Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Im Zauberwald

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Die letzte CD-Aufnahme von Händels Oper Alcina mit Joyce DiDonato bei der DG erschien vor 15 Jahren, die Neueinspielung bei PENTATONE ist daher mehr als willkommen – umso mehr, da sie unter der Leitung von Marc Minkowski entstand, der mit seinem Ensemble Les Musiciens du Louvre eines der spannendsten Händel-Dokumente der letzten Zeit vorlegt. Das Album wurde im Februar 2023 in Bordeaux produziert und auf drei CDs mit einem mehrsprachigen Booklet veröffentlicht (11689581). Spektakulär ist die Besetzung, angeführt von Magdalena Kozená in der Titelrolle. Die tschechische Mezzosopranistin ist bei dem Label regelmäßig besetzt, sorgt aber hier für einen absoluten Höhepunkt ihrer Aufnahmetätigkeit. Die Intensität ihrer Interpretation ist überwältigend, das Spektrum der Emotionen und Farben schier unerschöpflich. Schon in ihrer zweiten Arie, „Sì, son quella!“, verdeutlicht sie mit umflorten Ton den Wechsel im Gefühlszustand der Figur. Bei ihrem „Ah, mio cor!“ im 2. Akt verstärkt sich die existentielle Situation noch und Kozená gelingt mit bebender Stimme und einem Ausdruck von höchster Intensität ein ergreifender Moment in ihrer Interpretation. In „Ombre pallide“ am Ende des 2. Aktes schafft sie einen Zustand von Trance und Verzweiflung, während sie bei „Ma quando tornerai“ im 3. Akt noch einmal ihr virtuoses Vermögen demonstrieren kann. Und ihr letzter Auftritt mit „Mi restano le lagrime“ ist ein ergreifendes Zeugnis ihres tragischen Scheiterns.

Die zweite Sopranpartie des Werkes, Morgana, nimmt Erin Morley wahr und überzeugt mit jugendlichem, süßem Timbre und hoher Sicherheit bei den exponierten Koloraturen. Ihr Bravourstück am Ende des 1. Aktes „Tornami a vagheggiar“ singt sie mit jubilierender Stimme und lässt die Koloraturen glitzern. Im lieblich von der Viuoline umspielten „Arna, sospira“ im 2. Akt bezaubert sie mit Tönen von anrührender Innigkeit, die beim „Credete al mio dolore“ im 3. Akt an Intensität noch gewinnen.

Die Partie des Ruggiero, komponiert für den namhaften Kastraten Giovanni Carestini, ist eine Herausforderung für jeden Interpreten, sei es ein Countertenor oder eine Mezzosopranistin. Hier sorgt Anna Bonitatibus für eine Sternstunde des Barockgesangs mit beglückender Stimme. Energisch trumpft sie in ihrer Auftrittsarie „Di te mi rido“ auf  und demonstriert schon hier ihr virtuoses Vermögen. Im wiegenden „Mi lusinga il dolce affetto“ setzt sie einen intimen Gefühlsmoment und mit dem lyrischen Glanzstück der Partie, „Verdi prati“, das die Schönheit der Natur preist, krönt sie mit sublimen Tönen und feinsten Nuancen ihre Darbietung. Natürlich imponiert sie auch mit ihrem Bravourstück „Sta nell´ ircana pietrosa“ im letzten Akt, einem cavallo di battaglia aller Händel-Mezzosoprane, mit Verve, Geläufigkeit und Emphase.

Version 1.0.0

Konkurrenz hat sie nur in Elizabeth DeShong, die als Ruggieros Braut Bradamante einen dunklen Mezzo von satter Fülle und phänomenaler Virtuosität hören lässt. Schon ihr Auftritt „È gelosia“ imponiert im energischen. Aplomb und der behänden Koloraturläufe. Höhepunkt ihrer Interpretation ist „Vorrei vendicarmi“ im 2. Akt, wo sie wie ein Wirbelsturm durch die Koloraturrouladen rast – ihr gebührt die Siegestrophäe im Wettstreit der Sängerinnen.  Der Countertenor Alois Mühlbacher gibt den Knaben Oberto mit gebührend androgynem Timbre, doch steifen Tönen in der Höhe, der Tenor Valerio Contaldo den in Morgana verliebten Oronte, der in seiner Arie „Semplicetto! A donna credi?“ zwar resoluten Ausdruck, doch auch grobschlächtige Tongebung vernehmen lässt. Einen günstigeren Eindruck hinterlässt er mit dem auftrumpfenden „È un folle“ und vor allem dem kultivierten „Un momento di contento“ im letzten Akt, doch bleibt er der Schwachpunkt der sonst hochkarätigen Besetzung. Alex Rosen komplettiert sie als Melisso mit virilem Bass, der in der großen Arie im 2. Akt, „Penso a chi geme“, mit nobler Tongebung besticht.

Sie alle führt Minkowski mit erfahrener, kundiger Hand und lässt mit seinem Orchester Händels Musik mit ihrem Farbenreichtum und all ihren Affekten erstrahlen. Seine Tempovorgaben sind zuweilen höchst riskant und verlangen den Interpreten das Äußerste an Einsatz und Virtuosität ab. Aufregend sind die Kontraste, welche der Dirigent in seiner Deutung setzt – wenn er am Ende des 2. Aktes bei Alcinas ,,Ah, mio cor!“, das den Verlust ihrer Macht anzeigt, das Orchester geradezu einfriert und klirrende staccati hören lässt. Im Ballet am Ende des 2. Aktes differenziert er deutlich zwischen dem lieblichen Entrée des Songes agréables und dem bedrohlichen Entrée des Songes funestes, macht im Klangbild die beiden unterschiedlichen Welten deutlich. Mit dem Schlusschor „Dopo tante amare“ lässt er das Werk jubilierend ausklingen. Bernd Hoppe

Heiligenlegende

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Eigentlich für seine Orchesterstücke, darunter die drei Stimmungsbilder  Fontane di Roma, Pini di Roma und Feste di Roma, bekannt ist Ottorini Respighi, aber er ist auch Komponist einiger Opern, darunter La Fiamma und Marie Victoire, derer sich die Deutsche Oper Berlin angenommen hatte. Eigentlich als Konzerttriptychon vorgesehen war seine Maria Egiziaca, beruhend auf einer Heiligenlegende aus dem Mittelalter, in der es um eine ägyptische Prostituierte geht, die aus Alexandria ins Heilige Land übersiedelt und nach einem langen Büßerleben selig entschläft.

In dem vom Librettisten Claudio Guastalla verfassten Mistero in tre episodi trifft in diesen Maria dreimal auf den Pilger und späteren Abt Zosimo, der sie zuerst wegen ihres lockeren Lebenswandels verflucht, ihr später den Zugang zum Tempel verweigert und in dessen Armen sie schließlich nicht nur entsündigt, sondern auch menschliche Wärme fühlend stirbt.

Maria Egiziaca wurde 1932 in New York und in Venedig uraufgeführt, war in neuerer Zeit so gut wie vergessen, allerdings existieren Tonaufnahmen, eine ungarische bei Hungaroton unter Lamberti Gardelli mit Veronika KIncses, Lajos Miller und Janos Nagy und bei Bongiovanni eine CD mit Jacsra Stoiliova  und Carlo Desderi. Bei Dynamic gibt es nun die erste Videoaufzeichnung, und zwar aus dem Teatro Malibran, während der Aufbauarbeiten am durch Brand zerstörten Teatro La Fenice dessen Ersatzspielstätte und auch sonst Spielort für Opern mit kleinerer Besetzung.

Das in seiner Grundstruktur an die französische Oper Thais erinnernde Werk wurde im vergangenen Jahr vom inzwischen 94 Jahre zählenden Altmeister Pier Luigi Pizzi nicht nur inszeniert, sondern auch, er begann schließlich als Bühnenbildner, mit Dekor und Kostümen versehen. Um jeden religiösen Kitsch zu vermeiden, von dem Italien noch immer voll ist, wählte der Altmeister eine ausgesprochen karge Szene, verschmähte allerdings nicht reichlichen Videoeinsatz für Meer, Wellenwogen, Nebel, aus dem die Kirche für die zweite Szene entsteigt. Die beiden Interludi werden durch die Tänzerin Maria Novella Della Martira in schöner und dabei doch dezenter Nacktheit gestaltet, aber auch die Sopranistin Francesca Dotto ist höchst attraktiv, so dass nachvollziehbar wird, warum die drei Seeleute  ihrem Bitten nicht widerstehen können. Dazu hat sie eine leuchtende, in der Höhe schön aufblühende Sopranstimme, was der eher an der Kargheit alter  Kirchenmusik orientierten und damit altertümelnden  akustischen Seite sehr gut tut. Den erst strengen, dann mitfühlenden Zosimo singt Simone Alberghini mit erst recht herb eiferndem, dann von sanfter Müdigkeit erfülltem, in schönem Fluss dahin strömendem  Bariton. Es gibt noch eine dritte recht umfangreiche Partie, den ersten Matrosen, den der Tenor Vincenzo Costanzo eine trotzig schillernde Arie über die Ziellosigkeit seiner Seefahrt singen lässt und der im zweiten Bild noch den Leprakranken gibt, so wie der dritte Matrose (Luigi Morassi)  auch sonor der Bettler ist und dem zweiten Seemann nur eben dieser anvertraut wurde (Michele Galbiati). Eine zarte Blinde und ein schönen Trost spendender Engel ist Ilaria Vanacora.Das Orchester von La Fenice unter Manlio Benzi erweist sich als feinfühliger Begleiter der Sänger und erfolgreicher Anwalt für das zu Unrecht das Schicksal einer Rarität erduldende Werk (Dynamic 38050). Ingrid Wanja

Längst überfällige Edition

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Lieder von Wolff. Erich Wolff. Von jenem Komponisten, der mit Doppel-F geschrieben wird. Gesprächsweise  kann es leicht zur Verwechslung mit dem anderen Wolf, mit Hugo, kommen. Ausgesprochen spielt die unterschiedliche die Schreibweise nämlich keine Rolle. Beiden ist die Hinwendung zum Lied als Zentrum des Schaffes eigen. Erich Jacques Wolff wurde am 3. Dezember 1874 in Wien geboren. Gestorben ist er am 3. März 1913 in New York. Zu Lebzeiten war er hoch geschätzt und auch als Konzertbegleiter bei Liederabenden gesucht.

Mit dem Machtbeginn der Nationalsozialisten zwanzig Jahre nach seinem Tod wurde die Erinnerung an den jüdischen Musiker getilgt. Verehrung wandelte sich in Verachtung. In den USA hingegen, wo deutsche Emigranten, darunter auch künstlerische Weggefährten von Wolff, eine neue Heimat gefundene hatten, geriet er nicht in Vergessenheit. So wurde 1936 wurde bei der Schallplattenfirma Columbia ein Album mit achtzehn ausgewählten Liedern aufgenommen. Solist ist ein Namensvetter des Komponisten, der Bariton Ernst Wolff (1905-1992), der sich selbst am Klavier begleitet. Rassistisch verfolgt, war er aus Deutschland geflohen und hatte sich in seiner neuen Heimat auch dadurch einen Namen gemacht, dass er das amerikanische Publikum beispielsweise mit der Komponistin von Clara Schumann bekannt machte. Das Plattenalbum hat seinen hohen künstlerischen Wert bewahrt und ist inzwischen ein gesuchtes Sammelobjekt. Es geht eine große Faszination vom sanften Timbre des Interpreten aus. Es sollten viele Jahrzehnte vergehen, bis man sich auch in seiner Heimat auf Erich J. Wolff besann. In Büchern tauchte zumindest sein Name wieder auf. Fotos sind aber kaum zu finden, und das allwissende Onlinelexikon Wikipedia gibt sich nach wie vor wenig auskunftsfreudig.

