Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Gottfried Pilz

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Gottfried Pilz (* 21. September 1944 in Salzburg; † 3. Oktober 2024 in Berlin) studierte an der Kunstakademie in Wien, war 4 Jahre Assistent an der Wiener Staats­­op er. Seine erste Bühnenbildassistenz führt ihn zu Wieland Wagner. Seit 1969 assi­stierte mehrere Jahre bei Rudolf Heinrich Filippo Sanjust. Zeitweise war er auch als Illustrator tätig. Seine Bühnenbild-Debüts waren in Amsterdam und Berlin. Festanstellungen verbanden in mit Bielefeld, Augsburg und Kiel. Von 1980 bis 1990 arbeitete er erfolgreich mit dem Regisseur John Dew zusammen und war maßgeblich am „Bielefelder Opernwunder“ mit seinen bemerkenswerten Ausgrabungen vergessener Werke beteiligt. Daneben war er europa-, ja weltweit freier Bühnenbilder für diverse Produktionen in Oper und Schauspiel mit auch eige­nen Insze­nierungen.

Jetzt ist im Verlag Theater der Zeit ein opulentes Buch erschienen, das seinem Werk ein würdiges Denkmal setzt „Gottfried Pilz. Bühne. Kostüm. Regie“ Herausgegeben wurde es von der Bielefelder Grafikerin Kerstin Schröder, die Gottfried Pilz seit seinen Bielefelder Jahren (1982-1992) kennt.

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Gottfried Pilz hat Wagners „Ring“ insgesamt vier Mal inszeniert. Zu Wagner hatte er denn auch eine besondere Beziehung. In einem Gespräch, das ich vor Jahren einmal mit ihm führte, sagte er mir: „Faszinierend bei Wagner ist nicht nur dass er Siegmund Freud eigentlich antizipiert hat, sondern dass er noch über Strindberg weit über unsre zeit hinausgeht, bis hin zu Bergmanns ‚Szenen einer Ehe‘.“ Die Äußerung ist typisch für Gottfried Pilz, denn der psychoanalytische Weg ist für ihn eigentlich in fast allen Opern aller Epochen der entscheidende Zugang.

Dekorationen ist seine Sache nicht. „Mir geht es eher um die Sichtbarmachung dessen, was hinter einer Wand steht, was auf der Bühne steht, was jenseits der Grenzen liegt. Grenz­überschreitungen sind mein Thema“ hat er einmal unmissverständlich erklärt. Theater ist für ihn immer ein „Umsetzen ins Heute!“ Fern allerdings von allem unverantwortlich bearbeitenden, selbstverliebt egomanischen, kommentierenden oder gar destruierenden … Regietheater.

Zur Erinnerung liest man: „1980 begann eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Regisseur John Dew. Pilz gelang in den 1990er-Jahren eine innovative Weiterentwicklung des Bühnen- und Kostümbildes. Er schuf faszinierende Bilder, die die Musik visuell übersetzen und in die Operngeschichte eingegangen sind. Zu seinen Ausstattungen gehörten Welturaufführungen wie Alexander von Zemlinskys ‚Der König Kandaules‘ in Hamburg 1996 sowie die Wiederentdeckung selten gespielter oder in Vergessenheit geratener Werke wie Giacomo Meyerbeers Die Hugenotten‘, Berlin 1987 und Jacques Fromental Halévys ‚Die Jüdin‘, Bielefeld 1989. Neben seiner internationalen Karriere arbeitete Gottfried Pilz immer wieder mit Regisseur Gotz Friedrich an der Deutschen Oper Berlin zusammen. Dem legendaren ‚Rosenkavalier‘-Auftakt in Berlin 1993 folgten 15 gemeinsame Projekte einschließlich der ersten Gesamtaufführung ‚Der Ring des Nibelungen‘ in Helsinki 2000.“

Das jetzt erschienene Buch verblüfft vor allem mit seinen Fotografien. Es zeigt einen Ausschnitt aus dem umfangreichen Schaffen von Gottfried Pilz. „15 von rund 250 Arbeiten werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt“ nach dem Motto „Last Bilder sprechen.

Man liest darin das Bekenntnis: „Für das Theater zu Arbeiten heißt reflektiertes Umsetzen eines Textes, der Musik oder beider zusammen in einem Aktionsraum, der die Darstellung von zwischenmenschlichen Beziehungen ermöglicht oder umfasst.“

Peter Brook hat sehr faszinierendes Buch mit dem Ti­tel „Der leere Raum“ geschrieben. Pilz kennt es natürlich, denn auch er zeigt oft leere Räume. „Es ist aber die Frage, wie leer ist der Raum wirklich oder wie verschieden kann leerer Raum sein?“

Als beispielhaft darf die Leipziger Inszenierung (der deutschen Erstaufführung) von Olivier Messiaens „Saint Francois D’Assise“ aus dem Jahre 1998 gelten, die in dem Buch in beeindruckenden Fotos dokumentiert ist.

Ein staub- und qualmvernebelter, verwüsteter Kirchenraum, in dem nur noch nackte Stühle übriggeblieben sind, nach dem Einsturz der Franziskuskirche in Assisi, der bei einem Erdbeben 1997, was von einem Amateurfilmer auf Video gebannt und vor Beginn der eigentlichen Inszenierung gezeigt wurde. Im Hintergrund klafft ein großes Loch, das Fragen evoziert und Durchblicke auf Uneindeutiges gestattet. In diesem qualmgeschwängerten Raum, der von immer neuen Lichtstrahlen, Lichtreflexen und -Stimmungen durchdrungen wird, entwickelte Gottfried Pilz die Geschichte des Glaubensreformators, die er kondensiert hat zur Allegorie der Menschwerdung an sich. Wenn man so will eine durch Nietzsches Atheismus gefilterte Heiligenlegende als humane Entwicklungsgeschichte des Individuums. Statt Soutanen und Mönchsgewänder sieht man schlichte Anzüge. Statt Kirchenplunders wird mit wenigen Kreuzprojektionen und einer simplen, aber einsichtigen Kleidermetapher das Aufbauen und Zerstören von Glauben, Illusionen und Hoffnungen angedeutet. Kleiderhaufen liegen auf dem Boden des zerstörten Gotteshauses. Die Mönche falten sie nach und nach, schichten sie auf zu wackligen Türmen, die wieder zusammenfallen. Am Ende ist der Boden dieses säkularisierten Glaubensraumes leergefegt und steril, die Phalanx der Mönche tritt dem erleuch­teten, erlöschenden Außenseiter Franziskus proper und adrett in Mantel und Hut entgegen. Diese Versinnbildlichung hat Methode, sie ist konsequent, sie vermeidet jede Art von Peinlichkeit und Unbehagen, und sie lenkt nicht ab von der unglaublich beredten und gesti­schen Musik, die ihrerseits so viel zu erzählen und zu kommentieren hat.

Die Räume von Gottfried Pilz sind – nicht nur in „Saint Francois D’Assise“ – von magischer und suggestiver Wirkung, es sind stets feinfühlige und doch starke Licht- und Farbräusche, optische Stimmungen, traumhafte Welten. Zurecht werden sie als „Freiräume für die eigene Fantasie“ bezeichnet.

Die Fotografin Karen Stuke, die seit den 1980er Jahren Gottfried Pilz begleitet und viele seiner faszinierenden Produktionen fotografierte, hat insbesondere mit ihren Camera-obscura-Aufnahmen seine Inszenierungen in besonderer Weise eingefangen. Sie gesteht, diese Form der Fotografie sei „keine dokumentarische, sondern eher verfremdende.“ Gottfried Pilz hat sie in ihrem fotografischen Verfahren, das in besonderer Weise seine Bühnenbilder hervorhebt, bestärkt. Sie belichtete das jeweils gesamte Theaterstück auf einem einzigen Bild mit einer Lochkamera. Die Belichtungszeit des Negativs entspricht exakt der Dauer der Inszenierung. Es sind traumhaft verschleierte Fotografien, die etwas von der suggestiven Wirkung der Pilzschen Bühnenereignisse vermitteln, Davon kann der Leser sich überzeugen, denn Karen Stuke liefert den Großteil des Bildmaterials.

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Mit dem Bonmot „Pilzblau mit einem Schuss Neonrot“ bringt die Herausgeberin des Buches, das einen repräsentativen Ausschnitt der Vorlasses (Fotografien, Plakate, Zeichnungen und Entwürfe) zeigt, den Gottfried Pilz der Theatersammlung des Stadtmuseums Berlin 2011 übergab, dessen Ästhetik auf den Punkt.

Für die Anfangsphase seiner bühnenbildnerischen Laufbahn, die noch sehr konkret und gegenständlich verspielt, nicht selten ironisch gebrochen  war, ist in dieser schön ausgestatteten Publikationen leider kein Platz. Sie ist ein Buch über den reifen Gottfried Pilz. Er „hat von 1970 bis 2021 als Bühnen- und Kostümbildner größtenteils für das Musiktheater gearbeitet. Seine im Laufe der Jahre zunehmend abstrakte und minimalistische Bildsprache entwickelte er durch das intensive Studium von Libretto und Partitur konstant weiter. Während er die Musik hörte, und die Texte las, kamen die Ideen. Es sind Bühnenbilder und Entwürfe von 1985-2003, die zu sehen sind. Allerdings ist eine Liste sämtlicher seiner Inszenierungen (mit präzisen Orts- und Theaterangaben) sowie ein Werkverzeichnis beigefügt, die den enormen Wirkungsradius des Ausstatters und Regisseurs) dokumentieren, er formulierte es so: ‚Es muss aus der Hand herauskommen und nicht aus dem Kopf‘.“

Handwerkliche Präzision zeichnen denn auch seine Figurinen und skizzenhafte Entwurfszeichnungen ebenso aus, wie die sinnliche Wirkung der phantasievollen Bühnen-Realisierungen des großen Theaterzauberers.

