gesang und Klavier komponierte.

Ob Samaras auch die „orientalische” Oper von Saint-Saëns, Samson und Dalila (Weltpremiere in Weimar am 2. Dezember 1877, 1. Ausgabe 1877, aber französische Premiere in Rouen erst 1890!), kannte, ist unklar, auf jeden Fall, abgesehen von der Medgé, wird seine Faszination für das Exotische deutlich.

Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 1. Akt von Carlo Ferrario/ArchvioStorico Teatro del´Opera di Roma

Dies wird auch durch die Komposition der Vier orientalischen Szenen für Klavier zu vier Händen aus derselben Zeit bestätigt, von denen mindestens eine orchestriert wurde. Dies sind die unmittelbaren indologischen und exotischen Vorgänger von Samaras Medgé.

Die nächste wichtige Erwähnung von Medgé stammt von Ferdinando Fontana: Er spricht in zwei Briefen an Puccini vom August 1886 über seine (unvollständige) Übersetzung des Librettos. Somit können wir die Komposition von Medgé festmachen: Anfang 1883 – spätestens Juli 1886, in erster Fassung, mit einer Unterbrechung von vier bis fünf Monaten im Jahr 1885, in denen Samaras die Flora mirabilis am Comer See komponierte! Sollte, wider Erwarten, die verschollene Orchesterpartitur jemals wiederentdeckt (…) werden (dieser Artikel ist von 2011, also vor der im Februar 2025 erfolgten Reorchestrierung durch Byron Fidetzis 2025/G. H.), dann müsste nicht die französische Originalfassung von Elzéar, sondern die italienischen Übersetzung von Fontana übernommen werden, der allem Anschein nach diskret, aber äußerst kreativ daran gearbeitet hat. Im französischen Text, den Samaras offenbar ursprünglich vertont hat, haben sehr viele Abweichungen einen poetischen, wenn nicht sogar literarischen Charakter und damit eine Unbestimmtheit hinsichtlich der Unmittelbarkeit und Klarheit der Gefühle und Reaktionen der Figuren in bestimmten Situationen. In Fontanas Text erhalten dieselben Gefühlsbereiche einen wohlverstandenen Realismus, eine psychologische Wahrhaftigkeit, die die Existenz der Figuren noch mehr betonen. Darüber hinaus gibt es zwischen dem gedruckten Libretto und dem zweisprachigen (französisch-italienischen) Klavierauszug, die beide 1888 erschienen, wesentliche Unterschiede, zumindest was die letzte Szene betrifft.

Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 4. Akt von Carlo Ferrario/Archvio Storico dell Teatro alla Scala

Zwischen der Veröffentlichung des Librettos und des Klavierauszugs liegt offensichtlich ein gewisser Zeitraum, der es Samara nach dem Triumph von Flora mirabilis erlaubte, das Werk zu überarbeiten, wahrscheinlich in engster Zusammenarbeit mit Fontana. Das Ergebnis, im Vergleich zum gedruckten Libretto, zeigt sich deutlich in den beiden letzten Szenen: Es handelt sich nicht einige Änderungen oder Streichungen von Wörtern aus dem Notentext des Klavierauszuges, sondern auch um einige treffende Abweichungen, die den Charakter der Vazanta besser zur Geltung bringen. So übergibt die Königin im Libretto nachdem sie ihren untreuen Liebhaber Selim getötet hat, ihre Krone dem Paar Medgé-Nair zurück und erklärt, dass sie als Priesterin im Tempel von Deva sterben werde. Im Klavierauszug ist diese Abkehr verschwunden. Das Werk endet mit der schrecklichen Überraschung Vazantas über den Mord,  in einem Parlando, das das dramatisch Wesentliche auf den Punkt bringt: „Ah…spento egli è” („Ah. er ist tot”). Der Zuhörer weiß bereits, dass Vazanta das Paar Medgé-Nair unter ihren Schutz gestellt hat. Das reicht: Es gibt dem Komponisten die Gelegenheit zu einem wunderbaren Finale, das den frühen  Verismo ahnen lässt. Natürlich konzentriert sich das Werk damit eher auf das Paar Vazanta und Selim, das letztlich so menschlich ist, während das „ideale“ Paar Medgé und Nair vor allem als Katalysator dient, um das ganze Spektrum ihrer charakterlichen Gegensätze zu offenbaren. Aber auch diese Eingriffe rechtfertigen umso mehr die berühmte Aufforderung Fontanas an Samara im Jahr 1913, die Flora mirabilis noch einmal gemeinsam zu überarbeiten!

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Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 2. Akt von Carlo Ferrario/ArchvioStorico del Teatro alla Scala

Medgé, eine Oper in vier Akten (fünf Bilder), wurde am 11. Dezember 1888 am Teatro Costanzi in Rom uraufgeführt. Insgesamt wurde sie sechsmal gespielt und muss den uns vorliegenden Kritiken zufolge einen gewissen Erfolg gehabt haben. Zweifellos war sie jedoch ein gesellschaftliches Ereignis: Bei der Premiere waren die kunstliebende Königin Margherita, Cousine und Ehefrau von Umberto I., der Premierminister Francesco Crispi und der griechische Botschafter anwesend. Es war ein exotisches, hollywoodreifes Spektakel mit einer üppigen, anspruchsvollen Inszenierung und sicherlich hohen Kosten (á la Aida/G.H.). Wohl auch ein Grund dafür, dass die Oper seitdem nie wieder aufgeführt wurde.

