Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Bach-Wohlklang

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Beim Label APARTÉ hat der junge ungarische Countertenor  Zoltan Darago 2023 in Paris ein Debütalbum aufgenommen, das den Titel Arias for Alto trägt (AP336). Sie stammen sämtlich aus dem Kantaten-Kosmos von J. S. Bach, aus dem der Sänger elf Arien ausgewählt hat. Das Album wird geadelt durch die Mitwirkung von Les Talens Lyriques unter ihrem Leiter Christophe Rousset. Man bedauert, dass das Ensemble keinen instrumentalen Beitrag beigesteuert hat. Aber der Sänger sorgt mit seiner warmen, wohllautenden Stimme für einen großen Hörgenuss. Zu bemängeln ist allerdings die mangelnde Textverständlichkeit – an seiner Artikulation müsste der Altus unbedingt arbeiten.

Unter den elf Arien sind so bekannte wie „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ (BWV 170) und „Geist und Seele wird verwirret“ (BWV 35). Das Programm beginnt mit einer seltener zu hörenden Arie („O Mensch, errette deine Seele“) aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ (BWV 20). Darago singt sie mit wunderbarer Sanftheit und lässt sogleich seine Affinität zu Bachs Musik spüren. Es folgen zwei gleichfalls weniger bekannte Arien: „Wie furchtsam wankten meine Schritte“ aus „Allein zu dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 33) und  „Wohl euch, ihr auserwählten Seelen“ aus „O ewiges Feuer“ (BWV 34). In diesen getragenen Stücken mit ihren ruhig fließenden Passagen kommt die Schönheit der Stimme besonders zum Tragen.

Koloraturen gibt es in Bachs Kantaten nur selten. Zu hören sind sie in „Gott hat alles wohl gemacht“ aus „Geist und Seele wird verwirret. In der Interpretation des Altus verschwimmt jedoch die Kontur in der Stimmführung. Festlich wird die Arie „Erfreute Zeit“ aus der gleichnamigen Kantate (BWV 83) eingeleitet. Auch sie verlangt dem Interpreten jubelnde Koloraturen ab. Die Anthologie endet mit der Arie „Sei bemüht in dieser Zeit“ aus „Barmherziges Herze der ewigen Liebe“ (BWV 185 ), in welcher der Sänger noch einmal mit dem Wohlklang seiner Stimme besticht. Bernd Hoppe

100 Jahre Operngeschichte für die Bass-Stimme

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„Fra  l´ombre e gl´orrori“ heißt ein Album des argentinischen Bassisten Nahuel Di Pierro bei Audax Records, das im Februar 2023 in Paris entstand (ADX 11210). Der Titel entspricht der Arie gleichen Namens aus Händels Kantate Aci, Galatea e Polifemo von 1708. Es ist dies eine der anspruchsvollsten Nummern des gesamten Bass-Repertoires wegen des geforderten immensen Stimmumfangs von über 2 1/2 Oktaven. Di Pierro meistert diese Herausforderung mit seiner sonoren Stimme, die auch in der Extremtiefe noch Wohlklang besitzt,  bewundernswert, so wie er auch die Tessitura in Argantes triumphierender Arie „Sibillar gli angui d´aletto“ aus Händel Rinaldo stupend bewältigt. Sie steht am Schluss des Programms und beendet dieses bravourös. Einen Interpreten von Ausnahmeformat verlangt auch  Claudios Arie „Cade il mondo“ aus Händels Agrippina mit ihren orgelnden tiefen Tönen und großen Sprüngen. Ein weiterer Beitrag aus Händels Oeuvre stammt aus Orlando. Es ist die mit Koloraturen gespickte Arie des Zauberers Zoroastro „Sorge infausta una procella“, in welcher Di Pierro sein virtuoses Vermögen beweist. Mit ihr ergibt sich ein interessanter Vergleich zu Vivaldis gleichnamiger Oper, aus der Di Pierro allerdings eine Arie des Titelhelden („Ah sleale, ah spergiura“) ausgewählt hat. Es ist eine spannungsgeladene Wahnsinnsszene von deklamatorischem Charakter, weil Orlandos angebetete Prinzessin Angelica sich dem heidnischen Soldaten Medoro zugewandt hat. Von Vivaldi gibt es zudem die dramatisch aufgewühlte Arie des Tito Manlio „Se il cor guerriero“ aus dem gleichnamigen Dramma per musica. Ähnlich anspruchsvoll, was den geforderten Stimmumfang betrifft, ist die Arie des Titelhelden „Occhi belli“ aus Giovanni Bononcinis Il ritorno di Giulio Cesare, in der er Calpurnia, seiner letzten Ehefrau, eine überschwängliche Liebeserklärung macht. Der Sänger lässt hier eine ganz sanfte, schwärmerische Stimme hören.

Das Programm des Albums umfasst das Repertoire für die Bass-Stimme von den Anfängen der Oper bis zu ihrer Blüte im Hochbarock, also um die 100 Jahre. Es beginnt – nach dem instrumentalen Einstieg mit der Sinfonia aus Michelangelo Rossis Erminia  sul Giordano – mit Senecas Abschiedsszene „Amici, è giunta l´ora“ aus Monteverdis Poppea. Der Philosoph ist die erste große Bass-Partie der Oper und der Sänger überzeugt hier mit großer Autorität. Auch Francesco Cavallis Ercole amante stammt aus den Anfängen des Genres. Die Arie des Titelhelden „Ma qual pungente arsura“ zeigt ihn kurz vor seinem Selbstmord, weil er, um Schmerzen zu entgehen, ins Feuer springt. Die existentielle Situation der Figur schildert der Interpret mit intensiver Klangrede ungemein plastisch.

Die insgesamt 13 interpretierten Szenen stammen auch von weniger bekannten Komponisten wie Antonio Sartorio (La Prosperità di Elio Seiano), Marc´Antonio Ziani (Alba Soggiogata da´Romani) und Antonio Giannettini (L´ingresso alla gioventù di Claudio Nerone). Einige davon sind Weltersteinspielungen.

Zudem enthält die Anthologie mehrere Instrumentalstücke (aus Zianis Il duello d´amore e di vendetta, Bononcinis Giulio Cesare und Alessandro Scarlattis La caduta de´ decemviri), in denen das klangschön begleitende Ensemble Diderot unter Leitung des Geigers Johannes Pramsohler von kammermusikalischer Durchsichtigkeit bis zu barocker Prachtentfaltung brilliert. Bernd Hoppe

Im Zwielicht

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Die Neuaufnahme von Händels Rinaldo bei GLOSSA, entstanden im August 2023 in London, dürfte es schwer haben, sich gegen die derzeit existierenden Einspielungen zu behaupten. Man denke nur an Carolyn Watkinson bei Sony, Marilyn Horne bei Nuova Era oder David Daniels bei Decca. Bei GLOSSA ist eine höchst divergente Besetzung versammelt, die in einigen Fällen dem musikalischen Anspruch der Kompostion nicht genügt. Die Aufnahme beginnt verstörend mit dem Auftritt des Heerführers Goffredo, den unverständlicherweise der Dirigent Marco Angioloni übernommen hatte. Sein Tenor klingt dilettantisch, eng und strapaziert in der Höhe und meckernd in den Koloraturen. In der Arie „Siam prossimi al porto“, welche den 2. Akt einleitet, muss die Stimme regelrecht. kapitulieren. Die doppelte Verpflichtung ist umso befremdlicher, da er mit dem Ensemble IL GROVIGLIO für ein farbenreiches, akzentuiertes Spiel mit spannenden Kontrasten und Effekten sorgt, seine Meriten also eher als Orchesterleiter hat. Ungenügend ist zudem der Bassist Michele Mignone als Mago cristiano und Araldo, der sich mit brummiger Stimme durch die Arie „Andate, o forti“ im 3. Akt quält.

Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt auch Filippo Mineccia als Titelheld, bei dem die Tendenz zu heulenden Tönen sich verstärkt hat. Darunter leiden besonders der Auftritt mit „Ogn´ indugio“ und gegen Ende des 1. Aktes „Cor ingrato“. Ihm fallen einige Hits des Werkes zu – „Cara sposa“ als getragenes, inniges Liebesbekenntnis und „Venti, turbini, prestate“ als entfesselter Sturm der Leidenschaft. Das erste Solo zeichnet er mit Tönen zwischen Wehmut und Larmoyanz, das zweite mit vehementen Koloraturläufen. An seine frühere Form erinnert der Sänger in „Abbruggio avvampo e fremo“.

So avanciert die renommierte Sopranistin Roberta Mameli als Almirena zum Star der Aufnahme. Die Stimme ist delikat, leuchtend und anmutig – und das nach jahrelanger Karriere. Mit feinen Tönen absolviert sie ihren Auftritt „Quel cor che mi donasti“ und bezaubert in der Arie „Augelletti, che cantate“, welche Vogelstimmen imitiert, mit Süße und Empfindung. Für ihren Hit „Lascia ch´io pianga“ findet sie ganz neue Varianten mit individuellen Verzierungen. Die beiden Arien am Ende des 2. Aktes, „Ah! crudel!“ und „Parolette, vezzi e sguardi“, gehören zu den Höhepunkten der Einspielung – erstere mit tiefer Empfindung vorgetragen, die zweite beherzt und kokett.

Eine Überraschung ist der belgische Countertenor Logan Lopez Gonzalez als König von Jerusalem Argante mit warmem, noblem Timbre, das vielleicht nicht dem Charakter der kriegerischen Figur entspricht, in seiner Kultiviertheit aber besticht. Die zärtliche Arie „Per salvarti, idolo mio“ im 2. Akt entspricht seinem stimmlichen Naturell perfekt.

iAls Zauberin Armida, Argantes Geliebte, ist Vivica Genaux zu erleben, eine Veteranin der Barockszene, die mit dramatischem Aplomb singt und schon bei ihrem Auftritt, „Furie terribili“, mit enormer Attacke fasziniert. Die Szene wird vom Orchester rasant eingeleitet, was die Sängerin aufnimmt und sich furchtlos in extreme Ausdrucksaffekte stürzt. Beeindruckend auch ihr letztes Solo „Fatto è Giove un dio d´inferno“ mit dem Ausdruck geschuldeten

Verfärbungen und Brüchen der Stimme. Francesca Martini komplettiert als Donna und Sirena die Besetzung, hat mit der Arie „Il vostro maggio“ eines der reizendsten Stücke. des Werkes zu singen, was ihr ansprechend gelingt.