Der mittlerweile achtzigjährige Gottfried Pilz, der zu den weltweit renommiertesten Bühnenbildnern zählt, hat sich in den letzten Jahren aus gesundheitlichen Gründen vom Theater zurückgezogen. Am 3. Oktober ist er nun verstorben. Er hat zweifellos ein Stück Theater- und Inszenierungsgeschichte „der letzten Jahrzehnte des 20 Jahrhunderts und desbeginnenden 21.Jahrhunderts“ geschrieben, wie Bärbel Reißmann vom Stadtmuseum Berlin schreibt. Das Buch, aber auch das Museum will „Gedächtnis für die Theatermacher und das Publikum“ sein.  „Ein nützliches Register, ein Verzeichnis aller Pilz-Inszenierungen und eine biografische Zeittafel ergänzen das äußerst verdienstvolle Buch (Foto Deutsche Oper Berlin Archiv). Dieter David Scholz

Halber Kunstgenuss

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Wer seine erste Bekanntschaft mit Leoš Janáček durch seine Oper Katja Kabanova machte, der vermeinte im Aufrauschen des Orchesters den gewaltigen russischen Strom Wolga, in dem sich die unglückliche Titelheldin ertränkt, seine Bahn ziehen zu vernehmen, aber ganz ähnlich hört sich der Beginn von Die Ausflüge des Herrn Brouček an, ein ganz anderes Thema und dazu eine Geschichte mit nicht  tragischem, sondern heiterem Ausgang. Auch ein aus der Ferne  tönender, geisterhafter Chor stellt eine Verbindung zwischen beiden Werken her. Es geht um den geizigen, übellaunigen Hausbesitzer gleichen Namens, dem der Schriftsteller Svatopluk Čech zwei Romane widmete, deren erster den Titelhelden auf den Mond entführte, während der zweite ihn nicht räumlich, sondern zeitlich versetzt in das 15. Jahrhundert, als in Böhmen Hussiten und Kaiserliche einander bekämpften.  Ausgangspunkt des Geschehens ist eine Prager Kneipe, in der Herr Brouček so fleißig dem Bier zuspricht, dass seine Phantasie beflügelt und die jeweilige abenteuerliche Reise erst möglich gemacht wird. Verflochten in das vielseitige Geschehen ist ein junges Liebespaar, dem Broucek zu Beginn die Wohnung kündigt, die er ihm, wohl durch seine Abenteuer geläutert, am Schluss doch wieder überlässt. Natürlich wird die einer Aufführung des Prager Nationaltheaters entnommene Aufzeichnung in tschechischer Sprache dem dieses Idioms unkundigen Hörer nicht gerade leicht zugänglich gemacht, denn es gibt lediglich einen digitalen Zugang zum Libretto in tschechischer und in englischer Sprache. So nützt die gute Diktion, der sich alle Mitwirkenden befleißigen, nicht wirklich etwas, eher schon die ausführlichen Inhaltsangaben in tschechischer und englischer Sprache im Booklet, die aber nicht wirklich eine Textverständlichkeit gerade auch bei einem so sehr dem einem ausgeprägten Parlandostil zuneigenden Werk ersetzen können. Lediglich dem Liebespaar, das nicht nur in der Rahmenhandlung, sondern auch auf dem Mond wie im Prag der Hussiten handlungstreibend präsent ist, werden lyrische Ergüsse gestattet. Die Titelfigur hat natürlich ihre großen Auftritte, ansonsten  ist jeder der Mitwirkenden mit der Darstellung jeweils dreier  Personen betraut, jeweils einer aus der Rahmenhandlung und zweier aus den Traum- oder besser Rauschhandlungen

Die Titelfigur wird von Jaroslav Březina mit durchdringendem Charaktertenor facettenreich und komiksprühend gesungen. Malinka und die entsprechenden Figuren Etherea auf dem Mond und Kunka im mittelalterlichen Prag finden in Alžbĕta Poláčková eine muntere Vertreterin mit warmem, geschmeidigem und ausgesprochen frisch wirkendem Sopran. Ihr Liebhaber ist als Mazal, Azurean und Petrik, der Sieger der von den Hussiten gewonnenen historischen Schlacht, mit herbem Tenor Aleš Briscein. Ein weiterer, hellerer und leichterer  Sopran wird mit dem von Doubravka Součková für drei jugendliche Herren eingesetzt. Das dunkle, schwere Fach vertritt František Zabradniček, auch Jiři Brückler (u.a. Svatopluk Cech) legt mit diesem viel Ehre ein, aber den meisten Gewinn zieht der nicht der Librettosprache  mächtige Zuhörer aus dem Wirken des Orchesters unter Jaroslav Kyslink, das die Musik, insbesondere auch in den Interludi  atmen, aufblühen und den Hörer verzaubern lässt.

Auf jeden Fall Appetit gemacht auf die bevorstehende Produktion der Staatsoper Berlin in dieser Saison unter Simon Rattle hat die Aufnahme dieser Oper, die mehr als die meisten anderen des Komponisten zum vollkommenen Kunstgenuss auch ihrer optischen Seite bedarf (Supraphon SU 4339-2). Ingrid Wanja      

Erfreulich

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Neu auf dem großen CD-Markt gibt es bei MDG (Musikproduktion Dabringhaus und Grimm) eine Silberscheibe aus diesem Jahr mit Gustav-Mahler-Liedern aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“. Katharina Kammerloher und Arttu Kataja, begleitet von Eric Schneider, haben zwanzig teils kürzere, teils längere Lieder und Gesänge zusammengestellt, die grob in vier Gruppen aufgeteilt sind und abwechselnd von beiden Künstlern mit Klavierbegleitung vorgetragen werden. Dazu geben instruktive Texte im gelungenen Beiheft interessante Einblicke in die Lieder. Mit immenser Technik und intensiver Gestaltung weiß die Mezzosopranistin von Beginn an zu überzeugen: Humorvoll kommt das Lob des hohen Verstands rüber, hoffnungsfroh Ablösung im Sommer. Die köstliche Fischpredigt deutet der finnische Bariton differenziert aus. Nach dieser ersten Gruppe „Fabeln und Parabeln“ folgen in der zweiten Gruppe „scheinbare Kinderlieder“: Katharina Kammerloher gefällt mit schlanker Stimmführung in Um schlimme Kinder artig zu machen und im heiteren Koloraturlied Wer hat dies Liedlein erdacht?. In Verlorne Müh’ gibt der harte Bursche dem zarten Begehren des Mädchens entsprechen robust herrlich kontra; Katajas Selbstgefühl kommt passend ironisch daher. In der dritten Gruppe dreht sich alles um „unverschuldete Krisen in Beziehungen“: Da bietet der Bariton ein fein differenziertes Scheiden und Meiden, die Sängerin ein gefühlvolles Rheinlegendchen. Stark gestalten die Beiden Aus! Aus! und Trost im Unglück. Schon bei dieser Gruppe wie auch bei der folgenden der „Kriegs- und Soldatenlieder“ vermisst man jedoch den farbigen Orchesterklang der Begleitung. Da werden vom Pianisten Höchstleistungen gefordert, die Eric Schneider mit größter Fingerfertigkeit und Musikalität sowie Eingehen auf die Solisten wirklich sehr gut einlöst. Da überzeugt Kataja mit bestens herausgearbeiteten Stimmungen und mit endlosen Rufen in Der Schildwache Nachtlied sowie weichen Melodiebögen in Zu Straßburg auf der Schanz. Eindrucksvoll wiedergegeben wird die Ballade eines jungen Knaben Nicht Wiedersehen! von Katharina Kammerloher wie auch intensiv Wie die schönen Trompeten blasen. Gelungen ist der Dialog der beiden Künstler im Lied des Verfolgten im Turm mit von Kataja opulent ausgesungener Schlussphrase „die Gedanken sind frei“. Beim ruhig ausmusizierten Gang zum Galgen des Tambourg’sell und dem eindrüciklichen Antikriegslied Revelge zieht Arttu Kataja zu Eric Schneiders aufbrausendem Klavierpart noch einmal alle Register seiner farbenreichen Stimme. Die albtraumartige Liedparabel bedrohter Existenz Das irdische Leben und die auch in der Auferstehungssinfonie von Mahler verwendete schlichte Melodie des Urlichts finden in Kammerlohers Interpretation eine ausdrucksstarke Wiedergabe (MDG 908 2322-6). Marion Eckels

You’ll Never Walk Alone

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Das waren noch andere Zeiten, als Cowboys breitbeinig durch die Prairie tanzten, Cowboyhüte zu den smartesten Kopfbedeckungen gehörten, pausbäckige Mädchen vor endlosen Horizonten Rundtänze vollführten und das Jungvolk gemeinsam Heuballen auftürmte. Es war die goldene Zeit des amerikanischen Musicals, zu deren herausragendsten Vertretern Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II gehörten, die sich mit Oklahoma unsterblich machten. Gemeinsam mit dem keineswegs unbekannteren Lorenz Hart hatte der 1902 in New York geborene Richard Rodgers bereits ab den 1920er Jahren die Broadway-Bühnen beliefert, doch der überragende Erfolg stellte sich erst durch die Zusammenarbeit mit Oscar Hammerstein II. ein. Oklahoma bildete 1943 den Auftakt zu einer kleinen Reihe von Erfolgsmusicals, zu denen bis Ende der 1950er Jahre u.a. Carousel, South Pacific, The King and I und The Sound of Music hinzukamen, die allesamt in Deutschland nie Fuß fassten. Auch nicht Carousel, das immerhin auf einem Stoff des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár basiert, nämlich der „Vorstadtlegende“ Liliom, die sich seit 1912 auch in Deutschland bleibender Beliebtheit erfreute. Puccini hatte übrigens vergeblich versucht, von Molnár die Rechte für eine Oper zu erhalten. Carousel (1945) reichte mit knapp 900 Aufführungen nicht ganz an den immensen Oklahoma Erfolg heran – die deutsche Erstaufführung in der Übersetzung des unermüdlichen Robert Gilbert folgte erst 1972 in Wien – doch die Hymne You’ll Never Walk Alone sichert Carousel Unsterblichkeit.

Die auf dem Rummelplatz im Budapester Stadtwäldchen vor dem Ersten Weltkrieg spielende Handlung ist bittersüß und schön. Benjamin Glazer verlegte sie an die Küste Neuenglands, wo der Karussellarbeiter Billy seinen Job verliert, einen Raub begeht und sich vor seiner Verhaftung umbringt. Seine Freundin Julie bleibt mit Tochter Louise allein zurück. 15 Jahre später darf Billy für einen Tag auf die Erde zurück. Als Geschenk für Louise lässt er einen Stern mitgehen. Louise will den Stern nicht annehmen, worauf ihr Billy einen Schlag versetzt. Louise berichtet der Mutter von der eigentümlichen Begegnung mit dem Fremden. Julie erkennt die Zusammenhänge und weiß, dass ihrer Tochter immer ein Stern leuchten wird.

Ihre im Juli 2022 begonnene Oklahoma Erfolgsgeschichte setzten auch John Wilson, die Sinfonia London und Chandos im April 2023 wieder im Sainsbury Theatre der Royal Academy of Music in London mit der Musical Comedy Carousel fort (2 CDs CHSA 5342/2). Rodgers und Hammerstein, die zwischenzeitlich mit anderen Projekten ihre dramatischen Fähigkeiten zugespitzt hatten, gelang eine bis dahin für das Genre unübliche Dichte und Dringlichkeit, die Text und Musik, Drama und Lieder quasi zu opernhaft durchkomponierten Passagen zusammenfassten, die weit über den von Sinatra über Garland bis zu Presley interpretierten You’ll Never Walk AloneHit, der durch Gerry and the Pacemakers seit 60 Jahren die Hymne von Liverpool FC ist, hinausreicht. Beispielsweise Billy und Julies 11minütige Szene oder Billys sehr lange „Soliloquy“, eine ausdruckvolle Selbstreflektion, in der Nathaniel Hackmann mit einem leichten Bariton wie aus geschliffenem Ebenholz eine komplexe Figur gestaltet. Er gehört quasi zum Stammensemble, das wirklich ein Ensemble in dem Sinn ist, dass man kaum individuelle Leistungen herausheben kann, darunter Mikaela Bennett als Julie, Julian Ovenden als Enoch Snow, vor allem Francesca Chiejina als Nettie Fowler. Timing, Rhythmus, Drive gibt Dirigent John Wilson vor, der schwärmt, „Carousel is Rodger‘s and Hammstein’s greatest achievement. In it Rodgers menages to create a score with operatic aspirations and dimensions. … The drama is amplified by what’s happening in the music“. Durchgehend ist das riesige Vergnügen an dieser dichten Musik zu spüren. Und „we hear everthing that was written rather than highlights.“, also a world premiere complete recording. Rolf Fath 