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Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 3. Akt von Carlo Ferrario/Archvio Storico Ricordi

Der vorherrschende Eindruck beim Betrachten der Noten (des Klavierauszugs, da die Orchesterpartitur verschollen ist/G.H.) von Medgé ist der enorme Reichtum der Themen seiner Erfindungen, eine tropisch-orgiastische Vegetation spannender Inspirationen eines charismatischen Komponisten von nur 22 Jahren. Wir erinnern uns wieder an den prophetischen Fontana: „Una vera stoffa d’operista“. Samaras Technik, bewundernswert vollendet, lässt hier schon sein angeborenes Talent erahnen. Sehr oft unterstreichen seine harmonischen Fortschritte den emotionalen psychologischen Wechsel der Konflikte. Die Tempi in ihren gut durchdachten Wechseln, seine Rhythmen, die gesamte organische Begleitung, zusammen mit der Harmonik, wirken wie ein wunderbarer Pulsmesser. (…)  Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Details des riesigen Ton-Gemäldes richten, entdecken wir eine Vielzahl von fein gearbeiteten Miniaturen, deren oft kaleidoskopische vielfältige Abfolge das Gesamtbild vervollständigen. Medgé wird vielleicht einmal als einer der Bezugspunkte für die Verfolgung der Entwicklung der späteren italienischen Oper dienen… Es ist ein Jammer, dass die Orchesterpartitur verloren ist. Alles in der erhaltenen  Klavierfassung von Medgé unterstreicht eindringlich ihre Funktionalität: Wechsel und Kontraste in der Dichte der harmonischen Schreibweise, die der Begleitstimmen mit flüchtigen Pinselstrichen, die mit durchdachten Kontrasten oder Schattierungen der orchestralen Klangfarben usw. identisch sind.

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Zu Samaras „Medgé“: Bühnenbild-Entwurf für Masenets „Roi de Lahore“ Akt 1, 1878 von Agosto Ferri/Archivio Storico Ricordi

Obwohl das Werk genau zu der Zeit geschrieben wurde, als Wagner starb, finden sich stricto sensu in Medgé keine Leitmotive oder „Erinnerungsmotive”. Deutlicher sind thematische Elemente am Anfang des zweiten Aktes (Duett Mezzo – Vazanta), die vage miteinander in Verbindung stehen. Das zweite Motiv findet im letzten Akt recht deutlich als Synkope, Tonika und Rhythmus (Vazanta Anrufung der blutrünstigen, negativen Göttin), während die „Ton-Plejaden” (einzelne aufblitzende tonale Elemente wie Sternschnuppen?/G. H.) in der letzten Szene der Hinrichtung von Selim wieder auftauchen.

Aber diese Plejaden sind ein Teil der„Fingerabdrücke” des Stils von Samara. Um es deutlich zu sagen: Der vorherrschende Eindruck ist der unerschöpfliche Fluss neuer musikalischer Ideen. Daher ist die große Mezzosopran-Arie Medgés als eine Abfolge autonomer musikalischer Einheiten strukturiert, die man im Englischen als „Nummern” bezeichnen würde, mehr oder weniger kurz, oft nicht nur an sich bezaubernd, sondern auch als Abwechslung zu dem, was vorangeht oder folgt. Hier wieder eine wesentliche Verwandtschaft mit Aida: Verdi, der neben den Gefühlen seiner Helden, die in der Regel mit den Dur- und Moll-Tonarten der westlichen Musik ausgedrückt werden, eben auch „Modi” einer ganzen vollständig verlorenen Musikkultur der alten Ägypter erfindet. Etwas Ähnliches versucht vielleicht der 22-jährige Samaras auch, allerdings wesentlich zögerlicher und offenbar fast ohne jegliche Kenntnis der indischen Musik: Mit seinen exotischen Anspielungen, abgesehen von gelegentlichen Rückgriffen auf Monophonie oder sogar Unisono und pentatonischen Konturen, die typisch für „exotische” Musikkulturen sind, versucht er vorsichtig, aber immer mit Treffsicherheit, über den Dur- und Moll-Ton in die Welten des Trioletts und einiger „exotischen“ Varianten vorzudringen. Solche exotischen Bezüge vertraute er oft einem Holzblasinstrument, einer Flöte oder einer Oboe an.

Als Ausgleich dafür weisen sein tonales Spektrum (insbesondere dieses) und sein harmonisches Vokabular über ihre psychographische Funktionalität hinaus eine bemerkenswerte Vielfalt (z. B. häufige harmonische Wechsel) und Ökonomie auf, da die harmonische Idee oft für den expressiven Höhepunkt des jeweiligen „Stücks” reserviert ist. (Wiederveröffentlichung aus dem Programmheft des Staatlichen Orchesters zur Würdigung Samaras beim Philologischen Verein Parnassos am 10. April 2011). Giorgos Leotzakos

 

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Zu Samaras´“Medgé“: Elena Hastreiter war die erste Vazanta 1888 am Teatro Costanzi/Archivio Storico del Opera di Roma

Und nun der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis zu seiner Neuausgabe der Oper Medgé von Spyros Samaras. Mit der Medgé von Samaras habe ich mich intensiv beschäftigt, nachdem seine Leonella während der Pandemie aufgeführt wurde. Das Werk hat mich besonders beeindruckt, als April 2011 im Rahmen des 7. Zyklus der Griechischen Musikfestspiele.  Ich zog es jedoch vor, mich zunächst mit Leonella zu beschäftigen, vielleicht weil mich die Geschichte und die Mythologie des Werks faszinierten. Die Uraufführung in der Mailänder Scala im Jahr 1891 und ihr eklatanter Misserfolg trotz der großen Namen, die sie interpretierten, wie der Dirigent Mugnone, und der Ruhm der Trennung unseres Komponisten von Leoncavallo waren äußerst reizvolle Anziehungspunkte, die über den musikalischen Wert hinausgingen.

