Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Von Kanzonen und Kantilenen

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Mit acht CDs ist das neue Projekt von Opera Rara, DonizettiSongs, groß angelegt. Die ersten beiden Alben (ORR254&255) sind bereits erschienen, jeweils mit Carlo Rizzi, dem Artistic Director des Labels, am Flügel. Den Reigen eröffnete der im Donizetti-Repertoire namhafte Tenor Lawrence Brownlee, der auch bei dieser Auswahl seinen vitalen Gesang, seine gestalterische Emphase und die strahlende Höhe wirkungsvoll einsetzen kann. Im ersten Lied, „L´amante spagnuolo“, einer schwungvollen Tarantella, die vor allem in der Mittellage notiert ist, kann sich tenoraler Glanz in der exponierten Lage freilich noch nicht entfalten. Das ändert sich schon im nächsten Lied „Con le grazie“ und im folgenden. „Il donativo“, einem schwärmerischen Stück, das Brownlee perfekt in der Kehle liegt.

Donizettis Lieder, von denen es an die 200 gibt, können schwärmerische Kanzonen sein oder melancholische Kantilenen. Nicht selten vernimmt man die stürmische Verve einer Cabaletta oder den vehementen Rhythmus einer Stretta. Mehrfach erkennt man aus Donizettis Opern bekannte Motive, wie „Il sogno“, das Edgardos letzte Kavatine aus der Lucia zitiert. Viele Kompositionen entstanden auf Texte unbekannter Dichter, wie das populäre, übermütige „Amor marinaro“, einige Vorlagen stammen aus der Feder des berühmten Pietro Metastasio, wie „Trova un sol, mia bella Clori“, das sogar in zwei Versionen existiert, oder des von Bellini- und Verdi-Opern bekannten Librettisten Felice Romani. Dessen „Ella riposa“ ist mit Rezitativ, Cavatina und Cabaletta wie eine Opernszene angelegt und war dem polnischen Tenor Józef Michal Poniatowski gewidmet. Melodisch reizvoll sind die melancholische  Barcaruole „Sovra il remo“ und die Canzonetta „Or che la notte invita“ mit obligater Klarinette. Der Instrumentalist Jernej Albreht vereint sich hier mit dem Sänger zu einem innigen Duett. In doppelter Version existiert auch „Quando verrà sul colle“, wobei die zweite Fassung in ihrer elegischen, dem Konkurrenten Bellini verwandten Melodie opernnäher scheint, war sie doch dem legendären Tenor Giovanni Battista Rubini gewidmet. Brownlee kann hier seine glanzvollen Spitzentöne demonstrieren, welche dem berühmten Vorbild alle Ehre machen. Im nächsten Stück, „Il sospiro“, ist dagegen die tiefe Lage gefordert und auch hier zeigt sich der Sänger souverän. Die Sammlung der 28 Lieder endet mit der frühen  Komposition „Non giova il sospirar“, welche in ihren Ornamenten noch ganz den Einfluss Rossinis zeigt, aber auch schon Donizettis Energie aufweist, und die Platte heiter enden lässt.

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Giovanni Battista Rubini, Gaetano Donizetti, and Luigi Lablache, from the book The World of fashion and continental feuilletons, 1824. Internet Archive

Die zweite Ausgabe vereint 26 Lieder in der Interpretation des italienischen Baritons Nicola Alaimo, der seine Karriere beim Rossini Festival in Pesaro startete und dort beispielsweise Erfolge als Titelheld in Guillaume Tell feierte. Als Auftakt erklingt das heroische „La partenza del criocato“, dessen erste Zeile „Al campo della gloria“ bereits den Inhalt verrät. Donizetti übernahm die Melodie aus dem Duett Belisario/Alamiro seiner 1836 im Teatro La Fenice uraufgeführten Oper. Alaimo singt hier mit energischer Verve, um im nächsten Stück, „Ov´è la voce magica“, mit lyrischer Kantilene aufzuwarten.

In der Anthologie finden sich auch vier französische Kompositionen und eine deutsche. Letztere, „Auf dem Meere“ auf Worte eines unbekannten Dichters, stammt aus der Sammlung Das singende Deutschland. „J´aime trop pour être heureux“ in schmerzlichem Duktus wird von einer Soloviola (Abigail Fenna) begleitet. Die Stimme des Baritons ist keine noble, klingt eher robust und aufgeraut. Dadurch fehlen Liedern wie „Te dire adieu“ und „“L´amor funesto“ (mit Herry Snell am Cello) lyrische Valeurs und Eleganz. In „O Cloe“ evoziert er mit ganz leichter Tongebung eine Figur aus einer Buffa. Bei „Non v´è nume“ gibt es mit Daniel de Fry an der Harfe noch einen weiteren Instrumentalisten. Die Komposition erweckt die Stimmung von Lucias Auftrittskavatine und Alaimo nimmt sich hier stimmlich sehr zurück, überrascht mit weichen, warmen Tönen. Davon profitiert auch „Le Dernier Chant du Troubadour“. Das energische „Il crociato“ lässt nicht vermuten, dass es der namhaften Sopranistin Laure Cinti-Damoreau gewidmet, eher dass das urige „Il trovatore in caricatura“ dem bekannten Bariton Giorgio Ronconi zugedacht war. Einem anderen Vertreter dieser Stimmgattung, dem Franzosen Paul Barroihet, war „Un baiser pour espoir“ zugeeignet, das zwischen introvertierten und lebhaften Passagen wechselt. Die Platte endet mit „Quando mio ben t´adoro“, das bis vor kurzem als verloren galt und in einem österreichischen Kloster wiedergefunden wurde. Die beiden CDs machen neugierig auf die Fortsetzung des Projektes. 

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Opera Rara setzt ihre auf acht CDs konzipierte Ausgabe der Donizetti-Songs mit Volume 3 und 4 fort. Zwei prominente Sänger sind angetreten, um dem Liedschaffen des Komponisten aus Bergamo zu größerer Bekanntheit zu verhelfen. Vor allem Michael Spyres in Vol. 3 (ORR256) dürfte dazu beitragen, zählt er doch zu den gegenwärtig populärsten und kompetentesten Tenören im Belcanto-Fach und französischen Repertoire. Bei Opera Rara hat er bereits in mehreren Rossini- und Donizetti-Aufnahmen erfolgreich mitgewirkt. Der mittlerweile sogar im heldischen Wagner-Fach tätige Sänger überzeugt auch in diesem lyrischen Repertoire mit Phrasierungseleganz und feinen  legato-Bögen, mit reichem Farbspektrum und brillanten Spitzentönen, subtilen Text-Nuancen und messa di voce-Raffinement.

Zu hören sind 18 Kompositionen, fast alle in Französisch bis auf die überraschende Ausnahme in Track 8, wo ein Berglied in deutscher Sprache erklingt („Rings ruht die grüne Alpenhut“). Die Stücke stammen aus den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts während eines Paris-Aufenthaltes des Komponisten, sind somit seiner späten Schaffensphase zuzuordnen. Den Auftakt der Anthologie bildet Le Retour au désert, ein Lied voller Energie und Virtuosität. Die Begleitung des Klaviers im Bolero-Rhythmus imitiert galoppierende Hufe. Das nächste Lied, „Morte! et pourtant hier“, schildert als Trauer-Ode den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen und verklärt diesen zu einem Engel. Das ausgedehnte Rondo „Ah! si tu voulais, toi que j´ aime“ existiert auch als italienische Version („Ah! se d´ amore un palpito), da sein Charakter aber eher einem französischen Salonstück nahe steht, entschied man sich für die französische Fassung. An Schuberts „Erlkönig“ erinnert La Dernière Nuit d´un Novice in ihrem Dialog zwischen Gott und Teufel. Donizetti schrieb das Stück für die Tenor-Legende Adolphe Nourrit. Ein seltenes Beispiel für die Verbindung von Oper und Lied ergibt sich mit Un Rêve de bonheur, dessen Klavierbegleitung unvollständig überliefert war und rekonstruiert werden konnte, da der Komponist das Motiv später im Eingangschor zum 2. Akt der Adelia wiederholte. Auch das elegische „Je ne me plaignis pas“ lässt an ein anderes Stück denken – Maries „Il faut partir“ aus der Fille du régiment, für die es die Vorlage bildete. In der letzten Liedgruppe finden sich einige bemerkenswerte Titel, zum einen solche, wo zum Klavier noch ein weiteres Instrument kommt, wie Le Violon de Crémone mit der Geigerin Eloisa-Fleur Thom und Le Petit Joueur de harpe mit der Harfenistin Sally Pryce oder die inbrünstige Kantilene „Si tu m´as fait à ton image“ auf den Text von Nourrit vor seinem Suizid. Spyres gelingt erine bewegende Interpretation mit schmerzlichen, verschatteten Klängen.                                                            Wieder ist Carlo Rizzi, Artistic Director des Labels, der umsichtige und inspirierende Begleiter am Flügel.

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Bei Vol. 4 (ORR257) mit der franco-kanadische Mezzosopranistin Marie-Nicole Lemieux gibt es dagegen einen Wechsel am Instrument. Hier kommt der italienische Pianist Giulio Zappa zum Einsatz, der damit sein Debüt bei Opera Rara gibt. Er ist spezialisiert auf das Belcanto-Repertoire und hat viele Jahre bei den Festivals in Pesaro und Bergamo gearbeitet. Die 21 Lieder, welche die Sängerin präsentiert, sind in italienischer und französischer Sprache komponiert. beginnend mit „Bei labbri che Amore formò“. Das ist eine Canzone von keckem Duktus, die  Mozarts Dorabella suggeriert und sie zeigt eine bedeutende Ausdrucksfacette der Sängerin, die diese noch in vielen anderen Kompositionen einbringen kann. Das folgende „Occhio nero incendiator“ zählt zu Donizettis populärsten Liedern und wurde von ihm später auch zu einer französischen Variante umgearbeitet.

Die Stimme der Solistin ist von schöner Fülle und seltenem dunklem Klang, von reizvoll herbem Timbre, das aber auch zu strengen Tönen in der Höhe mit bohrendem Klang ausufern kann.

Die Canzonetta „Del colle in sul pendio“ ist ein Beispiel für die frühe Periode des Komponisten (etwa 1821), das muntere „Sospiri, aneliti“ eines für die vielen verloren geglaubten Stücke aus seiner Feder. Es befand sich im Besitz einer Contessa von Medici in Rom, die es einem Kloster nahe Linz übergab. Mit La Folle de S. Hélène ergibt sich eine Verbindung zum Album mit Spyres, denn der Text stammt von Nourrit. Die berühmte Mezzosopranistin Rosina Stoltz sang das ausgedehnte, energische Stück 1838 in Neapel. Lemieux klingt hier streng vibrierend. Für das zärtliche „Ti sento, sospiri“ schrieb Metastasio die Verse, wie auch für das kantable „Se tu non vedi“. Von Rossinis Ornamentik beeinflusst sind „Quel nome se ascolto“ und „Ah! rammenta, o bella Irene“, zeigen aber auch das Bemühen Donizettis, sich gegen den großen Konkurrenten zu behaupten. Sehr delikat singt Lemieux La trovatella, die aus Donizettis letzten Schaffensjahren stammt. Einer engen Mailänder Freundin, Giuseppina Appiani, in deren Salon auch der junge Verdi verkehrte, ist „Che cangi tempra“ gewidmet. 

Auch in diesem Album findet sich eine Komposition, in der neben dem Klavier ein weiteres begleitendes Instrument vorgeschrieben ist: La Novice mit Edward Batting am Harmonium. Die dramatische Szene, an einen Auftritt in der Oper erinnernd, fordert der Interpretin großen Einsatz ab, was nicht ohne Schärfen in der Höhe abgeht. Das charmante „Sull´ onda cheta e bruna“, das an venezianische Gondoliere denken lässt, ist dann wieder ein vokales Fest mit feinen Nuancen und reichen Zwischentönen. Fast an Couplets von Offenbach erinnern La Prière à S. Catherine und Les Lendemains, was Lemieux mit Koketterie und Humor vorträgt. Auch der letzte Titel, Pas d´autre amour que toi, ist von heiterem Duktus und lässt die Anthologie beschwingt ausklingen. Bernd Hoppe                                                                                             .

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Donizetti-Songs: Roger Parker & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Der namhafte Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist, zudem Herausgeber dieser Sammlung, Roger Parker schreibt in den Beiheften zu den ersten zwei CDs von Opera Rara sehr ausführlich über die Zielsetzung des Projektes. Eines der ehrgeizigsten Projekte in der 50-jährigen Geschichte von Opera Rara ist die Aufnahme aller Sololieder von Gaetano Donizetti. Eine Handvoll dieser Lieder sind seit langem bekannt und werden oft in Konzerten aufgeführt; viele weitere sind in Fachkatalogen aufgeführt, werden aber nur sehr selten oder gar nicht aufgeführt; andere wiederum galten als verloren oder völlig unbekannt. Jüngste Forschungen im Zusammenhang mit diesem Projekt, die vom Autor dieses Artikels in Zusammenarbeit mit Ian Schofield durchgeführt wurden, haben ergeben, dass Donizetti im Laufe  seiner 30-jährigen Karriere insgesamt etwa 200 Sololieder geschrieben hat. Die Erstellung moderner Ausgaben dieses umfangreichen Korpus war eine mühsame Aufgabe:

Die Quellen für die Lieder sind in europäischen Bibliotheken und darüber hinaus verstreut, die Autographen des Komponisten wurden zum Zeitpunkt der Komposition oft versehentlich weitergegeben (in der Regel als Geschenk des Komponisten) an den Widmungsträger). In ihrer Gesamtheit sind diese Kompositionen jedoch ein schlagkräftiges Argument für Donizetti als Schlüsselfigur des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert: jemand, dessen Leistungen auf diesem Gebiet es verdienen, besser bekannt zu sein; ein Werk, das allein schon ein schlagkräftiges Argument für die Bedeutung der italienischen „Schule“ in einem Bereich, der lange Zeit von deutschen und französischen Komponisten dominiert wurde, ein starkes Argument darstellt. Das schiere Ausmaß des ursprünglichen Editionsprojekts war auf den ersten Blick eine extreme Herausforderung. Viele der bisher unbekannten Lieder sind in einer einzigen Manuskriptkopie erhalten, wenn auch oft in der oft hastigen Handschrift des Komponisten und manchmal unvollständig. Die populäreren Lieder – diejenigen, die im 19. Jahrhundert zumindest eine gewisse Verbreitung hatten – werden uns wahrscheinlich in einer Reihe verschiedener und oft widersprüchlicher Quellen überliefert Quellen überliefert: vielleicht (wenn wir Glück haben) in der autographen Partitur des Komponisten; vielleicht in Manuskriptkopien anderer; vielleicht in einer gedruckten Version (oft mit Änderungen und Ergänzungen, die die Zustimmung des Komponisten hatten oder auch nicht); vielleicht als Teil einer größeren veröffentlichten Sammlung; vielleicht übersetzt in eine andere Sprache.

Donizetti-Songs: Recording session (c) Russell Duncan

Buchstäblich Tausende von einzelnen Quellen, eine verwirrende Mischung aus gedrucktem und Manuskriptmaterial, mussten in einem ersten Schritt gesammelt und zusammengestellt werden. Zu unserem großen Glück wurde ein großer Teil dieses Materials kürzlich digitalisiert und ist online verfügbar; dadurch geht das Zusammenstellen viel schneller als noch vor 20 Jahren; in der Tat ist die Tatsache, dass dieses Projekt Jahre statt Jahrzehnte gedauert hat, hauptsächlich auf diese Digitalisierung zurückzuführen. Erleichtert wird die Arbeit auch dadurch, dass sich Donizettis Werke sich vor allem auf drei Sammlungen konzentrieren (die Bibliothèque nationale de France in Paris, die Bibliothek des Conservatorio San Pietro a Majella in Neapel und verschiedene Bestände im Besitz des Komponisten). Heimatstadt Bergamo). Die Art der Liedproduktion – in der Regel häuslich, gelegentlich, feierlich – bedeutet jedoch, dass Donizettis Autogramme oft verschwunden sind und dass anderes Material weit verstreut ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein enorm wichtiger Fundus an Manuskriptmaterial, der etwa 20 Lieder enthält, von denen man bisher annahm, dass sie sich in Privatbesitz befinden und nicht erhältlich sind, tauchte im Musikarchiv des Benediktinerklosters Stift Kremsmünster in einer kleinen österreichischen Stadt zwischen Salzburg und Linz. Es ist leicht zu erraten, warum sich verschiedene unschätzbare antike Relikte in einem 777 n. Chr. gegründeten Kloster befinden; aber die Frage, wie solche Donizetti-Raritäten in seine Mauern gelangten, bleibt ein Rätsel.

Francesco Coghetti: Gaetano Donizetti/Wikipedia

Die Lokalisierung all dieses Materials war natürlich eine notwendige erste Forschungsphase. Die Bearbeitung – das Durchsuchen der Quellen für jedes Lied, um die zuverlässigste Version zu finden, die Ermittlung literarischer Quellen, die Übersetzung der Liedtexte, das Verfassen eines kritischen Kommentars, der auf wichtige Varianten aufmerksam macht und schwierige Textentscheidungen diskutiert – war dann ein fortlaufender Prozess, der am Ende mehr als 1500 Seiten Noten und 500 Seiten beigefügten Kommentar hervorbrachte, die alle mehrere Korrekturphasen durchliefen.

Was in den ersten Monaten des Jahres 2020 als „Lockdown-Projekt“ begann, wurde für eine gewisse Zeit zu einer alles verzehrenden Beschäftigung, an der Bibliothekare von Stockholm bis zur Westküste Amerikas und darüber hinaus beteiligt waren, ganz zu schweigen von der Zusammenarbeit mit Donizetti-Freunden an vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Orten.

Als die Arbeit fortgesetzt wurde und das volle Ausmaß des Korpus zutage trat, begannen eine Reihe von umfassenderen Fragen, die einer kritischen Betrachtung bedurften. Das erste, keineswegs einfache Problem war die Festlegung der Stimmtypen.  Gelegentlich gibt es Lieder im Tenor- oder Bassschlüssel, was bedeutet, dass offensichtlich Männerstimmen gemeint sind. Für den Rest der Lieder mussten jedoch Entscheidungen getroffen werden. In seiner frühen Karriere schrieb Donizetti die Melodielinien meist im sogenannten „Sopranschlüssel“, später verwendete er meist den Violinschlüssel; in beiden Fällen blieb unklar, ob ein bestimmtes Lied für eine Männer- oder Frauenstimme gedacht war. Bei unseren Aufnahmen gehen wir normalerweise davon aus, dass die „musikalische Stimme“ mit der „poetischen Stimme“ übereinstimmen sollte (d. h. mit der vom Dichter angenommenen Persona).

So wird beispielsweise das Klagelied eines Troubadours über seine verlorene Liebe von einer Männerstimme gesungen, während eine junge Frau, die an ihrem Fenster Fäden spinnt, von einer Frauenstimme gesungen wird. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass solche solche Fragen in der heutigen Zeit wahrscheinlich von größerer Bedeutung sind als im 19. Jahrhundert. Zu Donizettis Zeiten war die „Geschlechterverwirrung“ (das Singen von Männerrollen durch Frauen und umgekehrt) ein häufiges Merkmal auf der Opernbühne, und es gibt Belege dafür, dass sich diese Einstellung auf den häuslichen Gesangsbereich ausbreiten konnte, wobei junge Frauen – die häufigsten Darstellerinnen im familiären Umfeld – häufig eine männliche poetische Rolle annahmen, wenn sie für die versammelte Gesellschaft sangen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Stimmlagen wie Wir wissen, dass sie sich heute etwas von denen zu Donizettis Zeiten unterscheiden, wobei die Unterscheidung zwischen „Sopran“ und „Mezzo“ und – insbesondere – zwischen „Tenor“ und „Bariton“ häufig unsicher ist.

Donizetti-Songs: Lawrence Brownlee & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Unter den gegebenen Umständen haben wir die Lieder in überaus Donizetti-typischer Manier entsprechend den Fähigkeiten unserer einzelnen Sänger aufgeteilt, anstatt irgendwelche abstrakten Prinzipien von Stimmlage und Geschlecht anzuwenden.

Eine weitere Schwierigkeit betrifft die grundlegendere Frage, was ein „Lied“ ausmacht. Für die vorliegende Ausgabe haben wir uns entschieden, Sololieder von Duetten und größeren Ensembles zu trennen. Diese Entscheidung wurde in erster Linie aus praktischen Gründen getroffen (die Aufführungsmöglichkeiten für Sololieder sind heute so viel größer als die für Duette, Trios usw.), und dies trotz der Tatsache, dass eine solche Trennung uns von einigen der wichtigsten veröffentlichten Sammlungen von Donizetti-Liedern aus den 1830er Jahren entfernt, in denen Soli und Duette bewusst in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Es stellen sich jedoch auch größere Fragen: Wie kann in manchen Fällen ein „religiöses Werk“ auch Anspruch auf den Titel „Lied“ erheben (ein Ave Maria, das zur Klavierbegleitung gesungen wird, wäre ein Beispiel dafür)? Oder wie kann eine „Solokantate“ nach einem Manuskript in einem anderen ein ‚Lied‘ sein könnte; oder – vielleicht die größte Schwierigkeit – worin der Unterschied zwischen einem ‚Lied‘ und einer Opernarie besteht, die uns begleitet von einem Klavier überliefert wurde. Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten; es wird immer unscharfe Grenzen der einen oder anderen Art geben. In der vorliegenden Ausgabe haben wir uns weitgehend an die Taxonomie früherer Donizetti-Lieder-Katalogisierern gefolgt, aber wir haben – im Gegensatz zu ihnen – immer versucht, Opernnummern auszuschließen, die ohne die aktive Mitarbeit des Komponisten in nicht-opernhafte Texte eingebaut wurden.

Es gibt auch das Problem der Übersetzung. Lieder können in einer Sprache begonnen haben (entweder Italienisch oder, in Donizettis späteren Jahren zunehmend, Französisch) und dann in eine andere gewandert sein, wo sie vielleicht „Repertoire“-Status erlangte. Manchmal ist es aufgrund der Quellenlage unmöglich zu wissen, in welcher Sprache ein Lied ursprünglich konzipiert wurde. In einem Fall beginnt die Geschichte eines bestimmten Liedes (soweit wir wissen)mit einer gedruckten Quelle in italienischer Sprache (der natürlich eine heute verlorene autographe Partitur vorausgegangen sein muss); dann – zu einem späteren Zeitpunkt – verwendete Donizetti die Musik erneut, um einen französischen Text zu vertonen, wobei er diesmal eine Autograph, das erhalten geblieben ist; und noch später wurde dasselbe Lied in gedruckter Form weit verbreitet, allerdings in einer neuen italienischen Übersetzung des französischen Textes.