 

Trüber Stand der Dinge

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Offensichtlich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, welche Art Publikum den Freischütz in Bregenz auf der Seebühne besuchen würde, hat Regisseur Philipp Stölzl, weder an den Urlauber, der einen schönen Tag auf angenehme Art beschließen, die Familie, die die Kinder zum ersten Mal in die Oper ausführen möchte,  nicht an den Selten-, Zum-ersten-Mal – ,aber nun sicher Nie-Wieder-Gänger, gedacht, die er allesamt mit einer Inszenierung verschreckt und vielleicht für immer verscheucht haben dürfte, die das Stück lediglich zum Anlass genommen hatte, sein ironisierendes Mütchen daran zu kühlen. Das happy end scheint ihm generell ein Gräuel zu sein, wie zuletzt die Turandot in Berlin bewies, dem Freischütz wird ein Schluss vorangestellt, der ausmalt, welche Tragödie sich ohne göttliches Einwirken abgespielt hätte: Agathe wird zu Grabe getragen und Max erst erhängt und dann noch ersäuft. Insgesamt kommt aber weit mehr als der Freischütz der Teufel oder vielmehr Samiel zum Einsatz mit Texten, die Jan Dvorak dem Libretto, das wesentlich verändert wurde, noch hinzugefügt hat, aus der fast stummen Figur wird ein Gustaf Gründgens nachahmender Mephisto mit mal altertümelndem, mal gossensprachenhaftem Text, der auch mal in Agathes große Arie eingreift, aus Ännchen, der man  die zweite Arie gestrichen hat, eine gern angetrunkene lesbische Feministin, der Agathe nur widerstehen kann, weil sie einen Vater für ihr ungeborenes Kind braucht, Max ist ein Schreiber und Ottokar eine Witzfigur von Ludwig II.. Alle Mitwirkenden konnten froh über den überheißen Sommer sein, denn pausenlos geht es vom Land ins Wasser und wieder zurück, und das betrifft nicht nur das kitschige Wasserballett à la Esther Williams anstelle des Brautjungferntanzes. War es des Regisseurs erklärte Absicht, den Freischütz „mit Eisenbesen“ von Unerwünschtem zu befreien, ihn ordentlich „durchzulüften“, dann ist das auf fatale Weise gelungen. Dabei hat er sich, auch als Bühnenbildner tätig, durchaus eine romantische Kulisse geschaffen, ein noch die Kriegsschäden zeigendes Dorf, zwar im Winter, was  zu Jagd und Volksfest nicht passt, aber seinen ganz eigenen Reiz entfaltend. Dieser Eindruck wird aber immer wieder zunichte gemacht, sei es durch den überdimensionierten Eremiten à la Rauschgoldengel, den teilweise obszönen Dialog, die grellen Farben oder die lächerlichen Erscheinungen in der Wolfsschlucht.

Alles Akustische, abgesehen von den hinzugefügten Dialogen, hätte eigentlich etwas besseres Optisches verdient, denn Enrique Mazzola beweist mit den Bregenz-erprobten Wiener Symphonikern, dass er nicht nur italienische Oper kann. Die beiden Chöre, Bregenzer Festspielchor und Prague Philharmonic Choir  geben ihr Bestes, auch wenn die Regie alles daran gesetzt hat, den Jägerchor zu sabotieren.  Mauro Peter hat einen für das deutsche Zwischenfach bestens geeigneten Tenor, Franz Hawlata imponiert einmal mehr mit hochpräsentem Bassbariton als Kuno, ebenfalls prachtvoll ist die vokale Leistung von Maximilian Krummen als Kilian, der hier Agathe an die Wäsche geht (Oder ist er vielleicht sogar der Kindsvater?). Christof Fischesser lässt Bassesschwärze wie gewandte Koloraturen hören. Etwas blass bleibt Liviu Holender als Ottokar. Einen hellen, schlanken Sopran setzt Nikola Hillebrand für die Agathe ein, deren Sopran man sich eigentlich auch wärmer und runder denken kann. Katharina Ruckgaber hat die notwendige vokale Entschlossenheit für das Ännchen. Vorzüglich ist der Schauspieler Moritz von Treuenfels als Samiel, aber in dieser Produktion leider ein Ärgernis (C Major768404). Ingrid Wanja   

Nicht nur noble Rebellen

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In Mode zu kommen scheint es, und das wäre auch gut so, keine reinen Arien-CDs, beginnend mit Nessun dorma und endend mit E lucevan le stelle mehr aufzunehmen, sondern längere, wenn auch  nicht so prominente Szenen, die dem Hörer nicht bereits bis zum Überdruss bekannt sind. So verfuhr unlängst Jonas Kaufmann mit seiner Puccini-CD, und so auch Charles Castronovo, der noch einen Schritt weitergeht, indem er sich auf seiner Verdi-CD mit weniger bekannten Opern wie Luisa Miller befasst oder sogar mit solchen, die so gut wie nie auf der Bühne zu sehen sind wie Il Cosaro. Das Booklet der von Delos herausgegebenen CD beweist, dass der amerikanische Tenor mit italienischen und südamerikanischen Wurzeln auch optisch den Vorstellungen von einem Verdi-Helden entspricht.

Castronovos Karriere begann vor fast einem Vierteljahrhundert mit Mozart- und Belcantopartien, inzwischen hat er eine Verdi angemessene Stimme, die dem französischen Don Carlos in der einleitenden Fontainebleau-Szene ebenso gerecht wird wie dem Gaston aus der französischen Fassung des Kreuzfahrer-Dramas Jérusalem, aus dem auch eine solche aus den italienischen Lombardi sulla prima crociata  vertreten ist. Nichts lässt mehr daran denken, dass seine erste Verdi-Partie der Gastone in Traviata war. Es überzeugen ein dunkles, melancholisches Timbre, eine perfekte Diktion, eine elegante messa di voce und eine schlanke Stimmführung, die dem Tenor nichts an Farbe nimmt, in einem herzzerreißenden „Ah! laissez moi mourir!“ mündet. Aus den Lombardi singt Catsronovo das gern als Zugabe genutzte La mia letizia infondere , begnügt sich aber nicht nur damit, sondern führt die Szene unter Einsatz einer sehr hellen, sehr leichten Mutter Sofia über das „Come poteva un angelo“ hinaus.

Auch dem unseligen Jacopo Foscari werden Rezitativ, Arie und Cabaletta zuteil, erfreuen mit  ausgeprägter Legatokultur, mit großzügiger Phrasierung und nicht nachlassender Spannung. Lediglich einen siegreichen Squillo vermisst man in dieser Szene etwas. Einen höchst angenehmen Eindruck hinterlassen bei Macduffs Klage der wunderschöne Schmerzenston und die gut gedeckten Höhen. Des Ballo-Riccardos große Arie aus dem letzten Akt überzeugt bei Castronovo durch Eleganz, kaum wahrnehmbare, nur angedeutete colpi di glottide und ein tatsächlich sehr intim sehr verinnerlicht klingendes „Nell‘ intimo del cor“.

Es folgt fast ein ganzer Akt Luisa Miller mit Rezitativ, Arie und Cabaletta des Rodolfo, bei dem sich sonst mit Quando le sere als placido begnügt wird, während auf dieser CD auch mit Contadino, Wurm und Walter nicht gespart wird. So können tatsächlich ein Charakter, eine Situation, der vielfache Stimmungswechsel perfekt nachvollzogen werden mit einem bis zum „estatico“ innigem Beginn und sogar einer Wiederholung der Cabaletta und einem Bass wohl aus dem Ensemble des Theaters von Kaunas für beide Intrigantenpartien, mit Tadas Girninkas, während das Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian die zuverlässige Begleitung liefert.

Den Abschluss bildet die große Tenorszene aus IL Corsaro, tatsächlich einem Noble Renegade, welches Attribut die CD für alle Tenorrollen beansprucht, und  die mit einem so kompetenten Tenor Lust darauf macht, das arg vernachlässigte Werk auch einmal in seiner Gänze zu erleben, wozu man allerdings Partner wie die auf Gesamtaufnahmen mit Renato Bruson, Katia Ricciarelli oder die mit  Caballé und Norman –tempi passati (Delos 3605). Ingrid Wanja

Vielbeiniges

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Bei NAXOS: Tschaikowsky-Lieder szenisch. An der Oper Frankfurt hat Christof Loy an einem Abend Tschaikowsky-Lieder szenisch arrangiert – unter dem Titel NONE BUT THE LONELY HEART ist dieses Programm jetzt bei NAXOS auf einer Blu-ray Disc erschienen, gefilmt zwischen dem 24. und 26. Februar 2021 (NBD0181V). Herbert Murauers Ausstattung wurde von Loys Stockholmer Inszenierung der Fedora Giordanos übernommen, die nach Frankfurt wechseln sollte, was sich wegen der Pandemie nicht realisieren ließ. Der Bühnenraum ist ein multifunktionales Zimmer, tapeziert und gediegen  möbliert, welches an einen bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert, wo man sich zum gemeinsamen Singen oder Musizieren traf. Die szenische Atmosphäre erinnert an die intimen Szenen in Eugen Onegin. An der  hinteren Wand befindet sich ein prachtvoller mattgoldener Bilderrahmen, in den mehrfach die Köpfe der Sänger als schwarz/weiß Aufnahmen projiziert werden (Video: Ruth Stofer).

Die 24 Romanzen, die aus über 100 Liedern ausgewählt wurden, interpretieren fünf Sänger, die von den Pianisten Mariusz Klubczuk und Nikolai Petersen begleitet werden. Ein Instrumentalstück aus der Feder Tschaikowskys – das Adagio cantabile. aus dem Sextett d-Moll, Souvenir de Florence, op. 70 – spielen Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters.