Trotz aller Einschränkungen ist die Neuaufnahme interessant wegen der gewählten Fassung. 1711 wurde das Werk als erste italienische Oper Händels für London im dortigen King´s Theatre in the Haymarket uraufgeführt, aber GLOSSA bietet die Version von 1731. Händel hatte dafür einige Arien aus seinen Opern Lotario, Partenope und Admeto eingefügt, die Musiknummern neu geordnet und den Schluss geändert. Armida und ihr Geliebter werden nun von einem Drachenwagen entführt, statt sich zum katholischen Glauben zu bekehren.   Bernd Hoppe    

Edith Mathis

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Wenn das Publikum eine Sängerin oder einen Sänger ins Herz schließt, liegt das oft nicht nur an ihren vokalen Künsten, sondern auch daran, dass dieser Mensch auf der Bühne in Auftreten und Stimme einen Typ verkörpert, der den Geist seiner Zeit spiegelt. So dürften etliche Besucher, die am 1. Februar 1963 das Hausdebüt von Edith Mathis an der Deutschen Oper Berlin erlebten, an Audrey Hepburn gedacht haben, die kurz zuvor mit Filmen wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Ein Herz und eine Krone“ ein neues, mädchenhaftes Frauenideal etabliert hatte. Denn Mathis, die nach einer ersten Karrierestation in Köln mit ihrem Auftritt als Zerlina in DON GIOVANNI zum Ensemble der Deutschen Oper stieß, verkörperte dieses Ideal einer mädchenhaften, zugleich übermütigen wie verletzlichen Unschuld nicht nur optisch mit großen dunklen Augen, kurzen dunklen Haaren und filigraner Erscheinung – die Schweizer Sopranistin besaß auch genau die Stimme für solche jungen Opernfrauen wie Susanna im FIGARO, Sophie im ROSENKAVALIER und Ännchen im FREISCHÜTZ. All diese Partien meisterte Edith Mathis mit unaffektierter Eleganz, deren Ausdrucksspektrum von quecksilbriger Munterkeit bis zu der anrührenden Traurigkeit von Mozarts Pamina, einer weiteren ihrer Paradepartien, reichte. Nur zu verständlich, dass Edith Mathis in den sechziger Jahren nicht nur in Berlin zum Publikumsliebling wurde, sondern schnell eine Weltkarriere machte, bei der sie von Dirigenten wie Karajan und Böhm immer wieder gefördert wurde. Die Deutschen Oper Berlin konnte den jungen Weltstar bis 1971 halten – später kehrte Mathis nur noch Ende der achtziger Jahre als Pamina an ihr einstiges Stammhaus zurück. Doch nicht nur diese insgesamt 170 Abende verbinden Edith Mathis mit der Deutschen Oper Berlin. Ihr Wirken an diesem Haus ist auch durch einige bis heute maßstäbliche Aufnahmen dokumentiert, vor allem Mozarts DIE HOCHZEIT DES FIGARO unter Karl Böhm und Henzes DER JUNGE LORD.

Kurz vor ihrem 87. Geburtstag ist Edith Mathis nun in ihrer Wahlheimat Salzburg verstorben. Die Deutsche Oper Berlin wird ihr ein ehrendes Andenken bewahren. (Quelle Deutsche Oper Berlin)

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Edith Mathis wurde am 11. Februar 1938 in Luzern geboren und starb am 9. Februar 2025 in Salzburg. Sie galt als eine der profiliertesten Mozart-Interpretinnen ihrer Zeit.

Edith Mathis studierte an den Konservatorien Luzern und Zürich (bei Elisabeth Bossart). Ihre ersten Bühnenerfahrungen sammelte sie in ihrer Heimatstadt. Dort gab sie 1957 ihr Debüt als 2. Knabe in Mozarts Zauberflöte. Von 1959 bis 1963 war die junge Sopranistin vier Jahre Ensemblemitglied des Opernhauses in Köln, ab 1963 der Deutschen Oper Berlin. Gleichzeitig führten Edith Mathis Gastspiele an die Staatsoper Hamburg, zum Glyndebourne Festival und immer wieder zu den Salzburger Festspielen. Weitere wichtige Stationen ihrer Karriere waren unter anderem: Covent Garden Opera London, Bayerische Staatsoper München, Metropolitan Opera New York, Wiener Staatsoper, Gran Theatre del Liceu Barcelona, Opéra de Paris. Besondere Höhepunkte ihrer künstlerischen Laufbahn waren ihre Teilnahme an den Uraufführungen der Opern Der Zerrissene von Gottfried von Einem am 17. September 1964 an der Hamburgischen Staatsoper, Der junge Lord von Hans Werner Henze am 7. April 1965 am Deutschen Opernhaus Berlin und Hilfe, Hilfe, die Globolinks von Gian Carlo Menotti am 21. Dezember 1968 an der Hamburgischen Staatsoper.

Edith Mathis’ Repertoire erstreckte sich von den leichten lyrischen Partien Mozarts (Despina, Cherubino, Susanna, Zerlina) bis zum jugendlichen Fach (Agathe / Der Freischütz, Marschallin / Der Rosenkavalier, Contessa / Die Hochzeit des Figaro). Sie sang unter Herbert von Karajan, Karl Böhm sowie Karl Richter einige ihrer bedeutendsten Schallplatteneinspielungen (DGG, EMI, Philips usw.). Sowohl ihr Ännchen im Freischütz als auch ihre Susanna in Le Nozze di Figaro gelten als maßstäblich. Auch als Kunstlied- und Oratoriensängerin machte sich Edith Mathis einen Namen. Besonders am Herzen lag ihr die geistliche Musik von Johann Sebastian Bach. Ihr Vortrag bestach vor allem durch musikalische Ausdruckskraft und Stimmschönheit.

1979 wurde Edith Mathis zur bayerischen Kammersängerin ernannt.[2] Von 1992 bis 2006[2] war sie Professorin für Lied- und Oratorieninterpretation an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 2001 trat sie von der Bühne zurück.[3] Sie leitete zahlreiche Meisterkurse in Europa, Japan, Korea, Kanada und in den USA. Eine ihrer Schülerinnen war Diana Damrau.

Edith Mathis war lange Zeit mit dem Dirigenten Bernhard Klee verheiratet, und zuletzt mit dem Kunstsammler Heinz Slunecko. Im Februar 2025 starb sie zwei Tage vor ihrem 87. Geburtstag in Salzburg. (Quelle Wikipedia/Foto Dacapo August Everding ZDF)

Vielstimmig Lobendes aus München

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Im September 2023 trat Simon Rattle sein Amt als Chefdirigent von Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an. Dazu hatte er sich als ausgewiesener Joseph-Haydn-Fan dessen Oratorium Die Schöpfung ausgewählt, das er mit den beiden Klangkörpern im Herkulessaal der Residenz in München und in der Basilika des Klosters Ottobeuren im Unterallgäu aufführte. Von Rattle ist bekannt, dass er das Oratorium besonders wegen seines optimistischen Menschenbildes liebt; er soll augenzwinkernd behauptet haben:  Wer sich nach diesem Stück nicht automatisch besser fühlt, braucht dringend Hilfe. Diese positive Sicht kommt in der von BR KLASSIK mitgeschnittenen Aufführung durchweg zum Tragen.

Das in allen Instrumentengruppen ausgezeichnete Symphonieorchester beschreibt zunächst unter der souveränen Leitung ihres Chefs die Haydn-Sicht des vor der Entstehung der Welt bestehenden Chaos‘, das unter Vermeidung klarer Tonarten durch den fahlen Gesang des Solo-Basses und sogar manch Dissonantes charakterisiert wird. Dann kommt es nach knapp zehn Minuten zu und es ward Licht zu dem immer wieder überwältigenden, von Trompeten überstrahlten Fortissimo-C-Dur-Akkord mit ungeheurer Leuchtkraft und Intensität. Im Folgenden fallen die von Rattle bevorzugten zügigen Tempi auf, wobei häufige Tonmalerei (Sternenhimmel, Regen und Schnee oder Meereswogen bis zur vielfältigen Tierwelt) genüsslich ausgekostet wird. Der Chor des Bayerischen Rundfunks zeigt sich in der Einstudierung von Peter Dijkstra sorgfältig vorbereitet, indem er wunderbar ausgewogene Klänge hören lässt und dabei auch in der Polyphonie einiger Chöre stets transparent bleibt. Angemessen wird der starke Jubel in den Jubelchören zum Lob Gottes ausgedeutet, bis der technisch anspruchsvolle Schlusschor von allen glänzend präsentiert wird.

Die Gestaltungskraft und gute Diktion des niveauvollen Solistentrios sind über jeden Zweifel erhaben. Es wird von der englischen Sopranistin Lucy Crowe angeführt, die mit blitzsauberer Führung ihrer schlanken Stimme, glasklaren Läufen und Verzierungen begeistert. Auch der Tenor Benjamin Bruns gefällt mit klarer Stimmführung und bester Textverständlichkeit.  Schließlich sind die Partien des Raphael und Adam dem Bariton Christian Gerhaher anvertraut, der vor allem als Adam überzeugt, wenn er mit der Sopranistin z.B. das Liebesduett im 3.Teil in schönstem Legato aussingt; für die tiefere Tessitura des Raphael fehlt ihm einiges an nötiger Bassgrundierung.

Insgesamt ist den hochkarätigen Musikern eine wirklich hörenswerte Aufnahme des beliebten Oratoriums gelungen (BR KLASSIK 900221). Gerhard Eckels

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Mit Vater, Großvater und Urgroßvater als Organist und Komponist für Kirchenmusik schien auch für den jungen Giacomo Puccini die Bestimmung, sich der geistlichen Musik zu widmen, eine gesicherte zu sein, betätigte sich zunächst mit seinem Wirken als Organist und der Komposition seiner Messa di Gloria, die eigentlich viel mehr als eine solche ist, die eigentlich nur aus Kyrie und Gloria bestehen sollte, während der einundzwanzigjährige Puccini die gesamte Liturgie vertonte. Auf der von BR Klassik herausgegebenen CD sind außerdem noch ein Preludio sinfonico und die beliebten Crisantemi, in Italien die Blumen für die Toten, zu finden, und zwar in der Fassung für Streichorchester. Dem Opernfreund wird vieles bekannt vorkommen, so verwendete der Komponist das Agnus Dei für das Madrigal in Manon Lescaut, das Kyrie in Edgar und Motive der Crisantemi gleich in mehreren Opern.