In Deutschland war der Musikwissenschaftler Peter P. Pachl (1953-2021) einer der ersten, wenn nicht gar der erste, der von 2009 an Lieder und Melodramen von Wolff bei der Firma Thorofon einspielen ließ. Nun hat Naxos zu einem ganz großen Schritt ausgeholt und eine komplette Einspielung der Lieder gestartet. Bisher liegen Vol. 1 (8.574451) mit Samantha Gaul (Sopran) und Daniel Johannsen  (Tenor) sowie Vol. 2 (8.574557) mit der Mezzosopranistin Ida Aldrian und schließlich Vol. 3 mit dem Bariton Hans-Christoph Begemann (8.574558) vor. Die verdienstvolle und längst überfällige Edition entsteht in Zusammenarbeit mit Radio Bremen und dem SWR. Klavierbegleiter und Spiritus Rector ist der Pianist Klaus Simon. Rüdiger Winter

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Klaus Simon/Archiv Anke Nevermann/Naxos

Dieser nun schreibt in seinem Artikel im Beiheft der Naxos-Aufnahmen: Erich Wolff, ein tragisch vergessener Liedkomponist ersten Ranges. Vor bald fünf Jahren entdeckte ich den Wiener Komponisten Erich J. Wolff. Diesen Namen kennen heute nur noch die wenigsten Musikliebhaber. Wie auch? Sein Schaffen ist nur noch spärlich verlegt, und er hatte das Pech, aus einfachen jüdischen Verhältnissen zu stammen und bereits mit 39 Jahren in den USA an einer Ohrenentzündung fern seiner Heimat Österreich zu sterben. Wolff war Zeitgenosse von Arnold Schönberg und mit ihm wie auch mit Alexander Zemlinsky befreundet. Er schrieb bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1913 immerhin 168 Lieder. Zu seinen Lebzeiten rissen sich nämlich viele namhafte Sängerinnen und Sänger darum, mit Erich Wolff Erich J. Wolff (1874-1913) aufzutreten. Denn nach Engelbert Humperdincks Aussage war er zeitlebens als einer der besten Liedbegleiter Österreichs anerkannt. Welche Reputation Erich J. Wolff als Liedkomponist hatte, kann man in einem maßgeblichen Fachbuch von 1927 mit dem Titel „2000 der beliebtesten Kunstlieder“ nachlesen. Er kam nach Hugo Wolf (150), Richard Strauss (75) Gustav Mahler (23) mit 17 Liedern immerhin auf den vierten Rang und verwies Zemlinsky und Schreker mit jeweils nur einem Lied weit abgeschlagen auf die hinteren Plätze. Zwar wurden Wolffs Lieder zeitlebens alle verlegt, aber er schrieb ansonsten keine erfolgreichen großen Werke

Vor bald fünf Jahren entdeckte ich den Wiener Komponisten Erich J. Wolff. Diesen Namen kennen heute nur noch die wenigsten Musikliebhaber. Wie auch? Sein Schaffen ist nur noch spärlich verlegt, und er hatte das Pech, aus einfachen jüdischen Verhältnissen zu stammen und bereits mit 39 Jahren in den USA an einer Ohrenentzündung fern seiner Heimat Österreich zu sterben. Wolff war Zeitgenosse von Arnold Schönberg und mit ihm wie auch mit Alexander Zemlinsky befreundet. Er schrieb bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1913 immerhin 168 Lieder.

Seine Lieder waren nicht ohne Grund bis zum 1. Weltkrieg sehr erfolgreich und geschätzt. Zu seinen wie Sinfonien o. ä., welche seinen Ruhm einem größeren Publikum hätten nahebringen können. Auch seine reizvollen Klavierwerke verdienen wieder ins Repertoire zurückzukehren.

Durch die umfangreiche Tätigkeit als Liedpianist ließ er sich kompositorisch vielfältig von seinen Vorbildern inspirieren. Bei den zahlreichen Wunderhornliedern Wolffs denkt man natürlich unmittelbar an Gustav Mahlers bekannte Vertonungen. Auch Wolff traf ähnlich idiomatisch den Volkston und vertonte auch gerne Dialekttexte. Hugo Wolfs harmonischen Raffinessen und der anspruchsvollen Klavierbehandlung begegnet man hier ebenso wie der Hochromantik eines Robert Schumann. Erich J. Wolff nutzt gelegentlich auch den ganzen Fundus der spätromantischen Harmonik, ohne seinem Zeitgenossen Arnold Schönberg in die Atonalität zu folgen. Wie gut er Richard Wagners Musik kannte, ist einigen v. a. harmonisch gewagten Liedern anzuhören.

Trotz dieser Einflüsse, die bei vielen Liedern unterschiedlich stark zum Tragen kommen, hat er dennoch seinen eigenen Stil und seine eigene Liedästhetik herausgebildet. Er schafft es, für jeden seiner vertonten Texte (von großen und bekannten Dichtern wie Michelangelo, Goethe, Hölderlin und Eichendorff bis hin zu Zeitgenossen wie Dehmel, Liliencron, Verlaine und vielen vergessenen Dichtern seiner Zeit) den richtigen Tonfall zu finden. Er hat einen natürlichen Instinkt, aus jedem Gedicht ein besonderes und einmaliges Lied zu machen. In seinen besten intimen Liedern entspinnt er tief berührende Melodien, auf die selbst Richard Strauss oder Erich Wolfgang Korngold hätten neidisch werden können. Zudem sind seine anspruchsvollen Klavierbegleitungen immer pianistisch und dankbar geschrieben.

Diese Liedaufnahmen entstanden aus der Motivation, diesen großen Schatz der Lieder Wolffs wieder ins Bewusstsein zu rücken.(…) Klaus Simon (mit Dank an den Autor, R. W..)

 

 Jules Massenets “Grisélidis”

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Eingangs: In Massenets Griselidis verliebte ich mich bei einer Begegnung mit dieser Oper in Strasbourg 1996, wohin ich in jenen Jahren oft und gerne fuhr. Nicht nur wegen der schönen Stadt, des Münsters und des Backöffele, sondern vor allem wegen der Opéra du Rhin, die sich (und in den letzten Jahren ja erneut) immer wieder dem französischen Repertoire mit ausgefallenen Titeln der damaligen Jahrhundertwende widmete.

Massenets „Grisélidis“: Hélène Garretti und René Massis in Strasbourg/ Foto Archiv Heinsen

Und 1996 gab es eben Griselidis von Jules Massenet, heimgesucht im Vorfeld von der adoptierten Enkelin des Komponisten, die – eine bizarre Regelung des französischen Urheberrechts – auf die gezeigte Produktion Einfluss nehmen wollte und konnte. Sie hielt sie für zu frivol (und nahm Anstoß am Motorrad des Teufels) … Ach ja, glückliches Frankreich. Aber den Einwänden der Goldketten-behängten Dame im strengen schwarz-weiss Chanel-Kostüm wurde begegnet. Man einigte sich. Ah: der überwältigende Charm des Intendanten René Terrasson!

Sänger waren die mir bis daher unbekannte Hélène Garretti mit cremiger, wunderbar-jugendlicher Sopranstimme (keine wirkliche Karriere danach, bei youtube mit ein-zwei Dokumenten), unvergleichlich der französische Bariton René Massis, bezaubernd der junge Tibère Raffalli als feuriger Alain: Es war akustisch wie optisch (Terrassons italienisch-beleuchtete Inszenierung diskret-zeitgenössisch) ein Fest. Weitere Begegnungen mit Grisélidis verliefen weniger enthusiasmierend (1982 in Wexford, 1992 in Saint-Etienne (dann auf CD), 2006 in Lübeck).

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Die neue Aufnahme: Deshalb war ich so überrascht von meiner Begeisterung beim Anhören der neuen Aufnahme vom Palazzetto Bru Zane, die mit einem wirklich rundherum fabelhaften Ensemble und solidem akustischen Eindruck aufwarten kann. Nach dem Konzert 2023 in Paris mit demselben Cast eingespielt zählt dies hier zu dem Besten, das der Palazzetto herausgegeben hat und macht manche Ärgernisse der Vergangenheit vergessen. Jean-Marie Zeitouni am Pult der Kräfte aus Montpellier Occitaine schafft ein ebenso grandioses Klangbild wie auch die prickelnde Durchsichtigkeit für die ironischen Momente der frechen Parlandi aus der Hölle. Und die fünf Protagonisten könnten nicht besser besetzt sein: Vannina Santoni ist eine “fruchtig” klingende, dunkelstimmige  Titelsängerin, der man abnimmt, dass unter der Oberfläche des doch schon recht schwingenden Soprans ein Feuer lodert, das von der großbürgerlichen Prüderie gezügelt wird. Eine wirkliche Entdeckung (sie wäre die bessere Massenet-Ariane beim Palazzetto gewesen)! Thomas Dolié, Tassis Christoyannis und Julien Dran sind bekannte Größen im Cadre der Firma, als Marquis, Diable und Alain stehen sie für hohe Gesangskunst, schöne Timbres und makellose Diktion. Christoyannis ist eh´ einer meinem Lieblingssänger im dunklen Bereich. Mit Annette Dennefeld kommt eine kesse, aber eben nicht soubrettige, sondern frische und helle Stimme als Fiamina im wirkungsvollen Kontrast zur Santoni hinzu. Alle im besten Französisch zum Mitschreiben, das hat man lange so nicht mehr erlebt.

Massenets „Grisélidis“: Konzert 2023 in Paris/ Foto Marc Ginot

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Wie stets gibt es lohnende Aufsätze im  gewohnten CD-Buch (wieder nur englisch-französisch, dabei sind die drei deutschsprachigen Länder kein zu verachtender Markt), die grauen Illustrations-Prints (Pardon, sogar zwei farbige) lassen wie stets zu wünschen übrig, das ist eben so bei diesen Buch-Ausgaben. Aber alles in allem ist dies eine ganz aufregende, lohnende und rundherum befriedigende Aufnahme. Wenngleich nicht die erste (dazu nachstehend mehr)

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Das Werk: Grisélidis ist ein Spätwerk von Massenet, nur fünf Monate vor Debussys Pélléas et Mélisande uraufgeführt (was für ein Unterschied!) und weitgehend  mit derselben Equipe besetzt (außer in der Sopranrolle). In die Musiksprache dieser üppig gehaltenen Oper mischen sich denn auch  Reminiszenzen aus bekanntere Massenet-Opern, etwa der Esclamonde, der Thais oder des Chérubin (auf dessen RCA-Aufnahme die von mir erwähnte Hélène Garretti mitsingt, meines Wissens ihre einzige offizielle Aufnahme), also die bekannte rauschhaft-orgiastische Orchestrierung der großen Opern und das witzig-neckische Parlando der heiteren Werke jener Massenet-Jahre. Beides findet sich  in der Grisélidis, die hier die Aufteilung der beiden Ebenen des Heiteren und des Tragisch-Ironischen deutlich unterscheidet.

Massenets „Grisélidis“: Lucienne Bréval war die erste Titelsängerin/Wikipedia

Die Griselda-Geschichte findet sich him Decamerone von Boccaccio und ist von vielen Komponisten als Vorlage verwendet worden, von Scarlatti über Paer, Adam, dem Puccini-Vorfahren Domenico bis eben zu Massenet und danach.  Er selbst kannte zweifellos den Stoff, den ihm die beiden Autoren Silvestre und Morand aufbereiteten, nachdem 1891 am Théâtre Francais ein Stück der beiden mit eben diesem Titel herausgekommen war.

Der Komponist Massenet gehörte nach den Erfolgen der Manon 1884, des Werther 1893, der Thais 1894 zu den Säulen der französischen Musikszene. Seine Opern wurden mit Jubel bedacht, sein Name fast schon eine Legende und ein absolutes Zugpferd für die Opernhäuser. Seine umfangreiche Produktion allein war an der Regelmäßigkeit der Premieren ablesbar, war für Massenet das Komponieren doch schon ein Zwang, denn auch in der folgenden Zeit konnte beinahe jährlich ein neues Werk auf den Pariser Bühnen bewundert werden. Massenet war ein wahrer Fließbandproduzent. Auf La Navarraise 1895 folgten Le Portrait de Manon 1892, dann Sapho 1897, Cenrillon 1988 und 1900 schließlich das Oratorium La terre promise. Es nimmt also nicht Wunder, dass sich die Arbeit an Grisélidis neun Jahre hinzog und erst 1901 zum Abschluss kam.

Massenets „Grisélidis“: Lucien Fougère, der erste Teufel/Wikipedia

Am 20. November war es dann so weit: In der bewährten Opera Comique, dem Hort der Tradition und des Comique-Genres (die einst so strengen Grenzen zwischen Dialogen und Rezitativen waren längst aufgehoben), hob sich der Vorhang zu einem glanzvollen Premierenabend, der die besten Sänger jener Zeit in  Frankreich  vereinte. Die Titelpartie sang die eminente Singschauspielerin Luciénne Breval, Star der Opéra de Paris. Lucien Fougère gab den Teufel und erzielte einen großen persönlichen Erfolg, Camille Dufranc war der Marquis, der Tenor Maréchal der verführerische Liebhaber Alain, eine Madame Tiphaine die kokette Fiamina. Nicht genug damit: Der Komponist und spätere Pelléas-Dirigent André Messager leitete das  glanzvolle Ereignis; die üppigen und bewunderten Dekorationen im Stil des Mittellalters (durch die Brille der Belle Epoque) stammten von Bianchini – das Beste an Eleganz, was zu haben war.

Gegenüber dem Original des Bühnenstücks hatten die Autoren den Text abgewandelt, die reichlich sadistische Haltung des Ehemanns de Saluces gegenüber seiner Gattin, die er auf die Tugendprobe stellt, gemildert: Im 1. Akt der Oper nun ist es der Teufel, der der Anwalt des Zynismus und der Menschenverachtung wird. Charme und Poesie  inmitten dieses etwas  gestelzten Dramas der  Ehespannungen  wird von dem schönen Alain eingebracht, der nach dem feurigen Prolog der Grisélidis im 2. Akt in einer Vision erscheint und mit seinen schmachtenden Liebesschwüren eine späte ironische Parodie, wenngleich auch eine wirkungsvolle, auf die Liebhaber der alten Massenet-Schule abgibt – Des Grieux als erfolglos Seufzender sozusagen.

Was das Libretto, abgesehen von der zeitlichen Ansiedlung im fernen Mittelalter (wie viele der französischen Opernsujets nach dem schmachvollen Deutsch-französischen Krieg als Rückbeschwörung auf die am Boden liegende Grande Nation), so effektvoll macht, ist die gelungene mélange der Charaktere und der Stimmungen. Der tugendhaften und recht humorlosen Grisélidis wird die kesse, leichtfertige Fiamina, Gefährtin des Teufels, gegenübergestellt.  Der salbadernde Prior hat seine Entsprechung im Teufel selbst, der zwischen seinen Gefühlen schwankende Marquis de Saluces in dem permanent Liebenden Alain á la Des Grieux.