Zentrales Motiv der Handlung ist ein Glas Wasser, zu dem der Protagonist (der Bariton Vladislav Sulimsky) immer wieder greift, womit an Tschaikowskys möglichen Suizid erinnert werden soll. Freilich sind die Umstände vom Tod des Komponisten bis heute ungeklärt – niemand weiß, ob eine Infektion mit der Cholera vorsätzlich oder unbewusst geschah. Sulimsky, dessen Physiognomie entfernt an die Tschaikowskys erinnert, eröffnet mit dem schwermütigen „Reconcilation“. Sein Bariton ist aufgeraut und vibrierend, doch stark im Ausdruck. Für das bekannte „Amid the din of the ball“ fehlt es ihm an Eleganz, das düstere „On yellow fields“ bekommt dagegen packende Kontur. In „Final“ schwingt er sogar das Tanzbein, geht das Lied doch auf ein Motiv aus dem Ballett The Sleeping Beauty zurück. Ausgelassen und lärmend beteiligen sich alle Sänger an dieser körperlichen Aktion. Ein leichterer, jugendlicher Bariton ist Mikolai Trabka eigen, der sich mit „I never spoke to her“ vorstellt. Ihm gehört die schönste Stimme, die sich in „The Night“ schwärmerisch verbreitet. „To forget so soon“ gehört zu den bekannteren Liedkompositionen des Meisters – dem Tenor Andrea Carè anvertraut, der es recht grobschlächtig vorträgt und in der darstellerischen Vehemenz Lenski mit seinen Zornesausbrüchen gleicht. Auch bei „Why?“ gerät er nach maßvollem Beginn ins Forcieren. Im Hosenanzug aus schwarzer Seide und im weißen Tüllrock geben die beiden Damen ein elegantes Bild ab – Olesya Golovneva/Sopran und Kelsey Lauritano/Mezzo vereinen ihre Stimmen mit strengem Vibrato anfangs zu Duetten mit herbem Klang. In ihrem Tutu und Ballettschuhen posiert die Sopranistin mit Figuren des klassischen Balletts und geht sogar auf die Spitze (Choreografie: Andreas Heise), stimmlich ist sie ein dramatischer Typ, der eine Lisa gut anstehen würde. Auch die Tatjana, an die das Lied „He loved me so“ erinnert, würde in ihr Repertoire passen. Das Lied, welches dem Programm den Titel gab, ist der Mezzosopranistin anvertraut, die es gemessen und auf Linie bedacht vorträgt. Auch „Frenzied nights“ profitiert von ihrer kulturvollen Interpretation.  Der Schluss, „Again as before alone“, gehört dem imaginären Tschaikowsky, der dem Lied die gebührende Melancholie gibt. Bernd Hoppe

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The Christopher Wheeldon Collection bei Opus Arte. Einen Schuber mit drei Blu-ray Discs veröffentlicht OPUS ARTE, welche einen Einblick in das Schaffen des britischen Choreografen Christopher Wheeldon, Artistic Associate des Royal Ballet, ermöglichen (OABD73198D). Drei seiner bekanntesten Ballette werden vorgestellt, deren ältestes (und bekanntestes) Alice´s Adventures in Wonderland von 2011 ist. Seit seiner umjubelten Uraufführung wird es weltweit gespielt, auch das Bayerische Staatsballett München hat die Choreografie in seinem Repertoire. Hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahre 2017 zu sehen, die viele Principals der Londoner Compagnie vereint, angeführt von der bezaubernden Lauren Cuthbertson in der Titelrolle und Federico Bonelli als ihrem Freund Jack und später verwandeltem Herzbuben. Eine Glanzrolle in diesem Stück ist die exzentrische Herzkönigin, der Laura Morera einen gebührend extravaganten Umriss gibt. Auch die Doppelrolle des Zauberers und verrückten Hutmachers ist ein Fest für einen Tänzer von Ausnahmeformat – einfach wie geschaffen für den unvergleichlichen Steven McRae. Neben der tänzerischen Pracht sorgt auch die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley für optische Freuden und nicht zuletzt trägt Joby Talbots schwungvolle Musik zum stimmigen Gesamteindruck bei.

Ähnlich erfolgreich ist das im April 2014 herausgekommene Shakespeare-Ballett The Winter´s Tale, das hier in einer Aufzeichnung aus der Uraufführungsserie zu sehen ist. Wieder waren Wheeldons regelmäßige Mitarbeiter – der Komponist Joby Talbot und der Designer Bob Crowley – mit am Werk. Erzählt wird die Geschichte des eifersüchtigen Königs Leontes (Edward Watson in psychopathischer Intensität bis zum Wahnsinn), der seine schwangere Gattin Hermione (Lauren Cuthbertson mit viel Liebreiz und tiefer Empfindung) des Ehebruchs mit seinem Freund Polixenes (Federico Bonelli mit sinnlicher Aura) bezichtigt. 17 Jahre später spielt der 2. Akt in Böhmen, wohin die Tochter des Paares Perdida (Sarah Lamb von bezaubernder Anmut) mit ihrem Geliebten Florizel (Steven McRae mit hinreißender Vitalität und starker Ausstrahlung) fliehen konnte. Zurück nach Sizilien führt der 3. Akt, welcher die Versöhnung von Leontes und Hermione schildert. Zum Erfolg der Produktion, die inzwischen auch beim Hamburg Ballett gezeigt wurde, tragen auch das Orchestra of the Royal Opera House und der Dirigent David Briskin bei.

Das dritte (und aktuellste) Ballett trägt den Titel Like Water for Chocolate und ist eine Koproduktion mit dem American Ballet Theatre. Sie wurde im Juni 2022 im Royal Opera House London uraufgeführt, wovon auch der DVD-Mitschnitt stammt. Wieder ist das Trio Christopher Wheeldon (Choreografie), Joby Talbot (Musik) und Bob Crowley (Ausstattung) künstlerisch verantwortlich. Das Ballett wurde durch den mexikanischen Roman „Bittersüße Schokolade“ von Laura Esquivel inspiriert – eine Familiensaga von magischem Realismus in Mexiko um 1910. Die zentrale Figur ist Tita, verliebt in den Nachbarn Pedro, den sie jedoch nicht heiraten darf gemäß einer Familientradition, sich um die alte Mutter, Mama Elena, sorgen zu müssen. Statt ihrer ist Pedro die Hand Ihrer Schwester Rosaura versprochen. Dieser hofft, durch die Heirat näher bei seiner einzigen Liebe Tita zu sein. Ein Jahr ist vergangen und Rosaura hat Probleme, ihr neu geborenes Baby zu stillen. Wie durch ein Wunder kann Tita dieses Amt übernehmen, was Pedros Liebe zu ihr noch verstärkt. Ein nächtliches Treffen mit Tita wird gestört von Elena und Rosaura – Pedro muss mit seiner Frau und dem Baby die Farm verlassen. Die Magd Chenca übermittelt die Nachricht vom Tod des Kindes, Tita beschuldigt ihre Mutter als die Verursacherin des Unglücks. Ihren emotionalen Kollaps will Doktor John Brown in seinem Haus in Texas heilen. Er liebt Tita und will sie heiraten. Sie willigt ein trotz ihrer fehlenden Gefühle für diesen Mann, bei dem sie sich aber Frieden und Sicherheit verspricht. Die inzwischen verstorbene Mutter wird aufgebahrt, unter den Trauernden sind Pedro und Rosaura mit ihrer neuen Tochter Esperanza. In einer Kassette entdeckt Rosaura ein Tagebuch ihrer Mutter, welches ihre Liebe zu einem Mann namens José enthüllt, doch bestimmten die Eltern eine Heirat mit Juan de la Garza, Titas Vater. Die Liebenden wollten fliehen, doch Juan wird von Elenas Brüdern getötet. Dr. John gibt seine Verlobung mit Tita bekannt, aber Pedro erklärt ihr seine unverbrüchliche Liebe. Beider leidenschaftliche Verbindung endet in einer schrecklichen Vision – dem Erscheinen von Elenas Geist. Tita offenbart Dr. John ihre anhaltende Liebe zu Pedro und gibt ihm den Ring zurück.

Rosauras gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr, verursacht durch ihre Eifersucht. Ihre Tochter Esperanza, die mit Johns Sohn Alex scherzt, ruft sie gebieterisch zu sich und wiederholt damit das Verhalten ihrer Mutter. Bald hält Pedro seine tote Frau im Arm. 20 Jahre wird eine weitere Hochzeit gefeiert – die von Esperanza und Alex. Endlich sind die Familien in Liebe vereint.

Für diese vielschichtige Saga erdachte Christopher Wheeldon eine facettenreiche Tanzsprache, die ihre starke Wirkung ebenso aus den intimen Momenten der Protagonisten bezieht wie aus mitreißenden Gruppenszenen. Tita und Pedro tanzen am Ende einen neoklassischen Pas de deux von ekstatischer Hingabe als apotheotisches Bekenntnis zur Macht der Liebe.

Führende Solisten der Compagnie verzeichnet die Besetzungsliste. An ihrer Spitze zwei Principals: Francesca Hayward als Tita und Marcelino Sambé als Pedro. Die in Kenia geborene Britin und der Portugiese sind längst das neue Traumpaar in London. Beider Tanzduos sind aufgeladen von überschäumendem Temperament und erotischer Leidenschaft. Sambé ist ein Ausbund an Vitalität und jugendlichem Übermut, hinreißend in den fulminanten Sprüngen und virtuosen Hebefiguren. Hayward ist bezaubernd und anmutig, aber sie vermag auch den. Schmerz und die Trauer zu vermitteln, beginnend bei Pedros Hochzeit mit Rosaura, später beim Tod der Mutter und beim leidenschaftlichen Wiedersehen mit Pedro.

Laura Morera ist faszinierend als strenge, hartherzige Mama Elena – fanatisch, unnachgiebig und grausam. Rasant und hocherotisch ist sie in einer Rückblende mit ihrem Geliebten José  (Joseph Sissens von animalischer Sinnlichkeit), grotesk und fast eine Nachfolgerin der Herzkönigin als ihre eigene Geistererscheinung. Matthew Ball als fürsorglicher und großherzig liebender Dr John Brown ist ein Sympathieträger. Wheeldon hat für ihn und Tita zu Beginn des 2. Aktes ein inniges Duett erdacht, das beider Gefühle anschaulich schildert.

Bob Crowleys Ausstattung ist inspiriert von mexikanischer Kunst und Folklore, besitzt Strenge und Abstraktion, aber auch Naivität. Joby Talbots Musik lässt gleichfalls die Einflüsse mexikanischer Musiktradition hören, ist sehr rhythmisch betont und mit viel Schlagwerk instrumentiert. Am Ende rauscht sie hymnisch auf und bezieht auch noch die Gesangssolistin Sian Griffith ein. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt unter Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra mit südländischem Schwung und Temperament. Bernd Hoppe

Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Harold Woetzel ist auch der Autor des Films Marcia Haydée – The Seduction to Danse. Man nennt die 1937 in Niterói geborene und in Rio de Janeiro aufgewachsene Brasilianerin auch „die Maria Callas des Tanzes“. Nach ihrem Studium in London engagierte John Cranko die damals noch unbekannte Tänzerin 1961 nach Stuttgart (trotz des Einspruchs von Generalintendant Walter Erich Schäfer), wo er für sie fast alle großen Rollen seiner Ballette kreierte. Sie wurde zu seiner Muse und Assoluta und später auch seine Nachfolgerin als Intendantin der Compagnie.

Auch andere berühmte Choreografen inspirierte sie mit ihrer Kunst und Persönlichkeit, vor allem John Neumeier, der für sie seine Kameliendame kreierte, die sie 1978 zum triumphalen Erfolg führte, oder Maurice Béjart, der für sie seine Isadora schuf.

Unter den Ballettausschnitten ist gleich der erste eine Rarität – 1985 tanzte Haydée Béjarts Bolero in der deutschen Erstaufführung dieser legendären Choreografie. Es gibt natürlich auch Szenen aus Crankos Klassikern, The Taming of the Shrew oder  Romeo and Juliet, und man sieht zudem einen Ausschnitt aus Dornröschen, ihrer erfolgreichsten eigenen Choreografie. Bei den beliebten Stuttgarter Veranstaltungen Ballett im Park gehört diese Produktion zu den Höhepunkten. Zu Wort kommen Reid Anderson, Egon Madsen, Tamas Detrich, Friedemann Vogel und Alicia Amatriain – also Partner und Weggefährten aus ihren 35 Stuttgarter Jahren.

Auch Einblicke in Haydées Privatleben werden gewährt – ihre 16jährige Beziehung mit Richard Cragun, dem Partner auf der Bühne in vielen Stücken, der sie wegen einer neuen Liebe verließ und dessen Aids-Tod sie zutiefst erschütterte, oder die mit ihrem Ehemann, dem Yoga-Lehrer Günther Schöberl, die schon seit fast 30 Jahren glücklich verläuft. Der gleichfalls vom SWR Fernsehen initiierte Film stammt von 2017 und ist eine willkommene Würdigung der großen Tanzlegende.