Die Musik war mir übrigens bereits aus den EMG von 2011 bekannt. Über die Orchestrierung hatte ich ständig nachgedacht und auch einen groben Arbeitsplan erstellt. Als mir dann Olivier Decot den entsprechenden Vorschlag machte, stürzte ich mich mit voller Kraft in die Arbeit.

Von den drei Melodram-Instrumentierungen von Samaras, die ich gemacht habe, stellte jede seiner Opern besondere Probleme dar. Tigra, an der ich als erste gearbeitet habe, existierte in einem einzigartigen Manuskript Partitur, also einem ersten Entwurf für Stimmen und gegebenenfalls „erweitertes“ Piano. Wichtig war, dass Samaras seine musikalischen Ideen zu Papier brachte, ohne sich durch die Notwendigkeit, den Part für den zukünftigen für den zukünftigen Übungspädagogen, der das Werk den Sängern beibringen würde, spielbar zu machen. Der direkte Kontakt zu seinem Manuskript war daher für mich äußerst hilfreich bei der Frage, wie es orchestriert werden könnte.

Bei Lionella lag die Schwierigkeit einerseits in der Existenz eines bedeutenden orchestralen Auszugs wie der Ungarische Rhapsodie, die für die gesamte orchestrale Komposition recht verbindlich ist, und andererseits die für die Erlernbarkeit auf dem Klavier „komprimierte“ gedruckte Wiedergabe des orchestralen Klangs.

Maurice de Vries war der erste Sélim in Samaras´“Medgé“ 1888/Courtesy Charles Mintzer/Rudi van den Bulck Archive

Im Fall von Medgé kam zu dieser letzten Schwierigkeit noch eine weitere hinzu, die sowohl praktischer als auch emotionaler Natur war. Das einzig bekannte Partitur des Werkes war war die des bedeutenden Dirigenten der Griechischen Nationaloper, Totis Karalivanos (1901-1987). Der Maestro liebte die Medgé besonders und hatte mehrere Auszüge daraus selbst orchestriert Er war sogar so freundlich, mir seine Partituren und die Stimmen zu schenken, die alle von ihm handschriftlich verfasst waren. Ich stand vor zwei Problemen. Erstens „beschränkten“ oder „begrenzten“ seine Orchestrierungsnotizen in gewisser Weise die Phantasie eines jeden nachfolgenden Arrangeurs. Zweitens war es nicht möglich, die konkreten Auszüge zu verwenden, da sie der allgemeinen Homogenität verpflichtet waren und urheberrechtlich geschützt waren.

Die Schwierigkeit wurde noch größer durch das Bewusstsein für den persönlichen Wert der Arbeit des Maestros. Ich kam zu dem Entschluss, eine vollständige eigene Orchestrierung des Werks vorzunehmen, wobei ich mich an den Arbeiten von D. Sostekin an Boris Godunow und M. Mussorgskys an Boris Godunow und die Chovanschtschina von M. Mussorgski orientierte, trotz der brillanten Orchestrierungen der oben genannten Werke durch den genialen Orchestrator (und selber Komponisten) N. Rimski-Korsakow oder Strawinsky.

Dieses Jahr jährt sich zum 40. Mal die meiner Meinung nach historische Aufführung und CD-Aufnahme von Rhea, die ich im September 1984 in Korfu mit hervorragenden griechischen Solisten und dem Orchester und Chor des Radios Sofia dirigiert hatte. Ich glaube, dass dieses Ereignis sowohl für die Wiederentdeckung von Samaras durch die griechische Musikszene als auch für die anschließende grundlegende Forschung über sein kompositorisches Werk grundlegend war.

Heute, am Ende meines Zyklus von Orchestrierungen und im Rückblick auf meinen persönlichen Weg durch das Werk des großen Komponisten aus Korfu, kann ich sagen, dass ich einen kleinen Beitrag zur wesentlichen Kenntnis seines Werks geleistet habe. Ich glaube, dass die jüngeren Musiker und Forscher mit ihrer Arbeit dazu beitragen werden, dass das Wissen über das Schaffenswerk von Samaras und das Werk anderer bedeutender Komponisten unserer Zeit eine breitere Gesellschaftsschicht erreicht und zum Eigentum unseres griechischen Volkes wird. Byron Fidetzis

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Stagione 1888 al Teatro Costanzi Roma, Librettista: Fontana, Direttore: Mugnone Leopoldo, Scenografia: Fidora Natale, Cantano: Calvé, Emma (Medgé); Hastreiter, Elena (20, 31 dicembre Paolicchi-Mugnone, Maria) (Vazanta); Massart, Nestor (Nair); De Vries, [Devries Maurice?] (Selim); Cherubini, Enrico (Kadur); Navarri, Alberto (Amgiad); Terzi, Raffaele (Il gran bramiro). 11, 13, 15, 16, 20, 30 dicembre. Prima esecuzione assoluta: 11 dicembre 1888 Costanzi, Roma

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Samaras „Medgé“ im Konzert in Athen/Foto Maria Callas Saal

Kostas Xakenis zum Konzert im Februar 2025: Eine unbekannte, absolut wichtige und musikalisch in die Zukunft reichende  Oper des Komponisten  aus Korfu, sein Meisterwerk Medgé, wurde im Rahmen einer Hommage an den großen griechischen Komponisten des Verismo in Zusammenarbeit mit dem Athener Philharmonia Orchestra auf der Bühne des Olympia-Theaters in einer neuen Orchestrierung aufgeführt.