Massenets „Grisélidis“: Akt 2 der Uraufführung/Gallica/BFN

Auch die einzelnen atmosphärischen  Unterschiede sind gut herausgearbeitet, zwischen lustfreundlicher Hölle (allerdings ein  blasses Abbild des zuvor bei Offenbach so genial Vorgestellten) und tugendhafter, in ein enges Korsett gepresster adligen Welt, in die der Teufel mit grotesker Infamie eindringt,  gut unterschieden. Das Abschlusstableau mit seiner Apotheose der Heiligen Macht unter Gewimmel von Engeln und Heiligen ist sicherlich von Massenet doch ernsthaft gemeint (und darum seinem Kollegen Saint-Saens ähnlich, blanker Glaubenskitsch alter Männer), hatte er selbst  ein von Sentiment nur so waberndes Oratorium wie Marie Madeleine verfasst, das noch  wesentlich unerträglicher auf die sentimental-religiöse Tube drückte. Wie viele Komponisten seiner Zeit genierte sich Massenet nicht, triefende Religiosität auf die Bühne zu bringen – eine sichere Bank beim damaligen bürgerlichen Publikum. Religiöser (oder idiologischer) Sentiment war zu dieser vor allem wirtschaftlich schwierigen Zeit das Gängige, nicht das Aufgesetzte und für uns heute schwer Erträgliche. Frankreich war mehr als heute damals ein zutiefst katholisches Land, schon seit der Bartholomäus-Nacht. Und die Nachkriegs-Schmach tat das übrige.

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Massenets „Grisélidis“: Akt 1 der Uraufführung/Gallica/BFN

Grisélidis hatte nach recht großen Anfangserfolgen kein weiteres Glück bevor sie im 20. Jahrhundert an der Opéra du Rhin in Strasbourg 1996 wiederentdeckt wurde.  Eine kurze Wiederbelebung in Wexford 1983 mit einer recht allgemeinen Wiedergabe vermochte keine größere Wirkung zu zeitigen (ein Mitschnitt bei der verschwundenen Firma MRF als LPs, später bei ein-zwei Firmen auch als CD zeugt davon). Eine Radioproduktion von Radio France (Chant du Monde) bot 1963 eine sehr idiomatische, aber – wie für dies Format übliche – rabiat auf zwei Stunden gekürzte Aufnahme mit Geneviéve Moizan und Jean Mollien, ganz wunderbar.

Die Straßburger Produktion der Opera du Rhin allerdings, mit ihrer intelligent-ironischen Inszenierung und ihrer ausschließlich französisch-sprachigen  Besetzung, brach einmal mehr eine Lanze für Massenets späte Oper (ist aber leider nur bei Sammlern zu finden).

Lange Jahre war die Schwann-Koch-Aufnahme von 1995 aus Saint-Etienne (als Echo der damaligen Massenet-Festspiele 1992) die einzig verfügbare. Sie hat in der ältlich-gestandenen Michéle Command keine wirklich überzeugende Vertreterin (aber die Command war eine wirklich aufregende Médée in jenen Jahren!), wenngleich alle Beteiligten – und sie – eben tadelloses Französisch singen und Patrick Fournillier sehr zügig am ungarischen Orchesterpult für Spannung sorgt. Jean-Luc Viala ist als Alain eine feurige Pracht an Tenor, Jean-Philippe Courtis zu balsamisch für den Teufel (aber was für eine schöne Stimme!), Didier Henry macht viel aus dem ehrpusseligen Marquis, und der Rest ist beste französische Bühne jener Jahre. Wäre da nicht die matronale Titelbesetzung wär´s eine ideale Aufnahme.  Aber das ist nun für mich die neue, beim Palazzetto (Illustration oben von Theodore Chasseriau/Wikipedia). Geerd Heinsen

 

Musik ihrer Kindheit

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Fast zeitgleich mit ihrem peruanischen Tenorkollegen Juan Diego Florez hat auch der amerikanische Koloratursopran mit kubanischen bzw. spanischen Wurzeln Lisette Oropesa eine CD mit Arien aus Zarzuelas eingesungen und im zur CD gehörenden Booklet bekannt, dass die spanische Operette die Musik ihrer Kindheit gewesen sei. Allein in Kuba sollen an die 2500 Zarzuelas entstanden sein, die mehr als die spanischen sich weniger romantischen Liebesverwicklungen und mehr sozialen und rassistischen Problemen widmen.

Auf der Opernbühne konnte man bisher Oropesa  im Belcantofach, mit Mozart und im französischen Repertoire erleben, wovon es bereits CDs gibt, für die Zarzuelas mischt sie ihrer Stimme, wenn es passt, auch einen harscheren Klang bei, so im ersten Track, wo es um die Liebe einer „Mulattin“ zu einem weißen Mann und die damit verbundenen Probleme geht. Heute würde man von biracial sprechen wie auch in Bezug auf die in  südamerikanischen Zarzuelas vorkommenden „Mestizen“, den Personen mit einem indigenen und einem weißen Elternteil. Der „Mulata infeliz“ von Ernesto Lecuona also verleiht der Sopran tragischen Unterton, ein Wissen um die unmögliche Erfüllung eines Liebestraums. Das Orquesta Titular del Teatro Real unter Oliver Diaz führt mit zärtlichen Geigenklängen (Liza Kerob) in das Geschehen ein, während der Sopran mit einer farbigen Mittellage und einer sicheren Höhe erfreut. Weiter geht es mit dem Lied der Taube von Barbieri, in dem funkelnder Übermut auch mal nicht nur spritzig, sondern auch spitzig herüberkommt. Gern gibt  die Sängerin der ihren den Anschein, eine Naturstimme zu sein, schätzt eher das Einfangen der richtigen Stimmung als die Makellosigkeit des Klangs, so in Un pobre mio, und in Penellas Bendita Cruz wird Herbes durchaus zugelassen, ein kindliches Image auch vokal angestrebt. Rhythmusbetont und voll innerer Spannung ist Lunas De Espana vengo aus El niňa iudia, wo die Leidenschaft der Spanierin für den „Gitano“ trotzig verteidigt wird. Mit Koloraturen gespickt, die die Sängerin in ihrem ureigensten Element zeigen, ist das Lied über den alten Flötenspieler von Sorozabal, Geläufigkeit, Temperament und eine niedliche Biestigkeit erfordert und erhält Luisa von Chapi, zwischen den Gegensätzen Verwirrung der Gefühle und freudiger Gewissheit bewegt sich Madre de mis amores von Torroba, und beidem wird die Sängerin gerecht. Koloraturvirtuosität wird noch einmal mit Nina Tula, weibliches Selbstwertbewusstsein mit Roigs Salida de Cecilia bewiesen, wo die Herren nur bewundernd zustimmen können. Diese wie auch die weiblichen Mitglieder gehören dem Coro del la Comunidad de Madrid an und tragen das Ihre zur spannungsgeladenen Stimmung, die der Musik und den Texten innewohnt, bei. Die aber wird durchaus nicht vorwiegend von den titelgebenden Mis amores son las flores erzeugt (Euroarts 2011117). Ingrid Wanja

Zum Hundersten

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Vor hundert Jahren starb Ferruccio Busoni (1866-1924). Daran erinnerte bereits während des Karnevals 2023 der Maggio Musicale Fiorentino, der den in der Nähe, in Empoli, geborenen Komponisten, der freilich den Großteil seines Lebens in Berlin wohnte, mit dem Doktor Faust zu Wort kommen ließ. Wurde Doktor Faust, in dem Busoni bedeutende Szenen am Hof von Parma spielend lässt, wo Faust die Herzogin verführt, jemals in der unweiten Verdi-Stadt Parma aufgeführt? Busonis Doktor Faust ist jedes Mal eine Wucht. Oft zu sehen oder hören ist er nicht.

Nicht in Deutschland, noch weniger in Italien. In Florenz gab es Busonis letzte, von seinem Schüler Philipp Jarnach vollendete und 1925 in Dresden uraufgeführte Oper immerhin 1964. Vielleicht hätte man die aktuelle Inszenierung des effektiven Davide Livermore, der derzeit in Italien für das Großformatige angesagt ist, sehen müssen – Blu-Ray und DVD gibt es natürlich auch – aber der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister sorgt dafür, dass die CD auch ohne szenischen Budenzauber habenswert erscheint (3 CD Naxos 8.660531-33). Bereits mit der Symphonia mit „Ostervesper und Frühlingskeimen“ führt Meister in eine geheimnisvoll spätmittelalterliche Welt, in die sich Busoni musikalisch so ingeniös einfühlt. Der nachgeschaltete, mit verschiedenen Stimmen gesprochene Abschnitt „Der Dichter an die Zuschauer“ wurde vermutlich szenisch besser als in der schwer begreiflichen, diffusen akustischen Wiedergabe gelöst. Doch dann hält Meister die Spannung über gut zweieinhalb Stunden auf hohem Niveau, über Vor- und Zwischenspiel und über die drei in Parma und Wittenberg spielenden Hauptszenen, und realisiert eine bezwingende, bestens koordinierte Aufführung, der Klang berstend und auffahrend, dann wieder mystisch und raunend und stets szenisch mitreißend aufgefächert. Schön durchhörbar sind die Szenen mit den Studenten aus Krakau (Martin Piskorski, Marian Pop, Lukasz Konieczny) oder den nächtlichen Geistern, die Faust beschwört. Auch die weiteren Figuren sind weitgehend gut charakterisiert, Chor und Orchester des Maggio Musicale Fiorentino sind in Bestform.

Mit der Titelfigur hat Busoni eine besonders eindringliche und eindrucksvolle Gestalt geschaffen, die das Beste des jeweiligen Sängerdarstellers zum Vorschein bringt. Dietrich Henschel, der der Bühne fast entschwunden schien, ist ein wuchtig rufender wie sanft beschwörender Faust mit persönlichkeitsstarkem Bariton. Faust erscheint bei Livermore als Doppelgänger Busonis, wie denn offenbar alle Männer solche Busoni-Doubles sind, und entsprechend klar und wohltuend textdeutlich singt und gestaltet Henschel, der die Partie bereits unter Nagano auf CD verewigt hat, den Text, so dass man Busonis deutschsprachiges Libretto fast mitschreiben könnte. Sein Widerpart Mephistopheles ist bei Busoni ein Tenor, ein gleisnerischer Heldentenor à la Tambourmajor in dem ebenfalls 1925 uraufgeführten Wozzeck. Der Amerikaner Daniel Brenna singt ihn mit der Leuchtkraft und durchdringenden Intensität und oft auch schneidenden Schärfe einer intakten Heldenstimme, auch textdeutlich und klug changierend. Henschel und Brenna gelingt es, das lange „Prelude II“ und beider Dialog in Fausts Studierstube spannend zu durchdringen und das anschließende mit einem großartigen Orgelsolo (gespielt von Andrea Severi) eingeleitete „Intermezzo“ („Kapelle im Münster“) suggestiv zu gestalten; der aus dem Libanon stammende Tenor Joseph Dahdah gibt in dieser Szene dem Soldaten Profil, wie anschließend auch dem Herzog von Parma. Olga Bezsmertna bleibt kühl virtuos als Herzogin von Parma, die gar nicht unähnlich der Dame in Hindemiths ein Jahr später in Dresden uraufgeführten Cardillac ist, mit der die ukrainische Sopranistin an der Wiener Staatsoper 2012 erstmals große Aufmerksamkeit fand. Im Ensemble fallen der Bassist Wilhelm Schwinghammer als Wagner/ Zeremonienmeister und der Bariton Marcell Bakonyi als Jurist auf. Rolf Fath

Bezaubernd

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Zeitlebens der Gunst der Herrscher auf Königs-, Kaiser- oder Zarenthronen erfreuen konnte sich der italienische Komponist Giovanni Piasiello, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Uraufführung seiner opera buffa La finta amanta vor Katharina II. und Kaiser Joseph bei deren Treffen im heutigen Weißrussland stattfand. Den Herrschern gefiel das Werk, den anderen Zeitgenossen ebenfalls, aber bald fiel es dem Vergessenwerden anheim. Mit einem kleinen Orchester und nur drei Sängern hatte der Komponist, als Nachfolger von Traetta an den Zarenhof berufen, den Tross der Zarin begleitet, aus deren Petersburger Regierungssitz er sich nur durch die Lüge von der Unverträglichkeit des russischen Klimas für seine Gattin wieder ins heimische Neapel retten konnte, wo er mehrfache Regierungswechsel, darunter die von Napoleons Bruder Josef zu seinem General und Schwager Murat und schließlich zurück zu den Habsburgern  unbeschadet überstand, ihm sogar Napoleon I. die Hinwendung zu den Feinden verzieh, dem er dies mit der Komposition von Proserpina für Paris 1803 vergalt. Paisiellos Barbiere di Siviglia erfreute sich größter Beliebtheit, ehe der Rossinis ihn im Todesjahr des aus Taranto Stammenden  von den Opernbühnen verdrängte.