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Mit dem dritten Film, Friedemann Vogel – Incarnation of Danse, findet sich ein Beitrag aus der aktuellen Stuttgarter Tanzszene. Er stammt von Katja Trautwein und entstand als Koproduktion des SWR mit der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit der Saison 1998/99 ist Vogel Mitglied der Stuttgarter Compagnie, wo er 2002 zum Ersten Solisten und 2015 auch zum Kammertänzer ernannt wurde. Der Untertitel dieses Streifens lautet „Internationaler Ballett-Superstar“, was sich auf die ausgedehnte Gastspieltätigkeit des Tänzers bezieht, der seit Jahren regelmäßig in den größten Ballettzentren der Welt – Moskau, St. Petersburg, London, Paris, Tokyo – auftritt.

Als erster Ausschnitt wurde Béjarts Bolero gewählt – ein cavallo di battaglia für jeden Superstar der Ballettwelt. Bei einem Gastspiel beim Royal Swedish Ballet  Stockholm, zu dem ihn dessen neuer Ballettdirektor Nicolas Le Riche eingeladen hatte, zeigt er Marcia Haydées Dornröschen-Version. In Tokyo tanzt er mit Alicia Amatriain einen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame im Rahmen des World Ballet Festivals, bei dem er schon Dauergast ist. Auf Einladung von Polina Semionova tritt er beim Berliner Staatsballett in der Gala Polina and Friends auf und tanzt mit der Starballerina einen Pas de deux aus Kenneth MacMillans Manon. Ähnlich berühmt ist Olga Smirnova (die ihr Heimatland inzwischen verlassen hat), mit der Vogel am Bolshoi Ballett einen Pas de deux aus Crankos Onegin interpretiert. Als eine exzentrische Filmchoreografie ist die Arbeit Cadavre Exquis von Guillaume Côté vom Kanadischen Staatsballett Toronto zu sehen. Seit einigen Jahren posiert der Tänzer, ähnlich wie der italienische Star Roberto Bolle, auch für die Modebranche. Für Arbeiten seines Lebensgefährten in der Branche Tanzfotografie steht er Modell und hat mittlerweile sogar Kontakte zur Filmbranche geknüpft. Erhellend ist ein Gespräch mit dem Regisseur Volker Schlöndorff.

In vielen Posen, zum Teil verfremdet als grafische Puzzles oder als slow motion-Aufnahmen, wird die Schönheit seines Körpers herausgestellt, in vielen Figuren seine exquisite Technik. Befremdlich wirken die vielen Tanzszenen auf Straßen, Plätzen, Treppen und Dächern, an Seen und in Gärten sowie vor internationalen Sehenswürdigkeiten vom Eiffelturm bis zum Brandenburger Tor. Bernd Hoppe

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Aus dem Jahre 2012 stammt ein Schuber mit zwei DVDs aus dem Royal Opera House London, den OPUS ARTE jetzt neu aufgelegt hat. An Evening with The Royal Ballet and The Royal Opera ist die Ausgabe betitelt, dürfte also für Liebhaber beider Gattungen von Interesse sein (OA 1261 BD).

Die Ballett-DVD präsentiert Höhepunkte aus dem Repertoire des Royal Ballet, beginnend mit der Ballszene aus Prokofjevs Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan. Carlos Acosta und Tamara Rojo sind die Protagonisten, die später noch die Balkonszene aus dieser Produktion zeigen. Carlos Acosta brilliert, gemeinsam mit seiner Partnerin Leanne Benjamin, auch im Pas de deux Voices of Spring auf Musik von Johann Strauß II – ein virtuoses Glanzstück von Frederick Ashton, welches das Paar sprungstark und tempobetont absolviert.  Und der gefeierte Principal der Compagnie glänzt auch als Colas  in La Fille mal gardée im Pas de deux mit Marianela Nuñez und als Franz in Coppélia – beides Zeugnisse seiner enormen Vielseitigkeit. Nicht fehlen im Programm darf Alina Cojocaru – eine Assoluta, die noch heute aktiv ist und oft beim Hamburg Ballett auftritt. Hier ist sie in ihren Glanzrollen als Prinzessin Aurora mit dem fordernden Rosen-Adagio in The Sleeping Beauty und als ätherische Giselle mit Johan Kobburg als Albrecht im Pas de deux des 2. Aktes zu sehen – Beispiele von singulärer Tanzkunst. Eine gleichfalls bedeutende Ballerina war Darcey Bussell, die heute als charmanter und sachkundiger Host in TV-Übertragungen des Royal Ballet tätig ist. Sie zelebriert in aristokratischer Manier gemeinsam mit dem Startänzer Roberto Bolle einen Pas de deux aus Sylvia in der Choreografie von Frederick Ashton. Zwei Tschaikowsky-Klassiker in den Choreografien von Lev Ivanov bilden den Ausklang des Programms: der Pas de deux Zuckerfee/Prinz aus The Nutcracker mit Miyako Yoshida und Steven McRae sowie die Schluss-Szene aus Swan Lake mit Marianela Nuñez, Thiago Soares und Christopher Saunders. Beide Szenen demonstrieren eindrücklich das hohe Niveau des Ensembles mit seinen überragenden Solisten. Bernd Hoppe

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In der internationalen Tanzszene hat der Name Jean-Christophe Maillot einen ganz besonderen Klang, zählt seine Compagnie Les Ballets de Monte-Carlo, welche er seit 1993 leitet, doch weltweit zu den renommiertesten und innovativsten Ensembles. Jetzt legt die UNITEL EDITION seine Choreografie von Léo Delibes’ Ballett Coppelia auf Blu-ray Disc vor (808804). Die Aufzeichnung erfolgte 2022 im Grimaldi Forum – Salle des Princes von Monte-Carlo.

Das Stück basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und erlebte seine Weltpremiere 1870 in Paris in der Choreographie von Saint-Léon. Weitere bekannte Deutungen stammen von Marius Petipa, der seine Fassung   an mehreren Bühnen herausbrachte, Ninette De Valois (für das Royal Ballet London) und George Balanchine (für das NYC Ballet). Die Besonderheit von Maillots Version, betitelt Coppél-I.A., liegt in ihrer futuristischen Anlage. Coppelia ist bei ihm keine mechanische Puppe, sondern ein außerirdisches Weltraumwesen. Bertrand Maillot, der Bruder des Choreografen, arrangierte die Musik unter Verwendung synthetischer Klänge, was ihr einen zeitgenössischen Anstrich verlieh. Ausstatterin Aimée Moreni hat der Titelfigur ein Ganzkörpertrikot mit einzelnen Lederriemen und Metallelementen verordnet. Der Prologue zeigt ihre Geburt mit ihrem Schöpfer Coppélius, den Matèj Urban als Outlaw zeichnet. Seine Kleidung ist zerschlissen und trägt die Spuren des Straßenlebens. Dem von ihm erschaffenen Wesen ist er gänzlich verfallen, betet es in trancehafter Steigerung an und ist untröstlich über dessen mangelndes Interesse. Phänomenal setzt Lou Beyne die vom Choreografen erdachten abgehackten, zuckenden und schüttelnden Bewegungen für die künstliche Frau um. Das abstrakte Einheitsbühnenbild, von Maillot und Samuel Thery lediglich in unterschiedliche Lichtstimmungen getaucht, könnte die Linse eines Fotoapparates darstellen.

Die Eingangsszene des 1. Aktes spielt am Hochzeitstag von Swanilda und Franz, ganz in Weiß gekleidet, inmitten ihrer Freunde, die mit ungemein rasanten, temporeichen Tänzen aufwarten. Anna Blackwell und Simone Tribuna geben das junge Paar in jugendlich-vitaler Ausgelassenheit mit wirbelnden Drehungen und bravourösen Sprüngen. Coppélius führt sein Geschöpf in spektakulärer Glitzerrobe und Strahlenkranz beim Fest ein, womit er Franz’ reges Interesse an der schönen Unbekannten erweckt. Er wird später Coppélius bis in dessen Werkstatt folgen und seine Hochzeit mit Swanilda absagen, so sehr ist er Coppél-I.A. verfallen. In der Werkstatt finden sich mehrere Androiden, die von Coppélius’ gescheiterten Versuchen, eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, künden. Swanilda erscheint mit ihren Freunden in der Werkstatt und tauscht ihr Kleid gegen das von Coppél-I.A. aus. In dieser Verkleidung täuscht sie nicht nur Coppélius, der ein furioses Solo hat, welches dem des Rotbart in Schwanensee nicht nachsteht, sondern auch Franz. Am Ende aber ist zwischen den jungen Leuten alles wieder im Lot und es wird doch geheiratet. Bernd Hoppe

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NAXOS setzt seine verdienstvolle Reihe mit Ballettmusiken fort. Neu erschienen ist eine Platte mit dem Titel Dances and Ballet Music von Camille Saint-Saëns (8.574463), die Jun Märkl mit dem Residentie Orkest The Hague im März/April 2022 im niederländischen Den Haag aufgenommen hat.  Eine Naxos-CD vereint eine Sammlung von Gelegenheitsarbeiten des Komponisten Saint-Saens und zwei Ausschnitten aus seinem Hauptwerk Samson et Dalila. Das Programm eröffnet das sechsteilige Ballett des 3. Aktes aus Ètienne Marcel. Die 1879 in Lyon uraufgeführte Oper (als vierte von insgesamt 13) war ein Versuch, die französische Grand opéra wieder zu beleben. Einer lebhaften Introduktion schließt sich die wiegende Musette guerrière an, der eine sanfte Pavane folgt. Eine elegante Valse und der rhythmisch betonte Entrée des  Bohémiens et Bohémiennes beschließen die Suite. Schon hier zeigt sich die Vielfalt der Musik, welcher Dirigent und Orchester mit großem Einfühlungsvermögen und einem an Esprit reichen Spiel gerecht werden.

Auch der 1883 an der Pariser Opéra erstmals gezeigte Henry VIII diente zur Etablierung des Genres der Grand opéra. Daraus gibt es mehrere Ausschnitte – zum einen aus dem 2. bis 4. Akt in origineller melodischer Erfindung und sehr reizvoller Instrumentierung und danach das Divertissement „Fete populaire“. Abwechslungsreiche Szenen, wie eine Idylle écossaise, die Fête du houblon, eine Danse de la gipsy und eine irische Gigue garantieren ein hohes Maß an Unterhaltung. Zwischen diesen beiden Abschnitten gibt es mit den vier Airs de ballet aus Parysatis eine veritable Rarität. Mit ihren kontrastierenden Tempo-Bezeichnungen bieten sie dem Orchester Gelegenheit für ein an Farben und Stimmungen vielfältiges Spiel.

Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt der Anthologie sind die zwei Szenen aus der 1877 uraufgeführten Oper Samson et Dalila – die Danse des prêtresses de Dagon und der Bacchanale. Letzterer zählt zu den unvergänglichen Hits des Komponisten und wird hier mit opulenter Klangpracht und orientalischer Sinnlichkeit geboten.

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Schon im August 2018 entstand für NAXOS in Malmö die Aufnahme des 3. Aktes von Camille Saint-Saëns’ Ascanio, ergänzt um Ouvertures und Vorspiele. Hier spielt, wieder unter Leitung von Jun Märkl, das Malmö Symphony Orchestra (8.574033).