Samaras, der Komponist, der die Olympiahymne vertont hat, war zweifellos der bedeutendste und erste Komponist der Ionischen Schule, der internationale Anerkennung erlangte. Seine Karriere blühte in Paris, Mailand und anderen Städten Italiens, bevor er zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Griechenland zurückkehrte. Leider sind die meisten Opern von Samaras nur in gekürzter Form, in Transkriptionen für Gesang und Klavier, erhalten, wobei die Originalorchestrierungen des Komponisten offenbar für immer verloren sind.

Byron Fidetzis orchestrierte und dirigierte Die „Medgé“ von Spyros Sarama/Foto Athens State Orchestra

Der erfahrene Dirigent Byron Fidetzis arbeitet seit vielen Jahren systematisch an der Wiederbelebung von Samaras‘ Werk und hat aus diesem Grund mehrere seiner Opern neu orchestriert, damit das zeitgenössische Publikum sie genießen und würdigen kann.

Nach der Wiederaufführung der Oper Lionella im Mai 2023 (wie Medgé auf youtube zu erleben) setzte der künstlerische Leiter der Philharmonie seinen unschätzbaren Beitrag zur Verbreitung des griechischen klassischen Repertoires fort und orchestrierte Medgé neu.

Mit diesem Satz hat der italienische Dichter und Librettist von Puccini und Samara (1861-1917), Ferdinando Fontana (1850-1919), vor etwa 140 Jahren das „Phänomen” Samara vorausgesagt! „Hören Sie es sich mit Ihrer Fantasie und im Original an: Spiro Samara: una vera stoffa d’operista! Ist die Musikalität der Worte nicht erstaunlich?“

Und ein Beweis für diese bedeutungsvollen Worte für die Zukunft, die ein „renommierter“ Schriftsteller unserem jungen 22-jährigen BKomponisten aus Korfu in Italien entgegenbrachte – obwohl wir zuvor nur seine späteren Opern Despo, Lionella, Rea, die mit der „Olympischen Hymne” beginnt, und Tigra, sowie seine Operetten La Cretopoula und Die Prinzessin von Sassoon, sowie die Aufnahmen von Xanthoula” und La Martyr kannten – war zweifellos der Höhepunkt der Aufführung im Olympia – dem Städtischen Musiktheater „Maria Callas“, das jugendliche Werk des Komponisten in vier Akten, Medgé.

Nach der Wiederaufnahme der Oper Lionella im Mai 2023 hat der Dirigent Byron Fidetzis, der seinen unschätzbaren Beitrag zur Verbreitung des wissenschaftlichen griechischen Repertoires fortsetzt, Medgé neu orchestriert, da die originale Orchestrierung von Samaras wie im Falle von Lionella als verloren gilt.

Die Oper, die nach dem französischen Originallibretto von Pierre Elzéar aufgeführt wird, ist eine beeindruckende Leistung des erst 22-jährigen Samaras. Ihr unendlicher melodischer Reichtum wurde von einer hervorragenden Besetzung von griechischen und französischen Opern-Sängern dargeboten.

Es war ein „Ozean“ origineller musikalischer Themen, die so vertraut sind und doch noch nie zuvor gehört wurden, sodass man sich dabei ertappt, abstrakt vor sich hin zu summen oder leicht im Takt der Ballettmusik des Werks mitzuwippen, als wäre es etwas ganz Eigenes. Aber ist das nicht das Wesen wahrer Kunst?

Was Byron Fidetzis betrifft, der das Werk nach dem Verlust der Originalpartitur neu orchestriert und damit eine weitere Meisterleistung in unserem Musikleben vollbracht hat, was soll man da noch sagen! Wir glauben, dass selbst wenn die Italiener 1888 in Rom ein völlig anderes Werk gehört hätten, Samaras, wäre er anwesend gewesen, von Fidetzis‘ „Handwerkskunst” begeistert gewesen wäre.

Zu Samaras´“Medgé“: Leopoldo Mignone dirigierte die Oper 1888 am Teatro Costanzi Rom/Wikipedia

In der Musik des Komponisten konnte man die französische Finesse und den Einfluss seiner französischen Kollegen und Lehrer Delibes (Lakmé), Bizet (Les Pêcheurs de Perles), Charpentier (Louise) und Chabrier (L’Étoile), aber auch in der „trionfale” „alla” Aida mit den links und rechts „abgeschnittenen” (!) Trompeten. Vorbildliche Ensembles von Sängern im italienischen Belcanto-Stil von Donizetti (siehe Sextett) und seine Ballette im französischen Stil (siehe Verdis Vêpres siciliennes), sowohl in der Oper als auch in französischen Operetten „à la“ (die an den berühmten Klein-Zack au Les contes d´Hoffmann, aber auch an die österreichisch-ungarische Operette seiner Zeit erinnern), aber immer mit einem persönlichen Stil, der nicht von seinen Zeitgenossen kopiert oder „gestohlen” wurde, sondern sich nur von den musikalischen Entwicklungen um ihn herum beeinflussen ließ, als Student und Kollege, der in ganz Europa intensiv studierte und dessen gesamtes musikalisches Œuvre das Gefühl vermittelt, dass etwas Neues die Geschichte unserer Kunst erschüttern wird, und die Wahrheit offenbart wird, um den kommenden musikalischen Trend des Verismo einzuführen und „zu gebären”, der von seinen Kollegen Puccini, Leoncavallo und Mascagni zu Recht als „Vater” dieser Bewegung bezeichnet wurde. Ein Beweis dafür ist das Intermezzo zwischen dem 3. und 4. Akt.