Es geht um eine Opernfreunden recht vertraute Handlung, um den Versuch eines reichen, aber alten Mannes der tieferen Stimmlage, die Gunst eines jungen, armen Mädchens, das von einem ebensolchen, Tenor singenden Mann geliebt wird, dessen Neigung sie erwidert. Mit allerlei Schabernack und nach Überwindung einiger Hindernisse gelingt es den jungen Leuten, den Alten zu überlisten und einander und dazu noch eine lukrative Stellung zu bekommen. Dass die Geliebte bei diesem Vorhaben erst einmal als Schwester ausgegeben wird, ist auch nicht besonders neu.

Die nun vorliegende CD stammt bereits aus dem Jahr 2019, also vor Beginn des Kriegs in der Ukraine, und die Zusammenarbeit zwischen Italienern und Russen beruht wohl auch auf der Tatsache, dass sich die Partitur im Archiv des Mariinski-Theaters in Petersburg befindet. Der sehr um die Aufführung bemühte Dirigent und Musikwissenschaftler Stefano Parisse, der auch die Rezitative am Cembalo begleitet, tut sein Mögliches und hat mit dem Estrin Orchestra auch Musiker zur Verfügung, die für Frische  und Schwung , aber weniger für Charme und Esprit, die der Partitur innewohnen, sorgen können.  Der russische Sopran Elena Tsvetkova verfügt über ein leicht elegisches, schön anzuhörendes Timbre, ist mit ihrer lyrischen Stimme aber eher eine ernsthafte Camilla als eine vom Komponisten vorgesehene Camilletta, d.h. ihr fehlt trotz beachtlicher Bemühungen das letzte Quäntchen von einem die Krallen ausfahrenden Kätzchen, am ehesten noch wahrnehmbar in „Quanti sciocchi amanti“ im zweiten Akt. Eine vorbildliche Textverständlichkeit zeichnet den Tenor Daniele De Prosperi aus, es fehlt aber jeder tenorale Schmelz, ein Charaktertenor müht sich redlich, erreicht auch die Höhen, aber auch diese können dem Ohr nicht schmeicheln. Über die notwendige Geläufigkeit für den Don Girone verfügt der Bariton Antoine Bernheim, weder verwandt noch verschwägert mit dem Tenor, die Stimme ist recht dunkel, stellenweise klingt sie auch nasal, und insgesamt vermisst man bei den vokalen Leistungen den funkelnden Humor, den die Oper durchaus zu bieten hat (Naxos 8.660563-64). Ingrid Wanja

Aus den Salons Balzacs und Montparnasse

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Der Titel liest sich einfach zu gut, als dass der Bariton Arnaud Marzorati und sein Gesangs- und Instrumentalensemble Les Lunaisiens darauf verzichten mochten: La Comédie Humaine. Chansons Balzaciennes (CD Alpha Classics 1105). Dabei handelt es sich schlichtweg um Lieder, die in der Epoche zwischen Ende der napoleonischen Ära und Proklamation des Zweiten Kaiserreichs entstanden und in den Salons der Kurtisanen oder einfältigen Emporkömmlinge in den Romanen Balzacs erklungen sein könnten. Die 16 Chansons sind alles andere als eine menschliche Komödie in Liedern, denn die Bezüge zu einzelnen Romanen und Figuren erscheinen mir doch sehr hergeholt. Aber das soll nicht stören. Mit Ausnahme des geschätzten Tenors Cyrille Dubois nähern sich die wenig bekannten Interpreten wie die Mezzosopranistin Lucile Richardot, der Bariton Arnaud Marzorati und der Bass Jérôme Varnier einem guten halben Dutzend noch weniger bekannter Komponisten. Einzig Daniel-Francois Esprit Auber ragt heraus. Sein Chanson „Amour et Folie“ singt Lucile Richardot mit herber, nicht unbedingt gefälliger Stimme und deftigem Zugriff, die auch „Madame Barbe-Bleue“ von Alexandre Pierre Joseph Doche (1801-49) und Joseph-Philippe Simons (1803-91) kennzeichnen. Umrahmt wird das Programm von zwei Liedern des Marc-Antoine-Madeleine Désaugiers (1772-1827); es handelt es sich um zwei hübsche Miniaturen, deren sprechende Titel eine hinreichende Beschreibung der idyllischen Szenen sind, wie sie durchaus bei Balzac vorkommen könnten: „Tableau de Paris à cinq heures du matin“ und „Tableau de Paris à cinq heures du soir“. Die vier Sänger haben die kurzen Strophen unter sich aufgeteilt, so dass die Bilder wie kleine Liederspiele wirken. Einige der Lieder sind für zwei oder mehr Stimmen konzipiert, darunter schlichte Reihengesänge von Pierre Dupont (1821-70) und Émile Debraux (1796-1831). Cyrille Dubois singt Duponts größten Erfolg „Les Louis d’Or“ und „Les quatre âges historique“ von Pierre-Jean de Béranger (1780-1857), stets mit dem hauchzart-süßen und geschmeidigen Ton, den man an ihm liebt. Vanier macht mit knorrigem Bass Bérangers „Le corps et l’ame“ zu einem kleinen Kabinettstück und widmet sich in „L’Or“, ebenfalls von Béranger, dem Stoff, den Balzac in seinen Pariser Romanen geradezu mythisch überhöht, denn „nach Golde drängt, am Golde hängt“ alles und alle. Soigniert singt Mazorati das schlicht „Chanson“ genannte Lied von Eugène-François Vidocq (1775-1857). Sehr apart das Stück für drei Männerstimmen „Ne poursuivons plus la gloire“ von Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826). Ausgesprochen ausdrucksstark die Begleitung durch Christian Laborie, Christophe Tellart, Patrick Wibart, Ètienne Galletier und Daniel Isoir.

Mit der nächsten Veröffentlichung französischer Chansons machen wir einen Sprung aus den Salons der Pariser Innenstadt hinauf in die Künstlerszene des Montparnasse, wo Kiki de Montparnasse als Sängerin und Schauspielerin, vor allem aber als Muse und Königin residierte; Königin von Montparnasse stand auch auf ihrem Grabstein. Kiki à Paris heißt das in Mons aufgenommene Programm (Cyprès 8623), mit dem die Mezzosopranistin Albane Carrère, die Geigerin Elsa de Lacerda und die Gitarristin Magali Rischette an Jane Birkin, Juliette und die Piaf, an France Gall, Dalida und Barbara erinnern. Dazwischen eingestreut – Kiki lebte von 1901 bis 1953 – Musik von Debussy (Trois chansons de Bilitis), Reynaldo Hahn, Poulenc und Lili Boulanger. Toll ist das Cover, das Rays berühmtes Foto mit Kikis Rückenansicht in Form eines Cellos zeigt: Le violon d‘Ingres: 1921 wurde Alice Ernestine Prin das bevorzugte Modell des amerikanischen Fotokünstlers und legte sich den Künstlernamen Kiki zu. Das Programm ist für irgendeine der Künstlerlokalitäten, die es auf dem Montparnasse noch geben muss, oder als Nachprogramm auf einem der Festivals, bei denen Carrère auftrat (2024 als Kate Pinkerton in Aix), sicherlich ganz hübsch ausgedacht, aber auf der CD haben der gleichförmige Ausdruck und das monoton damenhafte Timbre etwas durchaus Einlullendes. Die Chansons klingen zu einförmig, wenngleich Carrères Absicht zu spüren ist, den Liedern sowie den Arrangements von Jean-Luc Fafchamps etwas Eigenes einzuhauchen und ihre Opernerfahrung einzubringen, wie am dramatischen Affekt in Juliette Noureddins „Tueuses“ oder der keuschen Höhe in Piafs „Mon Dieu“ erkennbar ist. Die sanfte Reinheit der Stimme nehmen Dalidas „Mourir sur scène“ und Galls „Résiste“ viel von ihrem aufgeregten Pathos. Aufregend die Begleitung. Etwas für Liebhaber (18. 01. 24). Rolf Fath

Audiovisuelle Einsichten

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Wilhelm Furtwängler, einer der wichtigsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, starb am 30. November 1954 in Ebersteinburg (Baden-Baden). Trotz eines anhaltenden Interesses an seinen Interpretationen und Aufnahmen blieb sein 70. Todestag im öffentlichen Bewusstsein weitestgehend unbeachtet. Den bedeutenden künstlerischen Institutionen, mit denen Furtwängler gearbeitet hatte – allen voran die Berliner Philharmoniker, aber auch die Staatsoper Unter den Linden, das Gewandhausorchester Leipzig, die Wiener Philharmoniker, das Philharmonia Orchestra London oder die Salzburger Festspiele – war die Erinnerung an Furtwängler anlässlich seines 70. Todestags 2024 keine Erwähnung oder Würdigung wert. Sicher kann man darüber streiten, ob ausgerechnet der 70. Todestag ein besonderes „Jubiläum“ ist. Doch anderseits werden auch alle möglichen „krummen“ Geburts- oder Todestage von Musikern beachtet. Es lohnt sich jedenfalls der Frage nachzugehen, was uns Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tode noch zu sagen hat, warum seine Interpretationen immer noch und immer wieder faszinieren und sogar jüngere Hörer anziehen, wie zum Beispiel das Interesse des Publikums in Japan, Korea und sogar China zeigt.

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Aufmerksamen Beobachtern des Musiklebens dürfte nicht entgangen sein, dass es entgegen der vorherrschenden Tendenz doch einige Furtwängler-Würdigungen gab: Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte am 29. November, ein wenig versteckt, nicht in ihrer Printausgabe, sondern ausschließlich digital, einen lesenswerten Zweispalter von Wolfgang Schreiber. Der Geiger Daniel Hope erinnerte am 1. Dezember im WDR anderthalb Stunden lang in Wort und Ton an Furtwängler – auf eine Art, die auch Nicht-Experten diesen Ausnahmekünstler nahebringen konnte. Der Musikjournalist Kai Luehrs-Kaiser widmete sich in seiner Sendung „Meine Musik“ am 3. Dezember 2024 im rbb (radio 3) ausführlich Furtwängler – mit markanten Beispielen von dessen Interpretationskunst. Beide Sendungen sind noch eine Weile nachzuhören in der ARD Mediathek. Schließlich erinnerte der englische Musikjournalist Norman Lebrecht – der zwar immer wieder scharf Furtwänglers Haltung und Rolle während der NS-Zeit kritisiert hat, gleichzeitig aber keine Zweifel daran ließ, für wie bedeutend er den Dirigenten hält – auf seiner Website „Slipped Disc“ mit mehreren Beiträgen an Furtwängler (mit hilfreichen Links zu Texten oder Bild-Ton-Dokumenten). Und da erfuhr man denn auch, wie an Furtwängler in China erinnert wurde.

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Das Berliner Philharmonische Orchester unter Leitung seines Dirigenten, Dr. W. Furtwängler, bei einem Werkpausenkonzert in einer Halle der AEG Werke in Berlin, das von der sogenannten KdF („Kraft durch Freude“) im nationalsozialistischen Deutschland organisiert wurde. 26.2.1942 L 0607/504N. Bundesarchiv, Bild 183-L0607-504 / CC-BY-SA 3.0

Die verdienstvolle deutsche Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft (WFG), die das Ziel verfolgt, die künstlerische Leistung des Dirigenten, Komponisten und Schriftstellers Wilhelm Furtwängler lebendig zu erhalten, trug auf besondere Weise zur Erinnerung und Vergegenwärtigung des Künstlers bei. Der schon erwähnte Musikautor Wolfgang Schreiber hielt Mitte September in einer Matinee in der Berliner Universität der Künste einen Vortrag zur Bedeutung und Aktualität Furtwänglers: „Was können wir von Wilhelm Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tod lernen?“ (nachzulesen hier).

Fast genau zum Todestag des Dirigenten erschien dann die vorliegende Box „Insight – Wilhelm Furtwängler in audiovisual documents“. Sie entstand in enger Zusammenarbeit zwischen musicas.de Hamburg und der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft. Die Anregung kam von Mitgliedern der WFG und japanischen Furtwängler-Freunden, die vorschlugen, das vorliegende bzw. zugängliche audiovisuelle Material über den berühmten Dirigenten zusammenzutragen und in möglichst besserer Form zu veröffentlichen.

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Die Alte Berliner Philharmonie in der Bernburger Straße, hier während eines Furtwängler-Konzertes (Rudolf Kessler Berlin Phil Media GmbH)

Die Box enthält drei Blu-Ray-Discs. Auf BD 1 finden sich Ausschnitte von Proben, Konzerten und Ereignissen aus den Jahren 1940 bis 1963. Das sind zum einen kurze bis kürzeste Videos: z. B. der Ausschnitt eines Konzerts, das die Berliner Philharmoniker im November 1940 im Deutschen Opernhaus in Prag gaben, Schlusstakte der Probe des Brahms’schen Violinkonzertes mit dem Solisten Yehudi Menuhin (Salzburg 1947) und, sehr temperamentvoll, die Probe des Endes von Brahms‘ Vierter Symphonie in London (1948) oder der Beginn einer Probe des „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss in Berlin (1950). Zum anderen gibt es Ausschnitte mittlerer Länge. Für Konzerte, die in den Jahren 1939 bis 1945 stattfanden und natürlich auch der Propaganda der Nazis dienten, betrieb man schon einen größeren Aufwand, bis hin zur effektvollen Inszenierung auch des Publikums. Das zeigt das „Werkpausenkonzert“ in der AEG-Fabrik in Berlin-Wedding im Februar 1942 mit der Ouvertüre zu Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg und die Aufführung von Beethovens Neunter in einem Festakt am Vorabend von Hitlers Geburtstag im April 1942 (an dessen Ende ein sichtlich indignierter Wilhelm Furtwängler dem Propagandaminister Joseph Goebbels die Hand reichen muß!). Vollständig sind allein die Aufführungen der Meistersinger-Ouvertüre und des Till Eulenspiegel. Weiteres filmisches Material war nicht aufzufinden und wird sich wohl auch nicht noch finden lassen.