Ascanio wurde 1890 in der Pariser Opéra uraufgeführt, dann noch einmal 1921 am selben Ort anlässlich des Todes seines Schöpfers gezeigt und ist seither der Vergessenheit anheim gefallen. Im 3. Akt der Oper entfaltet sich ein großes Divertissement in den Gärten von Fontainebleau, welches der Komponist Reynaldo Hahn als „Triumph von Geschmack und Eleganz“ pries. Die elf Teile bedienen mythologische Themen. Unter den Göttern und Göttinnen finden sich Venus, Juno und Pallas Athene. Den Auftritt der Diana begleiten Dryaden und Najaden. Bacchus ist umgeben von Bacchanten. Nicht fehlen dürfen Amor und Psyche, dem Liebesgott ist sogar eine eigene Variation gewidmet, deren flirrende Bläser-Töne eine reizvolle Stimmung einbringen. Am Ende des Programms gibt es dieses Stück sogar in einer Alternativ-Version.

Pompös entfaltet sich zu Beginn „L’Entrée du Maître des Jeux“, während die folgende Danse ancienne mit Vénus, Junon und Pallas einen heiter beschwingten Duktus hat. Auch die Gavotte mit Diane ist spielerisch. Das Bacchanale beginnt in stampfendem Rhythmus und geht dann in einen wilden orientalischen Taumel über. In seiner Ekstase ähnelt es dem berühmten Tanz aus dem Samson. Einen lyrischen Kontrast bringt das träumerische „L’Amour fait apparaître Psyché“ ein. Das schwelgerische Finale ist ein beschwingter Kehraus. Mit feinen Valeurs und einer reichen Palette von Stimmungen malt das Orchester die unterschiedlichen Sätze eindrucksvoll aus.

Die Ouvertures aus verschiedenen Werken (Les Barbares, La Jota aragonese, Andromaque, La Princesse jaune) bieten neben ihren klanglichen Idiomen auch Gelegenheit, Bekanntschaft mit unbekannten französischen Werken zu machen. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: The Dante Project aus London. OPUS ARTE erweitert ihre bedeutende Reihe von Produktionen des Royal Ballet London um das neue Stück des Resident Choreographer Wayne McGregor. Es trägt den Titel The Dante Project und entstand im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Uraufführung im Oktober 2021 in einer Koproduktion mit dem Ballett der Pariser Oper erschien nun als Blue-ray Disc (OABD7278D).

Die Bedeutsamkeit des Werkes resultiert auch aus dem Beitrag des Komponisten Thomas Adès, der dafür eine spannungsreiche, vielfältige Musik schuf. Sie tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch und französisch inspiriertem Esprit. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean, die vorwiegend abstrakt arbeitet, lieferte für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer zeigt. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Lichtstimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die einzelnen Szenen sind sogar schwierig zu dechiffrieren und den einzelnen Kapiteln der Divina Commèdia zuzuordnen. Wie aber Musik und Tanz eine Einheit bilden und sich einander bedingen, ist von enormer Faszination. Die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der seit 27 Jahren der Company angehört und schon lange mit dem Choreografen zusammen arbeitet. Als Principal hat er den Mayerling von Kenneth MacMillan und den Leontes in Christopher Wheeldons The Winter’s Tale getanzt. Die Rolle des Dante betrachtet er als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere und gleichzeitig als Abschluss seines Wirkens beim Royal Ballet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt der junge Marcelino Sambé, ein neuer Star des Ensembles, als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Bemerkenswert ist, dass viele Mitglieder der Gruppe neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen haben und dabei glänzende Figur machen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Sie gehört zu den führenden Mitgliedern der Company. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sah man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Hommage bei Unitel: 2023 jährt sich John Crankos Todestag zum 50. Mal. Der in Südafrika geborene Choreograf wurde 1961 zum Stuttgarter Ballettdirektor berufen und führte die Compagnie in kürzester Zeit zur Weltspitze. Der Durchbruch gelang 1962 mit Romeo und Julia – von Unitel in einer Aufführung von 2017 veröffentlicht und auch auf diesen Seiten besprochen. Danach folgten weitere große Handlungsballette, wie Onegin (den Unitel unlängst in einer Aufführung ebenfalls von 2017 herausbrachte und der gleichfalls hier rezensiert wurde) sowie Der Widerspenstigen Zähmung. Jetzt erscheint die Ballettkomödie nach Shakespeares berühmten Stück unter dem Originaltitel The Taming of the Shrew als Blu-ray Disc (808204) bei derselben Firma. Die Aufführungen für die Veröffentlichung wurden im Mai 2022 in Stuttgart aufgezeichnet. Sie ist für alle Ballettfreunde, insbesondere Cranko-Verehrer, eine willkommene Bereicherung des auf Bilddokumenten verfügbaren Oeuvres des Choreografen. Denn bislang existierte nur ein Fernsehmitschnitt von 1971 (in bescheidener technischer Qualität) mit der legendären Besetzung der Uraufführung – Marcia Haydée als Katherina, Richard Cragun als Petruchio und Birgit Keil als Bianca.

Jetzt nehmen aktuelle Stars des Ensembles diese Rollen wahr. Elisa Badenes, die schon als empfindsame Julia bezaubert hatte, zeigt nun als Katherina eine ganz andere Facette ihrer Persönlichkeit. Fulminant ihr Auftritt, wenn sie wie ein Wirbelwind aggressiv, furios in den Pirouetten und Sprüngen, hereinstampft. Auch ihre erste Begegnung mit Petruchio geht klar zu ihren Gunsten aus. Für den Petruchio hätte es keine bessere Besetzung geben können als Jason Reilly, der nach seinem noblen Gremin im Onegin nun gleichfalls einen vollkommen konträren Charakter zu porträtieren hat. In einer Taverne imponiert er bei seinem Entrée mit übermütig prahlerischem Macho-Gehabe, natürlich garniert mit bravouröser Technik. Der erste Pas de deux mit Katherina, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, ist geradezu eine Kampfszene zwischen beiden. Leise Momente der Annäherung unterbricht sie stets mit spöttischen Reaktionen und höhnischer Verachtung. Vor der Heirat hat er ein Solo als betrunkener Bräutigam, wo er gleichermaßen als Komödiant wie als virtuoser Ballerino gefordert ist.

Katherinas liebenswerte Schwester Bianca, die von dem Gecken Hortensio (skurril: Fabio Adoriso), dem Studenten Lucentio (jungmännlich-verliebt, doch leicht effeminiert: Martì Fernández Paixà) und dem alten Gremio (urkomisch: Alessandro Giaquinto) angebetet  wird, ist in der Verkörperung von Veronika Verterich ein anmutiges Geschöpf – zierlich, leichtfüßig und bezaubernd. Köstlich ist das Aufeinandertreffen mit ihrer Schwester, wenn Katherina wie eine Furie hereinstürmt und ihr eine Blume entwendet.

Das Corps de ballet kann vor allem in der turbulenten Hochzeitsszene am Ende des 1. Aktes sowie in den belebten Karnevalsbildern und bei Biancas Hochzeit im 2. Akt brillieren. Dieser beginnt mit der Reise des jung vermählten Paares in Petruchios Haus, wo er Katherina durch seine Diener ärgern und sie zudem hungern und frieren lässt. Hier sieht man den zweiten Pas de deux des Paares, nun in schon stärkerer Zuwendung, denn sie überzeugt sich mittlerweile von seinem liebenswerten Naturell. Schwierige Hebe- und Schleuderfiguren belegen den Ausnahmestatus des Balletts, das in seinen technischen Anforderungen sogar noch den Onegin übertrifft. Katherina und Petruchio haben sogar noch einen Pas de deux mehr zu zeigen als Tatjana und Onegin, der bei Biancas Hochzeit platziert und nicht weniger anspruchsvoll ist. Im mitreißenden Finale hat jeder der beiden Protagonisten noch ein bravouröses Solo zu absolvieren, denen die Jubelstürme des Publikums folgen.

Die Ausstattung von Elisabeth Dalton in rostroter Renaissance-Architektur mit einer Empore (was an Crankos Romeo erinnert) ist werkdienlich und elegant. Die Kostüme sind bis auf die des Protagonistenpaares nahe der Karikatur, charakterisieren die Personen aber liebevoll und mit Witz.

Die Musik von Kurt-Heinz Stolze, der Sonaten für Cembalo von Domenico Scarlatti arrangiert hatte, ist bei Wolfgang Heinz am Pult des Württembergischen Staatsorchesters in den besten Händen. Denn unter seiner Leitung hat sie Esprit, Dynamik und Tempo. Der Dirigent scheut weder harsche Akkorde noch das Gefühl, was wichtig ist für die Tanzduette zwischen Katherina und Petruchio.

Der Bonus hält eine Konversation zwischen den Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Dietrich und Reid Anderson sowie dem Stellvertretenden Musikdirektor Wolfgang Heinz über dieses Ballett fest – seine Entstehung im Probensaal, die Anforderungen an die Protagonisten, die triumphale Aufnahme beim Publikum (in Stuttgart und beim Gastspiel in New York). Per Video wird Marcia Haydée aus Berlin eingespielt, die gerade mit dem Staatsballett ihr Dornröschen einstudiert und nun lebhaft über die Kreation ihrer Katherina berichtet.

Mit dieser Veröffentlichung, mit der nun die drei großen Handlungsballette von John Cranko auf DVD vorliegen, hat Unitel (in Kooperation mit arte, dem SWR und NHK) eine Großtat vollbracht. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Muntagirov at his best. Von Zeit zu Zeit würdigt OPUS ARTE herausragende Tänzer mit der Veröffentlichung eines Schubers von mehreren DVDs. Jüngstes Beispiel ist Vadim Muntagirov, Principal Dancer beim Royal Ballet London seit 2014, wo er viele der klassischen Ballerino-Rollen interpretiert hat und dabei Partner der gefeierten Startänzerinnen der Compagnie war. Mit zahlreichen Preisen geehrt, auch dem prestigereichen Benois de la Danse, ist der Russe eine Ausnahmeerscheinung in der aktuellen Tanzwelt, vor allem wegen seiner exzellenten Technik, die derzeit kaum Vergleiche hat.

Der Schuber „ The Art of Vadim Muntagirov“ mit vier DVDs (OA13598D) hält vier Auftritte des Tänzers zwischen 2016 und 19 fest, beginnend mit dem Albrecht in Adolphe Adams Giselle in der Choreographie von Marius Petipa/Jean Coralli/Jules Perrot. Die Produktion ist ein Juwel im Repertoire des Royal Ballet London. Peter Wrights Produktion (mit eigenen Zusätzen) wurde nach ihrer Erstaufführung 1985 bereits mehrfach auf DVD veröffentlicht. Die erste Ausgabe stammt aus dem Jahre 2006, in der Marianela Nuñez noch die Myrtha tanzte – in der Wiederaufnahme am 5. April 2016 wurde ihr nun die Titelpartie  anvertraut. Die argentinische Ausnahmetänzerin präsentiert sich damit in einer weiteren Paraderolle. Im Auftritt lebhaft und kokett, bravourös auf Spitze in der Diagonalen und in den wirbelnden Pirouetten, zeigt sich bei Giselles Erkennen von Albrechts Betrug und in der Wahnsinnsszene die erfahrene Tänzerin mit ihrer mimischen und gestischen Ausdruckskraft. Mirakulös das Erwachen im nächtlichen Waldbild, die wie in slow motion zelebrierten Figuren, die fliehenden Arabesquen, die überirdische Schwerelosigkeit. Vadim Muntagirov fehlt vielleicht die aristokratische Aura für den Herzog, aber tänzerisch ist er erstklassig mit stupenden battements und weiten grand jetés. Im 2. Akt gewinnt er in seinem Schmerz an romantischer Aura und ist tänzerisch wiederum über jede Kritik erhaben.