Donizetti-Songs: Daniel de Fry & Carlo Rizzi (c)Russell Duncan

Weitere Probleme betreffen die Urheberschaft des literarischen Textes (häufig nicht identifiziert) und die Identität der Widmungsträger (oft sowohl in Autographen als auch in gedruckten Partituren erwähnt), die beide stundenlange Recherchen erfordern können, aber – dank unserer internetgestützten Welt – oft überraschende Zusammenhänge und chronologische Besonderheiten aufdecken, die alle früheren Kommentatoren zwangsläufig außer Acht lassen mussten. Darüber hinaus können, wenn Donizetti vertonte jeden Text, sei es ein Libretto oder ein lyrisches Gedicht, und änderte die Worte routinemäßig, manchmal radikal: Ein Lied hat eine poetische Quelle, die tragisch endet, während seine Donizetti-Vertonung in Hoffnung und Wiedergeburt endet: Wir könnten an Opern erinnert werden, in denen manchmal im letzten Moment oder bei späteren Wiederaufnahmen, ein tragisches Ende in ein „Happy End“ verwandelt wird (oder umgekehrt). In all diesen Fällen folgen wir natürlich der Textversion des Komponisten, obwohl in extremen Fällen in den begleitenden kritischen Anmerkungen die alternative Richtung des Originalgedichts erwähnt wird.

Ein letztes Problem betrifft mehrere Versionen desselben Liedes. Es entspricht ganz dem Geist dieses Repertoires, dass Donizetti, wenn er später in seiner Karriere zu einem Lied zurückkehrte, fast immer eine Überarbeitung der Musik vorlegte, wobei er manchmal das, was er zuvor komponiert hatte, komplett neu schrieb. In vielen Fällen kann man sich vorstellen, dass es einen einfachen, praktischen Grund für diese kreative Verschwendung gab: Wenn er beschloss, ein Lied wiederzubeleben, vielleicht für einen Verleger, vielleicht für einen anderen häuslichen Anlass, war sein „Original“ nicht mehr zur , sodass er gezwungen war, die Worte und die Musik aus dem Gedächtnis neu zu erschaffen. Aber es gibt auch die Tatsache, dass ein solcher Erfindungsreichtum im Mittelpunkt seines Kompositionsprozesses stand: Selbst bei seinen berühmtesten Opern hat man selten das Gefühl, dass er ein bestimmtes Werk als „fertig“ betrachtete; wenn er zu einer Oper oder einem Lied zurückkehrte, brachte die Erfahrung fast immer neue Ideen, inspiriert von neuen Darstellern. In den meisten Fällen haben die vorliegenden Aufnahmen wurde aus Platz- und Zeitgründen eine Version gegenüber anderen bevorzugt; bei einigen Liedern waren die Alternativen jedoch so unterschiedlich, dass beide Versionen aufgenommen wurden.

Donizettis Grabmal in Bergamo/Wikipedia

Wie aus dieser ersten Aufnahme mit Liedern aus allen Lebensabschnitten des Komponisten hervorgeht, ist Donizettis kreatives Spektrum in diesem Repertoire bemerkenswert. In seiner frühen Karriere (bis ca. 1823) gibt es einige sehr einfache Erfindungen, oft „Canzonette“ genannt, die auf das 18. Jahrhundert zurückzugehen scheinen; und die stärker von der

Oper beeinflussten Nummern aus dieser Zeit ähneln in ihrer Verwendung von Vokalverzierungen unweigerlich Rossini.

In den späteren 1820er Jahren tauchen jedoch Lieder auf, die, obwohl ihre Poesie oft auf ein früheres Zeitalter zurückgeht, in ihrer Gestaltung und Ausführung offen experimentell sind, vielleicht auf konventionelle Weise beginnen, sich dann aber in unvorhersehbare melodische und harmonische Richtungen bewegen, oft als Reaktion auf Details im verbalen Text. In den 1830er Jahren, der Zeit von Donizettis größten italienischsprachigen Opern, lag sein Schwerpunkt auf Liedern für die Veröffentlichung, aufwendigeren Stücken, die für professionelle oder nahezu professionelle Darsteller und mit besonderem Schwerpunkt auf exotischen Stimmungen: der Troubadour, die Jungfrau im Turm, der liebeskranke Ruderer, der religiöse Einsiedler, der Kreuzritter, der leidenschaftliche romantische Außenseiter.

Und dann, in einer erstaunlichen späten Blütezeit, sah man in den 1840er Jahren Donizetti, der nun in Paris und Wien lebte, sich als „internationaler“ Komponist neu zu erfinden, indem er französische Gedichte in einem modernen Stil vertonte und sich in einer völlig anderen lyrischen Tradition fließend ausdrückte. Bei all diesen Stilen und Manieren bleibt ein Aspekt konstant: Wenn wir Donizetti und seine musikalische Sprache durch seine Opernwerke kennen, werden uns die Lieder weiterhin überraschen. Obwohl sie uns gelegentlich an die Manieren der Oper erinnern, beschreiten diese Kompositionen meistens einen anderen Weg: einen, bei dem die musikalische Reise in der Regel viel kürzer ist, bei dem eine Gefühlswelt in Momenten eingefangen werden muss und bei dem die raffinierte musikalische Sensibilität des Komponisten, seine Fähigkeit, poetische Stimmungen und Affekte einzufangen, auf jeder Seite offensichtlich ist.

Donizettis „Esule di Roma“, London 2023/Nicola Alaima und Albina Shagimuratova/Foto Russel Duncan/Opera Rara

Wie bereits zu Beginn dieses Essays erwähnt, sind die Lieder, die Donizetti während seiner Komponistenkarriere komponierte zu Unrecht vernachlässigt wurden. Diese Aufnahmen zielen in der Tradition von Opera Rara darauf ab, ihre Wiederbelebung bestmöglich zu fördern. Das Projekt hat aber auch ein größeres Ziel: Es soll ein neues Licht auf die gesamte italienische Tradition des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert geworfen werden, eine Tradition, die sich über die gesamte Halbinsel ausbreitete und einen enorm reichen Musikkörper hervorbrachte, der es verdient, einen Platz im internationalen Liedrepertoire einzunehmen. © 2024 Roger Parker/DeepL

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ROGER PARKER (operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter wegen seiner klugen Artikel zu einzelnen Belcanto-Opern bei uns)  ist der Repertoireberater von Opera Rara. Er ist zudem emeritierter Professor für Musik am King’s College London und unterrichtete zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Generaleditor der kritischen Donizetti-Ausgabe,  die bei Ricordi veröffentlicht wird. Seine neuesten Bücher sind Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last 400 Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Musik im London der 1830er Jahre. Von 2013 bis 2018 war er als Direktor des vom ERC finanzierten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College tätig. (Quelle Opera Rara/DeepL)

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Dank an Opera Rara und vor allem Roger Parker für seinen Text zur Ausgabe, den wir mit großem Dank in unserer Übersetzung/DeepL übernahmen. G. H.

Jan Stefanis „Krakauer und Hochländer“

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Hauptstädter und Bewohner anderer Regionen sind sich häufig nicht grün. Von solchen Animositäten erzählt Jan Stefanis Oper Das vermeintliche Wunder oder Krakauer und Hochländer, welche das Verhalten der Polen vor zwei hundert Jahren offenbar so genau einfing, dass sie noch heute gespielt wird. Das mehr als 200-Seiten dicke Beiheft der wie stets ausgesprochen wertig im kleinen Buch-Hardcover verpackten Aufnahme, mit der das Warschauer Chopin Institut die 2017 entstandene Aufnahme eines Singspiels präsentiert, das den Anfang einer polnischen Oper markiert, weiß erstaunlich wenig über Jan Stefani zu berichten.

Das fängt schon beim Geburtsdatum an. Die Aufnahme (NIFCCD 80-81) nennt als Geburtsdatum des Komponisten 1750. Wikipedia und andere Quellen berichten, dass er bereits 1746 geboren wurde. Das Datum seines Todes scheint mit dem 23. Februar 1829 festzustehen. Im betreffenden Text heißt es, Stefani sei ein böhmischer Geiger und Komponist aus Prag gewesen zu sei, der in Warschau als Orchesterleiter am Nationaltheater und an der Kathedrale wirkte und überhaupt sein gesamtes Leben in Polen verbrachte und sich tief in Kultur und Traditionen einlebten. Das ist insofern wichtig, da seine Oper Das vermeintliche Wunder oder Die Krakauer und die Hochländer noch vor Moniuszkos Werken bewusst nationale Tänze und Traditionen einband und der lokalen Vielfalt huldigt. Bereits im frühen 17. Jahrhundert wurden in Polen italienische Opern am Hof in Krakau aufgeführt, worauf zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Warschau die Eröffnung eines öffentlichen Opernhauses folgte und es unter Stanislaus II. neben der Förderung der italienischen Oper bereits zur die Propagierung einer landessprachlichen Oper kam, für die Maciej Kamienskis Glück im Elend (1778) steht. Einflussreicher war Stefanis am 1. März 1794 uraufgeführte Oper, die wie Kamienskis Werk gesprochene Dialoge enthält und bis heute aufgeführt wird, gerne auch von kleinen und Amateurtruppen.

Wojciech Boguslawski, Dichter und Librettist für Jan Stefanis „Krakowiacy i górale“/Wikipedia

Wichtiger als der Komponist ist in Polen der Dichter Wojciech Boguslawski (1757-1829), Begründer einer Theaterdynastie, der den Ort der Handlung aus eigenem Erleben kannte: Mühle und Gasthaus neben einem Kloster im heute zu Krakau gehörenden Dorf Mogila. Alles entspricht eigenem Erleben, ist lebendigt, schildert die Figuren lebhaft und porträtiert die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Eine Inhaltangabe gibt es nicht, aber ein polnisch-englisches Libretto. Der alte Müller Bartlomiej hat eine junge Frau, Dorota. Dorota ist in Stach verliebt, den Sohn des Fuhrmanns Wawrzyniec. Stach ist seinerseits in Basia, Bartlomiejs Tochter aus seiner ersten Ehe, verliebt ist und wird von dieser ebenfalls geliebt. Aus purer Niedertracht versucht Dorota, die vor langer Zeit geplante Hochzeit Basias mit dem Hochländer Bryndas voranzutreiben, der just mit seinen Leuten vorbeischaut, um die alten Absprachen einzufordern. Dem Studenten Bardos gelingt es, den wegen der Absage der Hochzeit wütenden Bryndas und seine ebenso aufgebrachten Hochländer-Freunde zu besänftigen, Stach und Basia zusammenzubringen und die Beziehung Dorotas zu Bartlomiej zu kitten.

Eine Szene aus dem Stück „Krakowiacy i górale“, Nationaltheater in Warschau, Regie und Inszenierung von Leon Schiller, 1950, Foto von Edward Hartwig/National Digital Archives NAC

Die Aufnahme darf sich damit rühmen, das Werk erstmals mit period instruments zu präsentieren. Die Musik wurde im Juli 2017 in Prag aufgenommen, die Sprechtexte im Februar des folgenden Jahres in Warschau. Der Aufnahme unter Václav Luks merkt man den Umstand kaum an. Sie wirkt so springmunter und animiert, wie man es von dieser Abfolge von kurzen Szenen, kleinen Arien, Duetten und Ensembles, Polonaise, Krakowiak, Polka, Mazurka und Marsch der Hochländer erwarten darf, womit – wie es der polnische Originaltitel sagt Krakowiacy i Góraledie Gruppe der Goralen gemeint ist. Eine Schlüsselfunktion kommt dem desillusionierten Studenten Bardos zu, dessen erste Kavatine der Bariton Tomás Král so zart wie ein Erstsemester singt, „Eine harte Welt, eine verdrehte Welt. Alles ist verkehrt. Wertlose Männer, die in Gold schwimmen, ehrliche Männer, die arm und kalt sind“. Jan Martiník trumpft als Hochländer Bryndas mit kraftvoller kerniger Bassfülle auf, Natalia Rubis und der Tenor Krystian Adam geben die jungen Amorosi, zupackender und harscher ist Lenka Cafourková als Dorota, die im ersten Akt eine reizende Polacca hat. Nach dem schlichten Vaudeville-Rundgesang verkünden alle die Essenz von Boguslawskis und Stefanis Spiel im moralisierenden Schlussgesang, in dem es u.a. heißt: „Ehrlichkeit, Treue, Liebe und Einverständnis, mögen sie lange in diesen sanften, bescheidenen Gefilden regieren … Möge die Welt lernen, dass dort, wo das Leben einfach ist, die Tugend immer das reinste Symbol ist.“

Václav Luks, das Collegium Vocale 1704 und Collegium 1704, die Sänger und die hingebungsvoll agierenden Schauspieler lassen uns für einen Moment daran glauben. Rolf Fath

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Jan Stefani: „Krakowiacy i Gorale“/Teatre Wielki Warschau 2024

Dazu auch die Musik-Wissenschschaftlerin Wojciech Boguslawski:  „Cud mniemany; czyli Krakowiacy i Gorale“ [Das vermeintliche Wunder oder Krakauer und Hochländer], das aus den Bedingungen des Augenblicks entstand und fest im dynamischen soziopolitischen Kontext verwurzelt ist, ist seit mehr als zweihundert Jahren eines der beliebtesten polnischen Opernwerke. Auch heute, weit im 21. Jahrhundert, wollen wir dieses Singspiel, das einst den Aufruhr entfachte, noch immer sehen; wir wollen es hören; wir wollen in die Welt eines Dorfes in der Nähe von Krakau eintauchen, wo sich eines Nachmittags unglaubliche und höchst lehrreiche Dinge ereigneten. Sentimentalität? Eine Schwäche für rustikale Folklore? Oder vielleicht ganz einfach und vor allem die Sehnsucht nach den Grundwerten, für die Boguslawski ein kompromissloser Verfechter war. Noch heute, ganze Epochen von der Welt seiner Uraufführung entfernt, ist „Das vermeintliche Wunder“, das aus seinem revolutionären Kontext „extrahiert“ wurde, eine brillante Geschichte – bemerkenswert intelligent in ihrer Einfachheit – über die Werte eines ethischen Lebens, gegenseitigen Respekt und Toleranz, den Vorrang der Tradition sowie den familiären und sozialen Zusammenhalt – und sie ist auch heute noch überraschend aktuell.

Wojciech Boguslawski war zweifellos eine der führenden Persö Wojciech Boguslawski war zweifellos eine der führenden Persönlichkeiten in der Geschichte des polnischen Theaters; man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, dass er den ersten Platz unter dieser Elite einnimmt. Um die Jahrhundertwende gab er viele Jahre lang den Ton für das kulturelle Leben der polnischen Nation an, sowohl als ihr Heimatland existierte als auch als sie dieses Landes beraubt wurde. Als Schauspieler, Übersetzer, Dramatiker, Librettist, Regisseur und Impresario war er ein äußerst talentierter Künstler, ein intelligenter Manager und ein gebildeter Mann, der schnell zu einer Autorität wurde, die auf natürliche Weise die gesellschaftliche Meinung prägte, während er gleichzeitig die Gedanken und Gefühle der Gesellschaft in die Sprache der Kunst übersetzte.

Der Komponist Jan Stefani/Wikipedia

Jan Stefani, ein böhmischer Geiger und Komponist aus Prag, war langjähriger Leiter des Orchesters des Nationaltheaters (Teatr Narodowy) in Warschau (das später seinen nationalen Status verlor) und auch Kapellmeister der St.-Johannes-Kathedrale. Er beschränkte sich nicht darauf, wie so oft, ein Bürger eines anderen Landes zu sein, hier in Polen (höchst ehrenwerte!) Arbeit zu finden, eine Familie zu gründen und bis zu seinem Tod im Land zu bleiben. Nein: Er lernte die polnische Kultur und Musik lieben, und es muss eine kluge, tiefgründige und leidenschaftliche Liebe gewesen sein, denn „Cracovians and Highlanders“ ist ein lebendiges, schillerndes musikalisches Porträt Polens und seiner Traditionen. „An Sonn- und Feiertagen reiste er aufs Land, um den Liedern zu lauschen und den Tänzen unseres fröhlichen einfachen Volkes zuzusehen. Er kehrte in die Sta Sonn- und Feiertagen reiste er aufs Land, um den Liedern zu lauschen und den Tänzen unseres fröhlichen einfachen Volkes zuzusehen. Er kehrte in die Stadt zurück und setzte sich, noch mit einer der ländlichen Melodien im Kopf, hin und vertonte sie nach Boguslawskis Libretto“ (Kazimierz W. Wojcicki, Cmentarz Powqzkowski [Powozki-Friedhof], Band I). Aus Krakowiaks, Mazurs und Highland Dances, die auf Originaltänzen und -liedern basieren, webte Stefani ein edles Gewebe, das in der Volkskultur verwurzelt ist und aus dem auch die Hochkultur hervorgeht; mit leichter und raffinierter Hand konstruierte er ein klassisches Singspiel, das diesem Kulturkreis eigen ist und mit den besten Werken dieses Genres konkurriert, das zu dieser Zeit in Europa populär war.

Jan Stefani: „Krakowiacy Cud mniemany czyli Krakowiacy i Gorale“/ Film 1947/ Wikiwand

So kommen zwei herausragende Persönlichkeiten für ein Werk von besonderer Bedeutung zusammen, das in Bezug auf Propaganda von entscheidender Bedeutung ist und zu Recht als eines der wichtigsten Instrumente der sozialen Agitation am Vorabend des Kosciuszko-Aufstands angesehen wird – zwei Männer, für die das Polentum ein Medium der höchsten Werte war. Die zweite Teilung Polens im Jahr 1773 wird als düsterer Vorbote der bevorstehenden Nöte und Unsicherheiten angesehen. Die letzte, dramatische Hoffnung wird in einen Aufstand gesetzt, eine Massenbewegung, an der auch die unteren sozialen Schichten teilnehmen. Die Premiere von „Die Krakauer“ am 1. März 1774 beweist, dass die Hoffnungen der einen und die Verdächtigungen der anderen hinsichtlich des starken sozialen Einflusses des Werkes völlig gerechtfertigt waren. Das Publikum war begeistert, forderte Zugaben bestimmter Szenen und reagierte euphorisch auf aufeinanderfolgende Anspielungen, die im Text und in der Musik verschlüsselt waren. Das angebliche Wunder erwies sich als zu gefährlich, und nach der dritten Aufführung verbot die Zensur jede weitere. Es war zu spät. Das Werk hatte seine politische Funktion bereits erfüllt; die Botschaft hatte sich wie ein Lauffeuer im Gebiet der alten Republik verbreitet.

Am Teatre Wielki Warschau: 1950 – nagroda państwowa I stopnia dla Władysława Daszewskiego za całokształt twórczości, a w szczególności za plastyczne opracowanie sztuk Teatru Narodowego w Warszawie Jegor Bułyczow i inni Maksyma Gorkiego w reżyserii Władysława Krasnowieckiego oraz Krakowiacy i Górale Wojciecha Bogusławskiego w reżyserii Leona Schillera

Doch es war noch viel mehr geschehen: Ein Singspiel über kulturelle Konflikte, über eine mit einem Happy End gesegnete Liebe und über das Gefühl, in Frieden zusammenzuleben, fand einen festen Platz in den Herzen der Polen und erlangte in den Jahren der Versklavung, als das Wort „Vaterland“ nur eine sehnsüchtige Vorstellung war, eine besondere Bedeutung. Es scheint, dass die Gedanken von Boguslawski und Stefani weit über unmittelbare politische Ziele hinausgingen. Ahnte Boguslawski, ein Intellektueller, der eine wichtige Persönlichkeit in Freimaurerkreisen war, die Unausweichlichkeit des historischen Verlaufs der Ereignisse und schrieb er angesichts der Aussicht auf das, was viele Menschen befürchteten, aber nur schwer glauben konnten – die Auslöschung Polens von der Landkarte Europas – nicht eine kraftvolle, leidenschaftliche Botschaft für seine Nation? Einem solchen Eindruck ist schwer zu widerstehen.

Wie bereits erwähnt, hat „Das vermeintliche Wunder“ die Struktur einer klassischen Parabel – einer Parabel auf vielen Ebenen. Boguslawski, ein Meister der Bühne, plante das Drama nach allen Grundregeln des Theaters und verwebte verschiedene Handlungsstränge auf virtuose Weise miteinander. Es gibt mehrere Konfliktsituationen, die sich gegenseitig bedingen. In einem Dorf in der Nähe von Krakau ist Stach (auf Gegenseitigkeit beruhend) in Basia verliebt; Dorota liebt (unerwidert) Stach; Dorota ist die junge Frau des alten Bartlomiej, Basias Vater, und somit auch Basias Stiefmutter. Aus Eifersucht und teilweise aus purer Boshaftigkeit versucht sie, die lang geplante Hochzeit zwischen Basia und Bryndas, einem Hochländer, der gerade mit einer ganzen Gruppe von Hochlandjungen und -mädchen angekommen ist, durchzusetzen, um Anspruch auf das Mädchen zu erheben, das sich ihm versprochen hatte. Er denkt nicht daran, sie aufzugeben: Versprechen müssen gehalten werden, und das schöne Mädchen hat ihn sehr in Versuchung geführt. Hilfe für Basia und Stach kommt unerwartet von Bardos, einem Studenten, der wegen seiner Schlauheit und seiner scharfen Zunge der Universität verwiesen wurde. Bardos ist vom Leben desillusioniert.

Jan Stefani „Krakowiacy“/ Künstlerisches Archiv des Theaters. J. Słowacki Krakau 1928/ Teatre Krakowie

Ehrlichkeit, Treue, Liebe und Einverständnis, mögen sie lange in diesen sanften, bescheidenen Gefilden regieren; möge die Mode unter ehrlichen Männern niemals unsere Köpfe verdrehen oder unsere Herzen verderben … Möge die Welt lernen, dass dort, wo das Leben einfach ist, die Tugend immer das reinste Symbol ist.

Diese Worte enthalten die Essenz der Idee, die dem gesamten Werk zugrunde liegt. Dennoch wäre es ein Fehler, „Das vermeintliche Wunder“ als einfache Lobrede auf Folklore, das Landleben und traditionelle Sitten und Gebräuche zu interpretieren.

Boguslawski verweist auf grundlegende soziale Werte und gibt der Nation, die er in großer Gefahr sieht, einen unschätzbaren Hinweis darauf, wie sie ihre Kultur schützen, ihre Kontinuität sichern und damit – nicht durch Waffen oder gewaltsame Revolten, sondern durch bewusstes und konsequentes Handeln, das möglicherweise Jahrzehnte andauert, ihr Überleben als zusammenhängende Gemeinschaft garantieren kann. Denn es ist die Kultur, die in den besten Traditionen verwurzelt ist, die über das Sein oder Nichtsein der Nation entscheidet; es ist die Kultur, die am wenigsten von politischen, geografischen oder wirtschaftlichen Bedingungen abhängig ist, die das Kostbarste für jede Nation trägt, das, was sie von Generation zu Generation weitergeben kann, was ihre Besonderheit und ihre spirituelle Kraft ausmacht. Die Volkstradition, die den Status eines Eckpfeilers der Kultur erlangt hat, auf dem die Hochkultur aufbaut, wird als reine Form des kreativen Ausdrucks wahrgenommen, als die spezifischste Form der Nation, die Künstler und Gelehrte mit ihrer Einfachheit in ihren Bann zieht – sie wird als unverzichtbares Bindeglied in der kulturellen Kontinuität dargestellt.