BD 2 enthält Furtwängler-Erinnerungen von Zeitgenossen, die ihn selbst erlebt oder mit ihm gearbeitet haben – dem Dirigenten Claudio Abbado, einem seiner Nachfolger in Berlin (der Furtwängler in Wien erlebte und ihn für den bedeutenderen Dirigenten als seinen Landsmann Toscanini hielt!), dem auch komponierenden Philosophen und Soziologen Theodor Adorno (der als junger Mann schon überaus von Furtwängler begeistert war), dem Geiger Yehudi Menuhin (der von Furtwängler schwärmt und vor allem dessen Einfühlungs­vermögen und Kunst zu begleiten lobt), dem Komponisten und langjährigen Solo-Paukisten der Berliner Philharmoniker Werner Thärichen (der 1987 das sehr lesens- und bedenkenswerte Buch „Paukenschläge – Furtwängler oder Karajan?“ veröffentlichte) sowie anderen. Alle fremdsprachigen Beiträge sind deutsch untertitelt. 

Auf BD 3 ist eine Rarität veröffentlicht: die ungewöhnliche Filmdokumentation „Wilhelm Furtwängler“ vom Neffen des Dirigenten Florian Furtwängler aus dem Jahre 1968.

Das Bild- und Tonmaterial wurde aufwendig restauriert und auf den neuesten technischen Stand gebracht. Die Box ist für den internationalen Markt konzipiert. Deshalb kommt sie in Deutsch und Englisch heraus, für den japanischen Markt gibt es einen Einleger mit den Texten in japanischer Sprache.

Wilhelm Furtwängler auf Tournee/Archiv bphneu

Die Edition wurde möglich durch das Engagement der WFG und ihres Vorsitzenden Helge Grünewald. Der Musikpublizist hat dokumentarisches Material aus den Archiven der Furtwängler-Gesellschaft und der Berliner Philharmoniker, seiner umfangreichen eigenen Sammlung sowie privaten Quellen erschließen können. Er ist auch Autor und Redakteur des reichhaltigen, 123-seitigen, zweisprachigen Begleitbuchs. Der Textteil wird illustriert mit umfangreichem, teilweise auch neuem, bisher noch unveröffentlichtem Fotomaterial.

Statt eines Vorworts liest man kluge, bedenkenswerte und Furtwängler und seine interpretatorischen Eigenheiten sehr gut charakterisierende Bemerkungen von Daniel Barenboim unter dem Titel „Warum uns Furtwängler bis heute bewegt“, ursprünglich zu Furtwänglers 60. Todestag, dem 30. November 2014 verfasst. Barenboim hatte Furtwängler noch als Jugendlicher in Salzburg erlebt, er wurde ihm sogar vorgestellt. Furtwängler äußerte sich sehr positiv über das musikalische „Wunderkind“. Daniel Barenboim ist – wie der jüngere Christian Thielemann – einer der wenigen heurigen Dirigenten, die in ihren Interpretationen an Furtwängler anknüpfen.

Man wünscht dieser auch graphisch ansprechend gestalteten Veröffentlichung, eine große Verbreitung. Editionen wie diese wünscht man sich öfter, sie sind jedoch eine absolute Rarität auf dem Markt der Ton- und auch Bildtonträger. Musicas.de, die produzierende Firma und ihr rühriger Inhaber Markus Steffen, haben sich bereits mit ähnlichen Produkten einen Namen gemacht – zum Beispiel mit drei Otto-Klemperer-Editionen. Wenn man sich auf dem Markt umsieht, findet man zwar im immer wieder in dem doch als aussterbend bezeichneten CD-Bereich Sammeleditionen, die Solisten, Dirigenten, Orchestern gewidmet sind, häufig aber in liebloser „Konfektionierung“ und fragwürdigem Mastering erscheinen. Es geht dann zumeist um die x-te Wiederverwertung von vorhandenem (historischem) Material.

In Zusammenstellung, Aufmachung, Gestaltung ist die vorliegende Edition gewiss ein Ausnahmeprodukt. Sie bietet nicht nur den Blick auf den Interpreten Furtwängler, sondern auch Einblicke in sein Denken und Arbeiten. Nicht zuletzt erfährt man, dass Furtwängler zu seiner Zeit ein „Star“ war, aber ohne Star-Allüren auskam. Peter Heissler

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Insight – Wilhelm Furtwängler in historischen audiovisuellen Dokumenten (Box mit 3 Blu-Ray Discs, Begleitbuch, gebunden, 123 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,; Texte Deutsch und Englisch; Musicas.de GmbH, Hamburg in Zusammenarbeit mit der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, Berlin; Gesamtdauer 275 Minuten, Sound Format PCM Stereo; ISBN 4 260213 919209/ Abbildung oben: Ausschnitt aus dem ARD-Film Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Ausschwitz.

Jules Massenets „Hérodiade“

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Nach längerer Zeit gibt es zur Jahreswende 2024/25 eine Massenet-Renaissance, wie nun eine neue Hérodiade bei Naxos und eine Grisélidis beim Palazzetto Bru Zane (der dem Vernehmen nach ebenfalls eine Hérodiade plante, allerdings auch weiteres von Saint-Saens in der Pipeline hat). Angesichts der fabelhaften Grisélidis möchte man nicht murren, aber es gibt so viele andere unbekannte Werke des französischen Repertoires, dass man bei bekannten Titeln wie Hérodiade doch angesichts der CD-Konkurrenz etwas eingeschränkter urteilt, selbst wenn das Naxos-Ergebnis eine Berliner Sternstunde der Deutschen Oper festhält (in der Fassung von 1884, wie es dem Programmheft zu entnehmen war und nun auf der CD-Hülle zu lesen ist). Zu besagter Konkurrenz dann nachstehend mehr, auch zu den Fassungen, denn da herrscht Verwirrung, auch bei der Quellenlage. G. H.

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Massenets „Hérodiade“: Clementine Margaine in Berlin 2023/Foto Bettina Stöß

Nun also die neue Naxos-Aufnahme: Konzertante Opernaufführungen gehören zum Standardprogramm der Deutschen Oper Berlin, und zumeist zählen sie zu den Höhepunkten einer Saison. So auch am im Juni 2023, als das Publikum Jules Massenets  Hérodiade in einer Maßstab setzenden Wiedergabe unter Enrique Mazzola erleben konnte und frenetisch feierte und wie sie nun (eigens aufgenommen und ohne Beifall) bei Naxos auf der CD zu erleben ist. Der italienische Dirigent ist Spezialist für das ausgefallene Repertoire und damit regelmäßig zu Gast an der Deutschen Oper. Gespielt wurde die vieraktige Fassung Werkes „von 1884“, das 1881 in Brüssel seine Uraufführung erlebte. Mazzola breitet die vielfältige Musik in aller Pracht und mit der gebotenen schwülen Sinnlichkeit aus, scheut weder den großen schwelgerischen Rausch noch die exzessiven Klangblöcke. Das reiche Spektrum an Farben und Stimmungen kommt unter seiner Leitung zu faszinierender Wirkung – von den Préludes und Ballets bis zu den dramatischen Tableaus und packenden Finali. Der Chor und Extra-Chor der Deutschen Oper (Einstudierung: Jeremy Bines) haben mit differenziertem Gesang großen Anteil am fulminanten Gesamteindruck.

Hervorragend ist die Besetzung der fordernden Solopartien, angeführt von Clémentine Margaine in der Titelrolle mit einem Mezzo von dunkler Glut, satter Tiefe und umwerfendem Aplomb in den Spitzentönen. Furios in ihrem rasenden Zorn auf den Propheten Jean, von dem sie sich beleidigt glaubt, ist sie in der Szene „C’est sa tête que je réclame!“ im existentiellen Ausnahmezustand. Zudem wird sie gequält von der Eifersucht auf ihre Tochter Salomé, die sich in Jean verliebt hat, aber selbst von Hérode umschwärmt und begehrt wird. Die australische Nicole Car gibt der zweiten weiblichen Hauptrolle starke Kontur mit einer ausgeglichenen, perfekt geführten Stimme ohne Brüche und mit reichen Valeurs. Gleich in ihrem Auftritt kann sie bei „Il est doux, il est bon“ mit flirrenden Tönen ihre Zuneigung zu dem Propheten bekunden und am Ende des 1. Aktes im Duett mit ihm die gesteigerte Leidenschaft ausdrücken. Mit Matthew Polenzani steht eine zutiefst glaubwürdige Besetzung für die Tenorpartie zur Verfügung. Nach Mozart-Rollen und dem Belcanto-Repertoire hat sich der Amerikaner nun die Zwischenfach-Partien zu eigen gemacht. In den französischen ist er besonders erfolgreich, was auch diese Interpretation beweist, welche die derzeit auf Dokumenten erhältlichen stilistisch oft überragt. Mit exquisit geführter Stimme, dem Einsatz der kultivierten voix mixte und glanzvollen Spitzentönen erfüllt er alle Ansprüche der Partie in blendender Manier. Auch Etienne Dupuis ist ein renommierter Vertreter für das französische Fach. Sein Hérode ist prägnant differenziert zwischen dem schwärmerischen Verlangen nach Salomé („Reviens, je te veux“), der verzehrenden Leidenschaft für diese Frau („Oui, je n’aime que toi!“) und schließlich dem Hass auf sie, weil sie sich verweigert und ihre Liebe zu Jean offenbart („Je châtierai tes funestes amours!“). Glanzstück der Partie ist seine fiebrige Vision („Vision fugitive“), nachdem er den von einer jungen Babylonierin (Sua Jo mit apartem Sopran)  gereichten Liebestrank eingenommen hat. Der Kanadier kann sich hier von einer träumerischen Stimmung bis zur Ekstase steigern und bewältigt diese Herausforderung mit Glanz. Auch die anderen Partien sind kompetent besetzt. Der Bassbariton Marko Mimica gibt den Astrologen Phanuel mit Autorität und profunder Tiefe, Dean Murphy den römischen Prokonsul Vitellius mit resonanten Tönen und Kyle Miller den Grand prêtre mit jugendlicher, auffallend schöner Stimme. Bernd Hoppe

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Massenets „Hérodiade“/Illustration zur Brüsseler Aufführung in der italienischen Fassung 1881/BNF Gallica

Dazu doch ein Wort: Es drängt sich bei der Ankündigung Vieraktfassung von 1884“ doch ein fragendes Runzeln auf die Stirn, denn die lakonische Auskunft der Musikabteilung der Deutschen Oper zu ihrem Konzert machte stutzig: „Wir haben die einzige gängige, überlieferte Fassung verwendet: Das ist die 4-aktige von 1884.“ Aber es gibt keine Vierakt-Fassung von 1884 in Französisch! In Paris wurde in diesem Jahr Hérodiade als Erodiade in Italienisch aufgeführt! In der Scala-Originalfassung von 1882.

Und nun geht´s los. Die Oper wurde am 19. Dezember 1881 im Théâtre de la Monnaie (Brüssel) uraufgeführt (in einer 3-aktigen Version in italienischer!!! Sprache). Die endgültige Fassung gab es am 2. Oktober 1903 im Théâtre de la Gaîté-Lyrique (Paris), in Französisch nun endlich. Das ganze nach Hérodias von Gustave Flaubert.

Massenets „Hérodiade“: Foto der Aufführung 190? am Pariser Théâtre de la Gaiété/BNF Gallica

Der antike Stoff von Flauberts Geschichte, der tatsächliche religiöse Ereignisse in einen Rahmen orientalischer Anständigkeit stellte, lieferte Material, das sich ideal für die Komposition einer großen Oper eignete. Obwohl Salomé ihren berühmten Tanz der sieben Schleier nicht aufführt (wie später in Mariottes und Strauss‘ Opern), nimmt sie in dieser Oper eine zentrale Stellung ein. Sie ist leidenschaftlich in Jean-Baptiste verliebt und bereit, mit ihm zu sterben, während Hérode außer sich vor Eifersucht den Befehl gibt, den Propheten zu enthaupten.

Obwohl die Handlung kurz gefasst ist, wurde sie mehrfach überarbeitet, während das Werk gleichzeitig für die Pariser Oper (in französischer Sprache) und die Mailänder Scala (in italienischer Sprache) vorgesehen war. Angelo Zanardinis (ein bekannter italienischer Librettist, der auch für Verdi arbeitete ) ursprüngliche Handlung wurde von Claude Milliet (Paris) mit Unterstützung von dem Verleger Georges Hartmann überarbeitet, damit der Komponist das original italienische Libretto auf Französisch bearbeiten konnte. Massenet überwachte die dramatische Konsistenz des Werkes und stärkte seine Einheit durch die Verwendung häufig wiederkehrender Motive. Die klare Struktur der Partitur, die funkelnde, raffinierte Musik, die großartigen Chorszenen, die stimmlichen und dramatischen Anforderungen der vier Hauptrollen waren alles Elemente, die dem ursprünglichen Auftrag entsprachen. Obwohl Massenet mit diesem Werk den Höhepunkt seines Schaffens erreicht hatte, wurde es durch ein überarbeitetes Libretto untergraben, das der Titelrolle nach und nach die Substanz entzogen hatte.