Seit 2017 ist der kroatische Dirigent Ivan Repušic´ Chef des Münchner Rundfunkorchesters,   seit 2014 ständiger Gastdirigent der Deutschen Oper Berlin und designierter Generalmusikdirektor des Leipziger Gewandhausorchesters ab der Spielzeit 2025/26. Mit den Münchnern hat er sich besonders mit der Aufführung verschiedener Verdi-Opern hervorgetan.

Die Messa di Gloria beginnt mit süßem Streicherklang, der eher an eine zarte Liebesgeschichte denken lässt als an ein Flehen um Erbarmen, der spätere Opernkomponist ist bereits in diesem geistlichen Werk zu vernehmen und es lässt nicht verwundern, dass sich Puccini bald ganz der Opern widmen wird. Auch der Chor des Bayerischen Rundfunks wirkt im Kyrie wie weichgespült, solange nur die Damen zu Wort kommen, eher wird Baden in Wohlklang als Glaubensgewissheit verkündet. Angemessen machtvoll erklingt das Gloria. Im geradezu kämpferisch erscheinenden Credo werden insbesondere die Kontraste wirkungsvoll herausgestellt, bei Crucifixus beeindruckt die Steigerung in der Wiederholung. Die Bitterkeit des Todes scheint wie mit Süße überzogen, die Fülle des Wohlklangs ist schier überwältigend. Die beiden Solisten sind Tomislav Mužek und George Petain, der Tenor frisch, keusch und höhensicher, der Bariton warm und geschmeidig. Sie lassen Cavaradossi und Sharpless vor dem geistigen Auge des Hörers erscheinen (BR Klassik 900354). Ingrid Wanja    

Orgelndes barockes Monster

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Ein Album von origineller Konzeption hat der italienische Bassist Luigi De Donato 2022 bei ACCENT aufgenommen (ACC 24392). Es ist dem einäugigen Unhold Polifemo gewidmet, dessen Mythos viele Komponisten des Barock zu einem Tongemälde angeregt hat. Die Platte fokussiert das Geschehen auf den Riesen, der die Nymphe Galatea begehrt und aus Eifersucht seinen Rivalen, den Schäfer Acis, umbringt. Zur bekanntesten Komposition wurde Händels Kantate Aci, Galatea e Polifemo, die 1708 in Neapel uraufgeführt wurde. Die beiden anspruchsvollen Soli  des Ungeheuers bilden dann auch den Einstieg und Abschluss des Programms der CD. „Sbillar gli angui d´ Aletto“ ist die bewegte Eingangsarie, „Fra l´ombre e gl´ orrori“ markiert im Anspruch für den Interpreten, einen Umfang von 2 x1/2 Oktaven bewältigen zu müssen, eine besondere Herausforderung. Der Sänger meistert diese sicher und scheinbar mühelos. Bei zwei Komponisten, Giovanni Bononcini und Nicola Porpora, avanciert Polifemo sogar zur Titelfigur. Aus der Oper des Ersteren, die 1702 in Berlin herauskam und den Helden eher als komische Figur charakterisiert, seine gewalttätigen Eigenschaften also negiert, stammen die Arien „Vanarella, pazzarella“ und „Dieci vacche“. in denen De Donato mit buffoneskem Ausdruck und extrem tiefen Tönen aufwartet. Porporas Werk enthält die virtuose Arie „M´accendi in sen col guardo“, in welcher der Sänger brillieren kann.

Mehrere Komponisten rückten dagegen Galatea ins Zentrum und benannten ihre Komposition nach der Nymphe – so Domenico Alberti in seiner Serenata von 1737 La Galatea. Daraus wählte De Donato „Sanno l´onde“ und die furiose Arie „Se scordato il primo amore“, in der Jagdhörner reizvolle Akzente setzen und der Sänger gebührend auftrumpft, aus. Den identischen Arien-Titel findet man in Johann Georg Schürers Vertonung aus Dresden von 1746. Der Sänger trumpft hier angemessen auf und lässt ein reiches Farbspektrum hören. Schließlich gibt es in einer Cantata in kleiner Besetzung von Antonio Cesti noch einen neuen Titel: Amante gigante. Daraus stammt das gleichnamige Trio, bei dem Polifemo zwei Soprane (Tereza Zimkovà und Pavla Radostovà) assistieren und das eher sakralen Charakter aufweist.

Engagiert begleitet das Ensemble Collegium 1704 unter Václav Luks und hat in der dreisätzigen Sinfonia in C.Dur von Antonio Caldara sowie einer munteren Sinfonia von Schürer auch noch Gelegenheit für instrumentale Beiträge, die es souverän und Affekt betont absolviert. Bernd Hoppe

Im Zauberwald

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Die letzte CD-Aufnahme von Händels Oper Alcina mit Joyce DiDonato bei der DG erschien vor 15 Jahren, die Neueinspielung bei PENTATONE ist daher mehr als willkommen – umso mehr, da sie unter der Leitung von Marc Minkowski entstand, der mit seinem Ensemble Les Musiciens du Louvre eines der spannendsten Händel-Dokumente der letzten Zeit vorlegt. Das Album wurde im Februar 2023 in Bordeaux produziert und auf drei CDs mit einem mehrsprachigen Booklet veröffentlicht (11689581). Spektakulär ist die Besetzung, angeführt von Magdalena Kozená in der Titelrolle. Die tschechische Mezzosopranistin ist bei dem Label regelmäßig besetzt, sorgt aber hier für einen absoluten Höhepunkt ihrer Aufnahmetätigkeit. Die Intensität ihrer Interpretation ist überwältigend, das Spektrum der Emotionen und Farben schier unerschöpflich. Schon in ihrer zweiten Arie, „Sì, son quella!“, verdeutlicht sie mit umflorten Ton den Wechsel im Gefühlszustand der Figur. Bei ihrem „Ah, mio cor!“ im 2. Akt verstärkt sich die existentielle Situation noch und Kozená gelingt mit bebender Stimme und einem Ausdruck von höchster Intensität ein ergreifender Moment in ihrer Interpretation. In „Ombre pallide“ am Ende des 2. Aktes schafft sie einen Zustand von Trance und Verzweiflung, während sie bei „Ma quando tornerai“ im 3. Akt noch einmal ihr virtuoses Vermögen demonstrieren kann. Und ihr letzter Auftritt mit „Mi restano le lagrime“ ist ein ergreifendes Zeugnis ihres tragischen Scheiterns.

Die zweite Sopranpartie des Werkes, Morgana, nimmt Erin Morley wahr und überzeugt mit jugendlichem, süßem Timbre und hoher Sicherheit bei den exponierten Koloraturen. Ihr Bravourstück am Ende des 1. Aktes „Tornami a vagheggiar“ singt sie mit jubilierender Stimme und lässt die Koloraturen glitzern. Im lieblich von der Viuoline umspielten „Arna, sospira“ im 2. Akt bezaubert sie mit Tönen von anrührender Innigkeit, die beim „Credete al mio dolore“ im 3. Akt an Intensität noch gewinnen.

Die Partie des Ruggiero, komponiert für den namhaften Kastraten Giovanni Carestini, ist eine Herausforderung für jeden Interpreten, sei es ein Countertenor oder eine Mezzosopranistin. Hier sorgt Anna Bonitatibus für eine Sternstunde des Barockgesangs mit beglückender Stimme. Energisch trumpft sie in ihrer Auftrittsarie „Di te mi rido“ auf  und demonstriert schon hier ihr virtuoses Vermögen. Im wiegenden „Mi lusinga il dolce affetto“ setzt sie einen intimen Gefühlsmoment und mit dem lyrischen Glanzstück der Partie, „Verdi prati“, das die Schönheit der Natur preist, krönt sie mit sublimen Tönen und feinsten Nuancen ihre Darbietung. Natürlich imponiert sie auch mit ihrem Bravourstück „Sta nell´ ircana pietrosa“ im letzten Akt, einem cavallo di battaglia aller Händel-Mezzosoprane, mit Verve, Geläufigkeit und Emphase.

Version 1.0.0

Konkurrenz hat sie nur in Elizabeth DeShong, die als Ruggieros Braut Bradamante einen dunklen Mezzo von satter Fülle und phänomenaler Virtuosität hören lässt. Schon ihr Auftritt „È gelosia“ imponiert im energischen. Aplomb und der behänden Koloraturläufe. Höhepunkt ihrer Interpretation ist „Vorrei vendicarmi“ im 2. Akt, wo sie wie ein Wirbelsturm durch die Koloraturrouladen rast – ihr gebührt die Siegestrophäe im Wettstreit der Sängerinnen.  Der Countertenor Alois Mühlbacher gibt den Knaben Oberto mit gebührend androgynem Timbre, doch steifen Tönen in der Höhe, der Tenor Valerio Contaldo den in Morgana verliebten Oronte, der in seiner Arie „Semplicetto! A donna credi?“ zwar resoluten Ausdruck, doch auch grobschlächtige Tongebung vernehmen lässt. Einen günstigeren Eindruck hinterlässt er mit dem auftrumpfenden „È un folle“ und vor allem dem kultivierten „Un momento di contento“ im letzten Akt, doch bleibt er der Schwachpunkt der sonst hochkarätigen Besetzung. Alex Rosen komplettiert sie als Melisso mit virilem Bass, der in der großen Arie im 2. Akt, „Penso a chi geme“, mit nobler Tongebung besticht.

Sie alle führt Minkowski mit erfahrener, kundiger Hand und lässt mit seinem Orchester Händels Musik mit ihrem Farbenreichtum und all ihren Affekten erstrahlen. Seine Tempovorgaben sind zuweilen höchst riskant und verlangen den Interpreten das Äußerste an Einsatz und Virtuosität ab. Aufregend sind die Kontraste, welche der Dirigent in seiner Deutung setzt – wenn er am Ende des 2. Aktes bei Alcinas ,,Ah, mio cor!“, das den Verlust ihrer Macht anzeigt, das Orchester geradezu einfriert und klirrende staccati hören lässt. Im Ballet am Ende des 2. Aktes differenziert er deutlich zwischen dem lieblichen Entrée des Songes agréables und dem bedrohlichen Entrée des Songes funestes, macht im Klangbild die beiden unterschiedlichen Welten deutlich. Mit dem Schlusschor „Dopo tante amare“ lässt er das Werk jubilierend ausklingen. Bernd Hoppe

Heiligenlegende

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Eigentlich für seine Orchesterstücke, darunter die drei Stimmungsbilder  Fontane di Roma, Pini di Roma und Feste di Roma, bekannt ist Ottorini Respighi, aber er ist auch Komponist einiger Opern, darunter La Fiamma und Marie Victoire, derer sich die Deutsche Oper Berlin angenommen hatte. Eigentlich als Konzerttriptychon vorgesehen war seine Maria Egiziaca, beruhend auf einer Heiligenlegende aus dem Mittelalter, in der es um eine ägyptische Prostituierte geht, die aus Alexandria ins Heilige Land übersiedelt und nach einem langen Büßerleben selig entschläft.