Das Athener Philharmonia  Orchestra, der Athener Stadtchor unter der Leitung des Dirigenten Stavros Beris und die Solisten in Bestform, obwohl für eine ausgewogene Balance mindestens ein weiterer Chor erforderlich gewesen wäre. Die Rollen wurden gespielt von: Lucie Peyramaure (Medgé/Mezzo), Konstantinos Klironomos (Nair), Dimitris Platanas (Selim), Héloïse Mas (Vazanta), Tassos Apostolou (Kantur) und Florent Leroux-Roche (Amtziad), die vom Pianisten Apostolos Palaios tadellos vorbereitet worden waren (17. 02. 254).

Das Publikum, das den Theaterraum füllte, rief „Bravo” und applaudierte lange, was für die griechische Oper in unserer Zeit ungewöhnlich ist, und ließ die Künstler nicht von der Bühne. Es war ein echter Triumph für Samaras, Fidetzis und alle anderen. In Korfu und Italien wären sie sicherlich mit Rosenblättern überschüttet worden, wie es Tradition ist. Und es stellt sich erneut die Frage, warum die Nationaloper all diese erstklassigen griechischen Opern von Samaras, Carrer, Lavraga usw. nicht in ihr Repertoire aufnimmt und unsere 200-jährige Tradition in der Versenkung verschwinden lässt. Kostas Xakenis

 

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Zu Samaras´“Medgé“: das Teatro Constanzi 1880, später Teatro dell´Opera di Roma/Wikipedia

.Inhalt: Medgé ist ein wahres musikalisches Juwel von Spyros Samaras, dem meisterhaften griechischen Komponisten des Verismus. Die Handlung entfaltet sich in vier Akten und fünf Szenen. Die Oper wurde am 11. Dezember 1888 in Rom (Teatro Costanzi) uraufgeführt und sechsmal aufgeführt, mit der französischen Sopranistin Emma Calvé, einem internationalen Star der Belle Époque, in der Titelrolle.

Die reichhaltige Textur der Musik, die glamouröse Kulisse und die Kraft der melodischen Erfindungen, durchdrungen von den Farben des Exotismus, fanden bei Publikum und Kritik gleichermaßen großen Anklang und markierten einen bemerkenswerten Erfolg Elzéar, in einer neuen Orchestrierung von Byron Fidetzis.

AKT I: Jäger verfolgen die Spuren eines wilden Tieres im Wald. Nair tötet mutig das Tier und feiert seinen Erfolg. Seine Schritte führen ihn zu einem verfluchten Felsen. Dort warnt ihn Kadur, sein weiser Diener, dass, wenn jemand es wage, dreimal Wasser aus dem Fluss zu trinken, ein Dämon in Gestalt einer Frau erscheine. Nair ist nicht überzeugt und trinkt, wodurch er die unbekannte „Göttin der Felsen“ heraufbeschwört. Tatsächlich steht eine schöne Frau vor ihm; sie ist kein Dämon, sondern die unglückliche Tochter des Königs von Mysore, Medgé. Nach der Niederlage ihres Vaters gegen den mächtigen Vazanta suchte sie Zuflucht in der Wildnis. Von ihrer Schönheit verzaubert, verspricht Nair, ihr zu helfen, über Nacht die Grenze zu überqueren. Bevor sie aufbrechen können, überrascht Sélim, der Anführer der Armee, sie und befiehlt seinen Soldaten, die Prinzessin zum Palast zu begleiten. Medgé muss gehorchen, während Sélim ihren Bitten nachgibt und Nair freilässt.

Zu Samaras´“Medgé“: Flachrelief mit Darstellungen von Denkern und Schriftstellern aus Asien, deren Ideen durch den Buchdruck verbreitet wurden, unter der Statue von Gutenberg. Plastik von von David d’Angers (1788–1856). Der Dichter August Pavie (1847 – 1925) steht rechts, beugt sich über die Kinder und zeigt auf die Bücher. Lakmé basiert auf seinem Werk „Les Babouches du Brahmane” und anderen Geschichten/Wikipedia