Massenets „Hérodiade“: Emma Calvé als Salomé in Paris 1903/Wikipedia

Der Verlag Ricordi zog sein Angebot zurück (Hartmann übernahm es) und der Pariser Intendant Vaucorbeil lehnte das Werk in der vorliegenden Form ab, sodass Hérodiade als Erodiade statt in Mailand oder Paris in Brüssel uraufgeführt wurde. Massenet überarbeitete das Gesamtwerk viele Male. Die italienische Premiere am 23. Februar 1882 an der Mailänder Scala in italienisch („,I ballabili sono composti dal signor Cesare Coppini“) statt, die französische Premiere fand am 29. März 1883 in Nantes statt (in 3 Akten, so die Info vom Palazzetto Bru Zane) und die 4-Akt-Version (in italienisch!!!) dann am 1. Februar 1884 am Théâtre-Italien in Paris und (erneut in Italienisch) an der Scala 1886. Erst 1903 bzw. 1911 legte man (wer? Der Verlag? Massenet?) sich auf eine endgültige französische Vier-Akt-Version fest (die nun wohl als „gängige Fassung“ gilt).

Das ist ebenso überraschend wie kaum bekannt. Leider hat der Verlag Hartmann bislang nicht auf Fragen geantwortet, und da bleibt man eben bei der „gängigen Fassung“ in vier Akten und eben Französisch (mit Ausweitung der Akte zwei und drei auf einen vierten). Die ursprüngliche Struktur der Oper bestand aus drei Akten und fünf Tableaus, wobei die heutigen ersten Szenen des zweiten und dritten Aktes später hinzugefügt wurden. Die letzte Szene des zweiten Aktes war ursprünglich die letzte des ersten Aktes, wobei Salomés Arie in Akt 3, Szene 2 am Anfang von Akt 2 steht und der letzte Akt in beiden Versionen identisch aufgebaut ist. Diese zusätzlichen Szenen tragen nicht gerade zur Handlung bei, sondern erschweren eher das Verständnis, da in beiden Szenen eigentlich nichts passiert. Auch musikalisch bringen sie nicht viel, da die beste Musik in den ursprünglichen fünf Tableaus konzentriert ist.  Soweit die Sachlage.

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Kaum etwas erklingt zum ersten Male, und im Falle der Hérodiade schon gar nicht. Abgesehen von den unendlich vielen antiken und modernen Einzelstücken für Sopran, Mezzo und Bariton und den doch recht reichlichen Aufführungen namentlich im francophonen Raum (Liége, Lille, Lyon, Marseille etc.) gibt es auch einige CD-Dokumente von Rang. Die Standardaufnahme (von 1963) war jahrzehntelang der große Querschnitt bei Pathé-EMI/Warner mit Régine Crespin, Rita Gorr (brrrr), Albert Lance und Michel Dens unter Georges Prêtre, bis auf die zu placide Gorr top besetzt und kaum zu überbieten.

Aber es gibt weiteres. Vom Niederländischen Rundfunk kommt ein Mitschnitt bei Malibran mit der etwas stumpfen Andréa Guiot als Salomé, dazu sehr tapfer Mimi Arden als ihre Mutter (nur Wallonen werden jubeln), dazu recht marzialisch Guy Fouché als Jean und sonor Charles Cambon als etwas rauher Hérode  sowie Germain Ghislain (qui est?) als Phanuél (youtube hat manches von ihm, eine interessante Stimme), Jos Burcksen und Cornelius Kalkman. Albert Wolff dirigiert 1957. Der Sound ist gutes Radio-Mono (auch bei youtube)

Aus La douce France erklingt weiteres, denn trotz nicht ganz so glamouröser Technik ist der Radiomitschnitt (CQR Èditions) von 1963 unter Altmeister Pierre Delvaux mit der leuchtenden Suzanne Sarrocca, der auftrumpfenden Lucienne Delvaux und natürlich mit meiner All-Time-Liebe Robert Massard (zudem mit Paul Finel und Jacques Mars) ziemlich das Beste, was ich kenne. Gleich danach kommt die dto. Radio France-Übernahme von 1985/6 mit der grandiosen Nadine Denize in der Titelrolle, dazu Ernest Blanc und dem weniger bekannten, aber strammen Jean Brazzi. Die kurzfristig für Régine Crespin eingesprungene Muriel Channes ist eben keine Crespin, aber sie schlägt sich mehr als tapfer. Und über Diktion brauchen wir auch hier nicht reden. David Lloyd-Jones dirigiert machtvoll in gutem Stereo (bei vielen Firmen, von MRF-LP ehemals zu Rodolphe bis INA Opera). Ein Konzert der American Opera Society von 1963 in der New Yorker Carnegie Hall bei Opera Depot hält eine Hérodiade mit Regine Crespin, Rita Gorr und Guy Chauvet unter Alain Lombard fest. Die angebliche Drei-Akt-Fassung aus Marseille/Saint Etienne von 2018 bei youtube entpuppt sich als vieraktig.

Die folgende „offizielle“ CBS/Sony-Aufnahme kann da gar nicht mithalten, trotz des Breitwandsounds live aus San Francisco 1995 unter Valery Gergiev, denn weder Renée Fleming noch Placido Domingo haben irgendetwas mit dem Werk zu tun, auch wenn sie es auf den Bühnen der Welt gesungen haben (gruselig ist sein Wiener Abend 1995 mit Agnes Baltsa in Erinnerung, der bei RCA als Live-Erlebnis festgehalten wurde). Dolora Zajic verwechselt die Hérodiade mit Azucena, Thomas Hampsons Hérode macht zwar seine lüsternen Absichten auf Salomé kaum glauben, aber er hat seine maniriert-grüblerischen Momente, Juan Pons gibt einen gutgelaunten Phanuel ohne Profil. Touts pas trop francais. Auch bei der EMI/Warner-Aufnahme mit Cheryl Studer und Ben Heppner unter Michel Plasson kommt keine Freude auf, trotz José van Dam und Nadine Denize (1995 nicht mehr in so guter Form und vielleicht vom Mikro nicht begünstigt): Die beiden amerikanischen Kräfte torpedieren die francophonen. Irgendwie ist das wieder so eine Vertragsgeschichte, deren Teile nicht zusammen passen, trotz eben…

Gruselig wird´s dann bei Gala mit Grace Bumbry und Leona Mitchel in Nizza 1987, was Georges Prêtre verantwortet. Guilbert Py bölkt sich mal wieder durch den Jean, und Jacques Mars klingt desinteressiert (Nizza war berühmt für gute Gagen). Ach ja, diese Franzosen, spätestens ab den Achtzigern wurd´ es eben dünn mit großen einheimischen Stimmen. In andere Abgründe steigt man in Barcelona 1984, wo Montserrat Caballé Verführung vorgibt und Dunja Vejzovic sich hoffnungslos mit der Titelrolle  überfordert. „Monzis“ Fans wird´s nicht rühren, und José Carréras ist immer ein Listen-in wert, aber dies ist keine Tenoroper (Legato und andere).

Insofern ist die neue Aufnahme bei Naxos ein absoluter Gewinn, denn Etienne Dupuis (mir persönlich zu weich und zu hell für den Hérode) und die fulminante Clémentine Margaine in der Titelpartie garantieren neben den übrigen für einen weitgehend idiomatisch-französischen Abend der Extraklasse, auch wenn das Ballett mal wieder (bis auf eine kurze Nummer) fehlt (das findet sich auf einer Naxos Massenet-Opern-Ballett-CD 8.573123/ Foto oben Emma Calvé als Salomé) . Geerd Heinsen

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Kabuki-Theater

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Eher als Oratorium denn als Oper scheint Regisseur Satoshi Miyagi Mozarts Frühwerk Mitridate, Re di Ponto zu sehen, denn er ließ durch den als Wall Designer bezeichneten Eri Fukazawa eine Riesenwand mit einigen Emporen und steilen Treppen an beiden Seiten ein goldenes Gebilde errichten, auf das japanische Motive wie zürnende Götter oder auch einfach Bambus projiziert wurden. Ganz im Geiste des Kabuki-Theaters, aber über kurze Strecken hinweg zumindest durch die Kostüme ( Kayo Takahashi Deschene) auch auf Japan im Zweiten Weltkrieg hinweisend, wird die Regie der ersten opera seria Mozarts, die 1770 in Mailand uraufgeführt wurde, durchaus gerecht, denn es gibt fast nur Arien, kaum Interaktion zwischen den Beteiligten mit einem kurzen Duett und einer ebensolchen Schlussszene. Ist es bei überkandidelten modernen Inszenierungen oft ein Vorteil für den Zuschauer, dass er auf dem Bildschirm nur einen Szenenausschnitt erblicken kann, vermisst man bei dieser Produktion doch häufig den imponierenden Gesamteindruck, dafür ist es dem Zuschauer vergönnt, auch Einzelheiten wie die auf das Schicksal der Personen hinweisenden Tierfiguren, mal als stolzer Helm getragen, mal wie eine Würgeschlange das Leben bedrohend, zu sehen. Etwas im Dunkeln bleibt, was neben dem Wall Designer eigentlich der Set Designer Junpei Kiz noch zu verantworten hat, und um noch beim Verzeichnis der Mitwirkenden zu bleiben, es fehlt leider ganz der Name des vorzüglichen Hornisten, der auf der Bühne eine Arie  wunderbar begleitet.

Im Orchestergraben ist übrigens nicht die Staatskapelle, sondern es sind  Les Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski auf Originalinstrumenten, die im Rahmen der alljährlich im Herbst stattfindenden Barocktage, die Daniel Barenboim die Möglichkeit zu Gastspielen mit seinem Orchester gaben, eine schöne, nun abgebrochene Tradition waren. Wie  optisch auf der Bühne, so funkelte es auch akustisch, wurde den Sängerstimmen ein sanft-eleganter Klangteppich unterlegt und durch Straffheit eine nie nachlassende Spannung erreicht.

Die Besetzung der Premierenserie braucht sich hinter der der Wiederaufnahme 2023 mit Elsa Dreisig nicht zu verstecken. Pene Pati singt die für Guglielmo d’Ettore komponierte Titelpartie mit farbiger, kraftvoller Stimme, die die Extremhöhen nicht nur nicht zu fürchten, sondern geradezu auszukosten scheint. Das begeistert auch das Publikum. Seine Pianissimi leuchten, seine messa di voce ist technisch perfekt und sein Singen, besonders und auch bei „Già di pietà mi spoglio“ überzeugt nicht zuletzt durch Nachdrücklichkeit. Auch die Aspasia von Ana Maria Labin kann mit schillerndem, geschmeidigem Sopran überzeugen, meistert die Intervallsprünge perfekt und macht viel aus den Rezitativen. Einen leichten Mezzosopran setzt Angela Brower in der Kastratenpartie des Pietro Benedetti für den Prinzen Sifare ein, lässt Vorsicht bei den Koloraturen walten, kann sich aber durchaus neben dem Bruder Farnace, gesungen vom Countertenor Paul-Antoine Bénos-Dijan, der stellenweise etwas weinerlich klingt, aber mit einem tollen Triller und optisch heldischer Gestik erfreuen kann, behaupten. Auf sich aufmerksam machen mit einem satten, farbigen Mezzo kann Adriana Bignagni Lesca als Arbate, Statthalter von Ninfa, lieblich in jeder Hinsicht ist Sarah Aristidou als griechische als Prinzessin Ismene, Sahy Ratia als Marzio, römischer Tribun, punktet mit durchdringendem Charaktertenor. Die DVD ist eine reine Freude und lässt zugleich Wehmut darüber aufkommen,  dass die Barocktage der Staatsoper Vergangenheit sind (C-Major 767908). Ingrid Wanja

Auf eigenem Label

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Für ein Zurück-zu-den-Anfängen wie zugleich für ein Zu-neuen-Ufern steht die neueste CD von Juan Diego Florez, denn eine kleine Partie in der Zarzuela Luisa Fernanda vertraute der Tenor Luigi Alva einst dem gerade Neunzehnjährigen an, und die jetzt erschienene Zarzuela-CD ist die erste im neuen Label Florez Records. Ein handliches Büchlein dient als CD-Hülle und enthält gleich drei Texte, der erste einen des Sängers, der „Glück und Stolz“ darüber ausdrücken will, dass er die Aufnahme zusammen mit dem Orquestra y Coro Juvenil Sinfonia por el Perú bewerkstelligen konnte, eine segensreiche Einrichtung, die es auch jungen Künstlern aus mittellosen Familie ermöglicht, eine musikalische Laufbahn einzuschlagen. Außerdem enthält der Text Danksagungen an alle, die an der Verwirklichung des Unternehmens beteiligt waren. Im zweiten Beitrag, von Gonzalo Lahoz, wird dem Leser ein Einblick in die Geschichte der Zarzuela gewährt, ihre Bedeutung für die Identitätsstiftung zwischen den Spanisch sprechenden Völkern erwähnt, ihre Blüte auf die Zeit zwischen 1884 und 1936 festgelegt. Im dritten Beitrag, dem von Miguel Molinari,  wird  besonders auf die Zarzuela in Lima, der Heimat des Sägers, eingegangen, auf die Geburt der Gattung im Palast La Zarzuela, was Brombeere bedeutet, auf den nicht unbekannten ersten Librettisten Calderon della Barca und die erste, 1701 in Lima aufgeführte Zarzuela mit dem Titel La púrpera della rosa.