In dem vom Librettisten Claudio Guastalla verfassten Mistero in tre episodi trifft in diesen Maria dreimal auf den Pilger und späteren Abt Zosimo, der sie zuerst wegen ihres lockeren Lebenswandels verflucht, ihr später den Zugang zum Tempel verweigert und in dessen Armen sie schließlich nicht nur entsündigt, sondern auch menschliche Wärme fühlend stirbt.

Maria Egiziaca wurde 1932 in New York und in Venedig uraufgeführt, war in neuerer Zeit so gut wie vergessen, allerdings existieren Tonaufnahmen, eine ungarische bei Hungaroton unter Lamberti Gardelli mit Veronika KIncses, Lajos Miller und Janos Nagy und bei Bongiovanni eine CD mit Jacsra Stoiliova  und Carlo Desderi. Bei Dynamic gibt es nun die erste Videoaufzeichnung, und zwar aus dem Teatro Malibran, während der Aufbauarbeiten am durch Brand zerstörten Teatro La Fenice dessen Ersatzspielstätte und auch sonst Spielort für Opern mit kleinerer Besetzung.

Das in seiner Grundstruktur an die französische Oper Thais erinnernde Werk wurde im vergangenen Jahr vom inzwischen 94 Jahre zählenden Altmeister Pier Luigi Pizzi nicht nur inszeniert, sondern auch, er begann schließlich als Bühnenbildner, mit Dekor und Kostümen versehen. Um jeden religiösen Kitsch zu vermeiden, von dem Italien noch immer voll ist, wählte der Altmeister eine ausgesprochen karge Szene, verschmähte allerdings nicht reichlichen Videoeinsatz für Meer, Wellenwogen, Nebel, aus dem die Kirche für die zweite Szene entsteigt. Die beiden Interludi werden durch die Tänzerin Maria Novella Della Martira in schöner und dabei doch dezenter Nacktheit gestaltet, aber auch die Sopranistin Francesca Dotto ist höchst attraktiv, so dass nachvollziehbar wird, warum die drei Seeleute  ihrem Bitten nicht widerstehen können. Dazu hat sie eine leuchtende, in der Höhe schön aufblühende Sopranstimme, was der eher an der Kargheit alter  Kirchenmusik orientierten und damit altertümelnden  akustischen Seite sehr gut tut. Den erst strengen, dann mitfühlenden Zosimo singt Simone Alberghini mit erst recht herb eiferndem, dann von sanfter Müdigkeit erfülltem, in schönem Fluss dahin strömendem  Bariton. Es gibt noch eine dritte recht umfangreiche Partie, den ersten Matrosen, den der Tenor Vincenzo Costanzo eine trotzig schillernde Arie über die Ziellosigkeit seiner Seefahrt singen lässt und der im zweiten Bild noch den Leprakranken gibt, so wie der dritte Matrose (Luigi Morassi)  auch sonor der Bettler ist und dem zweiten Seemann nur eben dieser anvertraut wurde (Michele Galbiati). Eine zarte Blinde und ein schönen Trost spendender Engel ist Ilaria Vanacora.Das Orchester von La Fenice unter Manlio Benzi erweist sich als feinfühliger Begleiter der Sänger und erfolgreicher Anwalt für das zu Unrecht das Schicksal einer Rarität erduldende Werk (Dynamic 38050). Ingrid Wanja

Längst überfällige Edition

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Lieder von Wolff. Erich Wolff. Von jenem Komponisten, der mit Doppel-F geschrieben wird. Gesprächsweise  kann es leicht zur Verwechslung mit dem anderen Wolf, mit Hugo, kommen. Ausgesprochen spielt die unterschiedliche die Schreibweise nämlich keine Rolle. Beiden ist die Hinwendung zum Lied als Zentrum des Schaffes eigen. Erich Jacques Wolff wurde am 3. Dezember 1874 in Wien geboren. Gestorben ist er am 3. März 1913 in New York. Zu Lebzeiten war er hoch geschätzt und auch als Konzertbegleiter bei Liederabenden gesucht.

Mit dem Machtbeginn der Nationalsozialisten zwanzig Jahre nach seinem Tod wurde die Erinnerung an den jüdischen Musiker getilgt. Verehrung wandelte sich in Verachtung. In den USA hingegen, wo deutsche Emigranten, darunter auch künstlerische Weggefährten von Wolff, eine neue Heimat gefundene hatten, geriet er nicht in Vergessenheit. So wurde 1936 wurde bei der Schallplattenfirma Columbia ein Album mit achtzehn ausgewählten Liedern aufgenommen. Solist ist ein Namensvetter des Komponisten, der Bariton Ernst Wolff (1905-1992), der sich selbst am Klavier begleitet. Rassistisch verfolgt, war er aus Deutschland geflohen und hatte sich in seiner neuen Heimat auch dadurch einen Namen gemacht, dass er das amerikanische Publikum beispielsweise mit der Komponistin von Clara Schumann bekannt machte. Das Plattenalbum hat seinen hohen künstlerischen Wert bewahrt und ist inzwischen ein gesuchtes Sammelobjekt. Es geht eine große Faszination vom sanften Timbre des Interpreten aus. Es sollten viele Jahrzehnte vergehen, bis man sich auch in seiner Heimat auf Erich J. Wolff besann. In Büchern tauchte zumindest sein Name wieder auf. Fotos sind aber kaum zu finden, und das allwissende Onlinelexikon Wikipedia gibt sich nach wie vor wenig auskunftsfreudig.

In Deutschland war der Musikwissenschaftler Peter P. Pachl (1953-2021) einer der ersten, wenn nicht gar der erste, der von 2009 an Lieder und Melodramen von Wolff bei der Firma Thorofon einspielen ließ. Nun hat Naxos zu einem ganz großen Schritt ausgeholt und eine komplette Einspielung der Lieder gestartet. Bisher liegen Vol. 1 (8.574451) mit Samantha Gaul (Sopran) und Daniel Johannsen  (Tenor) sowie Vol. 2 (8.574557) mit der Mezzosopranistin Ida Aldrian und schließlich Vol. 3 mit dem Bariton Hans-Christoph Begemann (8.574558) vor. Die verdienstvolle und längst überfällige Edition entsteht in Zusammenarbeit mit Radio Bremen und dem SWR. Klavierbegleiter und Spiritus Rector ist der Pianist Klaus Simon. Rüdiger Winter

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Klaus Simon/Archiv Anke Nevermann/Naxos

Dieser nun schreibt in seinem Artikel im Beiheft der Naxos-Aufnahmen: Erich Wolff, ein tragisch vergessener Liedkomponist ersten Ranges. Vor bald fünf Jahren entdeckte ich den Wiener Komponisten Erich J. Wolff. Diesen Namen kennen heute nur noch die wenigsten Musikliebhaber. Wie auch? Sein Schaffen ist nur noch spärlich verlegt, und er hatte das Pech, aus einfachen jüdischen Verhältnissen zu stammen und bereits mit 39 Jahren in den USA an einer Ohrenentzündung fern seiner Heimat Österreich zu sterben. Wolff war Zeitgenosse von Arnold Schönberg und mit ihm wie auch mit Alexander Zemlinsky befreundet. Er schrieb bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1913 immerhin 168 Lieder. Zu seinen Lebzeiten rissen sich nämlich viele namhafte Sängerinnen und Sänger darum, mit Erich Wolff Erich J. Wolff (1874-1913) aufzutreten. Denn nach Engelbert Humperdincks Aussage war er zeitlebens als einer der besten Liedbegleiter Österreichs anerkannt. Welche Reputation Erich J. Wolff als Liedkomponist hatte, kann man in einem maßgeblichen Fachbuch von 1927 mit dem Titel „2000 der beliebtesten Kunstlieder“ nachlesen. Er kam nach Hugo Wolf (150), Richard Strauss (75) Gustav Mahler (23) mit 17 Liedern immerhin auf den vierten Rang und verwies Zemlinsky und Schreker mit jeweils nur einem Lied weit abgeschlagen auf die hinteren Plätze. Zwar wurden Wolffs Lieder zeitlebens alle verlegt, aber er schrieb ansonsten keine erfolgreichen großen Werke

Vor bald fünf Jahren entdeckte ich den Wiener Komponisten Erich J. Wolff. Diesen Namen kennen heute nur noch die wenigsten Musikliebhaber. Wie auch? Sein Schaffen ist nur noch spärlich verlegt, und er hatte das Pech, aus einfachen jüdischen Verhältnissen zu stammen und bereits mit 39 Jahren in den USA an einer Ohrenentzündung fern seiner Heimat Österreich zu sterben. Wolff war Zeitgenosse von Arnold Schönberg und mit ihm wie auch mit Alexander Zemlinsky befreundet. Er schrieb bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1913 immerhin 168 Lieder.

Seine Lieder waren nicht ohne Grund bis zum 1. Weltkrieg sehr erfolgreich und geschätzt. Zu seinen wie Sinfonien o. ä., welche seinen Ruhm einem größeren Publikum hätten nahebringen können. Auch seine reizvollen Klavierwerke verdienen wieder ins Repertoire zurückzukehren.

Durch die umfangreiche Tätigkeit als Liedpianist ließ er sich kompositorisch vielfältig von seinen Vorbildern inspirieren. Bei den zahlreichen Wunderhornliedern Wolffs denkt man natürlich unmittelbar an Gustav Mahlers bekannte Vertonungen. Auch Wolff traf ähnlich idiomatisch den Volkston und vertonte auch gerne Dialekttexte. Hugo Wolfs harmonischen Raffinessen und der anspruchsvollen Klavierbehandlung begegnet man hier ebenso wie der Hochromantik eines Robert Schumann. Erich J. Wolff nutzt gelegentlich auch den ganzen Fundus der spätromantischen Harmonik, ohne seinem Zeitgenossen Arnold Schönberg in die Atonalität zu folgen. Wie gut er Richard Wagners Musik kannte, ist einigen v. a. harmonisch gewagten Liedern anzuhören.