AKT II: Medgé ist in die vertrauten Gemächern des Palastes zurückgekehrt, aber sie kann Nair nicht aus ihrem Kopf bekommen. Vazanta erscheint, majestätisch und benevolent. Im folgenden Duett gesteht die Königin der Prinzessin, die siegreich von der Grenze zurückgekehrt ist, ihre Liebe zu Sélim. Sie offenbart auch ihre verborgene Angst, dass Medgés erstaunliche Schönheit ihren Auserwählten verführen könnte. Medgé bietet an, den Palast zu verlassen, und Vazanta stimmt erleichtert zu. Unterdessen feiert das Volk die triumphale Rückkehr der Soldaten. In der Menge suchen Nair und Kadur Medgé, trotz der Gefahr. Während Vazanta zusammen mit den Priestern Brahma für den Sieg dankt, entdecken sie sie, aber Nairs unerwünschte Anwesenheit wird von Amgiad bemerkt. Nair wird verhaftet und zu Sélim gebracht, der über sein Schicksal entscheiden wird. Kadur flieht und übernimmt die Aufgabe, Medgé zu benachrichtigen. Im Palast wird Sélim zum König gekrönt. Als er von Medgés Entscheidung zu gehen erfährt, versucht er verzweifelt sie aufzuhalten, jedoch ohne Erfolg. Nair wird vor die Königin gebracht, die ihn dank der Fürsprache der Prinzessin freilässt. Das Drama erreicht seinen Höhepunkt, als die Personen sich in ihren Ängsten und Sehnsüchten gefangen sehen. AKT III: Eingehüllt in die Dunkelheit der Nacht und unter dem bedrohlichen Schatten von Sélim planen die beiden Liebenden ihre Flucht: Sie vereinbaren, dass Nair Medgé vorausgehen wird und sie sich bei Tagesanbruch am Flussufer treffen werden. Als Nair sich entfernt, erscheint Sélim und versucht, sich Medgé aufzuzwingen, die sich jedoch standhaft weigert, seinen Forderungen nachzugeben.  Versteckt hinter einer Säule beobachtet Vazanta die Szene und greift im richtigen Moment ein, um die Prinzessin unter ihren Schutz zu stellen. AKT IV: Am Ufer des Ganges singen der Hohepriester und das Volk Lobeshymnen auf Deva, die Göttin der Nacht. Unter ihnen betet auch Vazanta in ihrer Funktion als Hohepriesterin. Szenenwechsel: Vor dem Tempel Kadur segnet die Vereinigung von Nair und Medgé. Der ekstatische Moment wird von Sélim unterbrochen, der sich bedrohlich Medgé zuwendet. Bevor er sie ergreifen kann, erscheint Vazanta: Sélims Verrat an der Königin wird noch schwerwiegender, als er die Göttin Deva beleidigt. Sélim gesteht seine Liebe zu Medgé und macht damit seine Verurteilung unvermeidlich. Die Oper endet damit, dass Vazanta ein Messer in Sélims Kehle stößt, der auf dem heiligen Altar geopfert wird. Im Morgengrauen stehen Nair und Medgé vereint auf den Stufen des Tempels. Maira Milolidaki

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Die vorliegenden Texte entnahmen wir mit Dank dem Programmheft zur konzertanten Aufführung im Maria Callas Saal in Athen im Februar 2024. Übersetzung DeepL. Die eine oder andere Unklarheit im Text von Giorgios Leotzakos führt darauf zurück, dass es nur einen griechen Originaltext gab – in griechischer Schrift -, der keine weitere Referenz zuließ. Daher die kursiv gesetzten Einschübe. Foto oben: Emma Calvé/ J. Willis Sayre Collection of Theatrical Photographs/University of Washington/Wikipedia. Redaktion und Kürzungen G. H.

Drei Komponistinnen Frankreichs

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Geballte Frauenpower springt dem Betrachter des Covers wie dem Hörer der CD mit dem Titel Sisters in Augen und Ohr, nicht nur mit den Gesichtern von Dirigentin und Sängerinnen, sondern auch mit der Musik von Komponistinnen, die auf ihr vertreten sind, und so huldigt sie in extremer Weise dem Zeitgeist. Allerdings verwundert dabei umso mehr, dass von der französischen Komponistin Louise Bertin nur die Sinfonia ihrer Oper Fausto (nach Goethe), nicht aber die Arie des für Mezzosopran komponierten Titelhelden vertreten ist, und dass obwohl eine der beiden Solistinnen der CD diese Partie vor gar nicht langer Zeit gesungen hat. Sisters sind im übrigen nicht die Mezzosopranistinnen Karine Deshayes und Delphine Haidan, und auch die Dirigentin Débora Waldman kann sich verwandtschaftlicher Bande nicht rühmen, wohl aber sind Maria Malibran und Pauline Viardot Schwestern gewesen, letztere auch als Komponistin bekannt, während als dritte Komponistin Clémence Grandval mit Auszügen aus ihrem Mazeppa vertreten ist, leider nur mit Orchesterstücken, so dass schwesterliche Zusammenarbeit sich auch hier nicht auf die beiden Sängerinnen erstreckt.

Die männlichen Komponisten dominieren auch auf dieser CD, vor allem wenn die Sängerinnen gefragt sind, von denen nur der dunkleren Stimme von Delphine Haidan das Glück zuteil wird, mit Viardots Arie aus Le dernier sorcier ein von einer Geschlechtsgenossin komponiertes Werk darbieten zu dürfen.

In drei anspruchsvollen Rossini-Duetten aus La Donna del Lago, Elisabetta, regina d’Inghilterra und Semiramide ist die mit einer helleren Stimme begabte Deshayes jeweils Elena, Elisabetta und Semiramide, die mit der dunkleren aufwartende Haidan Malcolm, Matilde, Arsace, was man nicht dem Booklet entnehmen kann, das sehr sparsam mit Informationen ist, sondern was man sich irgendwie aus dem sonstigen Repertoire der beiden erschließt. In der Rolle der Elena funkelt die Stimme von Deshayes verführerisch, weiß sie sich als Elisabetta mit der ihrer Partnerin reizvoll zu umschlingen und ist sie als Semiramide klar dominierend, was vokale Energie und Strahlkraft angeht.

Aus Glucks Orphée et Eurydice singt Haidan geschmeidig, weich und doch mit vokalem Biss die berühmte Arie, während die heller getönte Deshayes in Amour, viens rendre behände durch die Koloraturen eilt, mehr auf die technische Bewältigung als tiefsinnige Gestaltung konzentriert ist und mit einer schönen Kadenz, aber auch stellenweise mit Schrillheit aufwartet.

Spätestens beim Anhören von Elviras Qui la voce sua soave fragt man sich, warum sich Karine Deshayes als Mezzosopran bezeichnet, denn hier offenbart die Sängerin vor allem Sopranqualitäten, eine weitere Frage dürfte die nach dem Warum des Überwiegens von Orchesterstücken der Komponistinnen sein, insbesondere, wie bereits erwähnt, den Fausto von Bertin betreffend , aber auch Mazeppa von Clémence de Grandval betreffend. Das Orchestre national Avignon-Provence unter Debora Waldman ist zwar ein solider, einfühlsamer Klangkörper, aber als Alibi für ihre Dominanz nicht geeignet, so wenig wie die Oper generell es sein kann, die zumindest gleichwertige Beteiligung  und Bedeutung von Frauen in ihrer Geschichte zu demonstrieren (NNM 118). Ingrid Wanja.                    