Florez wurde in Europa zuerst durch sein Mitwirken bei den Rossini-Festspielen in Pesaro bekannt, beginnend 1996 mit Matilde di Shabran. Inzwischen hat er sein Repertoire nach der Eroberung des italienischen Belcanto auch mit französischen Partien erweitert, so dem Raoul, Hoffmann, Faust und Des Grieux. An seinem Ausflug zu Verdi (Duca, Alfredo) und Puccini (Rodolfo) scheiden sich die Geister. Die Rückwendung zur Zarzuela allerdings dürfte unangezweifelte Freude bereiten und zugleich diejenigen verstummen lassen, die sie mit der opéra comique oder dem deutschen Singspiel zu vergleichen versuchen.

Es beginnt mit Serranos El Trust de los Tenorios, in dem einer der Herren beteuert, für die schwarzen Augen seines Mädchens sterben zu müssen, was ungemein rasant und ausgesprochen tänzerisch bewegt dargeboten wird, in der Arie aus Luisa Fernanda hingegen besticht der Tenor durch die leichte Emission der Stimme, das Durchmessen der Registersprünge mit einer Stimme wie aus einem Guss und einer sicheren Höhe. In den drei Arien aus Zarzuelas von Serrano begeistert die Eleganz der Stimmführung,  durchweg in allen Tracks die anscheinende  Mühelosigkeit des Singens, die aristokratische Haltung, das perfekt gestützte Piano. Die Emigrantes von Barrera zeigen in besonderem Maße die reiche Agogik, zu der die flexible Stimme fähig ist, in El Guitarrico vereinen sich häufige Wiederholung mit einer ständigen Steigerung des Ausdrucks. Die leidenschaftliche Arie des Leandro aus La Tabernera del Puerto schließlich lässt eher an Oper als an Operette denken.

Vielseitig zeigt sich das Orchester unter Guillermo Garcia Calvo, in Deutschland ausgerechnet durch seine Wagnerinterpretationen  und als Generalmusikdirektor in Chemnitz bekannt, und hier die jungen Musiker zu temperamentvollem und dabei präzisem Spiel führend (2024 Florez Records). Ingrid Wanja

Carlo Coccias „Matilde“

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico, ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Unternehmen. Unter der Hand des künstlerischen Leiters Anthony Barrese spielt es nicht nur Standards wie Madama Butterfly, sondern hat auch mehr Rossini-Opern produziert als jedes andere amerikanische Unternehmen, darunter viele seltene. Es hat auch Raritäten von mehreren anderen Komponisten aufgeführt, darunter Franco Faccio (Amleto), Giovanni Bottesini (Alì Babà), Louise Bertin (Le loup-garou) und jetzt Carlo Coccias Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere  (oder eben im Kurztitel nach der Heldin: Matilde). Selbst die Standardwerke bieten manchmal eine überraschende Wendung: Aufgrund der großen spanischsprachigen Bevölkerung in New Mexico wurde im vergangenen Frühjahr Bizets Carmen in einer spanischen Übersetzung aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert aufgeführt, und später in diesem Monat wird der New Mexico Symphonic Chorus Mesías, Händels Messias auf Spanisch, darbieten.

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Carlo Coccia/Wikipedia

Während die meisten von uns während der Covid-Pandemie nur eingeschränkt oder gar nicht aus dem Haus gehen konnten und Opernhäuser auf der ganzen Welt geschlossen waren, verbrachte der Musikwissenschaftler und Dirigent Anthony Barrese viel Zeit damit, sich mit unbekannten Partituren aus der kurzen Zeit in der Musikgeschichte Venedigs zu beschäftigen, als kurze Einakter, die als farse bekannt waren, populär waren (ca. 1790-1820). Diese 80- bis 90-minütigen Werke wurden in der Regel in kleineren Theatern wie dem San Moisè und dem San Benedetto aufgeführt, und das Format verbreitete sich bald auch in anderen Städten Italiens. Es war eine gute Möglichkeit, preiswerte Unterhaltung anzubieten, für die eine begrenzte Besetzung und ein kleines Orchester, in der Regel ohne Chor und mit einer einfachen Kulisse, ausreichten. Es war auch eine gute Möglichkeit, aufstrebenden Komponisten einen Weg in den Opernmarkt zu ebnen und jungen Sängern die Möglichkeit zu geben, ihre Kunst zu perfektionieren, ohne den Druck, in einer großen Produktion aufzutreten.

Rossinis erste inszenierte Oper war eine Farsa (La cambiale di matrimonio, 1810), und in den nächsten drei Jahren produzierte er vier weitere Beispiele. Rossini war jedoch nicht der Einzige, der Farses schrieb, und in den Spielzeiten 2001–2005 würdigte das Rossini Opera Festival in Pesaro die Bedeutung des Genres, indem es mehrere Farses von Rossinis Zeitgenossen unter dem allgemeinen Titel Il mondo delle farse aufführte. Eine von ROF produzierte Oper war damals Carlo Coccias Arighetto, die 1813 einen großen Erfolg hatte (und die es auf die DVD gebracht hat).

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Anthony Barrese, Musikwissenschaftler, Musikarchäologe und Dirigent an der Opera Southwest von Aluquerque/NM/ Flavia Loreto Fotografia/ operalounge-Lesern bekannt durch die vielen Berichte über seine Opernausgrabungen wie Faccios „Amleto“

Maestro Barrese, der sich durch die Partituren dieser Kurzopern arbeitete, um eine davon in einer Welt nach Covid auf die Bühne zu bringen, stieß auf Carlo Coccia und seine einaktige Farsa Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere. Wie Rossini hatte Coccia fünf Werke geschrieben, die als Farse für den venezianischen Markt klassifiziert waren, und zwar zur gleichen Zeit, als der junge Rossini dort arbeitete. Barrese sah sich mehrere frühe Coccia-Partituren an, darunter eine Carlotta e Verter, die auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers basiert. Eine Online- und persönliche Suche in Archiven ergab mehrere Libretto-Kopien und eine zugängliche Partitur von Una fatale supposizione im Konservatorium von Neapel. Das Autograf im Ricordi-Archiv erforderte einen persönlichen Besuch, den Barrese nach dem Abklingen der Pandemie antreten konnte. Aus diesen Quellen erstellte er eine Aufführungsausgabe, die er vom 12. bis 14. September 2024 in Albuquerque einstudierte.

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Wer war Carlo Coccia? Er wurde am 14. April 1782 in Neapel geboren und starb am 13. April 1873 in Novara. Als Knabensopran studierte er in seiner Heimatstadt Musik und ging schließlich an das Conservatorio di Santa Maria di Loreto. Obwohl er nicht bei Paisiello studierte, förderte der ältere Maestro seine Karriere und sorgte dafür, dass er als Begleiter für Konzerte ernannt wurde, die für Joseph Bonaparte, den damaligen König von Neapel, veranstaltet wurden. Coccias erste Oper, Il matrimonio per lettera di cambio, wurde 1807 am Teatro Valle in Rom aufgeführt und war ein Misserfolg. Coccia war entmutigt und wollte das Theater aufgeben, aber Paisiello ermutigte ihn, weiterzumachen, und sein zweiter Versuch im folgenden Jahr in Florenz, Il poeta fortunato, war erfolgreich.

Ritratto di Carlo Coccia Medaglione, 1890- 1899 (in Novara)/ Wikipedia

Coccia ging dann nach Venedig und schloss sich dort den Komponisten an, die an farse arbeiteten, mit La verità nella bugia. Nach einer Mischung aus Erfolgen und Misserfolgen und zunehmend unfähig, mit Rossini zu konkurrieren, nahm er 1820 eine Stelle in Lissabon als Direktor des Teatro São Carlos an. Nachdem er vier Opern zu alten Libretti für dieses Theater und eine Kantate (Il lusitano) geschrieben hatte, zog Coccia im Januar 1824 nach London, wo er Direktor des King’s Theatre in Haymarket und Lehrer an der Royal Academy of Music wurde. In London produzierte er eine Oper, Maria Stuarda, regina di Scozia (1827), die von der Kritik gefeiert wurde, aber trotz einer Besetzung mit Giuditta Pasta und Filippo Galli kein Kassenerfolg war.

1828 kehrte er nach Italien zurück und änderte seinen Stil, um ihn an die Romantik von Donizetti und Bellini anzupassen. Es gab Erfolge (L’orfano della selva, Edoardo in Iscozia, Caterina di Guisa), aber auch einige Misserfolge (darunter eine Rosmonda d’Inghilterra mit demselben Libretto von Felice Romani, das Donizetti fünf Jahre später verwendete). 1836 wurde Coccia Direktor der Accademia Filarmonica in Turin und 1840 Kapellmeister an der Kathedrale von Novara. Seine letzte Oper – Il lago delle fate wurde 1841 in Turin uraufgeführt, war jedoch kein Erfolg. Danach widmete er sich der Kirchenmusik. 1868/69 wirkte er an der von Verdi zu Ehren Rossinis geplanten Totenmesse mit einem Lacrimosa für den A-cappella-Chor mit. Er starb 1873, einen Tag vor seinem einundneunzigsten Geburtstag.

Wie so viele andere bemühte sich Coccia, im Schatten Rossinis zu überleben, aber zumindest in seinen frühen Tagen war keineswegs klar, welcher Komponist triumphieren würde. In gewisser Weise konkurrierten sie in den Jahren 1810–1813 direkt miteinander, insbesondere bei der venezianischen Farsa, und so kann ein Werk wie Una fatale supposizione Licht auf Coccia selbst und auch auf Rossini werfen.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 2. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zunächst einmal haben Coccias erste Oper, die 1807 aufgeführt wurde, und Rossinis erste inszenierte Oper (1810) dieselbe Quelle, Camillo Federicis La cambiale di matrimonio viel gemeinsam. Da Coccia bereits in Venedig war, als Rossini 1810 ankam, und da Una fatale supposizione etwa einen Monat nach La cambiale di matrimonio im San Moisè uraufgeführt wurde, ist es wahrscheinlich, dass Rossinis Librettist Gaetano Rossi von Coccias Oper aus derselben Quelle wusste.

Das Genre der Farsa folgte demselben Muster mit einigen Variationen. Alle endeten glücklich, aber einige waren wirklich Opern semiserie, während andere eher eine Farce waren. Una fatale supposizione nähert sich dem Genre Semiseria, ebenso wie Rossinis L’inganno felice – beide mit demselben Librettisten, Giuseppe Foppa, und beide mit demselben Topos: eine unschuldige Ehefrau, die von einem abgewiesenen Verehrer fälschlicherweise beschuldigt wird, mit den daraus resultierenden Turbulenzen. Normalerweise, wie in L’inganno felice, befiehlt der Ehemann, dass die von Verleumdungen betroffene Ehefrau getötet wird, aber ein mitfühlender Gefolgsmann überlässt sie stattdessen sich selbst in einer wilden Umgebung; schließlich kommt die Wahrheit ans Licht, das Paar versöhnt sich und der Ankläger wird bestraft.

Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 1. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Coccia selbst komponierte La donna selvaggia, eine Oper in zwei Akten mit genau diesen Zutaten (die der Librettist Foppa auf der Grundlage seines eigenen Prosadramas von 1800 verwendete). In dieser Variante wird der „wilden Frau“ des Titels vom Diener die Kleidung als „Beweis“ für ihren Tod abgenommen, sodass sie gezwungen ist, Tierfelle zu tragen, und für ein wildes Tier gehalten wird. In Una fatale supposizione sind jedoch die Kinder die Leidtragenden der Verleumdung: der Sohn des Verräters und die Tochter der fälschlicherweise beschuldigten Ehefrau.

Die Struktur der Farsa sah vor, dass die Oper mit einer ausgedehnten Introduzione beginnt, die manchmal eine Arie für eine Hauptfigur enthielt. Es folgen ein oder zwei Arien und ein Duett, die zu einem großen Ensemble führen (ein Trio, das in Una fatale supposizione zu einem Quartett wird). Diese Nummer ist wie ein Finale des ersten Aktes, aber in einer Farsa geht die Handlung weiter, oft mit einer Aria di sorbetto für eine Nebenfigur, gefolgt von weiteren Arien und/oder Duetten, einschließlich des letzten formellen Stücks für den Sopran; eine abschließende Auflösung bringt alle Figuren auf der Bühne für das Finale zusammen. Alle fünf Einakter farse von Coccia (obwohl nicht alle offiziell als farse bezeichnet wurden) folgen diesem Muster, ebenso wie die fünf farse von Rossini, die etwa im gleichen Zeitraum komponiert wurden.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 3. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zur Handlung: In Una fatale supposizione ossia Amore e dovere (Eine fatale Vermutung, oder Liebe und Pflicht) ist Dolibanos Frau Sofia kürzlich gestorben und Dolibano ist in den Besitz eines Briefes seines alten Freundes Guglielmo Vodmar gelangt, aus dem hervorgeht, dass Guglielmo eine Affäre mit Sofia beendet hat und dass Matilde in Wirklichkeit sein Kind ist und nicht das von Dolibano. Matilde kann nicht verstehen, warum ihr Vater versucht, Guglielmos Sohn Federico, der ihr Verehrer ist, von ihr fernzuhalten, und sie drängt den treuen alten Diener Pantarotto, zu verraten, dass ihr Vater glaubt, seine verstorbene Frau sei untreu gewesen. Obwohl sie es nicht glaubt, stimmt sie zu, das Geheimnis für sich zu behalten. Als Dolibano darauf besteht, Matilde fortzuschicken, ist Federico wütend und versucht, dies zu verhindern. Matilde verteidigt jedoch ihren Vater und stimmt zu, zu gehen, womit sie ihre Unterwerfung unter die Pflicht (das „Dovere“ des Untertitels) bestätigt. Dennoch verhindern Federicos Männer Matildes Abreise und alle kehren zu Dolibanos Schloss zurück. Hier enthüllt Federico, dass auch er einen Brief von seinem Vater hat, der auf dem Sterbebett geschrieben wurde und in dem er gesteht, dass seine Anschuldigungen der Untreue falsch waren und Matilde in Wirklichkeit Dolibanos Tochter ist. Der Weg für ein Happy End ist frei.