Immer und ausnahmslos, insbesondere in Zeiten der Bedrohung und Versklavung, in denen nationale Werte nicht frei gepflegt werden können, ist es die Familie, die den Mittelpunkt für die Bewahrung dieser Werte, der Sprache, der Musik und der Tradition bildet. Der Zusammenhalt und die Stärke der Familie und ihre Unterordnung unter bestimmte Regeln sind vielleicht die einzige Garantie für diese kulturelle Kontinuität, ohne die die Nation ihre Identität verliert.

Jan Stefani „Krakowiacy“/ Ferdynand Trojanowski (Stach), Andrzej Szczepkowski (Bardos). Fot. Edward Hartwig Archiwum Teatru Narodowego Warschau 1950/ Teatre Wielki Warschau

Wenn wir das faszinierende Material dieses weisen und charmanten Singspiels für uns entdecken, fragen wir uns unweigerlich, was Krakauer und Hochländer heute repräsentieren, wenn der Kontext von Unabhängigkeit und Aufstand fast ausschließlich für Historiker und Theoretiker von Interesse ist und die politischen Anspielungen, die für einen Zuhörer des 18. oder 19. Jahrhunderts vom ersten Wort oder musikalischen Satz an verständlich waren, für das heutige Publikum in Polen oft nicht mehr erkennbar sind – ganz zu schweigen vom Publikum in anderen Ländern. Das Singspiel von Boguslawski und Stefani ist außerhalb Polens im Wesentlichen unbekannt. Innerhalb des Landes ist es jedoch nach wie vor sehr beliebt und die aufeinanderfolgenden Produktionen, die meist traditionell inszeniert werden, ziehen ein großes Publikum an. Darüber hinaus scheint die eigentliche Inszenierung – obwohl dies eine heikle Angelegenheit ist – von untergeordneter Bedeutung zu sein: Das Drama (voller Humor) und die Musik sprechen wunderbar für sich selbst: Die klugen, fließenden Verse sind witzig, suggestiv und intelligent; die leichte, anmutige, wunderbare Musik, in perfekter Symbiose mit den Worten, führt die Erzählung auf interessante Weise, fesselt unsere Aufmerksamkeit und unterhält uns. In der Tat ist Cracovians vor allem – und das muss die Absicht von Boguslawski und Stefani gewesen sein – darauf ausgelegt, zu unterhalten, das Ohr (und das Auge) zu erfreuen, die Sinne zu beglücken und uns dabei zum Guten zu bewegen. Es ist als raffinierte Unterhaltung für verschiedene Gruppen gedacht, unabhängig von ihren Bedürfnissen, Erwartungen und Fähigkeiten.

Jan Stefani „Krakowiacy“/Józef Węgrzyn sang die Tenorrolle, hier im Kostüm 1913/ Facebook

Vielleicht sind es gerade diese Farben, dieses klare Wertesystem und diese Einfachheit der Ordnung der Dinge, die Zuschauer und Zuhörer heute besonders ansprechen. In einer Welt, die von Globalisierung und der Hypertechnologisierung im Grunde aller Lebensbereiche durchdrungen ist, in der die Zeit, die man mit seinen Mitmenschen verbringt, um Gedanken und Gefühle auszutauschen, so knapp ist und doch so sehr nachgefragt wird, und in der die Figur der Familie keine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit mehr ist, sehnen wir uns vielleicht am meisten danach, in Frieden und Ruhe (trotz allem) einzutauchen, in die Freuden und Leiden des Lebens im Einklang mit dem ursprünglichen Rhythmus der Natur, der uns geziemt. Genießen wir also diese musikalisch-verbale Erzählung, die aus der Perspektive einer Welt, die sich von der Welt, über die Boguslawski und Stefani sprechen und in der sie lebten, grundlegend unterscheidet, fantastisch aktuell bleibt, nicht weniger unterhaltsam und fesselnd, voller Charme und zeitloser Weisheit. Agnieszka Klopocka/DeepL

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Den Artikel von Agnieszka Klopocka entnahmen wir dem Beiheft zur Aufnahme bei NIFF. Redaktion G. H. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

 

Eindrucksvoller Erstling

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Im Mai 1884 wurde im Teatro dal Verme die erste Fassung von Giacomo Puccinis Erstlingswerk Le Villi uraufgeführt, sechs Jahre später nahm sich in Hamburg wahrscheinlich Gustav Mahler persönlich des Werks an, und am 2. Juni 2024 führte die Berliner Operngruppe  das Werk im Berliner Konzerthaus auf. Von noch früheren Berliner Vorstellungen weiß das schlaue Wikipedia jedenfalls nichts zu berichten, ist ansonsten sehr genau mit der Nennung einer Interpretation durch das Sängerpaar Mietta Sighele und Veriano Lucchetti 1972,  der Erwähnung einer Bonner Inszenierung mit Katia Ricciarelli im Jahre 1992, dazu 2001 in Lecce, wo der italienische Superstar Pippo Baudo, ihr damaliger Gatte,  den Erzähler gab, mit der im entdeckungsfreudigen Martina Franca, wo Bruno Aprea den Dirigentenstab für den jungen José Cura schwang, und schließlich die bei Dynamic als Blu-ray erschienene Produktion aus Florenz.

Mit Le Villi dürften die Möglichkeiten , was das Entdecken unbekannterer Puccini-Opern betrifft, allerdings fast bereits erschöpft sein, denn die einzige weitere Oper vor der sofort und dauerhaft zur Erfolgsoper werdenden Manon Lescaut, der düster-leidenschaftliche Edgar und höchstens noch die operettennahe Rondine erfreuen sich weniger Aufmerksamkeit als eine Tosca oder Butterfly.

Von Le Villi gibt es vier unterschiedliche Fassungen. Der Musikverleger Eduardo Sonzogno hatte 1884 einen Wettbewerb für einen Operneinakter ausgeschrieben, zu dessen Teilnahme der junge Puccini von Amilcare Ponchielli ermuntert wurde. Das Werk erlangte zwar keinen Preis, wohl aber die Möglichkeit zu einer Aufführung in Mailand, wo der junge Mascagni im Orchestergraben am Kontrabass gesessen haben soll, der sechs Jahre später Sonzogno mit seiner Cavalleria Rusticana eine noch größere Freude bereiten sollte als Puccini mit seinen Villi. Die durch die Wettbewerbsregeln aufgezwungene Einaktigkeit erwies sich schnell als Erfolgshemmung, es gab noch drei Überarbeitungen, empfohlen auch durch den Konkurrenten Sonzognos, Ricordi, wobei der Komponist des Mefistofele , Arrigo Boito, die Aufführung der zweiten Fassung in Turin durch eine Subskription ermöglichte. In der ersten Fassung noch nicht vorhanden gewesen waren die Arie der Anna, der Frauenchor und die Arie des Roberto, das populärste Stück des Werks. Die dritte Fassung wurde wieder in Mailand, aber an der Scala, aufgeführt, immerhin Roberto Faccio stand am Dirigentenpult.

Dem Ballettfreund mögen Le Villi sehr vertraut erscheinen, ist doch das Ballett Giselle von Adolphe Adam  ähnlichen Inhalts. Es geht um von ihrem Geliebten oder Bräutigam noch vor der Hochzeit aus Gram über das Verlassenwordensein verstorbene Mädchen, die sich gemeinsam mit vom gleichen Schicksal betroffenen Gefährtinnen am Ungetreuen rächen, indem sie ihn zu einem tödlich endenden Tanz zwingen. Das Ballett Giselle beruht auf der Fassung, die Heinrich Heine dem Stoff angedeihen ließ, Le Villi hingegen auf Alphonse Karrs Les Willis.   

In der konzertanten Aufführung in München im Oktober 2024 durch das Münchner Rundfunkorchester unter Ivan Repušiċ zeigt sich die frühe Meisterschaft des Komponisten, der in der Arie des Roberto „Torna ai felici dì“ bereits einen schmachtenden Rodolfo oder Cavaradossi hörbar werden lässt, Qualitäten, die der Chinese Kang Wang mit zärtlichen Piani, mit einem frischen, jugendlich klingenden Tenor beglaubigt. Auch die Anna von Anita Hartig setzt einen in zärtlicher Melancholie erklingenden Sopran ein, der sich in der Höhe schön entfalten kann. Beide Stimmen passen sehr gut zueinander. Dem unglücklichen Brautvater Guglielmo verleiht Boris Pinkhasovich mit sonorem Bass Würde und vokalen Anstand. Auch bei den rachsüchtigen Villi mitsingen dürfen die männlichen Mitglieder des Chors des Bayerischen Rundfunks. Ivan Repušiċ ist mit langjähriger Erfahrung im italienischen Fach natürlich der angemessene Sachwalter Puccinis am Dirigentenpult. Man wünscht sich das Werk in Kombination mit einem anderen, ebenfalls rund einstündigen Zwilling öfter als bisher auch abendfüllend auf der Bühne (BR Klassik 900359). Ingrid Wanja

Glitter and be Gay Reloaded

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Unglaubliche achtzehn Jahre sind seit der Erstausgabe von Kevin Clarkes Glitter and be Gay-Buch von 2007 vergangen. Es war als das damals „weltweit (!) erste Buch, das sich mit Homosexualität und Operette“ beschäftigte: ein Solitär. Und ist es geblieben. Da aber „seit 2007 so unendlich viel passiert ist, kam die Idee auf, das lange vergriffene Original nicht einfach neu aufzulegen, sondern eine „Reloaded-Version zu gestalten zu der queeren Operettenrevolution, die seither stattgefunden hat“. Für die Reloaded-Ausgabe überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Herausgeber Kevin Clarke das Buch, dessen ursprünglicher Untertitel „Die freche Originaloperette und ihre schwulen Verehrer“ in der Reloaded-Ausgabe zu „Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer“ wurde. Zu der queeren Operettenrevolution zählt Clarke „die zehn Jahre Intendanz von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin“ mit Ausgrabungen in den Inszenierungen Koskys sowie anderer Regisseure, „Die Uraufführung der Der Operette für zwei schwule Tenöre von Florian Ludewig und Johannes Kram, das Sci-Fi-Singspiel „Planet Egalia über trans Identitäten im Weltall, aber auch das queerfeministische Oper*ettenkollektiv tutti d’amore und Produktionen wie Magna Mater, als Mash-up von Franz von Suppés Die schöne Galathée und Paul Linckes Lysistrata“.

Gegliedert ist das Buch mit dem hübschen Bernstein-Titel in Grundsatzartikel und zahlreiche wie Häkeldeckchen unterlegte kurze „Operettenmomente“, in denen Regisseure, Macher und Intendanten von Axel Ranisch (über Dagmar Manzel) bis Josef Köpplinger (über seine Großtante), von Tilmann Krause (über Elisabeth Schwarzkopf) bis zum jüngst verstorbenen Bernd Feuchtner (über Schostakowitschs Moskau, Tscherjomuschki) sich zu „Mein schwulster Operettenmoment“ bekennen. Auch der Leipziger Intendant Tobias Wolff ist dabei, an dessen Musikalischer Komödie das Reloaded-Buch am 28. März im Rahmen der Leipziger Buchmesse präsentiert wird. Das will man haben. Die Abbildungen könnten bei einer Neuausgabe etwas größer, der lilafarbene Untergrund bei den Operettenmomenten muss nicht sein. 

Kevin Clarke/ Foto Sven Serkis

Auf einige ältere Artikel wurde verzichtet, neue kamen dazu. Der Anspruch ist ein wissenschaftlicher, was beim 8-Seiten-und zehn-Zeilen-Aufsatz über das „Operettenpublikum in der deutschen (Nicht-)Besucher*innenforschung“ mehr als vier Seiten an Anmerkungen zur Folge hat. Autor Tillmann Triest stellt die „vage Vermutung“ an, „dass bei Koskys Operettenarbeiten an der Komischen Oper Berlin eher ältere schwule Männer anzutreffen sind und bei den Produktionen des queerfeministischen Oper*ettenkollektivs tutti d’amore in der Freien Szene tendenziell eher junge Personen, die sich als queer identifizieren“. Weitgefächert die Auswahl der Autoren, deren Geburtsjahre sechs Jahrzehnte auseinanderliegen. Die einen verdanken „Erkennen Sie die Melodie“ und dem “Blauen Bock“ glühende Fernseh-Momente und entdeckten Rothenberger & Co als schwule Sehnsuchtsfiguren, die jüngere Generation gesteht, dass den Studenten im Musiktheaterseminar Namen wie Lucille Ball, Zarah Leander und Clivia absolut unbekannt waren. Gut deshalb, dass neben Christoph Domkes Ausführungen zur „Fernsehoperette als Coming-out Hilfe“ auch sein Text über das „Zauberwort Camp“ aus der alten Ausgabe übernommen wurde.

Die bunte Mischung an Themen und Autoren bringt nicht die Dramaturgie der Texte durcheinander, die alles in allem zwar keine Kulturgeschichte der Operette bilden, aber trotz des manchmal etwas verengten Blicks einer solchen recht nahekommen. Etwa durch den Text „Raus aus dem Schrank! Eine Evolutionsgeschichte der Repräsentation“, in dem Clarke durch die lebendige Verbindung von Theater-, Literatur- und Sittengeschichte und die Fülle von Details und Informationen fasziniert und den Bogen von Offenbachs île de Tulipatan, die 1868 das Thema gleichgeschlechtliche Ehe behandelte, bis zu The Beastly Bombing von 2006 über zwei schwule Terroristen schlägt. Und zu dem Schluss kommt, „dass ausgerechnet die vermeintlich altbackene und verstaubte Gattung Operette ein Vorreiter und früher Verfechter der sexuellen Befreiung und Selbstbestimmung im Kern viel moderner ist, als ihr heute gemeinhin zugetraut wird“. Spannend auch Clarkes Ausführungen zu „Deutschlands Greatest Showman“, dem in Breslau geborenen Erich Karl Löwenberg, der sich in Berlin als Erik Charell neu erfand.

Christophe Mirambeau schreibt über die „années folles“ und „männliche und weibliche Homosexualität in den Pariser Operetten der 1920er und 1930er Jahre“, was zum schwulen Operettenstartenor Luis Mariano führt. Richard C. Norton beschreibt in „Mad about the Boys“ Leben und Werk von Noël Coward und Ivor Novello, „beide Briten, beide homosexuell“, beide Operettenkomponisten, wobei Coward dazu noch Schauspieler, Autor und Conférencier war; endlich kann ich einige Titel aus „Joan Sutherland sings Noel Coward“ besser einordnen, darunter die von der Massary kreierten Lieder aus der Operette Operette über einen alternden Wiener Star. Novello schrieb u.a. mit The Dancing Years die einzige Operette, „die jemals explizit und kritisch von Nazis und der Situation jüdischer Komponisten nach dem Anschluss Österreichs handelte“. Brian Valencia untersucht „Internalisierte Homophobie und queere Subtexte“ in Leonard Bernsteins Operette Candide“, aus der Kunegundes sprichwörtlich gewordene Arie „Glitter and be Gay“ stammt. Nahe gehen Texte, die an einzelne Persönlichkeiten erinnern. Etwa den Sänger Paul O’Montis, den Vortragskünstler Wilhelm Bendow, den Librettisten Hans Müller, „die Diva Assoluta der erotisierten Operette“ Fritzi Massary, zu der Klaus Thiel Details zusammengetragen hat, die auch Kennern neu sind, und die suggestive Beschreibung Richard Taubers und seines Gesangs durch John Rigby (Männerschwarm Verlag ISBN 978-3-86300-381-4).  Rolf Fath

Hallenser Festspieldokument

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Prominent besetzt war eine Produktion von Händels Lotario bei den Händel-Festspielen Halle 2023, die NAXOS als  Live-Aufnahme jetzt auf zwei CDs herausgebracht hat (8.660570-71). Das Dramma per musica hatte seine Premiere 1729 am King´s Theatre in London und stellt in einer Handlung aus Rache und Heldentum die römische Königin Adelaide ins Zentrum. Ihr Mann wurde vom  italienischen König Berengario ermordet, der gemeinsam mit seiner Gattin Matilde erwartet, dass die Witwe beider Sohn Idelberto heiratet. Dieser liebt Adelaide tatsächlich, sie aber verweigert sich einer Verbindung mit ihm und fühlt sich dem deutschen König Lotario nahe. Mit ihm gibt es am Ende dann auch ein lieto fine. Die italienische Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli ist eine Spezialistin im Barockfach und regelmäßiger Gast bei internationalen Festivals der Alten Musik. Sie profiliert die Königin, die mit Anna Maria Strada del Pó von einer legendären Sängerin kreiert wurde, eindringlich, auch wenn sie im Auftritt bei „Quel cor che mi donasti“ zu heulenden Tönen neigt. Aber am Ende des 1. Aktes hat sie in „Scherza in mar“ Gelegenheit, ihre Virtuosität mit jagenden Koloraturgirlanden zu zeigen. „Menti eterne“ im 2. Akt lässt  dann wieder ihren Hang zur Larmoyanz hören.

Büste von Bernacchi
(Künstler unbekannt, 19. Jahrhundert,
Museo internazionale e biblioteca della musica von Bologna)/Wikipedia

In der Titelrolle, die bei der Uraufführung von dem renommierten Altkastraten Antonio Maria Bernacchi wahrgenommen wurde, ist mit Carlo Vistoli ein neuer Stern am Counter-Himmel zu hören. Nach seiner Aufnahme in William Christies Ensemble Le Jardin des Voix startete er eine bedeutende Karriere mit Gastspielen in Rom, Madrid, Wien, San Francisco und Monte-Carlo. Unvergesslich ist für mich sein Auftritt als Glucks Orfeo an der Berliner Komischen Oper 2022 in Michielettos streitbarer Inszenierung. Wie damals verströmt er sich auch in Halle mit seiner wunderbaren Stimme voller Kraft, Geschmeidigkeit und sinnlichem Reiz. Davon zeugt sogleich sein Auftritt, „Rammentati, cor mio“, mit schwärmerischem Klang und schmeichelnden Nuancen. Seine zweite Arie, „Già mi sembra al carro avvinto“, ist von energischem Duktus und Vistoli serviert sie mit gebotener Entschlossenheit. Hinreißend die zärtlichen Töne bei „Tiranna, ma bella“ zu Beginn des 2. Aktes, wie auch die träumerischen an dessen Ende bei „Non disperi peregrino“. Ein Paradebeispiel für die Kunst des Sängers ist die Arie „Vedrò più liete“ im 3. Akt, in der Bravour und Ausdruck eine perfekte Einheit bilden. Und mit Adelaide darf er das jubelnde Schlussduett „Sì, bel sembiante“ singen, in welchem sich beide Stimmen gebührend verblenden.

Als Berengario wirkt der polnische Tenor Krstian Adam mit. Mit „Grave è ´fasto di regnar“ und „Non pensi quell´altera“ fallen ihm die beiden ersten Arien des Werkes zu, in denen er seine klangvolle, kultivierte Stimme präsentieren kann. Den 2. Akt eröffnet er mit Regno e grandezza und beweist hier seine Flexibilität. Im 3. Akt hat er mit „Vi sento“ eine ergreifende Szene von schmerzlicher Intensität.

In der Partie seiner Gattin Matilde, die Händel für die auf Hosenrollen spezialisierte Alitstin Antonia Merighi schrieb, ist Anna Bonitatibus zu erleben, die im Jahr der Lotario-Produktion mit dem Händel-Preis der Stadt Halle ausgezeichnet wurde. Die italienische Mezzosopranistin setzt gleich in ihrem munteren Auftritt, „Vanne a colei che adori“, ein Achtungszeichen mit betörend schönem Klang und pointiertem Gesang. Reizvoll ist die Koketterie in „Orgogliosetto va l´augelletto“, stupend das rasante Tempo der Koloraturen in „Arma lo sguardo“.

Als Idelberto ist mit dem Polen Rafal Tomkiewicz ein weiterer Countertenor zu hören. Er beginnt noch vor dem Titelhelden mit weicher, sanfter Stimme, welche die Figur eines Sohnes perfekt imaginieren kann (Per salvarti, idol mio). Im 2. Akt hat er bei „Bella, non mi negar“ Gelegenheit für kosende und feine Spitzen-Töne. Die Besetzung komplettiert der südkoreanische Bass Ki-Hyun Park als Berengarios General Clodomiro. Mit seinen Arien „Se il mar promette calma“ und „Non t´inganni la speranza“ bringt er profunde tiefe Töne ein.

Das Händelfestspielorchester Halle auf historischen Instrumenten musiziert unter seinem Leiter Attilio Cremonesi, der der dramatisch orientierten Musik und ihrer  Virtuosität zu gebotener Wirkung verhilft. Schöne Akzente setzt er in der dreiteiligen Ouverture, der heroischen Sinfonia zu Beginn des 2. Aktes und jener, welche den 3. Akt einleitet.

Interessant ist der Vergleich mit der verfügbaren Aufnahme von 2004 bei der deutschen harmonia mundi unter Alan Curtis, wo keine Countertenöre mitwirken und die Partien des Loltario und Idelberto mit einem Mezzo und einem Alt besetzt sind. Barock-Liebhaber können also wählen, aber jeder der beiden Aufnahmen hat ihre Meriten. Bernd Hoppe

Velluti-Ehrung

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Schon mit seiner CD Arias for Caffarelli erinnerte der Altus  Franco Fagioli 2013 an einen berühmten Kastraten und bei den Salzburger Pfingstfestspielen gab er 2014 einen Arienabend, der dem letzten berühmten Kastraten, Giovanni Battista Velluti, gewidmet war (wobei natürlich heutige Falsettisten nur einen Ersatz für die zu ihrer Zeit hochgepriesenen Kastraten darstellen). Der 1780 geborene Sänger wurde schon mit acht Jahren kastriert und in Bologna ausgebildet. 1800 debütierte er in Florenz, sang danach in mehreren Uraufführungen, so in Werken von Nicolini, Guglielmi, Mayr, Mercadante. Morlacchi, Rossini (Aureliano in Palmira) und Meyerbeer (Il crociato in Egitto). 1825 triumphierte er In London, ging jedoch nach Italien zurück, wo er letztmalig 1853 in Meyerbeers Crociato auftrat und 1861 verstarb. Gerühmt wurden die außergewöhnlich schöne Stimme, auch wegen ihrer Kraft und Beweglichkeit, sowie seine eindrucksvolle Stimmbeherrschung.