Trotz dieser Einflüsse, die bei vielen Liedern unterschiedlich stark zum Tragen kommen, hat er dennoch seinen eigenen Stil und seine eigene Liedästhetik herausgebildet. Er schafft es, für jeden seiner vertonten Texte (von großen und bekannten Dichtern wie Michelangelo, Goethe, Hölderlin und Eichendorff bis hin zu Zeitgenossen wie Dehmel, Liliencron, Verlaine und vielen vergessenen Dichtern seiner Zeit) den richtigen Tonfall zu finden. Er hat einen natürlichen Instinkt, aus jedem Gedicht ein besonderes und einmaliges Lied zu machen. In seinen besten intimen Liedern entspinnt er tief berührende Melodien, auf die selbst Richard Strauss oder Erich Wolfgang Korngold hätten neidisch werden können. Zudem sind seine anspruchsvollen Klavierbegleitungen immer pianistisch und dankbar geschrieben.

Diese Liedaufnahmen entstanden aus der Motivation, diesen großen Schatz der Lieder Wolffs wieder ins Bewusstsein zu rücken.(…) Klaus Simon (mit Dank an den Autor, R. W..)

 

 Jules Massenets “Grisélidis”

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Eingangs: In Massenets Griselidis verliebte ich mich bei einer Begegnung mit dieser Oper in Strasbourg 1996, wohin ich in jenen Jahren oft und gerne fuhr. Nicht nur wegen der schönen Stadt, des Münsters und des Backöffele, sondern vor allem wegen der Opéra du Rhin, die sich (und in den letzten Jahren ja erneut) immer wieder dem französischen Repertoire mit ausgefallenen Titeln der damaligen Jahrhundertwende widmete.

Massenets „Grisélidis“: Hélène Garretti und René Massis in Strasbourg/ Foto Archiv Heinsen

Und 1996 gab es eben Griselidis von Jules Massenet, heimgesucht im Vorfeld von der adoptierten Enkelin des Komponisten, die – eine bizarre Regelung des französischen Urheberrechts – auf die gezeigte Produktion Einfluss nehmen wollte und konnte. Sie hielt sie für zu frivol (und nahm Anstoß am Motorrad des Teufels) … Ach ja, glückliches Frankreich. Aber den Einwänden der Goldketten-behängten Dame im strengen schwarz-weiss Chanel-Kostüm wurde begegnet. Man einigte sich. Ah: der überwältigende Charm des Intendanten René Terrasson!

Sänger waren die mir bis daher unbekannte Hélène Garretti mit cremiger, wunderbar-jugendlicher Sopranstimme (keine wirkliche Karriere danach, bei youtube mit ein-zwei Dokumenten), unvergleichlich der französische Bariton René Massis, bezaubernd der junge Tibère Raffalli als feuriger Alain: Es war akustisch wie optisch (Terrassons italienisch-beleuchtete Inszenierung diskret-zeitgenössisch) ein Fest. Weitere Begegnungen mit Grisélidis verliefen weniger enthusiasmierend (1982 in Wexford, 1992 in Saint-Etienne (dann auf CD), 2006 in Lübeck).

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Die neue Aufnahme: Deshalb war ich so überrascht von meiner Begeisterung beim Anhören der neuen Aufnahme vom Palazzetto Bru Zane, die mit einem wirklich rundherum fabelhaften Ensemble und solidem akustischen Eindruck aufwarten kann. Nach dem Konzert 2023 in Paris mit demselben Cast eingespielt zählt dies hier zu dem Besten, das der Palazzetto herausgegeben hat und macht manche Ärgernisse der Vergangenheit vergessen. Jean-Marie Zeitouni am Pult der Kräfte aus Montpellier Occitaine schafft ein ebenso grandioses Klangbild wie auch die prickelnde Durchsichtigkeit für die ironischen Momente der frechen Parlandi aus der Hölle. Und die fünf Protagonisten könnten nicht besser besetzt sein: Vannina Santoni ist eine “fruchtig” klingende, dunkelstimmige  Titelsängerin, der man abnimmt, dass unter der Oberfläche des doch schon recht schwingenden Soprans ein Feuer lodert, das von der großbürgerlichen Prüderie gezügelt wird. Eine wirkliche Entdeckung (sie wäre die bessere Massenet-Ariane beim Palazzetto gewesen)! Thomas Dolié, Tassis Christoyannis und Julien Dran sind bekannte Größen im Cadre der Firma, als Marquis, Diable und Alain stehen sie für hohe Gesangskunst, schöne Timbres und makellose Diktion. Christoyannis ist eh´ einer meinem Lieblingssänger im dunklen Bereich. Mit Annette Dennefeld kommt eine kesse, aber eben nicht soubrettige, sondern frische und helle Stimme als Fiamina im wirkungsvollen Kontrast zur Santoni hinzu. Alle im besten Französisch zum Mitschreiben, das hat man lange so nicht mehr erlebt.

Massenets „Grisélidis“: Konzert 2023 in Paris/ Foto Marc Ginot

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Wie stets gibt es lohnende Aufsätze im  gewohnten CD-Buch (wieder nur englisch-französisch, dabei sind die drei deutschsprachigen Länder kein zu verachtender Markt), die grauen Illustrations-Prints (Pardon, sogar zwei farbige) lassen wie stets zu wünschen übrig, das ist eben so bei diesen Buch-Ausgaben. Aber alles in allem ist dies eine ganz aufregende, lohnende und rundherum befriedigende Aufnahme. Wenngleich nicht die erste (dazu nachstehend mehr)

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Das Werk: Grisélidis ist ein Spätwerk von Massenet, nur fünf Monate vor Debussys Pélléas et Mélisande uraufgeführt (was für ein Unterschied!) und weitgehend  mit derselben Equipe besetzt (außer in der Sopranrolle). In die Musiksprache dieser üppig gehaltenen Oper mischen sich denn auch  Reminiszenzen aus bekanntere Massenet-Opern, etwa der Esclamonde, der Thais oder des Chérubin (auf dessen RCA-Aufnahme die von mir erwähnte Hélène Garretti mitsingt, meines Wissens ihre einzige offizielle Aufnahme), also die bekannte rauschhaft-orgiastische Orchestrierung der großen Opern und das witzig-neckische Parlando der heiteren Werke jener Massenet-Jahre. Beides findet sich  in der Grisélidis, die hier die Aufteilung der beiden Ebenen des Heiteren und des Tragisch-Ironischen deutlich unterscheidet.

Massenets „Grisélidis“: Lucienne Bréval war die erste Titelsängerin/Wikipedia

Die Griselda-Geschichte findet sich him Decamerone von Boccaccio und ist von vielen Komponisten als Vorlage verwendet worden, von Scarlatti über Paer, Adam, dem Puccini-Vorfahren Domenico bis eben zu Massenet und danach.  Er selbst kannte zweifellos den Stoff, den ihm die beiden Autoren Silvestre und Morand aufbereiteten, nachdem 1891 am Théâtre Francais ein Stück der beiden mit eben diesem Titel herausgekommen war.

Der Komponist Massenet gehörte nach den Erfolgen der Manon 1884, des Werther 1893, der Thais 1894 zu den Säulen der französischen Musikszene. Seine Opern wurden mit Jubel bedacht, sein Name fast schon eine Legende und ein absolutes Zugpferd für die Opernhäuser. Seine umfangreiche Produktion allein war an der Regelmäßigkeit der Premieren ablesbar, war für Massenet das Komponieren doch schon ein Zwang, denn auch in der folgenden Zeit konnte beinahe jährlich ein neues Werk auf den Pariser Bühnen bewundert werden. Massenet war ein wahrer Fließbandproduzent. Auf La Navarraise 1895 folgten Le Portrait de Manon 1892, dann Sapho 1897, Cenrillon 1988 und 1900 schließlich das Oratorium La terre promise. Es nimmt also nicht Wunder, dass sich die Arbeit an Grisélidis neun Jahre hinzog und erst 1901 zum Abschluss kam.

Massenets „Grisélidis“: Lucien Fougère, der erste Teufel/Wikipedia

Am 20. November war es dann so weit: In der bewährten Opera Comique, dem Hort der Tradition und des Comique-Genres (die einst so strengen Grenzen zwischen Dialogen und Rezitativen waren längst aufgehoben), hob sich der Vorhang zu einem glanzvollen Premierenabend, der die besten Sänger jener Zeit in  Frankreich  vereinte. Die Titelpartie sang die eminente Singschauspielerin Luciénne Breval, Star der Opéra de Paris. Lucien Fougère gab den Teufel und erzielte einen großen persönlichen Erfolg, Camille Dufranc war der Marquis, der Tenor Maréchal der verführerische Liebhaber Alain, eine Madame Tiphaine die kokette Fiamina. Nicht genug damit: Der Komponist und spätere Pelléas-Dirigent André Messager leitete das  glanzvolle Ereignis; die üppigen und bewunderten Dekorationen im Stil des Mittellalters (durch die Brille der Belle Epoque) stammten von Bianchini – das Beste an Eleganz, was zu haben war.

Gegenüber dem Original des Bühnenstücks hatten die Autoren den Text abgewandelt, die reichlich sadistische Haltung des Ehemanns de Saluces gegenüber seiner Gattin, die er auf die Tugendprobe stellt, gemildert: Im 1. Akt der Oper nun ist es der Teufel, der der Anwalt des Zynismus und der Menschenverachtung wird. Charme und Poesie  inmitten dieses etwas  gestelzten Dramas der  Ehespannungen  wird von dem schönen Alain eingebracht, der nach dem feurigen Prolog der Grisélidis im 2. Akt in einer Vision erscheint und mit seinen schmachtenden Liebesschwüren eine späte ironische Parodie, wenngleich auch eine wirkungsvolle, auf die Liebhaber der alten Massenet-Schule abgibt – Des Grieux als erfolglos Seufzender sozusagen.

Was das Libretto, abgesehen von der zeitlichen Ansiedlung im fernen Mittelalter (wie viele der französischen Opernsujets nach dem schmachvollen Deutsch-französischen Krieg als Rückbeschwörung auf die am Boden liegende Grande Nation), so effektvoll macht, ist die gelungene mélange der Charaktere und der Stimmungen. Der tugendhaften und recht humorlosen Grisélidis wird die kesse, leichtfertige Fiamina, Gefährtin des Teufels, gegenübergestellt.  Der salbadernde Prior hat seine Entsprechung im Teufel selbst, der zwischen seinen Gefühlen schwankende Marquis de Saluces in dem permanent Liebenden Alain á la Des Grieux.