Als Myrtha sieht man die strenge, in ihrer Eiseskälte geradezu erstarrte Itziar Mendizabel, Bennet Gartside als männlich-reifen Hilarion sowie die beiden ätherischen Solo-Wilis Olivia Cowley und Beatriz Stix-Brunell. John MacFarlanes stimmige Ausstattung mit ihren wunderbaren Sepia- und Rosttönen sowie den aquarellierten Prospekten ist eine Augenweide. Barry Wordsworth dirigiert das Orchestra of the Royal Opera House und verhilft der Aufführung auch musikalisch zum Erfolg.

Ein Jahr später, am 28. 2. 2017, zeichnete OPUS ARTE eine Aufführung von Tschaikowskys The Sleeping Beauty auf. Die Choreografie von Marius Petipa mit Zusätzen von Frederick Ashton, Anthony Dowell und Christopher Wheeldon hatte 2006 ihre Premiere, auch nach mehr als zehn Jahren hat sie nichts von ihrem Zauber eingebüßt, was auch ein Verdienst von Oliver Messels atmosphärischer Ausstattung (mit Ergänzungen von Peter Farmer) ist.

Wieder ist das Traumpaar aus Giselle in den zentralen Rollen zu erleben. Marianela Nuñez ist eine bezaubernde Aurora, von jugendlicher Anmut und Eleganz. Die schwierigen Balancen im Rosen-Adagio meistert sie souverän, ebenso die anspruchsvollen Variationen. Mit Vadim Muntagirov als Prinz Florimund, der einen bestechenden Auftritt bei seinem Solo im Jagdbild hat, führt sie den Grand pas de deux im Hochzeitsbild in aristokratischer Manier zum Höhepunkt der Aufführung. Zum Tanzfest beim Divertissement im letzten Akt tragen vor allem Akane Takade als Princess Florine und Alexander Campbell als The Bluebird bei. Mit der festlichen  Apothéose beendet Koen Kessels mit dem Orchestra of the Royal Opera House eine glanzvolle Aufführung.

Kenneth MacMillans Manon zählt zu den wichtigsten im 20. Jahrhundert geschaffenen Handlungsballetten. Die Uraufführung fand 1974 beim Royal Ballet London statt. Von dieser Inszenierung in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis existieren bereits zwei Aufführungen auf DVD – 2018 kam eine weitere Aufzeichnung, was den Stellenwert dieses Werkes beim Royal Ballet unterstreicht. Sie erfolgte vor allem deshalb, um Vadim Muntagirovs Interpretation des Des Grieux festzuhalten. Seine Manon ist die junge Sarah Lamb, der man die mondäne Kurtiane weniger zutraut, eher das jugendliche Mädchen, das ins Kloster geschickt wird. Und sie ist in der Tat bezaubernd und anmutig in ihrem ersten Auftritt, schwebend leicht im Tanz mit ihrem Bruder Lescaut (viril: Ryoichi Hirano) und entzückend in der Begegnung mit Des Grieux. Muntagirov beginnt mit einem anspruchsvollen Solo von fließender Eleganz und dann folgt der erste von den vier großen Pas de deux der Choreografie, die deren singuläre Bedeutung ausmachen. Lamb und Muntagirov sind ein ideales Paar – jede Figur, ob Drehung oder Hebung, funktioniert perfekt. Die Vollkommenheit im Zusammenspiel ist besonders wichtig beim zweiten Tanzduo, dem Bedroom’ pas de deux, im Liebesnest des Paares, wo sie ihm die Schreibfeder aus der Hand nimmt und zu einem verführerischern Tanz animiert, der in seiner Sinnlichkeit ohne Vergleich ist. Beim Erscheinen auf der Abendgesellschaft in Madames Hotel particulier überrascht Lamb mit einer mondänen Aura, die man von ihr nicht erwartet hätte. Ihr Solo ist aufreizend und ganz für Des Grieux bestimmt. Muntagirov zeichnet ihn, der Manon nach der Trennung erstmals wieder sieht, verzweifelt und sehnsuchtsvoll. Sein Solo, in dem er Manon um Rückkehr zu ihm  bittet, ist ein existentieller Hilfeschrei – technisch in Vollendung ausgeführt. Wieder vereint in der Wohnung von Des Grieux, findet sich das Paar in einem innigen Pas de deux, der beider neu erwachte Liebe anschaulich zeigt. Aber kokett weist sie auf ihre Juwelen – ihr gespaltenes Ich zwischen Glück und Reichtum führt in die Katastrophe. Deportiert in die Sümpfe von Louisiana, hat Manon vor ihrem Tod einen letzten Pas de deux mit ihrem Geliebten, der zu den anspruchsvollsten der gesamten Ballettliteratur zählt. In seinem geradezu artistischen physischen Anspruch mit spektakulären Hebungen und Würfen sowie der existentiellen Ausdrucksdimension hat er kaum einen Vergleich. Lamb und Muntagirov krönen ihre Interpretation mit diesem Atem beraubenden Finale. Der russische Tänzer findet hier zu einer ungeahnten Dramatik und Leidenschaft.

Das Parfum von Massenets Musik lässt Martin Yates, der die Musik auch arrangierte, mit dem Orchestra of the Royal Opera House gebührend duften und schwelgerisch aufrauschen, was die Aufführung auch zu einem sinnlichen Hörerlebnis macht.

Jüngstes Zeugnis ist Léo Delibes’ Coppélia – ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Alina Cojocaru and Vadim Muntagirov in the roles of Medora and Conrad of Le Corsaire produced by the English National Ballet/ Wikipedia

In neuer Besetzung kehrte die Produktion 2019 ins Repertoire zurück und bezog ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei Principals:  Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der Mitschnitt gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel. Der russische Tänzer gibt mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Musik mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung. Bernd Hoppe

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Eine Besonderheit für Ballettomanen. BelAir hat eine (sehr) besondere Blu-ray Disc herausgebracht mit dem Titel Opéra de Paris – une saison (très) particulière (BAC496). Der Film von Priscilla Pizzato beschreibt die Rückkehr der Tänzerinnen und Tänzer in die Probensäle und auf die Bühnen des Palais Garnier und der Opéra Bastille nach monatelanger Abwesenheit im Pandemie-Jahr 2020. Geprobt wird Rudolf Nurejews legendäre Choreografie von La Bayadère von 1992, mit der die Compagnie ihr Comeback feiern will. Gefordert für diese Produktion sind nicht weniger als 90 Tänzer.

Wie alle Theater in Frankreich mussten auch die Opernhäuser in Paris im März 2020 ihre Pforten schließen. Nach einer Proben- und Aufführungspause von drei Monaten konnte das Ballettensemble am 15. Juni in den berühmten Probensaal unter der Coupole (Kuppel) der Opéra Garnier zurückkehren – niemals in seiner traditionsreichen  Geschichte hatte es eine derart lang Pause überstehen müssen. Unter Anleitung mehrerer Ballettmeister und der Directrice de la Danse Aurélie Dupont beginnen die Tänzer mit den Aufwärmübungen (préparations) und dem Technik-Training.

Zu sehen sind der Premier Danseur Paul Marque, die Danseuse Ètoile Amandine Albisson, der Danseur Ètoile Mathieu Ganio und der Danseur Ètoile Germain Louvet, die über die besonderen Herausforderungen der langen Probenpause und die Schwierigkeiten des Wiederbeginns berichten. Am 15. Oktober konnten die Proben für die Wiederaufnahme der Bayadère beginnen. Vor allem der 3. Akt mit dem Schattenreich („Les Ombres“) ist für das Corps de Ballet eine enorme Anforderung, da 32 Tänzerinnen mit unzähligen Arabesquen scheinbar zu einer einzigen Figur verschmelzen müssen. Danach begann die Probenarbeit mit den Solisten: Der Danseur Ètoile Hugo Marchand versucht sich mit Erfolg an der extrem schwierigen Variation des Solor im Schattenreich, Amandine Albisson probt die Nikiya und deren Solo vor dem Biss der Schlange. Am 19. November fand die erste Probe mit dem gesamten Ensemble statt. Hier ist die Danseuse Ètoile Dorothée Gilbert als Nikiya zu sehen, Paul Marque gibt das Goldene Idol. Am 27. November begannen die Proben auf der Bühne der Opéra Bastille. Hier kommen Marchand und die Danseuse Ètoile Ludmila Pagliero zum Einsatz. Am 4. Dezember findet die Generalprobe in Kostümen und mit Orchester statt. Der Danseur Ètoile Mathias Heymann spricht über die psychische Belastung dieses Abends, aber auch die Vorfreude auf die Premiere mit einem gefüllten Saal und dem Applaus des Publikums. Am 11. Dezember, vier Tage vor dem mit Spannung erwarteten Ereignis, erfahren die Tänzer, dass die Theater in Frankreich nicht öffnen dürfen und alle Vorstellungen annulliert sind. Die Aufführung findet ohne Zuschauer statt und wird live übertragen mit einer unterschiedlichen Besetzung der Danseurs Ètoiles pro Akt. Einer davon, Francesco Mura, macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung.

Die Aufführung ohne Publikum hat am Ende noch einen bewegenden Moment, denn Aurélie Dupont ernennt Paul Marque nach seiner Interpretation des Goldenen Idols zum Danseur Ètoile – stets ein Höhepunkt in der Karriere eines Tänzers. Am 10. Juni 2021, nach einer Schließzeit von 18 Monaten, öffnet die Opéra Bastille erneut ihre Pforten – und diesmal mit Publikum für die Wiederaufnahme von Rudolf Nurejews Roméo et Juiette. Hier tanzt Marque den Roméo und damit seine erste Hauptrolle als neuer Etoile. Und am Ende der Vorstellung wiederholt sich der feierliche Moment einer Ernennung zum Star, denn Aurélie Dupont macht die Juliette des Abends, Sae Eun Park, zur neuen Danseuse Ètoile.

Ein Bonus der Ausgabe bringt ein Interview mit Aurélie Dupont sowie Ausschnitte von den Proben zur Bayadère mit Hugo Marchand, Amandine Albisson, Mathias Heymann und der Ballettmeisterin Clotilde Vayer. Bernd Hoppe

Hoch die Becher

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Il Bel Canto Ritrovato Festival im Teatro Sperimentale, Pesaro 2023: Luigi Riccis komische Oper Il birraio di Preston (Der Bierbrauer von Preston). 1997 veröffentlichte Andrea Camilleri, der sizilianische Schriftsteller und Autor der äußerst beliebten Krimireihe um Inspektor Montalbano, einen Roman mit dem Titel Il birraio di Preston, in dessen Mittelpunkt ein Ereignis in Camilleris fiktivem Vigàta in den 1870er Jahren nach der Einigung Italiens steht. Die Bevölkerung ist verärgert, weil die neue nationale Regierung einen Präfekten, Eugenio Bortuzzi, einen Florentiner, in die Stadt entsandt hat. Bortuzzi hat ein neues Opernhaus errichten lassen und zur Einweihung eine Oper, Il birraio di Preston von Luigi Ricci, ausgewählt, die 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Die konservative Bevölkerung ist wütend darüber, dass ein „Ausländer“, ein Florentiner, den Sizilianern florentinische Musik aufzwingt, buht die Darsteller aus und brennt das Haus während der Aufführung nieder. Der Vorfall ereignete sich tatsächlich in der sizilianischen Stadt Caltanisetta und bildet den Dreh- und Angelpunkt von Camilleris faszinierendem, komisch-sardonischem Roman.