Nun veröffentlicht Château de VERSAILLES eine Platte mit Franco Fagioli und eben seiner Konzeption, der Hommage an eine Legende, die 2024 in Versailles entstand (CVS162). In der Arien-Auswahl gibt es freilich Unterschiede zwischen dem Konzert und der CD. In Salzburg sang Fagioli Szenen aus Rossinis Aureliano in Palmira und Meyerbeers Il crociato in Egitto. Auf der Platte ist der Schwan von Pesaro vertreten mit seiner Kantate Il vero omaggio, aus der die Arie „Al conforto inaspettato“ erklingt und den bravourösen Schlusspunkt der Anthologie markiert. Sonst aber findet man in der Sammlung eher unbekanntere Komponisten, einzig Salvatore Mercadante ist noch ein geläufiger Name. Aus seiner Oper Andronico stellt Fagioli zwei Szenen des Titelhelden vor – die Cavatina „Era felice un dí/Sì bel contento in giubilo“ und die Gran Scena „O solinghe dimore/Soave immagine/Non tradirmi“. Erstere ist ein Stück von lyrischer Noblesse mit feinen Verzierungen, welche der Solist mit hoher Kultur umsetzt, die zweite von ähnlich hohem Anspruch und ähnlich souveräner Bewältigung durch den Interpreten.

Giovanni Battista Vellutti sang den Tebaldo in der Venezianischen Uraufführung von Morlacchis „Tebaldo ed Isolina“/ Wikipedia

Die Reihe der unbekannteren Tonsetzer beginnt gleich mit dem Auftakt des Programms, bei dem eine Komposition von Paolo Bonfichi (1769 – 1840) vorgestellt wird – die Scena und Cavatina des Lotario, „Dolenti e care immagini/Vedrai quest´anima“, aus Attila. Fagioli kann hier den beeindruckenden Umfang seiner Stimme und deren aufregende Sinnlichkeit demonstrieren. Danach folgt Giuseppe Nicolini (1762 – 1842) mit sogar drei  Werken. Aus Balduino erklingen Recitativo ed aria des Titelhelden, „Ma i figli miei/Vederla dolente“. Der virtuose Zuschnitt dieser Nummer lässt Fagioli brillieren und verstehen, dass er bereits mit Erfolg den Arsace in Rossinis Semiramide gesungen hat.  Aus Traiano in Dacia ist die Aria des Decebalo, „Ah se mi lasci o cara“ zu hören, auch diese in rossinischer Manier komponiert. Schließlich stellt der Sänger aus Carlo Magno die ausgedehnte Scena e rondo des Vitekindo, „Ecco o numi compiuto/Ah quando cesserà/Lo sdegno io non pavento“, vor. Mit dramatischem Rezitativ, empfindsamer Arie und gestrafftem Schlussteil ist sie ganz im Stil des Belcanto konzipiert und gibt dem Sänger Gelegenheit zur Ausstellung seiner gestalterischen Fähigkeiten. Das Trio der Unbekannten vollendet Francesco Morlacchi (1784 – 1841) mit seiner Oper Tebaldo e Isolina, aus der die Scena e romanza des Tebaldo, „Notte tremenda… Caro suono lusinghier“ ertönt. Fagioli wartet hier mit einer reichen Palette von stimmlichen Farben auf und setzt das Brustregister effektvoll ein.

Der Solist wird begleitet vom Orchestre de l´Opéra Royal unter Stefan Plewniak. Der polnische Dirigent leitet das Orchester seit der Saison 2019/20 und hat für das Label Château de VERSAILLES bereits mehrere bedeutende Alben aufgenommen. Seine Affinität nicht nur zum Barock, sondern auch zum Stil der Grand opéra um Rossini und Meyerbeer ist in jedem Takt spürbar (11.03.25). Bernd Hoppe

Nachklang

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Irritationen und Argwohn löst beim Werktreue liebenden Opernfreund bereits das Cover der Naxos Bluray aus, auf dem Richard Strauss‘ Oper Arabella angekündigt wird und auf dem sich prügelnde Mannsbilder zu sehen sind; verstärkt wird das unbehagliche Gefühl durch das Foto auf dem Booklet, das ein Schnurrbart tragendes androgynes Wesen wohl kurz vor dem Orgasmus zeigt, und die Silberscheibe selbst ziert ein höchst gegenwärtig wirkendes Paar in bester Laune: Zdenka weiterhin mit Bärtchen und Matteo mit modischer Haarknotenfrisur. Und Arabella? Das Hassobjekt des kämpferischen Feminismus („Du sollst mein Gebieter sein!“) fand wohl nicht das Interesse des Regisseurs Tobias Kratzer, dessen Zuneigung ganz offensichtlich nicht einmal der das Mädchensein herbeisehnenden, aber aus Kostengründen zum Mannsein verdammten jüngeren Schwester der Titelheldin galt, sondern der mit seiner Einbeziehung alles nur denklichen Queerseins sich den Matteo filmisch zum Vorspiel zum dritten Akt erotisch an Schnäuzer und (weiblichen)Brüsten abarbeiten lässt, und irgendwann denkt man sich in Eugen Onegin versetzt, nur dass nicht Lenski (Matteo) erschossen wird, sondern sich Zdenka zwischen die Duellanten wirft..

Dabei beginnt es ganz traditionell wirkend und erst allmählich irritierend übertreibend, was szenischen Naturalismus betrifft, in einem mit allen Insignien der Belle Époque ausgestatteten Wiener Hotelzimmer, mit ebenso prachtvoller Rezeption und nur ab und zu störend dazwischen herum huschenden Kameraleuten, die Schwarzweißbilder, mal von Gesichtern, mal auch nur von Stiefeln auf die Leinwand werfen. Der zweite Akt spielt nicht in einem, sondern vor einem Ballsaal, Bauhausstil macht sich breit und die üppigen Kostüme des ersten Akts (Bühne Rainer Sellmaier, Kostüme eben der plus Clara Hertel) weichen allmählich Zwanziger-Jahre-Chic, SA-Leute brechen prügelnd herein, und der dritte Akt spielt schließlich auf der bis auf eine Bank leeren Bühne, auf der die  sich emanzipiert habende Arabella mit einer Plastikflasche erscheint, um den sich recht lächerlich dagegen wehrenden Mandryka nass zu spritzen. Hurra, sie hat sich emanzipiert! Im Programmheft heißt es, dass „ihr Verhältnis neu verhandelt“ werden muss. Aber auch die ältere Generation lässt sich in puncto sexueller Befreiung nicht lumpen , denn Adelaide zog bereits im zweiten Akt mit einem der gräflichen Freier an der Hundeleine ab. Tobias Kratzer bekam den kürzlich verliehenen Preis für die beste Regie nicht für diese Arbeit, sondern für den mittleren Teil der aus Arabella, Intermezzo und Die Frau ohne Schatten stammenden Trilogie an der Deutschen Oper Berlin.

Da einige der Sänger am Premierenabend indisponiert waren, die kurzfristig eingesprungene Sängerin der Titelpartie die dritte nach zwei Absagen war, stammen die Aufnahmen aus zwei Vorstellungen, darunter auch der Schlussapplaus aus der Premiere, der einen heftigen Buh-Sturm auf das Regieteam niedergehen und einige Missfallensbekundungen auch den Dirigenten treffen sah.

Kurzfristig eingesprungen war Sara Jakubiak als Arabella mit schöner optischer und unangefochtener auch vokaler, allerdings etwas kühl klingender Präsenz. Umso inniger und dabei noch mit strahlenden Höhen ausgestatteter Sopranstimme begabt klang die Zdenka von Elena Tsallagova, die allerdings es auch der Regie zu verdanken hatte, dass sie zur eigentlichen Heldin des Werks wird. Die Familie komplett war mit dem die Bühne dominierenden Paar Waldner vom basspotenten Albert Pesendorfer und Gattin Adelaide in Gestalt und mit Stimme der hochpräsenten Doris Soffel. Russel Brauns Bariton klingt auf der Aufnahme wärmer und runder als aus der Premiere erinnerlich, der Tenor von Robert Watson, der den Matteo singt, klingt weniger strahlend als der des Elemer von Thomas Blondelle. Szenisch stiefmütterlich behandelt, stellt sich die Fiakermilli von Hye-Young Moon umso strahlender dar.  Aber ist es um den deutschen Sängernachwuchs oder seine Ausbildung so schlimm bestellt, dass nur die ältere Generation sich noch auf den Bühnen behaupten kann?  Nicht nur die Regie war für alle drei Straussopern einer Hand anvertraut, auch Nochchefdirigent Donald Runnicles dirigierte nicht nur die erste, sondern auch die beiden weiteren Strauss-Werke und das mit leuchtendem Orchesterklang und, wo angebracht, straffem und  doch zugleich die Schönheiten der Partie auslotendem Spiel sich als Straussdirigent bewährend (Naxos 800182V). Ingrid Wanja        

 

Akustische Freude

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Bereits 2012 gab es aus der Donizetti-Stadt Bergamo eine DVD und CD von des berühmten Sohnes Frühwerk Akustische Freude,  L’aio nell‘ imbarazzo, Der Erzieher in Nöten, allerdings die zweite Fassung mit gesprochenen Rezitativen und hinzugefügten Arien und unter dem Titel Don Gregorio, 1826 für Neapel. Die Urfassung existiert seit 1984 als CD und wurde in Turin unter Bruno Campanella aufgenommen, und bereits damals gehörte zur Besetzung Alessandro Corbelli, der großartige Buffo, der auch noch in der jüngsten Aufnahme aus Bergamo vertreten ist, wieder als leidgeprüfter Vater zweier liebesdurstiger Söhne, die von ihrem Erzieher vom weiblichen Geschlecht ferngehalten werden sollen, wobei der Ältere bereits heimlich verheiratet und Vater eines Sohnes ist, während der Jüngere wohl eine Beute der Haushälterin werden wird. 1959 tauchte das Werk zum ersten Mal in Bergamo nach Aufführungen im entdeckungsfreudigen Wexford auf. In Turin waren nicht nur die beiden älteren Herren mit gestandenen Sängern, darunter Enzo Dara, besetzt, sondern auch das jugendliche Personal mit Luciana Serra und Paolo Barbacini, Bruder des gleichnamigen Dirigenten. In Bergamo hingegen pflegt man die schöne Tradition, die mittleren und kleineren Partien mit Masterclass-Studenten der Bottega Donizetti zu besetzen und so jungen Sängern zu wertvoller Bühnenerfahrung zu verhelfen.

Auf den Buffo-Spuren von Alessandro Corbelli bewegte sich lange Zeit auch der Bass-Barion Alex Esposito, der inzwischen zum basso profondo mit Partien wie Filippo und Fiesco herangereift ist. 2022 vernimmt man in seiner Stimme, die er dem Gregorio verleiht, bereits ein reiches Farbspektrum, Lust an Irrsinnstempi, in denen er seinem Affen so richtig und vergnüglich Zucker geben kann, man hört der Stimme an, dass der Sänger mit großem Spaß bei der Sache ist. Etwas matter klingt naturgemäß Alessandro Corbelli, jedoch mit allen Buffo-Wassern gewaschen und seine anspruchsvolle Arie zu Beginn zwar altersmilde, aber  um alle Finessen des Donizetti-Gesangs wissend und sie auch anwendend.

Eine sehr anspruchsvolle Arie am Schluss des Zweiakters hat die Gilda, Ehegattin des älteren Bruders, mit „No, caro padre, che tal ti chiamerò“, in der Marilena Ruta im Unterschied zum vorangegangenen eher schüchternen Einsatz,  mit raffinierten Verzierungen und flinken Koloraturen noch überzeugender wirkt als bereits zuvor mit zart-zärtlichem Gesang ihres mädchenhaften Soprans. Der Mezzosopran, der für die als ältlich bezeichnete Leonarda von Caterina Dellaere eingesetzt wird, ist einfach zu jugendlich und frisch, als dass er dies beglaubigen könnte.  Mit einem Tenor  besetzt ist der Enrico, dem Francesco Lucii ein herb-frisches Timbre, eine sinnvolle Phrasierung, aber wenig dolcezza verleiht, so dass am Ziel tenore di grazia noch etwas gearbeitet werden müsst.  Lorenzo Martelli ist mit erstklassiger Diktion und entsprechendem Timbre auf dem richtigen Weg zum Charaktertenor. Einen anständigen Simone singt Lorenzo Liberali. Graziös und kapriziös und damit sehr angemessen mit hörbaren Anklängen auch an Rossini dirigiert Vincenzo Milletari das Orchestra Donizetti Opera, versucht nie, dem Orchester eine gewichtigere Rolle zuzuteilen, als es sie als Sängerbegleitung hat. Das Klavier erklingt unter den flinken Händen  von Hana Lee, Chormeister ist Claudio Fenoglio.

Dem Werk kann man nach Anhören dieser Aufnahme durchaus einen Einstieg ins Repertoire der Opernhäuser zutrauen und wünschen, allerdings nicht in der auf dem Cover enthüllten Optik, in der Müllmänneranzüge in Orange dominieren (Naxos 8.660565-66). Ingrid Wanja      

Giuseppina Grassini

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Anlässlich der zwei Ausgaben (CD und DVD) von Zingarellis Oper Giulietta e Romèo bei Chateau de Versailles vielleicht ein längeres Wort zu Giuseppina Grassini, Weltstar und Mätresse der Mächtigen: Die Diva, die Napoleon, den Duke of Sussex und Wellington, neben manchen anderen Bedeutenden ihrer Zeit, verführte und dazu noch einen eigenen gutwilligen Ehemann besaß.

1773 in Varese geboren, fiel die junge Giuseppina Grassini schnell durch ihre musikalische Begabung auf. Ihre Eltern ließen sich dazu überreden, sie nach Mailand zu schicken, um ihre Ausbildung zu machen. Dort lernte sie den Fürsten Belgiojoso kennen (Conte Ludovico Luigi Carlo Maria di Barbiano e Belgiojoso, 1728 – 1801) kennen, der sie unter seine Fittiche (und in sein Bett) nahm und sie durch Antonio Secchi unterrichten ließ, sodass sie 1789 ihr Debüt als Seconda Donna am Teatro Ducale von Parma geben konnte.

Giuseppina Grassini in „Le nonnes del sol marito“ [„Due nozze e un sol marito“] von Cimarosa/Ricordi Archives

1791 debütierte sie an der Scala in Nebenrollen in Werken von Guglielmi, Paisiello und Salieri, setzte ihre Karriere in Vicenza und Venedig fort und kehrte schließlich 1793 mit einer vollendeten Altstimme nach Mailand an die Scala zurück: Erst zwanzig Jahre alt, feierte sie bereits ihren ersten Erfolg in Zingarellis Artaserse, neben dem Kastraten Marchesi und dem Tenor Lazzarini. Mit Demofoonte von Portogallo konnte sie 1794 ihren Aufstieg in Mailand fortsetzen, aber der durchschlagende Triumph kam im Januar 1796 mit Giulietta e Romeo, einer Oper, die Zingarelli in acht Tagen für sie und den hervorragendenKastraten Girolamo  Crescentini komponiert hatte. Umwerfend frisch und schön, eroberte der 23-jährige Star die Herzen der Mailänder, die in ihr eine grandiose Tragödin entdeckten. Die Künstler wurden am Ende der Oper mit Beifallsstürmen gefeiert.

Es war das Jahr 1796, in dem die glorreiche „Armee Italiens“ mit dem jungen Bonaparte an der Spitze am 15. Mai in Mailand einmarschierte, umjubelt von der Menge und von der Oberschicht willkommen geheißen. Von Gala-Abenden bis hin zu Opern-Aufführungen genoss der 27-jährige General Mailand und zweifellos auch das Talent von Grassini, die regelmäßig vor ihm sang und sich sicher dem Helden gegenüber sehr freundlich zeigte. Er aber war in Josephine verliebt… Sie sollten später zueinanderfinden.

Im Fenice von Venedig fand im Dezember 1796 die Premiere des zweiten Triumphes von Grassini und Crescentini statt: Cimarosas Gli Orazi e Ii Curiazi. Im Mai 1797 kehrte Bonaparte nach Mailand zurück, und die Grassini sang regelmäßig für ihn privat in seiner Villa in Mombello. Aber danach wurde sie in Neapel für die Uraufführung von Cimarosas Artemisia engagiert, die wieder ein durchschlagender Erfolg war und ihr die Bewunderung des englischen Prinzen Augustus Frederick von Sussex, die Verehrung durch die neapolitanische High Society und die Zuneigung des musikbegeisterten Volkes einbrachte. Als sie von einem dreißigjährigen Franzosen umworben wurde, rächte sich der Prinz, lud sie auf sein Schiff ein und warf sie im Golf von Neapel über Bord! Doch da Grassini schwimmen konnte, gelang es ihr, das Ufer zu erreichen.

Sexy war er ja: Napoleon Buonaparte zur Zeit des Einmarsches in Mailand/ Gemälde/Ausschnitt von David/ Wikipedia

Zurück in Mailand, galt sie als die „attraktivste und berühmteste Schauspielerin der Zeit“ (Stendhal), und die siegreiche Rückkehr des Ersten Konsuls nach Italien im Juni 1800 war für ihr weiteres Leben entscheidend. Sobald er in Mailand eintraf, improvisierte sie zu seinen Ehren an der Scala einen Galaabend, mit dem sie die Begeisterung der befreiten Italiener zum Ausdruck brachte, und wie ein Zeuge berichtete, rief sie ihm am 4. Juni „wie eine berauschte Bacchantin“ die Verse der Marseillaise zu. Am Ende der Aufführung gratulierte er ihr und… verbrachte die Nacht mit ihr. Er setzte die Kämpfe fort, war bei Marengo siegreich und schloss Frieden. Erschöpft fand er sie in Mailand wieder, wo sie ihn im Triumph empfing„Er legte seinen Kopf an meiner Brust wie ein kleines Kind zur Ruhe“, erzählte sie über diese „historische Nacht“. Wieder wurde eine Gala an der Mailänder Oper veranstaltet, die das Glück von Liebe und Ruhm vollendete. Von da an wich er nicht mehr von ihrer Seite„Signora Grassinis Stimme entzückte ihn. Hätte er sich nicht unbedingt um die Geschäfte kümmern müssen, hätte er ihrem Gesang stundenlang mit Genuss zugehört.“ (Bourrtenne). Er beschloss, sie nach Paris mitzunehmen, damit sie bei den Feierlichkeiten des 14. Juli anlässlich des Sieges in Italien auftrete. Von einer begeisterten Menge umgeben, hörte der Sieger von Marengo seiner Muse zu: „Glorie delle armi, la Cisalpina liberata…“

Noch ein Mann im Liebesleben von Giuseppina Grassini: Der Geiger und Komponist Pierre Rode Jacques/Gemälde von Antoine Vallin 1808/ Wikipedia

Die Stimme der so jungen, so schönen Grassini repräsentierte das glückliche, in seinen Befreier verliebte Italien. Daraufhin begann ein halb geheimes, halb mondänes Verhältnis, denn Bonaparte wollte nicht, dass diese Beziehung publik  werde. Und trotz seiner vielfältigen Beschäftigungen hatte er genug Zeit, um Giuseppina zu verwöhnen. Sie kam regelmäßig, um vor Bonaparte und Josephine zu singen. Vor allem flanierte sie aber durch Paris, das sie sehr liebte! Doch sie vermisste die Bühne und unterbreitete Bonaparte vergeblich das Projekt zur Gründung eines italienischen Opernhauses. Dessen ungeachtet gelang es ihr, in Salons zu singen und sogar ein Konzert an der Oper zu geben, wo sie triumphierte. Aber ihre Freundschaft mit dem Geiger Pierre Rode, der mit ihr auftrat, entwickelte sich zu einer Liaison. Bonaparte befragte seinen Minister Fouche zu den Gerüchten, die ihn diesbezüglich erreichten, und erhielt folgende Antwort: „Meine Überwachung war zunächst in Verzug. Aber ich weiß jetzt, dass ein kleiner Mann, der in einen blauen Gehrock gekleidet ist und einen kleinen Dreispitz trägt, jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr das Schloss verlässt, in eine Kutsche steigt und in die Rue Chantereine Nr. 28 zu Grassini fährt. Dieser kleine Mann sind Sie. Und die Schöne ist ihnen mit dem Geiger Rode untreu.“ Bonaparte war ab 1801 seiner Mätresse bereits überdrüssig und ließ es geschehen: Sie war gleichsam in eine zärtliche Ungnade gefallen.

Augustus Frederick, Duke of Sussex, gehörte ebenfalls zu ihrer Sammlung/ Gemälde von Guy Head/Wikipedia

Das Liebespaar Napoleon und die Diva verließ Paris im November, um Grassinis Opernkarriere in Italien wieder aufzunehmen, wo man sie herzlich empfing. Sie wurde in Genua und Triest gefeiert und reiste 1803 nach London, um sich mit ihrer Rivalin, der Sopranistin Billington, zu messen. Sie trafen in Peter von Winters Ii Ratto di Proserpina aufeinander, dann bei zahlreichen Gesellschaftsabenden, bei denen Grassini ihre Rivalin übertrumpfte. Als Londons Liebling verließ sie die Stadt 1805, um schnell nach Paris zurückzukehren, wo Napoleon sie mit Vergnügen wiedertraf – trotz ihrer Ehe mit Giuseppe Conte Ragani (1785 – 1862), der an ihrer Seite bald zu einem verständnisvollen Schatten wurde. Um sich Grassinis Dienste zu sichern, ernannte Napoleon sie 1807 zur „ersten Sängerin Seiner Majestät des Kaisers und Königs“. Mit einer außergewöhnlich hohen Gage trat sie am Hof in der Musique Particuliere de l’Empereur unter der Leitung von Paer auf, wo sie Crescentini wieder traf. Gemeinsam gaben sie mit beachtlichem Erfolg mehrere Aufführungen von Giulietta e Romeo am Theâtre des Tuileries. Nach einem dieser Abende verlieh der Kaiser Crescentini den Orden der Eisernen Krone„Durch welch rühmliche Tat könnte sich ein Crescini (!) wohl eine solche Ehre verdient haben?, fragte ein Offizier. Da erhob sich das schöne Fräulein Grassini majestätisch von ihrem Sitz und erwiderte mit höchst theatralischer Geste und dramatischem Tonfall: „Und seine Verwundung, mein Herr, welchen Wert messen sie ihr zu?“ Darauf brach Jubel und großer Beifall aus“, heißt es in Napoleons  Tagebuch von St. Helena.