Bayreuther Festspiele 2024

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Kaum ist der letzte Ton verklungen, liegt auch schon die Blu-ray von Tristan und Isolde auf dem Tisch (2 Blu-ray DG 00440 073 6685). Es handelt sich freilich nicht um den Mitschnitt aus dem aktuellen Festspieljahr, sondern um eine Aufnahme, die 2024 entstand, als diese Produktion ihre Premiere erlebte, und die pünktlich Anfang Juli auf den Markt kam. Als Dokument ist sie wichtig, weil sie den Tristan von Semyon Bychkov festhält, der 2018 bei Uwe Eric Laufenbergs Parsifal auf dem Grünen Hügel debütiert hatte und Tristan und Isolde suggestiv gestaltet und stellenweise wie neu leuchten lässt, voll sinnlicher, verführerischer Farben und dabei immenser Spannkraft und Dynamik. Diese glühende Interpretation hatte mich schon in diesem Sommer im Festspielhaus auf Anhieb elektrisiert, wobei sich im Haus die Nuancen und instrumentalen Feinheiten vielleicht noch eine Spur reicher und fesselnder gestalteten. Die Aufnahme hält auch das Rollendebüt von Andreas Schager fest. Dieser Tristan ist ein Kraftpaket, das sich bereits nach dem ersten zaghaften „Isolde“-Stammeln lieber in heldischer Emphase zeigt, was den Hörer eher ermüdet als den unermüdlich muskulös und kernig singenden Helden. Camilla Nylund war mit der Isolde, die sie 2022 in Zürich (und dann in Dresden) erstmals komplett gesungen hatte, endgültig in die Riege der Hochdramatischen vorgestoßen. Sie singt jugendfrisch, mit aufblühenden Bögen, runder Höhe, vielleicht etwas schwächerer Tiefe, insgesamt vermutlich die derzeit beste Vertreterin der Partie. Im Premierenjahr ist die erfahrene Brangäne der Christa Mayer der müden Ekaterina Gubanova vorzuziehen, Birger Radde war als Melot ein Gewinn, der markant rufende Kurwenal von Olafur Sigurdarson wurde 2025 von Jordan Shanahan abgelöst, ansonsten ist die Besetzung von Matthew Newlins jubelnd frischen Seemann, dem eleganten Daniel Jenz als Hirt bis Günther Groissböcks ausdrucksvollen Marke unverändert.

Der Inszenierung ist nicht viel abzugewinnen. Die Arbeit von Thorleifur Örn Arnarsson in den Bildern von Vytautas Narbutas und in den Kostümen von Sybille Wallum gibt sich auf dem Bildschirm belangloser und gefälliger als in der Festspielhaustotalen. Zunächst dominieren die dekorativ gehängten Schiffstaue die Szene sowie vor allem Isoldes sonderbares weißes Engelsgewand, eine Art überdimensionierter Reifrock, auf dem sie Erinnerungen und Gedanken festhält und in den sich auch Tristan gerne vergraben würde, was der Blick von oben sehr geschickt zeigt (Video Director: Michael Beyer). Vieles, wie der im zweiten Akt mit Antiquitäten, Kram und Nippes vollgestopfte Schiffsrumpf, wirkt allerdings in den kleinen Bildausschnitten befremdlich und unfertig und lässt, anders zwar als die rätselhaft wirkende Live-Aufführung, den Betrachter ratlos zurück. Rolf Fath

 

 

Im grossen Schatten anderer

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Eigentlich sollten einige Jahre zwischen den Aufführungen von Mozarts Idomeneo in der Lindenoper und den Konzerten mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München liegen, beide von Simon Rattle geleitet und in den meisten Partien identisch besetzt. Corona machte einen Strich durch die Aufführungspläne und führte dazu, dass die Premiere in Berlin erst im Frühjahr 2023 stattfinden konnte, die drei konzertanten Aufführungen in München mit dem neuen Chefdirigenten gerade einmal neun Monate später, nämlich m Dezember des gleichen Jahres. Abweichend in den Hauptpartien waren die Elettra und die Ilia besetzt, in Berlin sangen Sonya Yoncheva und Anna Prohaska, in München und damit auch auf den nun vorliegenden CDs sind Elsa Dreisig und Sabine Devieilhe zu hören, während die Besetzungen mit Andrew Staples als Idomeneo und natürlich Magdalena Kožená sich nicht voneinander unterscheiden. Für den Hörer, für den Luciano Pavarotti als Idomeneo und Edda Moser als Elettra das Maß aller Rollenportraits sind, gibt es natürlich einiges einzuwenden, was Timbrequalität des Tenors oder dramatische Wucht des Soprans angehen, wobei die Münchner Besetzung gegenüber der Berliner Licht- wie Schattenseiten aufweist.

Dem Idomeneo Andrew Staples mangelt es an Schönheit und Klarheit des Timbres, in Passagen, in denen der Hörer Heldisches erwarten könnte, bekommt er oft nur recht Weinerliches zu hören, auch die Rezitative leiden  streckenweise darunter, man vermisst eine präsentere vokale Autorität, wie sie durchaus stellenweise, so zum Beispiel im „Eccomi…“ zu vernehmen ist. Da ist ihm sein Tenorkollege Linard Vrielink als Arbace oft überlegen, der durchgehend sehr beteiligt wirkt, in der Arie des dritten Akts geradezu tollkühn, allerdings nicht in allen Registern mit der gleichen Qualität aufwartend. Der dritte Tenor ist Allan Clayton als Oberpriester mit der für das Amt notwendigen vokalen Eindringlichkeit. Als Stimme des Orakels lässt sich der Bass von Tareo Nazmi vernehmen.