Massenets „Grisélidis“: Akt 2 der Uraufführung/Gallica/BFN

Auch die einzelnen atmosphärischen  Unterschiede sind gut herausgearbeitet, zwischen lustfreundlicher Hölle (allerdings ein  blasses Abbild des zuvor bei Offenbach so genial Vorgestellten) und tugendhafter, in ein enges Korsett gepresster adligen Welt, in die der Teufel mit grotesker Infamie eindringt,  gut unterschieden. Das Abschlusstableau mit seiner Apotheose der Heiligen Macht unter Gewimmel von Engeln und Heiligen ist sicherlich von Massenet doch ernsthaft gemeint (und darum seinem Kollegen Saint-Saens ähnlich, blanker Glaubenskitsch alter Männer), hatte er selbst  ein von Sentiment nur so waberndes Oratorium wie Marie Madeleine verfasst, das noch  wesentlich unerträglicher auf die sentimental-religiöse Tube drückte. Wie viele Komponisten seiner Zeit genierte sich Massenet nicht, triefende Religiosität auf die Bühne zu bringen – eine sichere Bank beim damaligen bürgerlichen Publikum. Religiöser (oder idiologischer) Sentiment war zu dieser vor allem wirtschaftlich schwierigen Zeit das Gängige, nicht das Aufgesetzte und für uns heute schwer Erträgliche. Frankreich war mehr als heute damals ein zutiefst katholisches Land, schon seit der Bartholomäus-Nacht. Und die Nachkriegs-Schmach tat das übrige.

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Massenets „Grisélidis“: Akt 1 der Uraufführung/Gallica/BFN

Grisélidis hatte nach recht großen Anfangserfolgen kein weiteres Glück bevor sie im 20. Jahrhundert an der Opéra du Rhin in Strasbourg 1996 wiederentdeckt wurde.  Eine kurze Wiederbelebung in Wexford 1983 mit einer recht allgemeinen Wiedergabe vermochte keine größere Wirkung zu zeitigen (ein Mitschnitt bei der verschwundenen Firma MRF als LPs, später bei ein-zwei Firmen auch als CD zeugt davon). Eine Radioproduktion von Radio France (Chant du Monde) bot 1963 eine sehr idiomatische, aber – wie für dies Format übliche – rabiat auf zwei Stunden gekürzte Aufnahme mit Geneviéve Moizan und Jean Mollien, ganz wunderbar.

Die Straßburger Produktion der Opera du Rhin allerdings, mit ihrer intelligent-ironischen Inszenierung und ihrer ausschließlich französisch-sprachigen  Besetzung, brach einmal mehr eine Lanze für Massenets späte Oper (ist aber leider nur bei Sammlern zu finden).

Lange Jahre war die Schwann-Koch-Aufnahme von 1995 aus Saint-Etienne (als Echo der damaligen Massenet-Festspiele 1992) die einzig verfügbare. Sie hat in der ältlich-gestandenen Michéle Command keine wirklich überzeugende Vertreterin (aber die Command war eine wirklich aufregende Médée in jenen Jahren!), wenngleich alle Beteiligten – und sie – eben tadelloses Französisch singen und Patrick Fournillier sehr zügig am ungarischen Orchesterpult für Spannung sorgt. Jean-Luc Viala ist als Alain eine feurige Pracht an Tenor, Jean-Philippe Courtis zu balsamisch für den Teufel (aber was für eine schöne Stimme!), Didier Henry macht viel aus dem ehrpusseligen Marquis, und der Rest ist beste französische Bühne jener Jahre. Wäre da nicht die matronale Titelbesetzung wär´s eine ideale Aufnahme.  Aber das ist nun für mich die neue, beim Palazzetto (Illustration oben von Theodore Chasseriau/Wikipedia). Geerd Heinsen

 

Musik ihrer Kindheit

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Fast zeitgleich mit ihrem peruanischen Tenorkollegen Juan Diego Florez hat auch der amerikanische Koloratursopran mit kubanischen bzw. spanischen Wurzeln Lisette Oropesa eine CD mit Arien aus Zarzuelas eingesungen und im zur CD gehörenden Booklet bekannt, dass die spanische Operette die Musik ihrer Kindheit gewesen sei. Allein in Kuba sollen an die 2500 Zarzuelas entstanden sein, die mehr als die spanischen sich weniger romantischen Liebesverwicklungen und mehr sozialen und rassistischen Problemen widmen.

Auf der Opernbühne konnte man bisher Oropesa  im Belcantofach, mit Mozart und im französischen Repertoire erleben, wovon es bereits CDs gibt, für die Zarzuelas mischt sie ihrer Stimme, wenn es passt, auch einen harscheren Klang bei, so im ersten Track, wo es um die Liebe einer „Mulattin“ zu einem weißen Mann und die damit verbundenen Probleme geht. Heute würde man von biracial sprechen wie auch in Bezug auf die in  südamerikanischen Zarzuelas vorkommenden „Mestizen“, den Personen mit einem indigenen und einem weißen Elternteil. Der „Mulata infeliz“ von Ernesto Lecuona also verleiht der Sopran tragischen Unterton, ein Wissen um die unmögliche Erfüllung eines Liebestraums. Das Orquesta Titular del Teatro Real unter Oliver Diaz führt mit zärtlichen Geigenklängen (Liza Kerob) in das Geschehen ein, während der Sopran mit einer farbigen Mittellage und einer sicheren Höhe erfreut. Weiter geht es mit dem Lied der Taube von Barbieri, in dem funkelnder Übermut auch mal nicht nur spritzig, sondern auch spitzig herüberkommt. Gern gibt  die Sängerin der ihren den Anschein, eine Naturstimme zu sein, schätzt eher das Einfangen der richtigen Stimmung als die Makellosigkeit des Klangs, so in Un pobre mio, und in Penellas Bendita Cruz wird Herbes durchaus zugelassen, ein kindliches Image auch vokal angestrebt. Rhythmusbetont und voll innerer Spannung ist Lunas De Espana vengo aus El niňa iudia, wo die Leidenschaft der Spanierin für den „Gitano“ trotzig verteidigt wird. Mit Koloraturen gespickt, die die Sängerin in ihrem ureigensten Element zeigen, ist das Lied über den alten Flötenspieler von Sorozabal, Geläufigkeit, Temperament und eine niedliche Biestigkeit erfordert und erhält Luisa von Chapi, zwischen den Gegensätzen Verwirrung der Gefühle und freudiger Gewissheit bewegt sich Madre de mis amores von Torroba, und beidem wird die Sängerin gerecht. Koloraturvirtuosität wird noch einmal mit Nina Tula, weibliches Selbstwertbewusstsein mit Roigs Salida de Cecilia bewiesen, wo die Herren nur bewundernd zustimmen können. Diese wie auch die weiblichen Mitglieder gehören dem Coro del la Comunidad de Madrid an und tragen das Ihre zur spannungsgeladenen Stimmung, die der Musik und den Texten innewohnt, bei. Die aber wird durchaus nicht vorwiegend von den titelgebenden Mis amores son las flores erzeugt (Euroarts 2011117). Ingrid Wanja

Zum Hundersten

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Vor hundert Jahren starb Ferruccio Busoni (1866-1924). Daran erinnerte bereits während des Karnevals 2023 der Maggio Musicale Fiorentino, der den in der Nähe, in Empoli, geborenen Komponisten, der freilich den Großteil seines Lebens in Berlin wohnte, mit dem Doktor Faust zu Wort kommen ließ. Wurde Doktor Faust, in dem Busoni bedeutende Szenen am Hof von Parma spielend lässt, wo Faust die Herzogin verführt, jemals in der unweiten Verdi-Stadt Parma aufgeführt? Busonis Doktor Faust ist jedes Mal eine Wucht. Oft zu sehen oder hören ist er nicht.

Nicht in Deutschland, noch weniger in Italien. In Florenz gab es Busonis letzte, von seinem Schüler Philipp Jarnach vollendete und 1925 in Dresden uraufgeführte Oper immerhin 1964. Vielleicht hätte man die aktuelle Inszenierung des effektiven Davide Livermore, der derzeit in Italien für das Großformatige angesagt ist, sehen müssen – Blu-Ray und DVD gibt es natürlich auch – aber der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister sorgt dafür, dass die CD auch ohne szenischen Budenzauber habenswert erscheint (3 CD Naxos 8.660531-33). Bereits mit der Symphonia mit „Ostervesper und Frühlingskeimen“ führt Meister in eine geheimnisvoll spätmittelalterliche Welt, in die sich Busoni musikalisch so ingeniös einfühlt. Der nachgeschaltete, mit verschiedenen Stimmen gesprochene Abschnitt „Der Dichter an die Zuschauer“ wurde vermutlich szenisch besser als in der schwer begreiflichen, diffusen akustischen Wiedergabe gelöst. Doch dann hält Meister die Spannung über gut zweieinhalb Stunden auf hohem Niveau, über Vor- und Zwischenspiel und über die drei in Parma und Wittenberg spielenden Hauptszenen, und realisiert eine bezwingende, bestens koordinierte Aufführung, der Klang berstend und auffahrend, dann wieder mystisch und raunend und stets szenisch mitreißend aufgefächert. Schön durchhörbar sind die Szenen mit den Studenten aus Krakau (Martin Piskorski, Marian Pop, Lukasz Konieczny) oder den nächtlichen Geistern, die Faust beschwört. Auch die weiteren Figuren sind weitgehend gut charakterisiert, Chor und Orchester des Maggio Musicale Fiorentino sind in Bestform.