Die Grassini sang außerdem für den Kaiser La vergine del sole von Gaetano Andreozzi, La morte di Cleopatra von Sebastiano Nasolini und gemeinsam mit Crescentini die Uraufführung von Luigi Cherubinis Pimmalione. Ihre letzte Uraufführung in Paris war Paers Didone abandonnata im Jahr 1811. 1813 konnte sie schließlich auf der Opernbühne in Cimarosas Gli Orazi e i Curiaci und in mehreren hervorragenden Konzerten brillieren. Doch auch wenn sie in diesen turbulenten Jahren oft für den Kaiser sang, riss sie der Zusammenbruch des Regimes mit sich. Napoleon verließ Paris am 25. Januar 1814: Er sollte seine Lieblingssängerin nicht mehr wiedersehen. Als die Alliierten in Paris eintrafen, buhlte sie natürlich um deren Gunst und ging nach London, um dort mit ihrer Didone an ihre Erfolge anzuknüpfen: ein Triumph, der umso vollkommener war, als sie den Oberbefehlshaber der britischen Armeen, Herzog von Wellington, verführte. Die Grassini liebte die Sieger!

Und schließlich war da noch Arthur Duke of Wellington/ Wikipedia, der Napoleon in den Armen der Grassini ablöste

Als Wellington zum Botschafter in Paris ernannt wurde, kehrten sie gemeinsam dorthin zurück, wobei die stolze Sängerin zu seiner offiziellen Mätresse wurde. Doch er verließ Paris 1815, und die schöne Giuseppina wurde von der Rückkehr des „Helden der Hundert Tage“ überrascht: Sie wagte aber nicht, mit ihm in Kontakt zu treten. Ihre beiden Liebhaber bekämpften sich bis zur Schlacht von Waterloo: ein unglaubliches Schicksal! Der besiegte Napoleon kehrte ins Palais de Elysee zurück, dann nach Malmaison, aber sie suchte ihn nicht auf.

Als Wellington am 7. Juli in Paris einzog, begrüßte sie ihn als Sieger. Sie brachen gemeinsam auf, um in London Triumphe zu feiern, wo sie in Covent Garden vor dem ganzen Hof sang. Dann ließen sie sich in Paris nieder. Er hatte dort nur Augen für ihre Reize und ihre musikalischen Talente, die sie nur in den Salons ausübte, da ihr der Weg zur italienischen Oper durch die Sopranistin Angelica Catalani am Hof der Bourbonen versperrt war. Schließlich gingen die Liebenden aber getrennte Wege.

Der Autor Laurent Brunner/ Twitter
(Laurent Brunner (@LaurentBrunner) | Twitter)

1817 kehrte die Grassini nach Italien zurück, wo sie an der Scala, in Venedig, Triest und Florenz triumphierte. Überall kamen ihre Abschiedsauftritte beim Publikum außerordentlich gut an. Schließlich kehrte sie aber nach Paris zurück, um ihren Ruhestand – sehr mondän – mit berühmten Freunden zu verbringen: von Rossini über Mme Vigée Lebrun bis Stendhal. Sie nutzte ihren Ruhm, um ihren Schützlingen den Zugang zur Oper zu erleichtern, vor allem ihren Nichten Giuditta Grisi und Giulia Grisi. Letztere hatte 1840 die Ehre, im Invalidendom bei der Rückkehr von Napoleons Asche zu singen: am selben Ort, an dem Giuseppina den Sieger von Marengo gefeiert hatte! Im Alter von 77 Jahren entschlief Giuseppina Grassini sanft, aber fast vergessen, in Mailand. (…) Laurent Brunner/Übersetzung Silvia Beruti-Ronelt

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Giuseppina Grassini als Orazia in Cimarosas Oper „Gli_Orazi ed i Orazi“/ Wikipedia

Dazu noch ein Beitrag aus dem unerlässlichen Wikipedia. (…) Giuseppina Grassini (* 8. April 1773 in Varese; † 3. Januar 1850 in Mailand) gehörte zu den bedeutendsten Opernsängerinnen des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (der Epoche unmittelbar vor Rossini) und wurde als „prima donna seria Europas“, also als Primadonna des ernsten Faches auf den europäischen Bühnen, beschrieben. Kaum 20 Jahre alt, wurde sie schon großen Sängerinnen wie Brigida Banti an die Seite gestellt. Sie galt Kritikern bereits zu dieser Zeit als „zehnte Muse“.

Die Stimme: Gewöhnlich als Altistin kategorisiert, lag ihre Tessitur eher im tieferen Mezzosopran-Bereich und verfügte über ein starkes Timbre, eine große Klangfülle und Flexibilität. So bezeichnete die Komponistin Sophie de Bawr Grassinis Stimme als einen „prächtigen Alt, dem ein unermüdlicher Fleiß einige sehr schöne hohe Töne hinzugefügt hatte“. Ähnlich schrieb auch François-Joseph Fétis: „Ihrer Stimme, einem kräftigen Alt von großer Ausdruckskraft, mangelte es nicht an Ausdehnung in die höheren Tonsphären, und ihre Vokalisation hatte eine Leichtigkeit, eine sehr seltene Qualität bei stark timbrierten Stimmen.“ Dagegen behauptete der Musikkenner Richard Edgcumbe – ein vielleicht nicht ganz unvoreingenommener Parteigänger der Sopranistin Elizabeth Billington – Grassinis Stimmumfang hätte sich in ihrer Londoner Zeit auf nicht viel mehr als eine Oktave reduziert.

Die Stimme Grassinis wurde immer wieder als im Sinne des Belcanto hervorragend ausgebildet beschrieben, laut Fétis war sie „über den ganzen Umfang ebenmäßig und rein“, und er lobte „ihre schöne und freie Tonemission“ und „ihren großen Stil der Phrasierung“. Sophie de Bawr hob die Breite ihrer Tonqualität, die Reinheit ihrer Aussprache und ihre ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen hervor, wie sie den Stilidealen einer von Bawr als „école grandiose“ (großartige Schule) bezeichneten Tradition entsprachen,[61] welche Grassini insbesondere durch ihren Lehrer und Bühnenpartner Crescentini vermittelt bekam und die (laut Baur) schon einige Jahrzehnte später „perdue“ (verloren) war. Der erfahrene Crescentini soll seine Schülerin dabei vor übermäßigen Verzierungen im Vokalvortrag gewarnt haben, wie sie italienische Sänger zu dieser Zeit gerne einsetzten.

Giuseppina Grassini und Napoleon/ kolorierte Zeichnung von Antoine Calbet/ BNF/ Gallica

Ihre Gesangstechnik verband sie mit einer großen Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft, wobei die an ihr immer wieder bewunderte physische Schönheit und die natürliche Grazie ihrer Bewegungen ihr sehr entgegenkamen. An fast jedem Ort ihrer Karriere wurde hervorgehoben, wie sich Stimme, Körperlichkeit und theatraler Vortrag bei ihr gegenseitig bereicherten und ein Spiel von großer Glaubwürdigkeit entfalteten. Der französische Dramatiker Antoine-Vincent Arnault bemerkte in seinen Memoiren über ihre Auftritte in Neapel: „Diese Sängerin, die noch keine zwanzig Jahre alt war, vereinigte mit einem herrlichen Alt die geschmeidigste Figur, die edelste und eleganteste Statur. […] Was sie repräsentierte, war sie. Für sie schienen die romantischsten Leidenschaften natürlich, und Fiktionen wurden zu Realitäten.“ Edgcumbe, ein Zeuge des Londoner Wettkampfes zwischen Elizabeth Billington und Giuseppina Grassini, schrieb, dass Billington ihr stimmlich überlegen gewesen sei, das Publikum jedoch Grassini aufgrund ihrer schauspielerischen Leistung bevorzugt habe. Auch andere Zeitzeugen wie Charles Bell urteilten, dass Giuseppina Grassini aus der Vereinigung von Musik und dramatischem Spiel ihre einzigartige Kraft bezogen habe: „Sie starb auf der Bühne, ohne jemals lächerlich zu sein.“

Nach Einschätzung der Comtesse de Boigne, die Grassini auf den Festen der Londoner Gesellschaft kennengelernt hatte, verursachten die Auftritte der italienischen Sängerin am King’s Theatre einen Stimmungsumschwung im Publikum. Alt-Stimmen seien so sehr in Mode gekommen, dass Sopranistinnen vorübergehend fast von der Bühne verschwanden.(…) Den letzten Abschnitt ihres Lebens verbrachte sie überwiegend in Mailand, wo sie in der Casa Arese am Largo San Babila eine Mietwohnung bezog. Hier empfing sie zu fachlichen Gesprächen unter anderem die Komponisten Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini. Die Straßenkämpfe im Revolutionsjahr 1848 beobachtete sie von ihren Fenstern aus; dabei wurde eine in ihrem Besitz befindliche Kutsche, mit der sie zwischen Mailand und Paris verkehrte, zur Verstärkung der Barrikaden verwendet und schließlich zerstört. Am 3. Januar 1850 starb sie in ihrer Wohnung.

Giuseppina Grassini hinterließ ein bedeutendes Vermögen, das sie größtenteils an ihre Nichten, weitere Familienmitglieder und an Bedienstete vererbte. Ihren Ehemann Cesare Ragani bedachte sie mit einer Summe, die jährlich 4000 Francs Rendite abwarf (was nur knapp unterhalb der von einer Spitzensängerin wie Wilhelmine Schröder-Devrient ausgehandelten Pension lag). Ein Miniaturbild auf Elfenbeinplatte des Malers Ferdinando Quaglia, das ursprünglich von Napoléon persönlich in Auftrag gegeben worden war und 1911 vom Museum der Scala für den beachtlichen Preis von 50.000 Francs erworben wurde, vermachte sie guten Freunden. 2000 Lire erübrigte sie für Bedürftige in Varese. Beigesetzt ist Giuseppina Grassini auf dem Cimitero di San Gregorio in Mailand. (Quelle Wikipedia)

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Den Artikel von Laurent Brunner und deren Übersetzung entnahmen wir mit Dank dem luxuriösen, dreisprachigen Beiheft zur CD-Aufnahme von Zingarellis Oper Giulietta e Roméo bei Chateau de Versailles (1 CD/DVD CVS044). Redaktion G. H.

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Kultivierte Schnoddrigkeit

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Wer einmal Lotte Lenya mit der Musik ihres Ehemanns Kurt Weill gehört hat, wird sie für alle Zeiten als Inbegriff des Weill-Gesangs im Gedächtnis gehalten haben, auch nicht durch die verdienstvollen Interpretationen von Gisela May, Milva oder Ute Lemper aus ihm zu vertreiben. Nun ist aus der insbesondere an Janáček und anderen Tschechen erprobten Zusammenarbeit von Simon Rattle und seiner Frau Magdalena Kožená eine CD mit Brecht/Weills  Die sieben Todsünden hervorgegangen, ergänzt durch weitere Musik Weills, teils noch in Europa, teils bereits in den USA komponiert.

Wieder einmal war es ein liebender Gatte gewesen, der Engländer Edward James, der seiner Frau, der Tänzerin Tilly Losch, zu einem Auftritt auf der Bühne verhelfen wollte und deshalb ein Werk für sie in Auftrag gab. Sie war dann Anna II in dem Stück um ein Schwesternpaar, dass in den USA sein Glück versucht, um das nötige Geld für ein „kleines Haus in Louisiana“ zusammenzuverdienen, wobei Anna I, die Sängerin, die Antreibende, Anna II, die Tänzerin,  die Ausführende ist,  die Bewertung der Sieben Todsünden in ihr antireligiöses Gegenteil verkehrt wird, so wenn Anna II in Zorn über Tierquälerei gerät und dafür bestraft wird. In der CD-Aufnahme fällt naturgegeben die Tänzerinnenrolle weg, und Anna I übernimmt auch die wenigen gesprochenen Worte von Anna II und das sehr eindrucksvoll, wenn sie in ihnen die unausweichliche Entwicklung hin zu einer innerlich ausgebrannten , illusionslosen Frau hörbar macht. Gesanglich ist ihre, eine Opernsängerinnen- und keine Diseusenstimme, voller, runder, weicher, nuancenreicher mit einem Hauch Melancholie, weniger rotzig als die der Lenya und nur hin und wieder in scharfe Töne wechselnd.

Die „Familie“ der Schwestern oder besser der doppelgesichtigen einen Schwester besteht aus zwei Tenören, einem Bariton und einem Bass (ausgerechnet die Mutter), die Vier sind als vokale  Individuen klar erkennbar und bilden zugleich ein ebensolches Ganzes. Das Orchester vermittelt einen Edelkaschemmensound, gibt sich angemessen grell, straff und temporeich, es ist das London Symphony Orchestra.

Fern aller Westernromantik bewegt sich Tod im Wald, wo es um das langsame Sterben eines von Lynchjustiz Heimgesuchten geht, dem Florian Boesch mit markantem Bassbariton ebenso eine Stimme gibt wie dem erzählenden Text. Unerbittlichkeit lässt sich vom Orchester vernehmen. Andrew Steples singt die Arie Lonely House aus Weills amerikanischer Oper Street Scene mit sehnsüchtig klingendem Tenor, und auch das auf Walt Whitmans Dirge fort two veterans komponierte Lied. Dem Bariton Ross Ramgobin gelingt mit Beat! Beat! Drums!, eigentlich für Paul Robeson bestimmt, eine eindrucksvolle Antwort wohl auf den Überfall auf Pearl Harbour.

Den Abschluss bildet die Kleine Dreigroschenmusik in schöner Ausgeglichenheit zwischen frechem Moritatensound und eleganter Barmusik, von einem Highlight zum nächsten gleitend (LSO Live 500880). Ingrid Wanja     

Zingarellis „Giulietta e Romèo“

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Die Liebesgeschichte von Romeo und Julia gehört zu den berühmtesten Dramen der Welt – sie hat auch reichlich ihre Spuren in der Musik hinterlassen. Ob Tschaikowsky, Prokowjev oder Gounod, ob Bellini, Vaccaj oder Berlioz – es gibt jede Menge berühmter Vertonungen. Nun kommt eine vergessene auf den Markt, eine Oper von Niccolò Zingarelli, nach dem 2021 herausgegebenen CD-Querschnitt nun 2024/25 als Video komplett:  Giulietta e Roméo beim Label Chateau de Versailles. Dazu zum ersten eine Besprechung von Ingrid Wanja und danach Verschiedenes zur Oper selbst, auch die Rezension des CD-Querschnitts von Chateau der Versailles von 2021, die in der Wertung von der DVD-Besprechung abweicht. De gustibus und so ….

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Der Komponist Nicolò Zingarelli/Wikipedia/BiblioMC

Nun also Ingrid Wanja: Die Universität von Bologna besitzt ein Verzeichnis der Aufführungen, die Nicolò Antonio Zingarellis erfolgreichster Oper Giulietta e Romeo nach ihrer Uraufführung in Mailand 1796 zuteil wurde, und es ist eine fast unendliche Liste von italienischen Städten, bis 1812 auch Berlino erscheint, das Jahr des Russlandfeldzugs Napoleons I., als dessen Lieblingsoper das Werk gilt. Unklar ist allerdings, ob man bei der Planung des Spielplans schon gewusst hat, dass dieser mit einem Fiasko für die Franzosen enden sollte, Preußen sich längst durch den Vertrag von Tauroggen aus dem erzwungenen Bündnis gelöst hatte, also nicht damit zu rechnen war, dass der Kaiser der Franzosen in Berlin Halt machen würde. Außerdem hätten sowie  die Lieblingssänger des Despoten, Giuseppina Grassini und Girolamo Crescentini, nicht zur Verfügung gestanden. Die Liste der Aufführungen bricht übrigens ganz plötzlich ab, was wohl auch daran liegt, dass mit Rossini ein neuer Stern am Opernhimmel erschienen war, der den wohl letzten Vertreter der Neapolitanischen Schule in der Gunst des Publikums ablöste. Übrigens wurde die Zuneigung Napoleons zu dessen Werken  vom Komponisten  nicht erwidert, was vor allem wohl wegen dessen enger Bindung an den Papst lag, der Napoleon zwar für die Rückkehr Frankreichs zur katholischen Kirche dankbar sein musste, nicht aber dafür, dass ihm der Empereur bei der Krönung zum Kaiser die Krone aus der Hand riss und sich selbst und seine Gattin Josephine Beauharnais krönte. Eine ältere Ausgabe mit Ausschnitten, wie die jetzige CD und DVD, trägt den Titel  L’opéra de Napoléon.  Zingarelli jedenfalls floh aus den Teilen Italiens, die von den Franzosen besetzt worden waren, unter die Fittiche der römischen Kirche.    

Die Quelle für das Libretto von Giulietta e Romeo ist weniger Shakespeare als italienische Fassungen des Schicksals der unglücklichen Liebenden, so kommt es, dass Lorenzo entfällt und Romeos Freund dessen Aufgabe, die Übergabe des Giftfläschchens, übernimmt, und anstelle der Amme gibt es eine Freundin namens Mathilde. Eine wesentlich wichtigere Rolle spielt der Vater Giuliettas, der anstelle des Oberhaupts der Stadt Verona den Schlussmonolog voller Reue zu singen hat. Auch werden den Liebenden die Freuden der Hochzeitsnacht versagt, an die Trauung schließt sich sogleich der Scheintod Giuliettas an.

Da das Bühnenbild von Roland Fontaine auch für Don Giovanni benutzbar sein musste, zeigt es keine spezifischen mittelalterlichen oder gar Veroneser Stilelemente, die Kostüme von Christian Lacroix (!) hingegen tragen der Vorliebe Napoleons für dieses Werk Rechnung und sind in schönstem Empirestil gehalten. Damit ist schon einmal der optische Genuss gewährleistet. Die Regie von Gilles Rico ist eine behutsame, die Akteure in jeder Hinsicht ins beste Licht stellende. Stefan Piewniak hält das Orchestre de l’Opéra Royal (Heimatbühne ist immerhin das Schloss Versailles) zu straffem, elegantem und bereits den vor der Tür stehenden Belcanto berücksichtigendem Spiel an, schließlich waren unter vielen anderen Bellini und Donizetti Schüler Zingarellis.

Für den heutigen Hörer ungewöhnlich, für die Zeit des Komponisten typisch ist die Rollenverteilung mit einem Mezzosopran für die junge Liebende, hier der Countertenor (natürlich Kastrat, Counter sangen damals sowas nicht/G.H.) für den Geliebten, den Tenor für den das Liebesglück verhindernden Intriganten, und auch der später dem Bariton gegönnte helfende Freund ist noch dem Countertenor zugeteilt. Das führt bei der vorliegenden Aufnahme, da die   auch optisch, dazu noch vokal von beeindruckenderer Statur ist, zu einer eher mütterlichen Giulietta, die den zierlichen, zarten Counter eher wie einen Sohn wirken lässt. Adéle Charvet erfreut durch viel Wärme und Geschmeidigkeit ihres Mezzos. Franco Fagioli verfügt über betont feine Farben, eine ungeheure Virtuosität und vokale Eleganz, für sich genommen sind beide Sänger vorzüglich, nur passen sie, zumindest nach heutigem Geschmack, nicht zueinander. Krystian Adam (Everado=Capulet) und Valentino Buzza (Tebaldo) sind die Tenöre und überzeugen vokal wie darstellerisch, der Vater mit schöner Klage, Tebaldo mit auch darstellerischer Agilität. Florie Valiquette gibt eine attraktive Matilde mit frischem Sopran. Noch zarter, feinstimmiger und fragiler als sein Freund Romeo ist in jeder Hinsicht der Gilberto von Nicolò Balducci, dem man den Strippenzieher nicht recht abnimmt, vielleicht hat ihn deswegen die Regie auch mit der nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Aura des Überirdischen versehen. Auf jeden Fall bereichert die DVD mit der vollständigen auch optischen Wiedergabe des Werks, nachdem zuvor nur Ausschnitte aus einer konzertanten Aufführung verfügbar waren (DVD CV 5181/ 24. 02. 25/). Ingrid Wanja       

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Zingarellis „Giulietta e Romèo“/ Grabstelle der Capulets/ Bühnenbild von Alessandro Sanquirico für das Teatro Carcano 1829/Ricordi Archives

Und  nun Matthias Käther zum älteren Konzert-Querschnitt, ebenfalls bei Chateau de Versailles: Nicolò Antonio Zingarelli ist wohl der von allen heute nicht gespielten Opernkomponisten am häufigsten in der Literatur erwähnte. Immer wieder stolpert man über seinen Namen. Er war nicht nur ein Lieblingskomponist der Generation zwischen Mozart und Rossini, er war auch ein hocheinflussreicher Lehrer und  unterrichtete eine ganze Belcanto-Komponisten-Generation, auch Donizetti und Bellini sind dabei. Er hat 37 Opern geschrieben, die in Europa rauf und runter gespielt wurden, vor allem seine Romeo-und Julia-Oper vom 1796.

Wolfgang Leonhardts These, dass die Revolution ihre Kinder frisst, gilt auch hier. Zingarelli hat als „Erfinder“ im Keim schon alles Folgende entwickelt. Er „erfand“ eine moderne, sehr sinnliche Sängeroper mit großen emotionalen Szenen und weit ausgreifenden Gesangslinien. Seine Schüler und Nachahmer haben diese Errungenschaften aufgegriffen und dann noch frappierender umgesetzt. Erst Vaccaj mit einer Neuvertonung des Stoffes und dann Zingarellis Lieblingsschüler Bellini mit einer noch erfolgreicheren Version (I Capuleti e i Montecchi). Zingarellis eher zurückhaltenderer  Stil war dann in dem blendenden Licht seiner auftrumpfenden Schüler nicht mehr zu erkennen.

Nach ersten Neu-Begnungen mit der Oper in Salzburg, Schwetzingen (Rezension nachstehend) und Venedig zeigt gerade diese CD- (bzw. DVD)-Erst-Einspielung auf historischen Instrumenten unter Stefan Plewiak, warum sich die Ausgrabung lohnt. Eine Würdigung Zingarellis war und ist heute eher möglich, das Werk wäre noch in den 90ern abgelehnt worden, weil man versucht hätte, es als eine Art Prequel zu Bellini zu servieren – also als Musik, die man schlicht als Vorläufermusik eingestuft hätte. Hier nun, in dieser sehr behutsamen, durchsichtigen instrumentalen Interpretation wird eher klar, was für ein großartiger Visionär Zingarelli war, wie er die Traditionen des 18. Jahrhunderts auf einen Höhepunkt zuführt und damit gleichzeitig etwas Neues schafft. Für 1796 ist das wirklich grandiose Musik.

Jedoch: Die Oper war für zwei damalige absolute Weltstars geschrieben, und die traten darin nicht nur bei der Uraufführung auf. Auch später waren sie ein gefeiertes Team: Giuseppina Grassini , eine der legendären Opernsängerinnen der Epoche, und der hochdekorierte Kastrat Girolamo Crescentini. Die Zeitzeugen beschreiben immer wieder das orgiastische Enzücken, das die Menge überkam, wenn sich diese Stimmen zum Duett in Zingarellis Oper vereinten. Das bekommt man im Konzert-Mitschnitt aus Versailles wahrhaftig nicht geboten; weder Adele Chavret noch Franco Fagioli als unhistorischer Counter können da mithalten. Dafür hätte es schon ein Paar wie Sutherland-Horne gebraucht.