In Berlin wie in München ist Magdalena Kožená ein in jeder Hinsicht idealer Idamante, nicht zuletzt als  Partnerin für die Ilia der Sabine Devieilhe, zu deren Sopran ihr runderer, dunklerer aber durch gleichwertige Timbreschönheit, Geschmeidigkeit und Farbigkeit hervorstechender Mezzosopran ideal passt, die die Rezitative zu Höhepunkten der Aufnahme werden lässt und die einfach ein Wunder an Ebenmaß ist.  Ein Riesengewinn im Vergleich zu den Berliner Aufführungen ist die Ilia von Sabine Devieilhe mit einem Sopran von pura dolcezza, mit einem tragisch klingenden Touch im Timbre, nur selten etwas zu viel gefällige Naivität ausstrahlend, aber hinreißend mit den „zeffiretti lusinghieri“, die bei ihr zu wahren zeffirettini werden, mit wunderschönen Schwelltönen und vielem zart Dahingetupftem.  Ein empfindsames Beben durchzieht die gesamte Leistung.  Elsa Dreisig ist eine wunderbare Sängerin, aber für die Elettra auch als Gegenspielerin einer ganz zarten Ilia und mit Tugenden wie Textverständlichkeit, Rundung der Töne, schöner Phrasierung einfach zu wenig „furore“ vermittelnd,  wohl eine schöne Trauer, aber kaum die Wut der Kränkung bei allem Bemühen um Rasantes, Hysterisches vermittelnd.

Vorzüglich ist der Chor des bayerischen Rundfunks, erschauern machend mit „Qual nuovo terror“, das Orchester folgt seinem Dirigenten und zaubert einen farbig-duftigen, durch Klarheit und Straffheit sich auszeichnenden Klang und sorgt für nie nachlassende Spannung (BR Klassik). Ingrid Wanja

 

Hochvirtuos

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Eng mit dem Namen des neapolitanischen Kastraten Giovanni Carestini verbunden sind die beiden bei Solo Musica  erschienenen CDs der aus Südafrika stammenden Mezzosopranistin Megan Kahts mit deutschen Wurzeln, deren erste sie im Bündnis mit dem Carestini Orchester und mit Musik von Händel und Haydn und den Damen Ariadne und Armida  zeigt, während die neueste zwar auch Händel, daneben aber  Johann Adolph Hasse berücksichtigt und neben Arien, die der Kastrat einst zum Erfolg führte, auch solche berücksichtigt, die für die Gattin Hasses, die Sängerin Fausta Bordoni komponiert wurden. Dabei schmeichelt die CD nicht nur den Ohren, sondern kann durch die Sorgfalt, mit der Cover und Booklet gestaltet wurden, sich auch für weitere Sinne und nicht zuletzt den Verstand anregendes Erlebnis beweisen.

Megan Kahts war in Südafrika bereits ein singender Teenager-Star gewesen, ehe sie sich zur weiteren Ausbildung nach Wien begab und unter anderem bei  Claudia Visca und mit Robert Holl studierte, immer noch als Sopran, ehe ihre Mezzoqualitäten entdeckt wurden. 2018 debütierte sie im neuen Fach als Costanza in Haydns L’isola disabitata. Neben alter Musik ist ihr zweites musikalisches Standbein die neueste Musik, wie die Teilnahme an der Uraufführung von Fabian Panisellos Oper Die Judith von Shimoda bezeugt. Erstaunlich ist ihr Werdegang schon allein dadurch, dass eine seit dem achten Lebensjahr musikalischer Ausbildung unterworfene Stimme eigentlich diese Erfolge gar nicht erreicht haben dürfte.

Die nun vorliegende CD verrät das abgelegte Sopranfach noch immer in der leuchtenden Höhe, die bruchlos an die farbige, nicht geschlechtsgebunden erscheinende Mittellage  angebunden ist, während in der Extremtiefe doch manch nur angetippter und trotzdem recht mühsam formulierter Ton auf die einstige Stimmlage hinweist, so in Händels „Tempesta e calma“ der Arie des Alessandro.  Das sind aber recht belanglose Einwände, denn insgesamt erfüllt die mit einem angemessenen Vibrato ausgestattete Stimme alle Voraussetzungen für die Bewältigung der anspruchsvollen Partien, lässt die Erleichterung des Ariodante in „Dopo notte“ ebenso erspüren wie die Weiblichkeit einer Alcina in „Mi lusinga il dolce affetto“. Eine schöne Leichtigkeit zeichnet die Darbietung von Ariodantes Arie „Dopo notte“ aus, eine ebensolche Melancholie  und bruchlose Schwerelosigkeit „Scherza infida“, auch die kluge Phrasierung kann gefallen. Ist ein Stück derart virtuos wie die Arie des Tolemeo, dann verzeiht man den ein oder anderen verhuschten Ton gern. Ein wesentlicher Pluspunkt für die CD ist das Orchester Wiener Akademie unter Jeremy Joseph, das spritzig, straff und präzise agiert. Insgesamt und einschließlich des Booklets ist das eine höchst erfreuliche Bereicherung des CD-Markts (Solo Musica SM 493). Ingrid Wanja