Mit der Titelfigur hat Busoni eine besonders eindringliche und eindrucksvolle Gestalt geschaffen, die das Beste des jeweiligen Sängerdarstellers zum Vorschein bringt. Dietrich Henschel, der der Bühne fast entschwunden schien, ist ein wuchtig rufender wie sanft beschwörender Faust mit persönlichkeitsstarkem Bariton. Faust erscheint bei Livermore als Doppelgänger Busonis, wie denn offenbar alle Männer solche Busoni-Doubles sind, und entsprechend klar und wohltuend textdeutlich singt und gestaltet Henschel, der die Partie bereits unter Nagano auf CD verewigt hat, den Text, so dass man Busonis deutschsprachiges Libretto fast mitschreiben könnte. Sein Widerpart Mephistopheles ist bei Busoni ein Tenor, ein gleisnerischer Heldentenor à la Tambourmajor in dem ebenfalls 1925 uraufgeführten Wozzeck. Der Amerikaner Daniel Brenna singt ihn mit der Leuchtkraft und durchdringenden Intensität und oft auch schneidenden Schärfe einer intakten Heldenstimme, auch textdeutlich und klug changierend. Henschel und Brenna gelingt es, das lange „Prelude II“ und beider Dialog in Fausts Studierstube spannend zu durchdringen und das anschließende mit einem großartigen Orgelsolo (gespielt von Andrea Severi) eingeleitete „Intermezzo“ („Kapelle im Münster“) suggestiv zu gestalten; der aus dem Libanon stammende Tenor Joseph Dahdah gibt in dieser Szene dem Soldaten Profil, wie anschließend auch dem Herzog von Parma. Olga Bezsmertna bleibt kühl virtuos als Herzogin von Parma, die gar nicht unähnlich der Dame in Hindemiths ein Jahr später in Dresden uraufgeführten Cardillac ist, mit der die ukrainische Sopranistin an der Wiener Staatsoper 2012 erstmals große Aufmerksamkeit fand. Im Ensemble fallen der Bassist Wilhelm Schwinghammer als Wagner/ Zeremonienmeister und der Bariton Marcell Bakonyi als Jurist auf. Rolf Fath

Bezaubernd

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Zeitlebens der Gunst der Herrscher auf Königs-, Kaiser- oder Zarenthronen erfreuen konnte sich der italienische Komponist Giovanni Piasiello, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Uraufführung seiner opera buffa La finta amanta vor Katharina II. und Kaiser Joseph bei deren Treffen im heutigen Weißrussland stattfand. Den Herrschern gefiel das Werk, den anderen Zeitgenossen ebenfalls, aber bald fiel es dem Vergessenwerden anheim. Mit einem kleinen Orchester und nur drei Sängern hatte der Komponist, als Nachfolger von Traetta an den Zarenhof berufen, den Tross der Zarin begleitet, aus deren Petersburger Regierungssitz er sich nur durch die Lüge von der Unverträglichkeit des russischen Klimas für seine Gattin wieder ins heimische Neapel retten konnte, wo er mehrfache Regierungswechsel, darunter die von Napoleons Bruder Josef zu seinem General und Schwager Murat und schließlich zurück zu den Habsburgern  unbeschadet überstand, ihm sogar Napoleon I. die Hinwendung zu den Feinden verzieh, dem er dies mit der Komposition von Proserpina für Paris 1803 vergalt. Paisiellos Barbiere di Siviglia erfreute sich größter Beliebtheit, ehe der Rossinis ihn im Todesjahr des aus Taranto Stammenden  von den Opernbühnen verdrängte.

Es geht um eine Opernfreunden recht vertraute Handlung, um den Versuch eines reichen, aber alten Mannes der tieferen Stimmlage, die Gunst eines jungen, armen Mädchens, das von einem ebensolchen, Tenor singenden Mann geliebt wird, dessen Neigung sie erwidert. Mit allerlei Schabernack und nach Überwindung einiger Hindernisse gelingt es den jungen Leuten, den Alten zu überlisten und einander und dazu noch eine lukrative Stellung zu bekommen. Dass die Geliebte bei diesem Vorhaben erst einmal als Schwester ausgegeben wird, ist auch nicht besonders neu.

Die nun vorliegende CD stammt bereits aus dem Jahr 2019, also vor Beginn des Kriegs in der Ukraine, und die Zusammenarbeit zwischen Italienern und Russen beruht wohl auch auf der Tatsache, dass sich die Partitur im Archiv des Mariinski-Theaters in Petersburg befindet. Der sehr um die Aufführung bemühte Dirigent und Musikwissenschaftler Stefano Parisse, der auch die Rezitative am Cembalo begleitet, tut sein Mögliches und hat mit dem Estrin Orchestra auch Musiker zur Verfügung, die für Frische  und Schwung , aber weniger für Charme und Esprit, die der Partitur innewohnen, sorgen können.  Der russische Sopran Elena Tsvetkova verfügt über ein leicht elegisches, schön anzuhörendes Timbre, ist mit ihrer lyrischen Stimme aber eher eine ernsthafte Camilla als eine vom Komponisten vorgesehene Camilletta, d.h. ihr fehlt trotz beachtlicher Bemühungen das letzte Quäntchen von einem die Krallen ausfahrenden Kätzchen, am ehesten noch wahrnehmbar in „Quanti sciocchi amanti“ im zweiten Akt. Eine vorbildliche Textverständlichkeit zeichnet den Tenor Daniele De Prosperi aus, es fehlt aber jeder tenorale Schmelz, ein Charaktertenor müht sich redlich, erreicht auch die Höhen, aber auch diese können dem Ohr nicht schmeicheln. Über die notwendige Geläufigkeit für den Don Girone verfügt der Bariton Antoine Bernheim, weder verwandt noch verschwägert mit dem Tenor, die Stimme ist recht dunkel, stellenweise klingt sie auch nasal, und insgesamt vermisst man bei den vokalen Leistungen den funkelnden Humor, den die Oper durchaus zu bieten hat (Naxos 8.660563-64). Ingrid Wanja

Aus den Salons Balzacs und Montparnasse

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Der Titel liest sich einfach zu gut, als dass der Bariton Arnaud Marzorati und sein Gesangs- und Instrumentalensemble Les Lunaisiens darauf verzichten mochten: La Comédie Humaine. Chansons Balzaciennes (CD Alpha Classics 1105). Dabei handelt es sich schlichtweg um Lieder, die in der Epoche zwischen Ende der napoleonischen Ära und Proklamation des Zweiten Kaiserreichs entstanden und in den Salons der Kurtisanen oder einfältigen Emporkömmlinge in den Romanen Balzacs erklungen sein könnten. Die 16 Chansons sind alles andere als eine menschliche Komödie in Liedern, denn die Bezüge zu einzelnen Romanen und Figuren erscheinen mir doch sehr hergeholt. Aber das soll nicht stören. Mit Ausnahme des geschätzten Tenors Cyrille Dubois nähern sich die wenig bekannten Interpreten wie die Mezzosopranistin Lucile Richardot, der Bariton Arnaud Marzorati und der Bass Jérôme Varnier einem guten halben Dutzend noch weniger bekannter Komponisten. Einzig Daniel-Francois Esprit Auber ragt heraus. Sein Chanson „Amour et Folie“ singt Lucile Richardot mit herber, nicht unbedingt gefälliger Stimme und deftigem Zugriff, die auch „Madame Barbe-Bleue“ von Alexandre Pierre Joseph Doche (1801-49) und Joseph-Philippe Simons (1803-91) kennzeichnen. Umrahmt wird das Programm von zwei Liedern des Marc-Antoine-Madeleine Désaugiers (1772-1827); es handelt es sich um zwei hübsche Miniaturen, deren sprechende Titel eine hinreichende Beschreibung der idyllischen Szenen sind, wie sie durchaus bei Balzac vorkommen könnten: „Tableau de Paris à cinq heures du matin“ und „Tableau de Paris à cinq heures du soir“. Die vier Sänger haben die kurzen Strophen unter sich aufgeteilt, so dass die Bilder wie kleine Liederspiele wirken. Einige der Lieder sind für zwei oder mehr Stimmen konzipiert, darunter schlichte Reihengesänge von Pierre Dupont (1821-70) und Émile Debraux (1796-1831). Cyrille Dubois singt Duponts größten Erfolg „Les Louis d’Or“ und „Les quatre âges historique“ von Pierre-Jean de Béranger (1780-1857), stets mit dem hauchzart-süßen und geschmeidigen Ton, den man an ihm liebt. Vanier macht mit knorrigem Bass Bérangers „Le corps et l’ame“ zu einem kleinen Kabinettstück und widmet sich in „L’Or“, ebenfalls von Béranger, dem Stoff, den Balzac in seinen Pariser Romanen geradezu mythisch überhöht, denn „nach Golde drängt, am Golde hängt“ alles und alle. Soigniert singt Mazorati das schlicht „Chanson“ genannte Lied von Eugène-François Vidocq (1775-1857). Sehr apart das Stück für drei Männerstimmen „Ne poursuivons plus la gloire“ von Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826). Ausgesprochen ausdrucksstark die Begleitung durch Christian Laborie, Christophe Tellart, Patrick Wibart, Ètienne Galletier und Daniel Isoir.

Mit der nächsten Veröffentlichung französischer Chansons machen wir einen Sprung aus den Salons der Pariser Innenstadt hinauf in die Künstlerszene des Montparnasse, wo Kiki de Montparnasse als Sängerin und Schauspielerin, vor allem aber als Muse und Königin residierte; Königin von Montparnasse stand auch auf ihrem Grabstein. Kiki à Paris heißt das in Mons aufgenommene Programm (Cyprès 8623), mit dem die Mezzosopranistin Albane Carrère, die Geigerin Elsa de Lacerda und die Gitarristin Magali Rischette an Jane Birkin, Juliette und die Piaf, an France Gall, Dalida und Barbara erinnern. Dazwischen eingestreut – Kiki lebte von 1901 bis 1953 – Musik von Debussy (Trois chansons de Bilitis), Reynaldo Hahn, Poulenc und Lili Boulanger. Toll ist das Cover, das Rays berühmtes Foto mit Kikis Rückenansicht in Form eines Cellos zeigt: Le violon d‘Ingres: 1921 wurde Alice Ernestine Prin das bevorzugte Modell des amerikanischen Fotokünstlers und legte sich den Künstlernamen Kiki zu. Das Programm ist für irgendeine der Künstlerlokalitäten, die es auf dem Montparnasse noch geben muss, oder als Nachprogramm auf einem der Festivals, bei denen Carrère auftrat (2024 als Kate Pinkerton in Aix), sicherlich ganz hübsch ausgedacht, aber auf der CD haben der gleichförmige Ausdruck und das monoton damenhafte Timbre etwas durchaus Einlullendes. Die Chansons klingen zu einförmig, wenngleich Carrères Absicht zu spüren ist, den Liedern sowie den Arrangements von Jean-Luc Fafchamps etwas Eigenes einzuhauchen und ihre Opernerfahrung einzubringen, wie am dramatischen Affekt in Juliette Noureddins „Tueuses“ oder der keuschen Höhe in Piafs „Mon Dieu“ erkennbar ist. Die sanfte Reinheit der Stimme nehmen Dalidas „Mourir sur scène“ und Galls „Résiste“ viel von ihrem aufgeregten Pathos. Aufregend die Begleitung. Etwas für Liebhaber (18. 01. 24). Rolf Fath

Audiovisuelle Einsichten

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Wilhelm Furtwängler, einer der wichtigsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, starb am 30. November 1954 in Ebersteinburg (Baden-Baden). Trotz eines anhaltenden Interesses an seinen Interpretationen und Aufnahmen blieb sein 70. Todestag im öffentlichen Bewusstsein weitestgehend unbeachtet. Den bedeutenden künstlerischen Institutionen, mit denen Furtwängler gearbeitet hatte – allen voran die Berliner Philharmoniker, aber auch die Staatsoper Unter den Linden, das Gewandhausorchester Leipzig, die Wiener Philharmoniker, das Philharmonia Orchestra London oder die Salzburger Festspiele – war die Erinnerung an Furtwängler anlässlich seines 70. Todestags 2024 keine Erwähnung oder Würdigung wert. Sicher kann man darüber streiten, ob ausgerechnet der 70. Todestag ein besonderes „Jubiläum“ ist. Doch anderseits werden auch alle möglichen „krummen“ Geburts- oder Todestage von Musikern beachtet. Es lohnt sich jedenfalls der Frage nachzugehen, was uns Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tode noch zu sagen hat, warum seine Interpretationen immer noch und immer wieder faszinieren und sogar jüngere Hörer anziehen, wie zum Beispiel das Interesse des Publikums in Japan, Korea und sogar China zeigt.