Nun wird sich der Hörerkreis dieser Aufnahme dessen sicher nicht so bewusst sein, eher sich fragen, warum keine CD-Gesamtaufnahme, sondern nur ein großer Querschnitt aufgezeichnet wurde. Warum also? Mal wieder Corona? Egal: Wenn man seine Erwartung dämpft, wird man mit diesem Querschnitt sicher gut bedient. Vor allem überraschte mich Franco Fagioli. Ich bin nun wirklich der größte Countertenor-Muffel auf Erden, aber er hat mich hier überzeugt, denn er lässt sich auf die Sinnlichkeit und Opulenz der Komposition ein, spart nicht mit Kadenzen, und die enge Kehle mit den „katzenhaften“ Verzierungen, mit denen sonst so viele Countertenöre teure und hoffnungsvolle Barockproduktionen zerschreddern, fehlt hier Gottseidank. (Wobei man einräumen muss, dass ihm die Partie bis zum ersten Finale runder gelingt als danach). In weiteren Rollen hört und sieht man (auf der beiliegenden Konzert-CD) mit Gewinn den Tenor Philippe Talbot als Nebenbuhler Evardo und als Teobaldo

Zingarellis „Giulietta e Romèo“/ Gemach der Giulietta/ Bühnenbild von Alessandro Sanquirico für das Teatro Carcano 1829/Ricordi Archives

Erschienen ist das Ganze bei dem französischen Label Château de Versailles. Das Werk von 1796 war eine von Napoleons Lieblingsopern, vielleicht sogar die entscheidende Oper, die seine Liebe zu dem Genre für den Rest seines Lebens prägten. Als er 1796 als General siegreich in Mailand einzog lief an der Scala Zingarellis Roméo. Und der Rest ist eigentlich Stoff für eine 24teilige Netflix-Serie: Napoleon war so hingerissen von der Grassini, dass sich erst ein Flirt entspann und dann bald auch eine heftige Liebes-Affaire entwickelte. Die Sängerin folgte ihm später auch nach Paris und dürfte nicht nur seinen Musikgeschmack stark geprägt haben.

Den auf CD vorliegenden Querschnitt kann man auch auf der beiliegenden DVD, ebenfalls als Querschnitt, nacherleben, konzertant im schönen Theater von Versailles. Matthias Käther/G. H.

 

PS.: Wie bereits erwähnt ist diese Zingarelli-Oper mit dieser Neuaufnahme nicht erstmals zu hören.. Bereits in Salzburg wurde sie, ebenfalls mit Franco Fagioli und dann mit Ann Hallenberg, 2016 (radioübertragen) gegeben, Schwetzingen/Heidelberg folgte 2016 (dto) mit dem Counter Kangmin Justin Kim und Venedigs Fenice zog 2017 (inhouse dokumentiert) ebenfalls nach, dort sang den Roméo-Part die Mezzosopranistin Violeta Grecu, sehr viel überzeugender finde ich als hier ein Falsettist, aber das ist Geschmackssache – zumal sich natürlich wieder die Frage stellt, ob ein Falsettist überhaupt eine Wahl ist für eine so hochvirtuose Kastratenpartie, niemand hätte damals Falsettisten für diese anspruchsvollen Partien ausgesucht.

Im Film Farinelli hatte man die Stimmen von Derek Lee Ragin und Eva Godlewska digital kombiniert, ein überzeugendes Experiment. Als Bonus singt auf der beiliegenden DVD Counter Fagioli eine weitere Arie des Roméo aus Akt 3 der Oper. Allerdings schmunzelt man doch über den Satz „Franco Fagioli est Crescentini:, das ist schon recht verwegen und tres francais … Leider verstopft diese Aufnahme aus Versailles möglicherweise den Markt für eine vollstände Wiedergabe der tollen Oper auf CD; hoffen wir, dass vielleicht der Palazzetto oder andere sich besinnen (ohne Counter vielleicht) … G. H.

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Zuvor gab es die Oper also erstmals in moderner Zeit 2016 in Schwetzingen vom Theater Heidelberg – dazu der Bericht von Marcus Budwitzius: Mut gehört belohnt. Mutig ist der von Operndirektor Heribert Germeshausen auf sieben Spielzeiten angelegte Zyklus der Heidelberger Oper im Rahmen des „Winter in Schwetzingen“ mit Werken der neapolitanischen Schule, die im schönen, kleinen Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses als deutsche Erstaufführung oder erste Inszenierung der Neuzeit präsentiert werden, was auch von Publikum und Presse honoriert wird. In den vergangenen Jahren spielte man Alessandro Scarlattis „Marco Attilio Regolo“, Antonio Porporas „Polifemo“, Tommaso Traettas „Ifigenia in Tauride“, Niccolá Jommellis „Fetonte“ und Leonardo Vincis „Didone Abbandonata“. Zum Abschluss folgt in der kommenden Spielzeit eine weitere Oper von Porpora. In dieser Saison präsentierte in dieser Saison ein weiteres, aber spätes Werk der von Alessandro Scarlatti begründeten neapolitanischen Opernschule: Niccolà Antonio Zingarelli (1752-1837) komponierte Giulietta e Romeo in angeblich nur acht Tagen, am 30. Januar 1796 war die Premiere an der Mailänder Scala. Die Oper zwischen Rokoko und Belcanto erfuhr nach konzertanten Vorstellungen bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2016 im Schwetzinger Rokokotheater die erste szenische Neuproduktion seit 187 Jahren und erwies sich dabei vor allem sängerisch und musikalisch als schöne Entdeckung. (…)

Zingarellis „Giulietta e Romeo“ in Schwetzingen/ Foto Annemone Taake

Die Konzentration gehört den Sängern und die sind in Schwetzingen sehr gut besetzt. Der Romeo ist mit einem Countertenor besetzt: Kangmin Justin Kim begeistert durch ein sehr schönes Timbre, klare und unangestrengte Höhe und vor allem gelingt es ihm herausragend gut, seinem Gesang Emotionalität zu verleihen – Kim klingt nie pauschal oder blass, sondern stets farbig, abwechslungsreich und spannend. Mit dieser Rolleninterpretation empfiehlt sich Kim für Größeres. Als Giulietta hat man die britische Mezzosopranistin Emilie Renard verpflichtet und auch sie dürfte Karriere machen: sie ist bühnenpräsent und gestaltet mit souveräner und sicherer Stimme. Ihr Engagement wurde finanziell ermöglicht durch Produktionspaten – und das hat sich gelohnt. Renards und Kims Duette vermitteln ein wenig ein Aha-Erelebnis – von Zingarelli hat Bellini hörbar etwas gelernt.  Und dann ist da noch Zachary Wilder als Everardo, dessen ausdrucksstarker Tenor für Barockrollen prädestiniert scheint und nur durch leichte Einengungen in der Höhe beeinträchtigt klang, aber das kann bei einem kalten Winter auch naheliegende Ursachen haben. Drei sehr gute Routiniers ergänzen in den kleineren Rollen: den Gilberto singt als Gast Terry Wey, Teobaldo ist Namwon Huh, Julias Amme Matilda ist bei Rinnat Moriah bestens aufgehoben und die knapp 20 Sänger des Heidelberger Chors singen ohne Fehl und Tadel. Dirigent Felice Venanzoni und Philharmonischen Orchester Heidelberg spielen historisch informiert auf sehr gutem Niveau, ein routiniertes Originalklang-Ensemble werden nur sehr wenige vermissen. Die Fassung wurde aus verschiedenen Aufführungsjahren zusammengestellt (auch in Salzburg mit Fagioli und Hallenberg war nicht die Urfassung zu hören).

Die zurückhaltende Inszenierung der Regisseure Nadja Loschky und Thomas Wilhelm konzentriert sich auf das überraschungsfreie Geschehen und schafft es, überzeugende Figuren auf die Bühne zu stellen. (…) . In der Summe eine gelungene und schöne Produktion der Heidelberger Oper, bei der Einsatz und Aufwand sängerisch, musikalisch und szenisch überzeugen (Dezember 2016/ Foto oben: Zingarelli/ Schwetzingen/ Foto Annemone Taake 3). Marcus Budwitius

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Gipfelstürmer

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Vincenzo Bellinis letzte Oper I puritani gehört zu den Gipfelwerken des Belcanto und verlangt Interpreten von Ausnahmeformat. Die Neuaufnahme von EuroArts (2011121, 3 CDs)  muss sich gegen berühmte Dokumente der Vergangenheit behaupten. Für die Sopranpartie der Elvira ist Maria Callas noch immer der Maßstab, auch im Repertoire von Joan Sutherland spielte sie eine zentrale Rolle.

Lisette Opresa als Bellinis Elvira an der Opéra de Paris 2024/youtube/Foto wie oben Euroarts trailer

Jetzt hat die Amerikanerin Lisette Oropesa in der 2023 im Dresdner Kulturpalast eingespielten Aufnahme die Elvira übernommen und damit ihren Rang als derzeit international führende Koloratursopranistin eindrucksvoll behauptet. Ihre Interpretation ist heutig, entbehrt des altmodischen Pathos, welches man bei vielen Sängerinnen der Vergangenheit vernimmt. Die Stimme ist von reizvollem Timbre, sicher in den Spitzentönen und angemessener Bravour für die Bewältigung der schwierigen Skalen und Koloraturen. Ihr erstes Solo, die Polacca am Ende des 1. Aktes, „Son vergin vezzosa“, absolviert sie virtuos. Im Terzetto am Ende des 1. Aktes, „Oh, vieni  al tempio“, ist dagegen ein entrückter, somnambuler Klang gefordert, glaubt sich Elvira doch von ihrem Geliebten verraten. Callas hat diese Szene mit unvergleichlicher Melancholie  gesungen, so in einem Martini&Rossi-Konzert 1956 in Mailand, doch auch Oropesa trifft die Stimmung der Figur genau. Eine von Elviras berühmtesten Nummern ist die Aria im 2. Akt „Qui la voce“ mit der CabalettaVien, diletto“. Die Sängerin setzt hier ein Glanzlicht ihrer Interpretation mit perfekter Phrasierung und betörenden Tönen, ergänzt um stupende Brillanz im Schlussteil. Im letzten Akt vollendet sie ihre Interpretation im Duetto mit Arturo und lässt glanzvolle stratosphärische Töne von mirakulöser Sicherheit hören.

Elviras Geliebter Arturo ist mit dem amerikanischen Tenor Lawrence Brownlee besetzt, einem Spezialisten für die halsbrecherischen Belcanto-Partien, zu denen ja der Arturo in besonderem Maße gehört. Immerhin war er für den legendären Tenor Giovanni Battista Rubini komponiert, der über außerordentliche Fähigkeiten in der tenoralen Extremlage verfügte. Brownlees Stimme zeichnet sich durch stupende Flexibilität aus und brilliert vor allem in der Extremhöhe. Das tückische hohe F bei „Credeasi misera“ im 3. Akt ist stets ein Ton, bei dem man zusammenzuckt, aber hier gerät er spektakulär und fordert den Vergleich mit Salvatore Fisichella in der Bregenzer Aufführung von 1985 heraus. Bemerkenswert ist der totale vokale Einsatz des Sängers, was einen virilen Klang mit sich bringt. Der bei manchen  Rollenvertretern verzärtelte Ton ist hier nicht zu bemerken, dafür findet man bei Brownlee nicht die Weichheit und Eleganz anderer Tenöre. Schon im Quartett des 1. Aktes, „A te. o cara“, werden Arturo Töne in der exponierten Lage abverlangt, Gleiches ist gefordert in der Romanza zu Beginn des 3. Aktes, „A una fonte afflitto e solo/Son già lontani“ und noch stärker im Duetto mit Elvira „Vieni, vieni fra queste braccia“. Der Sänger zeigt sich all diesen Herausforderungen souverän gewachsen und bietet eine Modellinterpretation der Partie.

Der junge amerikanische Bariton Anthony Clark Evans lässt als Riccardo, den der berühmte Antonio Tamburini kreierte,  mit markiger Stimme aufhorchen. Sein Auftritt mit „Ah! per sempre io ti perdei“ imponiert in der maskulinen Energie und kultivierten Linie. Der italienische Bass Riccardo Zanellato gibt mit samtiger Stimme Elviras Onkel Giorgio. Im Duett mit Elvira, „Sai com´arde in petto mio“, überzeugt er mit würdevollem Ton und idiomatischem Gesang, so auch in seiner kantablen Romanza im 2. Akt, „Cinta di fiori“. Spektakulär ist sein Duetto mit Riccardo im Finale II, „Il rival salvar tu dei/Se tra il buo un fantasma vedrai“, das der Bariton im Schlussteil „Suoni la tromba“ mit einem fulminanten Spitzenton krönt.

Die Besetzung komplettieren solide der Bassist Martin-Jan Nijof als Elviras Vater Lord Gualtiero, der Tenor Simeon Esper als Sir Bruno und die Mezzosopranistin Roxana Constantinescu als Enrichetta. Der MDR-Rundfunkchor (Einstudierung: Tilman Michael) und die Dresdner Philharmonie bieten unter Riccardo Frizza ein lebendig pulsierendes Klangbild mit vielen Instrumentalen Feinheiten und Farben. Bernd Hoppe    

Osteuropäische Spätromantik

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Wohl kaum jemand kennt die Werke des kroatischen Komponisten Blagoje Bersa (1873-1934). Dem hat jetzt hinsichtlich seiner Lieder das Label hänssler CLASSIC abgeholfen, indem es in einer Welt-Ersteinspielung eine Doppel-CD herausgebracht hat. Bersa studierte zunächst in Zagreb und von 1896 bis 1899 am Konservatorium der Gesellschaft der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bei Robert Fuchs und Julius Epstein.

Blagoje Bersa/Croation Institute of Music

Während seiner Dirigierverpflichtungen in  Sarajevo, Split, Graz und Osijek lebte er mit kurzen Unterbrechungen in Wien, bis er 1919 nach Zagreb zurückkehrte, wo er ab 1922 bis zu seinem Tod als Professor für Komposition und Instrumentation an der neu errichteten Musikakademie wirkte. Über seine Musik wird geschrieben, dass er den damaligen traditionellen Musikstil durch neue Nuancen in Harmonie und Klangfarben bereicherte. Bersa war in allen Bereichen schöpferisch tätig; außer Kammermusik und Liedern gibt es Orchester-, Chor- und Klavierwerke in seinem Gesamtwerk. Für die Bühne komponierte er das Musikdrama Feuer sowie die Opern Jelka, Oganj (Der Eisenhammer) und Der Schuster von Delft nach Hans Christian Andersen.

Die Doppel-CD mit dem Bassbariton Kresimir Strazanac und dem Pianisten Kresimir Starcevic ist eine ausgesprochen positive Überraschung. Denn die insgesamt 24 Lieder zeugen von großem Melodienreichtum und feinem Nachzeichnen der weitgehend  lyrischen Texte. Aber auch die hochdramatische Stimmung in Herders Ballade Edward, die den Vergleich mit der bekannten Brahms–Vertonung nicht zu scheuen braucht, erfährt eine beeindruckende Wiedergabe. Und damit sind wir bei den beiden kroatischen Interpreten, die bestens aufeinander abgestimmt sind. Besonders aber imponiert die geradezu vollendete Gestaltung durch den Sänger, der auch wegen der tadellosen Diktion und Intonationsreinheit für den Konzert- und Liedgesang wie geschaffen erscheint. CD 1 enthält neben der schon genannten Ballade Vertonungen von vier Heine-Gedichten, bei denen Schubertscher Einfluss unüberhörbar ist. In weiteren, deutsch gesungenen lyrischen Liedern nach Gedichten von Lermontow, Henrik Ibsen und Wilhelm Müller erfreut die technisch fundierte, bruchlose Führung des klaren, klanglich angenehm wirkenden Baritons durch alle Lagen. Auf CD 2 erklingen überwiegend Lieder, die durch kroatische Folklore beeinflusst sind. Hier und in der die CD abschließenden, auf italienisch gesungenen Goethe-Ballade Der König in Thule erweisen sich erneut die Vorzüge des Sängers, dem gemeinsam mit dem durchweg partnerschaftlich mitgestaltenden Pianisten jeweils überzeugende Liedinterpretationen gelingen (hänssler CLASSIC HC23010, 2 CD).

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Nikolai Medtner und seine Frau/Zoo

Nun hat Brilliant Classics mit Volume 5 die Ausgabe sämtlicher Lieder von Nikolai Medtner (1880-1951) abgeschlossen. Wieder sind die in Taschkent geborene Mezzosopranistin Ekaterina Levental aus den Niederlanden und der Piano-Professor Frank Peters aus Amsterdam am Werk, die die gefühlvollen, spätromantischen Lieder des hierzulande wenig bekannten russischen Pianisten und Komponisten ausdeuten. Neben über 100 Liedern ist dieser in erster Linie mit Kompositionen für Klavier hervorgetreten, was sich auch in den Liedern niedergeschlagen hat. Der Titel der CD Geweihter Platz geht auf ein Goethe-Gedicht zurück, dessen Vertonung mit einer langen Vokalise verbunden ist. In der Reihe Sieben Gedichte op.46 geht es um Gedichte von Goethe, Eichendorff und Chamisso. Außerdem interpretieren die Künstler fünf Lieder nach Friedrich Nietzsche und in op. 61 acht Lieder nach Gedichten von Eichendorff sowie – im russischen Original gesungen – Pushkin, Lermontov und Tyutchev; den Ausklang bildet Wie kommt es? von Hermann Hesse.

Insgesamt wirkt sich stets die Vorliebe Medtners für das Klavier aus, weil bei fast allen Liedern es deutlich im Vordergrund steht, so dass die Sängerin es nicht immer leicht hat, verständlich zu sein, was teilweise auch an ihrem nicht durchweg überzeugenden Umgang mit der deutschen Sprache liegen mag. Besonders in der Vokalise im Zusammenhang mit Goethes Geweihter Platz fällt dagegen die gute Führung ihres kräftigen Soprans durch alle Lagen positiv auf. Im Übrigen spüren die Künstler den Stimmungen in den Gedichten sorgfältig nach und erfassen so ihre jeweiligen unterschiedlichen Inhalte. Allerdings singt die Mezzosopranistin mit Ausnahme weniger klarer Spitzentöne mit recht starkem Vibrato, wodurch leider manche Unruhe entsteht. Jedenfalls ist es sehr verdienstvoll, dass die doch weitgehend unbekannten Lieder Medtners mit der Gesamtedition festgehalten sind (Brilliant Classics 98072).  Gerhard Eckels

Clémence de Grandvals „Mazeppa“

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Kaum jemand hat vor dem verdienstvollen Konzert des Münchner Rundfunk Orchesters am 19. Januar 2025 je etwas von der Komponistin Clémence de Grandval (* 21. Januar in Saint-Rémy-des-Monts – † 15. Januar 1907 in Paris) gehört, deren Oper Mazeppa nun zum ersten Mal in moderner Zeit (auch in der daraus resultierenden Aufnahme des Palazzetto Bru Zane) erklang. Aber man stutzt als Opernkenner sofort, denn Mazeppa? Mazeppa? Ist der nicht von Tschaikowsky/Puschkin, von 1884/Moskau? Dieser hier nicht, und zudem von 1892/Grandmoguin & Hartmann nach Puschkin/Paris. Wie dicht aufeinander – haben sie sich gekannt? Sie hat sicher von ihm gehört, war er doch auch in Paris gewesen und war sicher als Komponist dort bekannt. Gibt es Quellen dazu? Puschkin zumindest war die Inspiration für Grandval. Wie bekannt waren russische Komponisten in Frankreich damals überhaupt? Paris war ja stets ein Sehnsuchtsort des Ostens gewesen.

Der griechische Bariton Tassis Christoyannis singt den Mazeppa in Clémence de Grandvals Oper/Palazzetto

Der Palazzetto schreibt zu dieser Oper: Wie andere bedeutende Persönlichkeiten ihrer Zeit – wie ihr Lehrer Camille Saint-Saëns, der für die Aufführung von Étienne Marcel im Februar 1879 auf das Grand-Théâtre in Lyon zurückgreifen musste – wählte Clémence de Grandval Bordeaux für ihre Oper Mazeppa eher aus Zwang als aus Begeisterung für die musikalische Dezentralisierung. Die Pariser Oper, die noch intensiv Werke aus den Jahren 1830-1850 auf den Spielplan setzte, ließ damals wenig Raum für Neues. Nachdem Grandval das Präludium seiner Oper 1888 in Paris konzertant aufgeführt hatte, wartete er vier Jahre auf die erste Aufführung, die der Direktor von Bordeaux – Tancrède Gravière – zu einem nationalen Ereignis machte. Die Rolle der Matréna vertraute er seiner Frau Georgette Bréjan (-Silver) an. Das von Charles Grandmougin und Georges Hartmann verfasste Libretto basiert auf Puschkins düsterer Legende des ukrainischen Helden, die in Westeuropa von Lord Byron und Victor Hugo populär gemacht wurde. Diese Figur bietet den Librettisten vor allem die Gelegenheit, das Thema des Verrats umfassend zu behandeln: Liebe und kindliche Pflicht werden durch Ehrgeiz und Eifersucht auf die Probe gestellt. Die Überschreitung traditioneller Werte führt zu Wahnsinn und Tod. Die Oper wurde von den in Bordeaux anwesenden Journalisten gut aufgenommen – die Mazeppa in die Reihe der Produktionen Massenets stellten – und setzte ihre Karriere an anderen Theatern fort: Antwerpen (1896), Marseille (1897), Montpellier (1904) und Dijon (1905). Wie so oft bei Komponistinnen hielt ihre Verbreitung nach dem Tod der Autorin im Januar 1907 jedoch nicht mehr an.

Man erinnert dann die Dichtung von Lord Byron, dem umtriebigen englischen Tausendsassa, der sich in den griechischen Befreiungskriegen gegen die Osmanen einen Namen gemacht hatte. Der historische Mazeppa war zudem – wie aktuell heute – ein ukrainischer Edelmann und späterer, legendärer Nationalheld. Und prangt dort auf Geldscheinen und Münzen.

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Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Maurice de Vries war der erste Titelsänger/courtesy Charles Mintzer/Rudi van den Bulck Archive

Die Radioübertragung des Konzertes am 19. Januar (2025) erfüllte jede Erwartung und mehr. So sensationell habe ich eine (in diesem Falle große französische) Oper kaum je gehört, und das sage ich nach einem langen Opernerleben. Nicole Carr übertraf sich in der weiblichen Hauptrolle der Matréna um vieles, was ich von ihr kenne: solche leuchtenden Spitzennoten und dazu eine dramatische Kraft, unglaublich. Julien Dran war der umwerfende Tenor Iskra mit unglaublicher Höhe und schönem Ton – das ist eine französische Tenorstimme von schon heldischem Format. Dazu dann Tassis Christoyannis in Bestform als Mazeppa, leidend, empfindsam, auftrumpfend, sonor, sensationell. Und auch die Übrigen (Ante Jerkunica, Paweł Trojak) sowie Chor des Bayerischen Rundfunks (Stellario Fagone) und das Rundfunk Orchester unter Mihhail Gerts schufen ein Tongemälde von enormer Kraft, ohne die vielen, auch  gelegentlich russisch anmutenden lyrische Teile (wie zu Beginn des 3. Aktes) zu vernachlässigen (Tschaikowsky grüßte doch, dazu manche Assoziationen an Zeitgenössisches). Es war ein spannender Abend, der mich drei Stunden am Lautsprecher hielt.