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Coccias „Matilde“: Cast Opera Southwest 2024

Musikalisch bewegt sich die Partitur zwischen Musik, die im 18. Jahrhundert zu Hause wäre, wie die Sinfonia, und Musik, die viele als „Rossini-ähnlich“ bezeichnen würden, außer dass Rossini unbekannt war, als Coccia seine Partitur schrieb. Es gibt sogar Passagen mit Phrasen, die denen ähneln, die wir in späteren Rossini-Partituren hören werden. In diesem frühen Stadium ihrer Karriere klingt Coccia nicht so sehr wie Rossini, sondern Rossini manchmal wie Coccia. Was der Partitur fehlt, ist ein charakteristisches Rossini-Crescendo. Coccias Partitur enthält jedoch Neuerungen, wie die Verwendung von Blasinstrumenten allein als Begleitung für einen Teil des Quartetts, und die Musik folgt dem Text genauer als es Rossinis Musik oft tut. Coccia wusste auch, wie man eine einprägsame Melodie schreibt: Selbst die Arie für Fiammetta, das Dienstmädchen, hat eine Ohrwurm-Melodie.

Die Oper scheint in Venedig ein Erfolg gewesen zu sein, denn sie erlebte auch in mehreren anderen Städten ein respektables Nachleben, darunter Neapel, Turin, Padua, Palermo und Barcelona. Der wohl bekannteste Sänger bei der venezianischen Premiere war Nicola de Grecis, ein Bass, der Pantarotto sang. In Neapel (Teatro del Fondo, Sommer 1812) wurde die Tenorrolle jedoch von dem jungen Domenico Donzelli übernommen, der seit vier Jahren in Neapel sang. Er war bereits so bekannt, dass Coccia eine neue, formellere Arie für ihn schrieb.

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico

Opera Southwest in Albuquerque brachte die Oper vom 12. bis 14. September 2004 als Matilde zur modernen Uraufführung, ein Titel, der für das amerikanische Publikum leichter zu merken ist als Una fatale supposizione. (Tatsächlich wurde sie nach ihrer Premiere in italienischen Städten als La Matilde oder La Metilde aufgeführt.) Die Besetzung bestand aus den Nachwuchskünstlern Will Kellerman (Dolibano), Alexandra Wiebe (Matilde), Eric Botto (Federico), Kim Stanish (Fiammetta) und Joshua Hughes (Pantarotto). Anthony Barrese dirigierte und Martha Collins führte Regie. Das Unternehmen plant, die Aufführung in naher Zukunft über iTunes oder YouTube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie ein Indiana Jones der Oper hat Maestro Barrese einen weiteren Schatz gehoben, und weit weg von Venedig war Coccias kleine Farsa nach zweihundert Jahren des Schweigens wieder ein Hit. Charles Jernigan/DeepL

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Auf Dokumenten ist Carlo Coccia eigentlich ganz gut repräsentiert: Die tapfere Firma Bongiovanni hat seine Caterina di Giusa aus Savona von 1990 unter Massimo de Bernart im Programm, auch seine Clotilde von 2003 unter Fabrizio Dorsi.   Ebenfalls bei der Firma gibt es aus Savona (2005) als DVD den Arrighetto erneut unter Fabrizio Dorsi.

Und wie Charles Jernigan schreibt, hat Opera Southwest vor die Matilde in naher Zukunft über iTunes oder youtube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei youtube gibt es zudem auch einiges: eine Alicia „Ash“ Hurtado steuert eine Arie aus der Matilde bei; es finden sich ein Requiem aus Bologna von 2017, natürlich Coccias Anteil aus der Messa per Rossini (8. Lacrimosa – Amen), eine Sinfonia in Sol Maggiore, Einzelstücke aus den Opern La donna selvaggia und Maria Stuarda (Opera Rara), Kammermusik und Lieder und schließlich eine etwas bizarre Hino constitucional von 1820 aus Lissabon (2024). G. H.

Jungfrau in der Anstalt

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Das badische Heidenheim hat knapp 50 000 Einwohner, eine Fußballmannschaft in der  Ersten Bundesliga und seinen Namen tragende Opernfestspiele. Die haben sich, seit der Dirigent Marcus Bosch mit seinem Orchester Cappella Aquileia dafür verantwortlich ist, zu einem Hort der Verdi-Pflege entwickelt, in den letzten Jahren kontinuierlich Frühwerke des Italieners aufgeführt und in der Spielzeit 2023 sogar neben Giovanna d’Arco im Congress Centrum noch Don Carlo im Rittersaal der Burgruine.

War man einige Jahrzehnte lang bei Sommer-Festspielen noch relativ sicher vor Auswüchsen des Regietheaters, gab es nur sporadisch eine kiffende Mimi in Macerata oder eine Maria Devia als Violetta im Miniröckchen in der Arena di Verona, so hat sich spätestens mit dem Freischütz in Bregenz gezeigt, dass sein Siegeszug in die letzten Winkel des Opernerlebens wohl unvermeidlich ist.

Weiß die Regie mit einer Handlung, und sei sie noch so stark an eine Zeit, in einen Raum gebunden, nichts anzufangen, dann kann diese als Traum, besser noch als Wahnvorstellung, hier der Jungfrau von Orléans, dargestellt werden, die bei Regisseur Ulrich Proschka in einer Nervenklinik allerlei medizinischen Prozeduren unterworfen wird, um sie vor den Wahnvorstellungen zu befreien, sie habe den  göttlichen Auftrag erhalten, Frankreich gegenüber den Engländern zu verteidigen. Letztere stellen das medizinische Personal und die himmlischen Stimmen, Talbot ist der Chefarzt, der Chor betätigt sich als sehr, sehr viele Ober-, Stations- und Assistenzärzte, zu denen sich noch Krankenschwestern in strenger Tracht mit Häubchen und Schürze gesellen. Ach, wie oft hat man dieses Personal in den letzten Jahren bereits auf Opernbühnen gesehen!

Pfähle säumen das einschließlich Bettpfanne naturalistisch gestaltete Krankenzimmer ein, außerhalb desselben treibt eine wohl nur in der Phantasie Giovannas vorhandene  Hofgesellschaft, die zugleich die Dorfbewohner darstellt,  ihr Unwesen, zum Teil phantasievoll, zum Teil abscheulich, so mit Monsterbrillen verunstaltet, gekleidet( Bühne und Kostüme Lena Scheerer). Wie bei Schiller (Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude), von dem Verdi auch das von der historischen Wahrheit abweichende Ende auf dem Schlachtfeld übernommen hat,  gibt es am Schluss die versöhnende Verklärung,  aber nur im Gesang, während auf dem Krankenbett bereits der gut verschnürte Leichnam der Jungfrau liegt.

Musikalisch eine reine Freude sind der Czech Philharmonic Choir of Brno (Petr Fiala) und die Cappella Aquileia unter Marcus Bosch, die das Brio, den Drive und den dauernden Eindruck von Spontaneität für den jungen Verdi haben. Die Gesangssolisten sind mit Miniports ausgestattet, die natürlich auf dem Bildschirm nicht zu übersehen sind. Sophie Gordeladze ist eine optisch attraktive Giovanna mit rotem Haarschopf. Ihr Sopran ist leicht, hell, meistens höhensicher und eher eine Gilda oder Violetta, kann mit „Ah, son guerriera“ punkten, für das sie die notwendige Agilità hat, ist in der Extremhöhe aber manchmal recht spitzig.  In der tieferen Lage wünscht man sich mehr Substanz. Héctor Sandovals Tenor hat für den Carlo wenig Glanz, klingt trocken, streckenweise belegt, mit unüberhörbaren Problemen beim passaggio. Um die Voraussetzungen für den Verdi-Gesang weiß der Giacomo von Luca Grassi, dem eher die kraftvollen, verdammenden Töne gelingen als die mitleidsvollen.  Machtvoll äußert sich Martin Piskorski in der kurzen Partie des Delil, düster Rory Dunne als Talbot.

Das Publikum zeigt sich begeistert und geizt auch nicht mit Szenenapplaus, allerdings stellt sich das Regieteam dem Urteil des Auditoriums nicht (Coviello COV92419). Ingrid Wanja

Tüchtiger Fabio Biondi

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Von seinem Erstling bis zu seinem Schwanengesang hat Fabio Biondi das gesamte Theater Verdis aufgeschlagen. Un giorno di regno, die unglückselige Buffa von 1840, hat er im Rahmen des Warschauer Festival „Chopin and his Europe“ im August 2022 im Warschauer Teatr Wielki dirigiert, den Falstaff, die Commedia liricia, mit der sich Verdi 53 Jahre später von der Bühne verabschiedete, in diesem September beim Verdi Festival in Parma. Der König für einen Tag liegt nun auf CD vor, in einer dieser umfangreichen signalroten Hardcover-Boxen, mit denen vor allem Biondis Warschauer Moniuszko-Aktivitäten dokumentiert werden (2 CD NIFCCD 096-097). Lange war Biondi ausschließlich Italiens Mann für die Alte Musik, spielte als Geiger in allen relevanten Formationen, bevor er 1990 sein eigenes Ensemble, Europa Galante, gründete und sich ab den 2010er Jahren auch verstärkt dem klassischen und romantischen Repertoire zuwandte.

Beim Warschauer Festival widmete er sich beispielsweise Bellinis Norma und den Capuleti e i Montecchi ebenso wie Verdis Macbeth und Il Corsaro. Bei den Aufnahmen in Warschau muss eine ausgezeichnete Stimmung geherrscht haben. Zumindest vermittelt Biondi auf Anhieb eine ansteckende Spiellust und –Freude. Er macht klar, dass es sich bei dem Stück um eine lange zu Unrecht geächtetes Werk Verdis handelt und dieser für das, milde ausgedrückt, konventionelle Komödienlibretto, das man ihm aufdrückte, nichts konnte und aus Formeln und Schablonen das Beste machte. Die lustvoll gespielte Ouvertüre versprüht Esprit und Leichtigkeit, zugleich Draufgängertum und Leidenschaft. Das verführerische Fluidum und eine polacca-tänzerische Leichtigkeit durchziehen die zwei kurzen Akte um den Cavaliere Belfiore, der im Auftrag des Hofes die Rolle des polnischen Königs Stanislaus Leszczyński spielt und für allerlei Turbulenzen auf dem Schloss des Barons Kelbar in der Nähe von Brest sorgt. Immerhin bringt er die jungen Liebenden, Edoardo und Giulietta, unter die Haube, bevor er seine wahre Identität und die Heirat mit der Marchesa del Pioggio bekannt gibt.

Die feinsinnige Begleitung der Europa Galante-Musiker, ihre instrumentale Eleganz und rhythmische Alertheit sowie Biondis offenkundige Lust am kokettierenden und sich umschmeichelnden Spiel der Stimmen kreieren eine elegant beschwingte Komödienstimmung und verleihen selbst den schwächeren Nummern musikalische Güte und Einheitlichkeit. Der Podlasische Opern und Philharmonische Chor steuert die wenigen prägnanten Chorweinwürfe bei. Die Rezitative freilich ziehen sich ein wenig, doch die Cavatinen der Marchesa, wenig individuell und scharfkantig Tina Gurina, und der Giulietta, als welche Vivica Genaux immer noch eine ausgesprochen gute Figur macht, sind ausgesprochene Schmankerl im ersten Akt. Dazu gehören das Terzett der Damen mit Edoardo, in welchem sie den jungen Offizier umgarnen, den Giulio Pelligra mit Charme und der Erfahrung singt, die er sich in vielen Partien des jungen Verdi erworben hat, wenngleich nicht ohne Anstrengung, wie die Arie zu Beginn des zweiten Aktes zeigt. Zu den Höhepunkten des ersten Aktes gehören zudem das Sextett mit dem betörenden Rossini-Drive und das Duett des Barons Kelbar mit dem Tesoniere La Rocca, in dem Ugo Gualiardo und Riccardo Olivera gekonnte Buffonistenlaune und Witz vermitteln. Wie ein lächelnder Monarch inmitten: Germán Olivera als zurückhaltend kultivierter Belfiore.    Rolf Fath