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Aufmerksamen Beobachtern des Musiklebens dürfte nicht entgangen sein, dass es entgegen der vorherrschenden Tendenz doch einige Furtwängler-Würdigungen gab: Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte am 29. November, ein wenig versteckt, nicht in ihrer Printausgabe, sondern ausschließlich digital, einen lesenswerten Zweispalter von Wolfgang Schreiber. Der Geiger Daniel Hope erinnerte am 1. Dezember im WDR anderthalb Stunden lang in Wort und Ton an Furtwängler – auf eine Art, die auch Nicht-Experten diesen Ausnahmekünstler nahebringen konnte. Der Musikjournalist Kai Luehrs-Kaiser widmete sich in seiner Sendung „Meine Musik“ am 3. Dezember 2024 im rbb (radio 3) ausführlich Furtwängler – mit markanten Beispielen von dessen Interpretationskunst. Beide Sendungen sind noch eine Weile nachzuhören in der ARD Mediathek. Schließlich erinnerte der englische Musikjournalist Norman Lebrecht – der zwar immer wieder scharf Furtwänglers Haltung und Rolle während der NS-Zeit kritisiert hat, gleichzeitig aber keine Zweifel daran ließ, für wie bedeutend er den Dirigenten hält – auf seiner Website „Slipped Disc“ mit mehreren Beiträgen an Furtwängler (mit hilfreichen Links zu Texten oder Bild-Ton-Dokumenten). Und da erfuhr man denn auch, wie an Furtwängler in China erinnert wurde.

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Das Berliner Philharmonische Orchester unter Leitung seines Dirigenten, Dr. W. Furtwängler, bei einem Werkpausenkonzert in einer Halle der AEG Werke in Berlin, das von der sogenannten KdF („Kraft durch Freude“) im nationalsozialistischen Deutschland organisiert wurde. 26.2.1942 L 0607/504N. Bundesarchiv, Bild 183-L0607-504 / CC-BY-SA 3.0

Die verdienstvolle deutsche Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft (WFG), die das Ziel verfolgt, die künstlerische Leistung des Dirigenten, Komponisten und Schriftstellers Wilhelm Furtwängler lebendig zu erhalten, trug auf besondere Weise zur Erinnerung und Vergegenwärtigung des Künstlers bei. Der schon erwähnte Musikautor Wolfgang Schreiber hielt Mitte September in einer Matinee in der Berliner Universität der Künste einen Vortrag zur Bedeutung und Aktualität Furtwänglers: „Was können wir von Wilhelm Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tod lernen?“ (nachzulesen hier).

Fast genau zum Todestag des Dirigenten erschien dann die vorliegende Box „Insight – Wilhelm Furtwängler in audiovisual documents“. Sie entstand in enger Zusammenarbeit zwischen musicas.de Hamburg und der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft. Die Anregung kam von Mitgliedern der WFG und japanischen Furtwängler-Freunden, die vorschlugen, das vorliegende bzw. zugängliche audiovisuelle Material über den berühmten Dirigenten zusammenzutragen und in möglichst besserer Form zu veröffentlichen.

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Die Alte Berliner Philharmonie in der Bernburger Straße, hier während eines Furtwängler-Konzertes (Rudolf Kessler Berlin Phil Media GmbH)

Die Box enthält drei Blu-Ray-Discs. Auf BD 1 finden sich Ausschnitte von Proben, Konzerten und Ereignissen aus den Jahren 1940 bis 1963. Das sind zum einen kurze bis kürzeste Videos: z. B. der Ausschnitt eines Konzerts, das die Berliner Philharmoniker im November 1940 im Deutschen Opernhaus in Prag gaben, Schlusstakte der Probe des Brahms’schen Violinkonzertes mit dem Solisten Yehudi Menuhin (Salzburg 1947) und, sehr temperamentvoll, die Probe des Endes von Brahms‘ Vierter Symphonie in London (1948) oder der Beginn einer Probe des „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss in Berlin (1950). Zum anderen gibt es Ausschnitte mittlerer Länge. Für Konzerte, die in den Jahren 1939 bis 1945 stattfanden und natürlich auch der Propaganda der Nazis dienten, betrieb man schon einen größeren Aufwand, bis hin zur effektvollen Inszenierung auch des Publikums. Das zeigt das „Werkpausenkonzert“ in der AEG-Fabrik in Berlin-Wedding im Februar 1942 mit der Ouvertüre zu Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg und die Aufführung von Beethovens Neunter in einem Festakt am Vorabend von Hitlers Geburtstag im April 1942 (an dessen Ende ein sichtlich indignierter Wilhelm Furtwängler dem Propagandaminister Joseph Goebbels die Hand reichen muß!). Vollständig sind allein die Aufführungen der Meistersinger-Ouvertüre und des Till Eulenspiegel. Weiteres filmisches Material war nicht aufzufinden und wird sich wohl auch nicht noch finden lassen.

BD 2 enthält Furtwängler-Erinnerungen von Zeitgenossen, die ihn selbst erlebt oder mit ihm gearbeitet haben – dem Dirigenten Claudio Abbado, einem seiner Nachfolger in Berlin (der Furtwängler in Wien erlebte und ihn für den bedeutenderen Dirigenten als seinen Landsmann Toscanini hielt!), dem auch komponierenden Philosophen und Soziologen Theodor Adorno (der als junger Mann schon überaus von Furtwängler begeistert war), dem Geiger Yehudi Menuhin (der von Furtwängler schwärmt und vor allem dessen Einfühlungs­vermögen und Kunst zu begleiten lobt), dem Komponisten und langjährigen Solo-Paukisten der Berliner Philharmoniker Werner Thärichen (der 1987 das sehr lesens- und bedenkenswerte Buch „Paukenschläge – Furtwängler oder Karajan?“ veröffentlichte) sowie anderen. Alle fremdsprachigen Beiträge sind deutsch untertitelt. 

Auf BD 3 ist eine Rarität veröffentlicht: die ungewöhnliche Filmdokumentation „Wilhelm Furtwängler“ vom Neffen des Dirigenten Florian Furtwängler aus dem Jahre 1968.

Das Bild- und Tonmaterial wurde aufwendig restauriert und auf den neuesten technischen Stand gebracht. Die Box ist für den internationalen Markt konzipiert. Deshalb kommt sie in Deutsch und Englisch heraus, für den japanischen Markt gibt es einen Einleger mit den Texten in japanischer Sprache.

Wilhelm Furtwängler auf Tournee/Archiv bphneu

Die Edition wurde möglich durch das Engagement der WFG und ihres Vorsitzenden Helge Grünewald. Der Musikpublizist hat dokumentarisches Material aus den Archiven der Furtwängler-Gesellschaft und der Berliner Philharmoniker, seiner umfangreichen eigenen Sammlung sowie privaten Quellen erschließen können. Er ist auch Autor und Redakteur des reichhaltigen, 123-seitigen, zweisprachigen Begleitbuchs. Der Textteil wird illustriert mit umfangreichem, teilweise auch neuem, bisher noch unveröffentlichtem Fotomaterial.

Statt eines Vorworts liest man kluge, bedenkenswerte und Furtwängler und seine interpretatorischen Eigenheiten sehr gut charakterisierende Bemerkungen von Daniel Barenboim unter dem Titel „Warum uns Furtwängler bis heute bewegt“, ursprünglich zu Furtwänglers 60. Todestag, dem 30. November 2014 verfasst. Barenboim hatte Furtwängler noch als Jugendlicher in Salzburg erlebt, er wurde ihm sogar vorgestellt. Furtwängler äußerte sich sehr positiv über das musikalische „Wunderkind“. Daniel Barenboim ist – wie der jüngere Christian Thielemann – einer der wenigen heurigen Dirigenten, die in ihren Interpretationen an Furtwängler anknüpfen.

Man wünscht dieser auch graphisch ansprechend gestalteten Veröffentlichung, eine große Verbreitung. Editionen wie diese wünscht man sich öfter, sie sind jedoch eine absolute Rarität auf dem Markt der Ton- und auch Bildtonträger. Musicas.de, die produzierende Firma und ihr rühriger Inhaber Markus Steffen, haben sich bereits mit ähnlichen Produkten einen Namen gemacht – zum Beispiel mit drei Otto-Klemperer-Editionen. Wenn man sich auf dem Markt umsieht, findet man zwar im immer wieder in dem doch als aussterbend bezeichneten CD-Bereich Sammeleditionen, die Solisten, Dirigenten, Orchestern gewidmet sind, häufig aber in liebloser „Konfektionierung“ und fragwürdigem Mastering erscheinen. Es geht dann zumeist um die x-te Wiederverwertung von vorhandenem (historischem) Material.

In Zusammenstellung, Aufmachung, Gestaltung ist die vorliegende Edition gewiss ein Ausnahmeprodukt. Sie bietet nicht nur den Blick auf den Interpreten Furtwängler, sondern auch Einblicke in sein Denken und Arbeiten. Nicht zuletzt erfährt man, dass Furtwängler zu seiner Zeit ein „Star“ war, aber ohne Star-Allüren auskam. Peter Heissler

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Insight – Wilhelm Furtwängler in historischen audiovisuellen Dokumenten (Box mit 3 Blu-Ray Discs, Begleitbuch, gebunden, 123 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,; Texte Deutsch und Englisch; Musicas.de GmbH, Hamburg in Zusammenarbeit mit der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, Berlin; Gesamtdauer 275 Minuten, Sound Format PCM Stereo; ISBN 4 260213 919209/ Abbildung oben: Ausschnitt aus dem ARD-Film Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Ausschwitz.