Dazu kam (und kommt) der absolut fabelhafte Service des Bayerischen Rundfunks, online das zweisprachige Libretto (runterladen und aufheben, denn die deutsche Übersetzung von Maria Kohler wurde eigens für dies Konzert erstellt und findet sich im englisch-französischen Palazetto-Buch dann nicht mehr) und das komplette Programmheft zur Verfügung zu stellen (und wie das Konzert für einen Monat als Podcast!). Das ist beispielhaft!

Als Einführung zu dieser ungewöhnlichen Geschichte um Liebe und Rache in der Oper von Clémence de Grandval und zu jenem historischen Mazeppa äußern sich Florian Heurich sowie Natalia Mykhaylychenko zu Byron und Osteuropa, beide mit Dank nachstehend. G. H.

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Die Komponistin Clémence de Grandval/ resmusica

„Eine Prvilegierte des Himmels“: Clémence de Grandval und ihre Oper Mazeppa: „Sie wären sicherlich berühmt, wäre die Autorin nicht eine Frau, was für viele Menschen ein unabänderlicher Fehler ist“, schrieb Camille Saint-Saëns einst über die Lieder von Clémence de Grandval, die als Komponistin, Pianistin und Sängerin eine der vielseitigsten, produktivsten und auch angesehensten Persönlichkeiten des französischen Musiklebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war und dennoch bei der Nachwelt in Vergessenheit geriet. Zu einer Zeit, als das Komponieren, genauso wie Literatur, bildende Kunst und Politik, noch weitgehend eine Männerdomäne war, und komponierende oder musizierende Frauen vor allem als „Amateurinnen“ angesehen wurden, die Werke für den Hausgebrauch oder den semiprivaten Rahmen des Salons schufen, konnte sich Grandval als eigenständige Künstlerin behaupten. Ihr umfangreiches Œuvre umfasst kleine wie große Gattungen, von Kammermusik und Klavierliedern über Messen und sonstige geistliche und oratorische Werke bis hin zu groß besetzten symphonischen Arbeiten und mehreren Opern für verschiedene Pariser Konzertsäle und Theater.

Aber auch die aus adeligem Haus stammende und mit einem wohlhabenden Musikliebhaber verheiratete Grandval musste aufgrund ihrer gut situierten Lebensumstände gegen das Vorurteil einer Komponistin aus Liebhaberei ankämpfen. So schrieb der einflussreiche Musikkritiker und Biograph François-Joseph Fétis in seiner Biographie universelle des musiciens: „Obwohl Madame de Grandval wegen ihrer gehobenen Situation und ihres Vermögens nur als Amateurin angesehen werden kann, ist sie dennoch mit überaus bemerkenswerten Fähigkeiten und einer seltenen Schaffenskraft begabt, besonders für eine Frau, sodass man ihr ohne Gefälligkeit den Titel einer Künstlerin verleihen kann.“ Weniger gönnerhaft äußerte sich Saint-Saëns, der einer von Grandvals Lehrern war und den eine von gegenseitiger Wertschätzung geprägte Freundschaft mit ihr verband: „Es soll mir erlaubt sein zu bemerken, dass mit allen Werken Berlioz’ und Grandvals das französische Repertoire sich nicht zu verstecken braucht.“ Bei mehreren Gelegenheiten stellte Saint-Saëns seine einstige Schülerin und Freundin in eine Reihe mit Gounod, Massenet, Bizet, Delibes und weiteren bedeutenden Komponisten der Zeit.

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„Mazeppa & Theresa“, Postkarte, Illustration zu „The Poems of Lord Byron“, England 1908 Dover Press

Clémence de Grandval wurde am 21. Januar 1828 als Marie-Félicie-Clémence de Reiset auf Schloss Cour du Bois, dem Besitz der Familie Reiset, in Saint-Rémy-des-Monts im nordfranzösischen Département Sarthe geboren. Ihr Vater war ein hochrangiger Militär, ihre Mutter betätigte sich als Schriftstellerin. Früh zeichnete sich eine musikalische Begabung ab, und bereits ab dem Alter von sechs Jahren erhielt Clémence im privaten Rahmen eine fundierte Ausbildung in Gesang, Klavierspiel und später auch in Komposition. Chopin gab ihr Klavierstunden, ihr erster Kompositionslehrer war Friedrich von Flotow, ein Freund der Familie, bei dem sie ab 1842 Unterricht nahm. Mit 21 Jahren trat sie noch unter ihrem Mädchennamen Mademoiselle de Reiset erstmals öffentlich als Komponistin und Interpretin in Erscheinung. Bei einer Salonmatinee führte sie ein von ihr verfasstes Klaviertrio auf und sang einige eigene Lieder, worauf in der Revue et Gazette musicale de Paris zu lesen war, „dass eine Virtuosin mit dieser Stärke wie eine Privilegierte des Himmels erscheint“.

1851 heiratete sie den 15 Jahre älteren Charles-Grégoire Vicomte de Grandval, mit dem sie zwei Töchter hatte; eine starb bereits früh. Die Ehe hinderte sie allerdings nicht daran, weiterhin ihrer musikalischen Berufung zu folgen. Im Gegenteil, nun begann sie auf professioneller Ebene bei Camille Saint-Saëns Komposition zu studieren. Ihr Mann unterstützte ihr Talent und übernahm später sogar die Rolle eines Sekretärs, der mit Impresarios korrespondierte und Zeitungskritiken sammelte. Nach seinem Tod schrieb Clémence an ihre Freundin Pauline Viardot, Komponistin, Sängerin, Pianistin und Salondame wie sie: „Der Freund, den ich verloren habe, war mir so treu ergeben, wie es von nun an niemand mehr sein wird.“

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„Mazeppa“ von Eugène Delacroix, 1824/Wikipedia

Nach vielen Kammermusik- und Salonstücken schrieb Clémence de Grandval in den 1860er Jahren ihre ersten Bühnenwerke, zunächst jedoch noch unter Pseudonymen wie Caroline Blangy, Clémence Valgrand, Maria Felicita de Reiset oder Maria de Reiset Tesier. Für Frauen ihres Standes war das Komponieren für einen kleinen, elitären Kreis zwar durchaus akzeptiert, die Arbeit fürs Theater hatte hingegen immer einen fragwürdigen Beigeschmack, zumal Grandvals erste Bühnenstücke dem leichten Genre wie Operette, Vaudeville oder Opéra comique angehörten: Le sou de Lise wurde 1860 an den Bouffes-Parisiens uraufgeführt und Les fiancés de Rosa 1863 am Théâtre-Lyrique. Mit La Comtesse Eva, uraufgeführt 1864 in Baden-Baden, trat sie erstmals unter ihrem richtigen Namen als Opernkomponistin an die Öffentlichkeit. Es folgten noch La pénitente (Opéra-Comique, 1868), Piccolino (Théâtre-Italien, 1869) und wesentlich später Mazeppa, ihre umfangreichste Oper, die 1892 am Grand Théâtre de Bordeaux Premiere hatte. Nach vielen Jahren, in denen sich die Komponistin vor allem mit geistlicher und symphonischer Musik beschäftigt hatte, sprechen aus dieser Oper nun eine künstlerische Reife, eine emotionale Tiefe und eine Ernsthaftigkeit in Sujet und musikalischer Ausformulierung, die sie von den früheren Bühnenwerken abheben.

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Zu Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Illustration zum 4. Akt der Uraufführung/L’Univers illustré, 7 mai 1892/Wikipedia

Da sie selbst Sängerin war, lag Grandval die menschliche Stimme besonders am Herzen. Dies schlug sich nicht nur in ihren Opern und Liedern nieder, sondern auch in einer Reihe von geistlichen Werken mit Gesang, von denen das erfolgreichste ein Stabat mater (1870) war, sowie in den Oratorien Sainte Agnès (1876) und La fille de Jaïre (1880) oder dem Poème lyrique La forêt für Soli, Chor und Orchester (1874). Darüber hinaus schrieb sie ein Oboenkonzert (1878), das oft von dem berühmten Solisten und Musikpädagogen Georges Gillet aufgeführt wurde und ein beliebtes Prüfungsstück des Pariser Konservatoriums war.

Die Komponistin war mehr und mehr zu einer bestens etablierten Größe des Pariser Musiklebens geworden, ihre Werke wurden in vielen Kirchen und Konzertsälen dargeboten, für La fille de Jaïre erhielt sie den von der Académie des Beaux-Arts verliehenen Prix Rossini, und eine neue Konzertreihe mit dem Titel L’art moderne widmete Grandval 1878 das Eröffnungskonzert. Sie spielte eine wichtige Rolle in der gerade gegründeten Société nationale de musique, wo sich die Avantgarde der französischen Musik traf, und bei deren Konzerten in der Salle Pleyel. Zudem kam in ihrem Salon alles zusammen, was Rang und Namen hatte: Daniel-François-Esprit Auber, Ambroise Thomas, Charles Gounod, Georges Bizet, Pauline Viardot, Giacomo Meyerbeer und viele weitere Musiker, Literaten, Künstler und Persönlichkeiten der Gesellschaft.

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„Mazeppa in the Romantic Arts“ von Albert Brussee bei AB Music Productions & Editions ist eine spannende Abhandlung zum Thema (Amazon und andere)

1886 war der Tod ihres Mannes, der während der Ehe meist hinter seine komponierende Frau zurückgetreten war und im Hintergrund vieles organisiert hatte, ein schwerer Schlag für Clémence de Grandval. Dennoch ging sie auch danach weiterhin ihrer Berufung nach, die schon längst zu einem den Lebensunterhalt sichernden Beruf geworden war. Mit Mazeppa schuf sie einen letzten Höhepunkt in ihrem Gesamtwerk. Bereits die Uraufführung in Bordeaux fand großen Anklang, und eine weitere Aufführung zwei Jahre später in der Pariser Salle Pleyel in einer Fassung mit Klavierbegleitung, bei der Grandval selbst den Klavierpart übernahm, wurde in der Presse als Ereignis gefeiert: „Mme de Grandval hat es verstanden, persönlich zu bleiben, ohne irgendetwas von der jungen Schule mit ihren Übertreibungen zu übernehmen und ohne alte Traditionen und einen aus der Mode gekommenen Stil, mit dem sich der moderne Geschmack nicht vertragen würde, zu bewahren. […] Die Gesetze der Tonalität werden beachtet, und die Melodien heben sich mit Regelmäßigkeit, perfekter Symmetrie und großer Intensität ab.“ Nach diesem letzten großen Bühnenwerk war die Künstlerin zwar nach wie vor präsent im französischen Musikleben, schränkte ihre Konzertauftritte jedoch mehr und mehr ein und komponierte immer weniger. Sie starb am 15. Januar 1907 in Paris.

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Mit der fünfaktigen Oper Mazeppa auf ein Libretto von Charles Grandmougin und Georges Hartmann schuf Grandval ein groß dimensioniertes Bühnenwerk, dessen Musiksprache dem Stil des späten 19. Jahrhunderts voll und ganz entspricht – mit längeren, durchkomponierten Szenenkomplexen, aus denen sich solistische Passagen im Sinne von Arien, Duetten oder Terzetten herausschälen. Die Wahl eines osteuropäischen Sujets, nämlich die Geschichte des ukrainischen Kosakenhauptmanns Mazeppa, die bereits Tschaikowsky zu einer Oper inspiriert hatte, erscheint ungewöhnlich für die französische Musik. Zwar unterscheidet sich die Handlung wesentlich von Tschaikowskys Oper, das Libretto basiert aber auf denselben Vorlagen, etwa auf dem Gedicht Poltawa von Alexander Puschkin, in dem die historischen Begebenheiten um den im 17. Jahrhundert lebenden Iwan Mazeppa als Legende geschildert werden. Möglicherweise war Grandval durch Achille de Lauzières – Librettist ihrer Oper Piccolino, der bereits einen Mazeppa-Text verfasst hatte – auf dieses Sujet gestoßen.

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Zu Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Le Monde illustré, 23 avril 1892. Illustration reprise dans La Gironde illustrée (24 avril 1892) et dans le journal italien Il teatro illustrato/BNF/Gallica

In ihrer Musik greift Grandval das Nebeneinander einer historisch-politischen Handlung und einer Liebesgeschichte auf, mit effektvollen Ensembles und Massenszenen einerseits und intimen lyrischen Momenten andererseits. Die heroischen Taten des vom Volk gefeierten Mazeppa, der jedoch allmählich die Seiten wechselt, stehen neben der privaten Liebesbeziehung zwischen ihm und Matréna, wobei diese Verbindung schließlich zu einem Abhängigkeits-Verhältnis wird und im Wahnsinn Matrénas und der Verdammnis Mazeppas endet. Besonders wirkungsvoll sind das Finale des I. Akts, wenn Mazeppa dazu auserwählt wird, die Ukrainer zum Sieg zu führen, und vor allem das Finale des IV. Akts. Beginnend mit der Ankunft der gefangenen Ukrainer, unter denen sich auch der alte Kotchoubey, Matrénas Vater, befindet, entwickelt sich diese Szene in einer dramatischen Steigerung bis zum Fall und der Verfluchung des mittlerweile zum Verräter gewordenen Mazeppa.

„Mazeppa“: Die notorische amerikanischen Schauspielerin Ada Menken trat in England und Amerika als Mazeppa in einer Bühnenversion des Byron-Gedichtes mit großem Erfolg auf, hier das Poster zu eine Vorstellung im Londoner Adelphy 1886. Zu ihrem amerikanischen Wirken hiess es: „Her role in the melodrama Mazeppa (based on Lord Byron’s poem) which opened in 1861 in Albany, NY, created a sensation. Dressed in a flesh-colored body stocking which gave the illusion that she was nude, she appeared strapped to a horse which “galloped” down a ramp towards the audience.“/newyorkalmanack.com

Lyrisches Herzstück der Oper ist der III. Akt, der mit einer Arie der Titelfigur beginnt und zu einem ausgedehnten Duett mit Matréna wird. Auch in Matrénas Szene im II. Akt und im sich anschließenden Duett mit Iskra zeigt sich Grandval als eine Komponistin, die der Gesangsstimme dankbare Entfaltungsmöglichkeiten gibt. In den reinen Orchestersätzen wie dem Prélude, das Mazeppas wilden Ritt durch die Steppe schildert, dem Entracte zu Beginn des III. und dem Divertissement im IV. Akt, also der Ballettmusik mit ihren Anklängen an die osteuropäische Folklore, schreibt Grandval eine suggestive, farbenreiche und die Szenerie illustrierende Musik mit dezentem Lokalkolorit. Zudem werden die Hauptfiguren von Beginn an durch kurze, fast leitmotivische Themen charakterisiert, die immer wieder auftauchen. Die Oper endet in einer Art Wahnsinnsszene, in der Grandvals Gespür für Theatralik und musikdramatischen Effekt bestens zum Ausdruck kommt.

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In der Presse wurde der Wunsch laut, dass Mazeppa auch an der Pariser Opéra gespielt werden sollte, jedoch blieben Grandvals Versuche, ihr Werk an die führende Bühne der französischen Metropole zu bringen, erfolglos. Es wurde in den Jahren darauf noch in Antwerpen (1896), Marseille (1897), Montpellier (1904) und Dijon (1905) gezeigt, mit dem Tod Grandvals 1907 verschwand es jedoch von den Spielplänen. Aber auch wenn die Nachwirkung dieser Oper ausblieb, so ist sie doch das eindrucksvolle Hauptwerk einer vergessenen Komponistin des 19. Jahrhunderts, die sich neben Musikerinnen wie Louise Farrenc, Louise Bertin, Pauline Viardot oder Cécile Chaminade ihren Platz in einer Männerdomäne erkämpft hatte. Florian Heurich

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Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur und lebt in München. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, den MDR und andere ARD-Anstalten über Themen in den Bereichen Oper, Literatur, Neue Musik und Weltmusik. Er schreibt für die Publikationen der Staatstheater Stuttgart und produziert Videoformate für die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Osterfestspiele.

Legende und Wirklichkeit:  Iwan Mazeppa, ein Feldherr zwischen den Fronten. „Er rast, er fliegt, er fällt und steht als König wieder auf!“ Dies sind die letzten Worte in einem Gedicht von Victor Hugo, in dem er die Legende von Mazeppa schildert: Als Strafe für ein illegitimes Verhältnis mit einer Adligen wurde er nackt, Rücken an Rücken auf sein Pferd gebunden, das nun durch die Steppe galoppiert. Nach einigen Tagen stirbt das Tier, und auch Mazeppa ist dem Tode nah, als er von Kosaken aufgefunden wird, die ihn mit in die Ukraine nehmen und zu ihrem Anführer im Kampf gegen die Russen machen. Auch Lord Byron und Alexander Puschkin greifen diese Legende auf.

Aber wer war Mazeppa wirklich? Iwan Mazeppa wurde 1639 in der Ukraine geboren, war Page am polnischen Hof und stieg später zum Hetman (hochrangiger Feldherr) der Kosaken auf. Als Verbündeter des Zaren Peter I. kämpfte er zunächst für Russland, wechselte dann aber die Seiten und verbündete sich mit dem schwedischen König Karl XII., der versprach, die Ukraine zu beschützen. Mazeppa selbst beteuerte, dass seine Loyalität immer ausschließlich dem Kosakenheer und der ukrainischen Nation gelte, keinem König oder Zaren. Im Großen Nordischen Krieg zog er für Schweden in die Schlacht von Poltawa (Ukraine), verließ nach der Niederlage jedoch das Land, floh in Richtung Osmanisches Reich und starb 1709 im heutigen Transnistrien in Moldawien.

In der russischen Geschichtsschreibung gilt Mazeppa als negative Figur; Zar Peter I. ließ sein Bild am Galgen aufhängen, und die Russisch-orthodoxe Kirche belegte ihn mit dem Kirchenbann. In der Ukraine hingegen verehrt man ihn als Nationalhelden. So ist er etwa auf dem Zehn-Griwna-Schein abgebildet und wird von der Orthodoxen Kirche der Ukraine verehrt. Florian Heurich

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Jean-Pierre Norblin de la Gourdaine Mazeppa, 1775/ collections.artsmia.org

Zum Inhalt: In der Ukraine um 1700, mitten im Kosakenkrieg. 1.  Akt:  In der Steppe. 1. Szene. Im frühen Morgenrot liegt Mazeppa, ein polnischer Edelmann, ohnmächtig auf der Erde. Zu sich kommend, beklagt er sein schweres Los. Von weither sind Stimmen zu vernehmen, die Mazeppa aufgrund seiner Ermattung aber für Illusion hält. 2. Szene.  Matréna, die Tochter des Fürsten Kotchoubey, hat Mazeppas Hilfeschrei gehört und eilt herbei. Geblendet von ihrer Schönheit, fragt Mazeppa, wohin er sich verirrt habe. 3. Szene. Das Volk der Kosaken jubelt Kotchoubey, seinem Fürsten, zu. Dieser heißt Mazeppa willkommen und erkundigt sich nach seiner Herkunft und seinen Erlebnissen: Mazeppa, einst Page am polnischen Hof, ließ sich auf eine illegitime Liaison ein und zog dadurch die Eifersucht eines Nebenbuhlers auf sich. In dessen Machenschaften verstrickt, wurde er entführt und auf ein Pferd gebunden in die Steppe hinausgejagt. Kotchoubey lädt Mazeppa ein, sich dem ukrainischen Heer anzuschließen und gegen seine einstigen Landsmänner für die Freiheit der Ukraine zu kämpfen. 4. Szene.  Kotchoubey wird mit großer Zustimmung zum ukrainischen Anführer erkoren, doch er dankt Mazeppa zuliebe ab. Erbittert setzt sich Iskra dagegen zur Wehr. Seine Worte entfachen einen heftigen Zwist, den Kotchoubey aber zu beschwichtigen vermag. Unter allgemeinem Jubel, in den nun auch Matréna einstimmt, wird Mazeppa zum Feldherrn gekürt. Neidgetrieben gelobt Iskra Rache.

„Masepa und Karl XII. nach der Schlacht von Poltawa“ (Gustaf Cederström)/Wikipedia

2. Akt. 1. Bild. Im Haus von Kotchoubey. 1. Szene.Matréna ist von Mädchen umringt. Sie stimmen ein Gebet zur Jungfrau Maria an. Matréna bittet um die Rückkehr Mazeppas, der das ukrainische Heer in den Krieg geführt hat. 2. Szene.  Kotchoubey kommt hinzu und preist die Tapferkeit Mazeppas, der selbst den Tod nicht scheut. Sein heldenhaftes Opfer werde den ruhmreichen Sieg krönen. Matréna zuckt zusammen. Beschwichtigend weissagt Kotchoubey die glückliche Rückkehr Mazeppas. 3. Szene. Nachdem Kotchoubey sich entfernt hat, gesteht sich Matréna ihre Liebe zu Mazeppa ein. Verzückt wünscht sie ihn herbei. 4. Szene. Iskra, der sie unbemerkt beobachtet hat, ergeht sich in Liebesbeteuerungen. Kühl antwortet Matréna ihm, sie würden nie zusammenkommen – ihre Zuneigung ihm gegenüber sei die einer Schwester. Von Eifersucht durchdrungen, behauptet er, Mazeppa sei tot. Aus Verzweiflung bekennt sie gegenüber Iskra schließlich ihre Liebe zu Mazeppa. Von draußen ertönen Jubelrufe: „Es lebe Mazeppa.“

2. Akt. Platz in Poltawa. 1. Szene.  Volk und Heer bejubeln Mazeppa. Er wendet sich an Matréna: Ihr Bild habe ihm zum Sieg verholfen. Die Schar begibt sich zur Kirche. 2. Szene.  In finsteres Grübeln versunken, trauert Iskra seiner Liebe zu Matréna nach. Gegenüber Kotchoubey verdächtigt er Mazeppa des Verrats. Kotchoubey erliegt den Ränken Iskras, während aus der Kirche heraus das Volk noch dem neuen Anführer seine Ehre erweist. 3. Szene. Als das Volk aus der Kirche tritt, wirft Iskra Mazeppa Verrat vor. Mazeppa wiederum erinnert die wutentbrannte Menge an den Sieg, den er als Feldherr erkämpfte. Mit dem Volk nunmehr auf seiner Seite droht er Iskra, er werde sich für die Revolte rächen. Matréna erfleht Mazeppa zu Füßen Gnade für Iskra. Das Volk bricht abermals in Jubelrufe aus. Nur einer lässt sich nicht davon mitreißen: Kotchoubey.

Titelblatt zur Mazurka aus Themen der Oper „Mazeppa“ von Clémence de Grandval, Pauline Viardot gewidmet/Palazzetto Bru Zane

3. Akt. Kotchoubeys Garten. 1. Szene. Im Mondlicht wartet Mazeppa auf seine Geliebte. Von seinen Gefühlen beflügelt, gibt er der Furcht vor Iskra keinen Raum. 2. Szene.  Matréna erscheint und schwört Mazeppa ewige Liebe. Als das Paar beschließt zu fliehen, überkommt Matréna die Erinnerung an ihren Vater. Sie vernehmen Schritte und verbergen sich in einer Hütte. 3. SzeneKotchoubey befiehlt Iskra, den Zaren von Mazeppas Verrat – nämlich einem Bündnis mit den Schweden – zu unterrichten. Matréna hört im Verborgenen alles und bleibt dennoch unbeirrt in ihrem Vertrauen auf Mazeppas Unschuld. 4. Szene.  Nachdem Kotchoubey und Iskra sich entfernt haben, nötigt Mazeppa seiner Geliebten den Schwur zum Gehorsam ab.

4. Akt.  Im Palast von Baturyn. 1. Szene.  Im prunkvollen Palast von Baturyn wird reichlich getafelt. Mazeppa und seine Krieger stoßen auf das Volk und die Liebe an. Den Feierlichkeiten wohnt auch Matréna bei, die inmitten anderer Mädchen in Festtagskleidung erscheint. Sie besingt das Vaterland und die Liebe. Doch immer wieder beschleicht Wehmut ihr Lied. Ungeduldig heißt Mazeppa die Musikanten, einen beschwingten Tanz anzustimmen. Noch ehe dieser verklingt, ertönt von Weitem Trauermusik. Ungeachtet der bangen Fragen Matrénas gebietet Mazeppa der Kapelle weiterzuspielen. Im Hintergrund ist nun der Trauerzug zu sehen. Der zum Tode Verurteilte ist Kotchoubey. 2. Szene. Verzweifelt erfleht Matréna von Mazeppa Gnade für ihren Vater. Doch Kotchoubey weist seine Tochter grimmig ab und verflucht sie. Als der Trauerzug im Begriff ist, sich zu entfernen, stürmt Iskra mit seiner Eskorte herbei. Er tut das Urteil des Zaren kund: Mazeppa sei ein Verräter. Auf dessen nachdrückliche Anweisung, Iskra festzunehmen, reagieren die Wachen nicht. Der den Trauerzug anführende Archimandrit enthebt in seiner Funktion als Herold des Zaren Mazeppa seiner Stellung. Matréna fleht ihren Vater um Vergebung an. Unerbittlich verwünscht er sie samt Mazeppa. Iskra und das Volk stimmen in den Fluch ein.

5. Akt. In der Steppe. Mazeppa denkt an seine Abenteuer zurück und wünscht sich den Tod. Aus der Ferne ist Matrénas Stimme zu vernehmen. Vollkommen in sich gekehrt, erkennt sie ihn nicht. Mazeppa offenbart sich ihr und bittet um Vergebung, die sie ihm schroff versagt. Entseelt sinkt sie zu Boden. Mazeppa stürzt auf ihre Leiche. (Programmheft zum Konzert)

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„Mazeppa“: Lord Byron in albanischem Kostüm/ Ölbild von Thomas Philips, ca. 1835/Wikipedia

Dazu ein Einblick in die Geschichte Osteuropas durch Lord Byrons Gedicht Mazeppa: Im Jahr 1819 schrieb der bekannte englische Dichter der Romantik, Lord George Byron (1788-1824), ein erzählendes Gedicht über eine ukrainische historische Figur, Ivan Mazepa (1639-1709), die den Westeuropäern zu dieser Zeit kaum bekannt war. Im Laufe des 19. Jahrhunderts inspirierte Byrons Gedicht Mazeppa, von dem die Fisher-Bibliothek Toronto die erste Ausgabe besitzt, viele andere Künstler dazu, literarische, visuelle und musikalische Meisterwerke über ihn zu schaffen.

Ivan Mazepa (dies ist eine gebräuchlichere Schreibweise seines Namens im Gegensatz zu Mazeppa) war ein militärischer und politischer Anführer oder Hetman, der ukrainischen Kosaken-Hetmanate, einem autonomen Staat innerhalb Russlands zu dieser Zeit. Er war ein Adliger, ein geschickter und hochgebildeter Diplomat, polyglott, Förderer der Künste und Fürst des Heiligen Römischen Reiches. Mazepa ist für seine Rolle in der Schlacht von Poltawa im Jahr 1709 während des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) bekannt, als seine Kosakentruppen sich im Rahmen eines geheimen Austauschs für die Unterstützung der ukrainischen Unabhängigkeit durch Schweden auf die Seite der schwedischen Armee von König Karl XII. gegen Russland stellten. Die Schlacht und später der Krieg führten zum Sieg Russlands, wodurch das Land zu einem mächtigen Staat wurde und der Lauf der Geschichte in Osteuropa verändert wurde.

Lord Byrons Gedicht basiert auf einer legendären Episode aus Mazepas früherem Leben in Polen, wo er als Page am Hofe von Johann II. Kasimir Wasa diente. Der junge Mann verliebte sich in die Frau eines Grafen, und als ihr Ehemann von der Affäre erfuhr, ließ er Mazepa nackt an ein wildes Pferd binden und dieses loslassen. (Die Szene ist in einem Gemälde, Mazeppa, von Théodore Géricault dargestellt, siehe unten.) Das Pferd ritt ostwärts und brachte ihn zurück in den Kosakenstaat, wo Mazepa später Hetman wurde.

Iwan Masepa/russ./Wikiwand

Wie die meisten romantischen Gedichte konzentriert sich Mazeppa auf die emotionale Erfahrung und die innere Welt des Helden, die durch die Darstellung der Landschaften, die der junge Mann durchquert, anschaulich zum Ausdruck gebracht werden. Die tiefe Symbolik des Werkes trägt dazu bei, das Bild Mazepas zu enthüllen. Die lange und strapaziöse Reise auf dem Rücken des Pferdes durch die Wildnis der ukrainischen Steppen, Wälder und reißenden Flüsse ist eine farbenfrohe Metapher für Mazepas entschlossene und leidenschaftliche Natur. Wie in seinem wirklichen Leben musste Mazepa Hindernisse und Gefahren überwinden, die durch die Wölfe und Krähen verkörpert werden, denen er begegnete. Das ausdauernde Wildpferd, das den jungen Mann in seine Heimat trägt, spielt auf das Streben nach Freiheit an:

Away, away, my steed and I, /Upon the pinions of the wind, /All human dwellings left behind; /We sped like meteors through the sky, /When with its cracking sound the night/Is chequer’d with the northern light.

In der romantischen Literatur ist das Pferd ein Symbol für Glück und Schicksal. Die Darstellung des wilden Pferdes, das Mazepa durch Wälder und Steppen von Polen in die Ukraine trägt, veranschaulicht die Beharrlichkeit auf dem schwierigen Weg zwischen Leben und Tod.

„Mazeppa“ als Film: „Mazeppa, or the Wild Horse of Tartary „(1910)/ Selig Polyscope Company; 1919 findet sich zudem ein deutscher Film von Helmut Berger/B Z Film GmbH: „Mazeppa, Volksheld der Ukraine“, wie auf dem Poster für das Berliner Marmorhaus angezeigt.

Byron schrieb sein Gedicht Mazeppa während einer Reise durch Italien, das sich mitten in der Befreiungsbewegung gegen Österreich befand. Als begeisterter Anhänger des Unabhängigkeits-Kampfes europäischer Nationen, insbesondere Italiens und Griechenlands, könnte der Dichter aus diesem Grund motiviert worden sein, über den Anführer des Kosakenstaates zu schreiben, der ebenfalls darum kämpfte, sich von der kaiserlichen Herrschaft zu befreien. Lord Byron war nicht der einzige Künstler, dessen Fantasie vom außergewöhnlichen Schicksal Iwan Masepas gefesselt wurde.

Tatsächlich wurde Byron selbst dazu inspiriert, sein Gedicht über den dramatischen Vorfall aus dem Leben des jungen Hetmans zu schreiben, nachdem er in Voltaires Geschichte Karls XII., König von Schweden (1731) davon erfahren hatte. Nach Byron nahm Victor Hugo in seiner Sammlung Les orientales (1828) sein eigenes Gedicht Mazeppa als seine poetische Interpretation der Episode auf.

Die Legende über das Pferd, das mit dem zukünftigen Hetman ausgesetzt wurde, faszinierte viele französische Maler der Romantik – Géricault, Eugène Delacroix, Horace Vernet, Nathaniel Currier, Théodore Chassériau und Louis Boulanger. Die Geschichte fand auch Eingang in Musikwerke wie die symphonische Dichtung Mazeppa des ungarischen Komponisten Franz Liszt sowie in Theaterstücke (z. B. das Drama Mazepa des polnischen Dichters der Romantik Juliusz Słowacki). Diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig.

Das erzählende Gedicht Mazeppa zeigt die Kraft der Poesie, einer prägnanten und doch eloquenten Kunst, die es uns ermöglicht, in der Geschichte zurückzugehen und die geopolitische Lage der Zeit, die wichtigsten Entwicklungen und Persönlichkeiten der Staatsführer in nur wenigen tausend Worten zu erkunden. Durch symbolische Vergleiche, rhythmische Verse und eine lebendige Darstellung von Charakteren und Atmosphäre kann man leicht dazu verleitet werden, mehr über die Geschichte und den Aufbau der Nationen der heute existierenden Staaten zu erfahren. (…)  Natalia Mykhaylychenko, Akquisitionsspezialistin/Fisher Library Toronto

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Und schließlich noch ein Beitrag von der chinesischen KI-Datenbank DeepSeek zu Russischen Opern im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts:  In den 1870er und 1880er Jahren waren russische Opern in Paris noch relativ unbekannt, aber es gab einige bemerkenswerte Ereignisse, die dazu beitrugen, das Interesse an russischer Musik in der französischen Hauptstadt zu wecken.

Weltausstellung 1878 in Paris: Die Weltausstellung von 1878 in Paris war ein wichtiges Ereignis, bei dem auch russische Kultur und Musik präsentiert wurden. Russische Komponisten wie Nikolai Rimski-Korsakow und Alexander Borodin waren vertreten, und es gab Aufführungen russischer Musik, darunter auch Ausschnitte aus Opern. Dies war eine der ersten Gelegenheiten, bei der ein breiteres Pariser Publikum mit russischer Opernmusik in Kontakt kam.

Zu Grandvals „Mazeppa“: Ivan Korsow in der Titelrolle von Tschaikowskys gleichnamiger Oper in der Uraufführung des Werkes/Ipernity

Einfluss von Tschaikowsky: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, einer der bekanntesten russischen Komponisten, begann in den 1870er und 1880er Jahren international anerkannt zu werden. Seine Werke, darunter auch Opern wie Eugen Onegin (1879), wurden jedoch in Paris in dieser Zeit noch nicht regelmäßig aufgeführt. Tschaikowsky selbst besuchte Paris mehrfach und seine Musik wurde dort gelegentlich gespielt, aber seine Opern waren noch nicht Teil des regulären Repertoires.

Russische Gastspiele: In den 1880er Jahren gab es vereinzelte Gastspiele russischer Künstler und Ensembles in Paris, die auch Opernaufführungen beinhalteten. Diese Veranstaltungen waren jedoch eher selten und richteten sich oft an ein spezialisiertes Publikum, das bereits ein Interesse an russischer Kultur hatte.

Einfluss der „Mächtigen Häuflein“: Die Gruppe der „Mächtigen Häuflein“ (auch bekannt als „Das mächtige Häuflein“ oder „Die Fünf“), zu der Komponisten wie Modest Mussorgski, Alexander Borodin und Nikolai Rimski-Korsakow gehörten, begann in den 1870er Jahren, eine eigenständige russische Musiktradition zu entwickeln. Ihre Werke, darunter Opern wie Mussorgskis Boris Godunow (1874), wurden in Russland aufgeführt, fanden aber nur langsam den Weg nach Westeuropa. In Paris waren diese Opern in den 1870er und 1880er Jahren noch kaum bekannt.

Kultureller Austausch: Der kulturelle Austausch zwischen Russland und Frankreich nahm in dieser Zeit langsam zu, insbesondere durch die Bemühungen von Musikverlegern und Kritikern. Einige französische Musiker und Intellektuelle begannen, sich für die russische Musik zu interessieren, was in den folgenden Jahrzehnten zu einer stärkeren Präsenz russischer Opern in Paris führte.

Fazit: In den 1870er und 1880er Jahren waren russische Opern in Paris noch nicht weit verbreitet, aber es gab erste Anzeichen eines wachsenden Interesses. Die Weltausstellung von 1878 und vereinzelte Gastspiele russischer Künstler trugen dazu bei, das Pariser Publikum mit russischer Musik vertraut zu machen. Die eigentliche Popularität russischer Opern in Paris sollte jedoch erst in den folgenden Jahrzehnten, insbesondere im frühen 20. Jahrhundert, mit den Ballets Russes und den Aufführungen von Werken wie Boris Godunow und Der goldene Hahn, zunehmen.

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Zu Grandvals „Mazeppa“: Georgette Silver-Bréval war die erste Matréna/Ipernity

Gibt es Hinweise darauf dass Tschaikowkis Oper Mazeppa damals in Westeuropa bekannt war? Tschaikowskis Oper Mazeppa, die 1884 uraufgeführt wurde, war in den 1880er Jahren in Westeuropa, einschließlich Frankreich, noch nicht sehr bekannt. Es gibt jedoch einige Hinweise darauf, dass das Werk langsam an Aufmerksamkeit gewann, insbesondere in Kreisen von Musikern und Musikliebhabern, die sich für russische Musik interessierten.

Begrenzte internationale Präsenz: Mazeppa wurde am 15. Februar 1884 in Moskau uraufgeführt und später im selben Jahr in St. Petersburg aufgeführt. Obwohl die Oper in Russland erfolgreich war, dauerte es einige Zeit, bis sie außerhalb Russlands bekannt wurde. In den 1880er Jahren gab es nur wenige Aufführungen von Tschaikowskis Opern in Westeuropa, und Mazeppa war keine Ausnahme.

Tschaikowskys wachsender internationaler Ruf: Tschaikowsky selbst begann in den 1880er Jahren international anerkannt zu werden, vor allem durch seine symphonischen Werke und Ballette wie Schwanensee (1876) und Dornröschen (1890). Seine Opern, darunter Mazeppa, waren jedoch weniger bekannt. Tschaikowsky unternahm in den 1880er Jahren mehrere Reisen nach Westeuropa, darunter nach Paris, wo er seine Musik dirigierte und Kontakte zu westlichen Musikern knüpfte. Dies trug dazu bei, sein Gesamtwerk bekannter zu machen, aber Mazeppa blieb zunächst im Hintergrund.

Veröffentlichungen und Kritiken: Es gibt Hinweise darauf, dass Partituren und Klavierauszüge von Tschaikowskys Werken, darunter auch Mazeppa, in den 1880er Jahren in Westeuropa veröffentlicht wurden. Dies ermöglichte es Musikern und Kritikern, sich mit dem Werk vertraut zu machen, auch wenn es nicht häufig aufgeführt wurde. Einige westliche Musikkritiker begannen, sich für Tschaikowskys Opern zu interessieren, und es gab vereinzelte Erwähnungen von Mazeppa in Fachzeitschriften.

Erste Aufführungen außerhalb Russlands: Die erste Aufführung von Mazeppa außerhalb Russlands fand 1888 in Prag statt, was ein wichtiger Schritt für die internationale Verbreitung der Oper war. In Westeuropa, insbesondere in Frankreich, gab es jedoch in den 1880er Jahren noch keine nennenswerten Aufführungen. Die Oper wurde erst später, im frühen 20. Jahrhundert, in westeuropäischen Ländern bekannter.

Kultureller Austausch: Der kulturelle Austausch zwischen Russland und Westeuropa nahm in den 1880er Jahren zu, und Tschaikowsky spielte dabei eine wichtige Rolle. Seine Bekanntschaft mit westlichen Komponisten wie Antonín Dvořák und Edvard Grieg sowie seine Auftritte in Westeuropa trugen dazu bei, dass seine Musik, einschließlich seiner Opern, langsam auch im Westen bekannt wurde.

Fazit: In den 1880er Jahren war Tschaikowskis Oper Mazeppa in Westeuropa, einschließlich Paris, noch nicht weit verbreitet. Es gab jedoch erste Anzeichen eines wachsenden Interesses, insbesondere durch die Veröffentlichung von Partituren und die zunehmende internationale Anerkennung Tschaikowskys. Die eigentliche Popularität von Mazeppa in Westeuropa sollte erst in den folgenden Jahrzehnten zunehmen, als Tschaikowskys Werk insgesamt bekannter wurde und seine Opern häufiger auf internationalen Bühnen aufgeführt wurden. DeepSeek

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Dank an Florian Heurich und an Doris Sennefelder vom Rundfunk Orchester des Bayerischen Rundfunks sowie an Natalia Mykhaylychenko von der Fisher Library Toronto; das Konzert von Clémence de Grandvals Mazeppa wurde am 19. januiar 2025 auf BR gesendet und ist als Podcast einen Monat lang zu hören. Besetzung: Nicole Car/Matréna, Tochter von Kotchoubey; Julien Dran/Iskra; Tassis Christoyannis /Mazeppa; Paweł Trojak/Der Archimandrik; Ante Jerkunica/Kotchoubey; Chor des Bayerischen Rundfunks/Stellario Fagone; Münchner Rundfunkorchester/Mihhail Gerts.

Koproduktion mit Palazzetto Bru Zane – Centre de musique romantique française; Livemitschnitt für die Reihe der CD-Bücher „Opéra français“ unter dem Bru Zane Label; Liveübertragung im Radio auf BR-KLASSIK am 19. Januar 2025: rundfunkorchester.de/audio-video brklassik.de/programm/radio: Französisch-deutsches (!) Libretto: rundfunkorchester.de/mazeppa.

Dank auch an meinen Kollegen und Freund Matthias Käther für seinen Blick in die chinesische KI-Platform DeepSeek, die sich bei allen Vorbehalten als außerordentlich kompetent erweist.-

Abbildung oben/Ausschnitt: Gemälde von Iwan Mazeppa, Pawliszak, Wacław (1866-1905); Nationalmuseum Warschau, Public Domain

Lieder aus zwei Heimaten

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Mit ihrem Debütalbum Heimwee schlägt die südafrikanische Sopranistin Linda van Coppenhagen eine aufschlussreiche Brücke zwischen den Kulturen, wenn hier die deutsche Romantik ausgesuchten Liedern eines südafrikanischen Komponisten begegnen. Linda Van Coppenhagen und ihre Mitmusikerin, die Klarinettistin Friederike von Oppeln-Bronikowski sowie der Pianist David Grant schaffen hier in symbiotischer Interaktion ein berührendes Ganzes mit Entdeckungswert.

Als einer der wenigen hat Louis Spohr in seinen Sechs Deutschen Lieder op. 103 das Potenzial der Kombination Stimme plus Klarinette plus Klavier erkannt. Bereits im ersten Lied Sei still mein Herz wird die Dialogstruktur zwischen Klarinette und Gesang deutlich: Die Klarinette agiert als „zweite Stimme“, die das Unaussprechliche hinter den Worten weiter verstärkt, was auch für die weiteren Stücke in diesem Zyklus so wirkt.

Kaum hierzulande bekannt ist Kammermusik aus Südafrika, deren Tradition trotz der historischen Konnotationen der Apartheid hohen Respekt verdient. Das beweisen nicht zuletzt die Werke von Stephanus Le Roux Marais (1896-1979), dessen Liedkompositionen durch die Interpretation auf dieser CD wie echte Kostbarkeiten funkeln. Insbesondere das titelgebende Stück Heimwee – so die Schreibweise dieses Wortes in Linda Coppenhagens Muttersprache afrikaans -spiegelt das große, brennende Gefühl der Sehnsucht wider – ein Thema, das van Coppenhagen besonders während der Pandemie erlebte, als die Reiseverbote sie physisch von ihrem Herkunftsland trennten und was letztlich zur vorliegenden CD-Produktion den ersten Anstoß lieferte. Die darstellerische Intensität ihres Gesangs, besonders in den melancholischen Untertönen, unterstreicht diese Involviertheit eindrucksvoll. Im Gegensatz dazu steht das kraftvolle Mali die slaaf se Lied, das die Geschichte von Sklaverei und Unterdrückung in Südafrika thematisiert und als musikalischer Kommentar zur sozialen Ungerechtigkeit der Vergangenheit und Gegenwart gehört werden kann. Lebensbejahung und die Hoffnung auf einen Neuanfang finden sich in dem Lied Geboorte van die Lente (Geburt des Frühlings),  das durch seine sprudelnden Melodien und dynamische Rhythmik das Thema der Erneuerung feiert.

In den nun folgenden Liedern von Richard Strauss zeigt die Sopranistin noch mehr interpretatorische Versiertheit: Die dramatischen Ausbrüche in Schlechtes Wetter, zu denen David Grants virtuoses Klavierspiel die hämmernden Regentropfen plastisch abbildet, nimmt man der Südafrikanerin, die hier in Deutschland die sonnendurchflutete Weite ihrer Heimat vermisst, ohne weiteres ab. Silbrig-leicht lässt sie die Höhen im Ständchen leuchten. Schlagende Herzen überzeugt durch die präzise Darstellung innerer Aufgewühltheit, während Ich trage meine Minne von zarter Hingabe geprägt ist. In Die Nacht beeindruckt van Coppenhagen durch subtile dynamische Abstufungen und die Fähigkeit, düster-meditative Stimmungen zu kreieren.

Abschließend greift Franz Schuberts Der Hirt auf dem Felsen als dramatisches Finale noch einmal den „Trialog“ zwischen Sopran, Klarinette und Klavier auf überzeugende Weise auf. Entstanden im Frühling 1828, kurz vor Schuberts Tod, beschwört dieses Stück das Bild eines Hirten, der auf einem Felsen sitzt und auf die Ferne blickt. Van Coppenhagen und ihre Mitmusiker fühlen sich hier tief in die innige Verbindung zwischen Natur und Liebe ein, wie sie dieses Schubert-Lied thematisiert.

Fazit: Diese Sopranistin aus Südafrika beherscht mit ihren beiden Begleitern die hohe Kunst, im knappen Format eines Liedes emotional und atmosphärisch auf den Punkt zu kommen. Ihre Debüt-CD ist auf jeden Fall eine künstlerische Visitenkarte mit Gewicht (Monarda Music 2024/ Foto oben/Ausschnitt: Die Drakensberge in Südafrika/Foto Royal Natal). Stefan Pieper