Dabei erfahren wir viel über die Oper im Italien der 1870er Jahre, einschließlich der Kontroverse zwischen Wagners Musik und der einheimischen italienischen Oper. Luigi Riccis Oper wird zum Symbol für alles, was die Sizilianer an der neuen nationalen Regierung, die sich ihren Traditionen aufzwingt, nicht mochten. Die Tatsache, dass der Roman Riccis Titel aufgreift, scheint Teil der Ironie zu sein, die in Camilleri allgegenwärtig ist, da es in dem Roman nicht wirklich um Il birraio di Preston geht, sondern um die sizilianische Haltung und den Unmut gegenüber einer fernen, zentralisierten Regierung. Es gibt keinen Grund, warum die Sizilianer Riccis Oper verschmähen sollten, auch wenn sie in Florenz uraufgeführt wurde, denn Luigi Ricci war wie sein Bruder Federico ein gebürtiger Neapolitaner, der aus demselben Königreich der beiden Sizilien stammte, das über den größten Teil Süditaliens, einschließlich Siziliens, geherrscht hatte, und Riccis Musik strotzt nur so vor neapolitanischen Melodien.

Bis zum Sommer 2023 schien es, als ob wir Opernliebhaber nie erfahren würden, ob Luigi Riccis Oper so „mittelmäßig“ war, wie die Beschreibung auf dem Romanumschlag behauptet. Obwohl die Brüder Ricci einzeln und zusammen etwa sechzig Opern geschrieben haben und viele von ihnen einst sehr populär waren, ist es heute schwierig, eine Aufführung zu finden. Es war also ein echter Glücksfall, dass das neue nationale Festival Il Bel Canto Ritrovato beschloss, Il birraio di Preston bei seiner zweiten Auflage im August 2023 in Pesaro und Umgebung aufzuführen. War es „mittelmäßig“? Nun, die Handlung war ein wenig abgenutzt, aber die Oper strotzte nur so vor wunderbaren Melodien, lebhaften Rhythmen und geschickter Orchestrierung. Es handelt sich nicht um eine komplexe und „ernste“ Komödie wie Verdis Falstaff oder sogar Camilleris Roman, aber es war ein durch und durch vergnüglicher Abend mit viel Spaß und der Entdeckung wertvoller verlorener Werke, die das Festival verspricht.

Die Handlung von Il birraio di Preston (die Oper) dreht sich um eineiige Zwillinge und die Verwirrung, die entsteht, als sie miteinander verwechselt werden.  Das Libretto von Francesco Guidi, das auf der Oper Le brasseur de Preston von Adolphe Adam aus dem Jahr 1838 basiert, ist ziemlich vorhersehbar, aber unterhaltsam, mit cleveren Situationen für komische Duette, Trios und Ensembles – und sogar einigen Arien.

Eine Verwechslungskomödie mit eineiigen Zwillingen muss für Luigi Ricci, der den größten Teil seiner zwanzig Jahre mit Zwillingsschwestern zusammenlebte, besonders bedeutsam gewesen sein. Ricci lernte die siebzehnjährigen Stolz-Schwestern Franziska und Ludmilla kennen, als sie seine Gesangsschülerinnen waren. Sie lebten offen in Triest zusammen, bis ein Skandal Ricci dazu zwang, eine Stelle in Odessa anzunehmen, um dort die italienische Oper zu verwalten. Die Schwestern kamen mit, und Ricci schrieb eine Oper (La solitaria delle Asturie) für sie. Zurück in Triest heiratete Luigi Ludmila, trennte sich aber nicht von Franziska, die er Fanny nannte. Um einen Skandal zu vermeiden, zogen sie in ein Haus, das jede Schwester zur Hälfte bewohnte. Aber laut dem scharfsinnigen Chronisten der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, Bellinis Freund Francisco Florimo, ließ Luigi hinter einem Schrank eine Geheimtür einbauen, die es ihnen – und ihm – ermöglichte, sich problemlos hin und her zu bewegen. Es funktionierte, bis eines Tages eine Primadonna mit ihrem Mann Luigi besuchte. Fanny, die eine unbekannte Frauenstimme hörte, brach in einem Anfall von Eifersucht durch den Schrank und schockierte damit alle. Ludmilla schenkte Luigi bald eine Tochter namens Adelaide, die Sängerin wurde, und ein Jahr später schenkte Fanny ihm einen Sohn, Luigino, der wie sein Vater Komponist wurde.

Opernliebhaber wissen heute vielleicht nicht viel über die Brüder Ricci, aber sie kennen wahrscheinlich die berühmte Tarantella aus Luigis La festa di Piedigrotta, auch wenn sie nicht wissen, dass sie aus einer Ricci-Oper stammt. Diese allgegenwärtige Melodie, die so sehr ein Synonym für italienische (und insbesondere neapolitanische) Musik ist, ist typisch für Luigis Fähigkeit, Musik mit Ohrwurmcharakter zu kreieren. Die Musik von Il birraio ist in diesem Sinne – unermüdlich melodisch, eine Kaskade italienischer Melodien. Im 1. Akt sticht Effys Eingangsarie „La vecchia Magge“ hervor. Die alte Maggie hat der hübschen jungen Effy beigebracht, wie man sich Männern nähert und einen Ehemann findet. Letzteres ist ihr nicht besonders gut gelungen, bis Daniele auftauchte, aber er ist reich, hat einen guten Job und ein gutes Herz, auch wenn er ein bisschen langweilig ist. Die beste Musik gibt es im 2. Akt, mit einer eingängigen Cavatina für Oliviero, einen Tenor, komplett mit ausgelassener Cabaletta („Al furor d’un cor ardente“); Tobias ungewöhnliche Brindisi, „Era Tom un dragone valente“, über einen Soldaten, der „wisky“ für Bier aufgibt; das wunderbare Trio („Or conviene d’un soldato“) zwischen Daniele, Tobia und Effy, als sie beide Daniele „lehren“, wie man ein richtiger Soldat ist; und ein grandioses Finale mit einem wunderbaren, langen pezzo concertato, „Per secondar l’intrepido“, das zahlreiche melodische Themen durchläuft, eines besser als das andere. Ich für meinen Teil wollte nicht, dass es aufhört. Im 3. Akt gibt es auch einen „pezzo concertato“ und ein komisches Duett („La vederemo…la vedremo“), in dem Effy und Anna sich gegenseitig als potenzielle Bräute von Daniele/Giorgio einschätzen, die sie für ein und dieselbe Person halten. Effy hat am Ende eine große Arie in halb-ernster Manier („Deh! ch’ei non sia la vittima“), gefolgt von ihrer köstlichen Walzer-Final-Cabaletta.  Mit anderen Worten: Jede Nummer ist ein Genuss.

Donizettis wohlwollender Geist schwebt über der Partitur von Ricci, insbesondere über dem Donizetti von La fille du règiment (1840) und vielleicht Betly (1836). La fille du règiment ist das Paradebeispiel für die in den Opern dieser Zeit vorherrschende Mode, dass eine Frau in einem Soldatenkostüm zu martialischer Musik herummarschiert. Effy, die mutiger ist als der schüchterne Daniele, zieht sich einen Soldatenmantel über ihr Kleid, und im zweiten Akt bringt Tobia ihr bei, wie man marschiert, ein Schwert hält und auch sonst „soldatisch“ auftritt – und sie bringt es Daniele bei, und das alles im köstlichen Trio „In un momento“, das mit „Rataplans“ gespickt ist, wie sie Marie in La fille du règiment singt. Verdi benutzte die Trope noch 1862 in La forza del destino, als Preziosilla zwei martialische Stücke mit ihren eigenen „rataplans“ hat.

Die komisch-martialische Atmosphäre der Geschichte verleiht der Trompete neben dem Schlagzeug eine herausragende Rolle in der Orchestrierung. Es gibt zwei Trompetenstimmen, und die Trompeter sind fast immer im Einsatz, um Melodien zu unterstreichen, einen kleinen Kontrapunkt zu setzen oder Trompetenrufe auszuführen. Im Gegensatz zu früheren Opern von Rossini und Donizetti gibt es keine klangvollen obligaten Stimmen für Flöte, Klarinette oder Oboe, die dem Sänger Gegenmelodien bieten. Nicht einmal ein Waldhorn. All dies verleiht der Orchestrierung eine bandartige Qualität und macht die Partitur zu einer Art Brücke zwischen komischer Oper und Operette. Der Sprung von Ricci zu von Suppé oder gar Johann Strauss ist nicht groß.

Luigi und Federico Ricci setzten den von Donizetti begonnenen Trend fort, der Opera buffa wie Nemorinos „Una furtiva lagrima“ ein sentimentales Element zu verleihen. Wie Will Crutchfield feststellte, hielt der Walzer nach etwa 1845 als wichtiges Element Einzug in die italienische Oper, und die Brüder Ricci nutzten diesen neuen Tanz mit Sicherheit aus.  Il birraio di Preston (1847) enthält mehrere Walzer, darunter die Schlussarie. Obwohl er in Wien als Tanz erfunden wurde, hielt der Walzer laut Crutchfield erstmals in italienischen Werken der Jahrhundertmitte Einzug in die Oper, bevor er die Alpen wieder überquerte und zum dominierenden Element der Wiener Operette wurde.

Il Bel Canto Ritrovato findet unter den Sängern der mit dem ROF verbundenen Rossini-Akademie eine hervorragende junge Besetzung.  Inés Lorans als Effy zeigt leichte Koloraturen, ein angenehmes Sopran-Timbre, und sie agiert mit perfektem komischen Timing. Gianni Giuga als Daniele wirkt angemessen schüchtern und rollengerecht ein wenig dümmlich, aber seine Bassstimme ist groß und ansprechend. Der Bariton Francesco Samuel Venturi singt den Tobia, und er sticht in verschiedenen Ensemblenummern hervor. Der Tenor Antonio Garés ist der empörte Sir Oliviero Jenkins. Er bekommt eine formale Arie mit Cabaletta zu Beginn des 2. Aktes („Anna si stempra in lacrime“), wo er etwas gestresst wirkt und Probleme mit den hohen Tönen hat, aber für den Rest der Oper beruhigt er sich und singt gut in einem Duett mit Daniele und in Ensembles. Aloisa Aisemberg ist ein keckes Fräulein Anna – eine gute Komödiantin mit einer schönen Stimme. Alessandro Abis, Nicola Di Filippo und Simone Nicoletto runden die Besetzung ab. Daniele Agiman dirigiert das Orchestra Sinfonica G. Rossini und den Chor des Teatro della Fortuna mit Schwung und Verve und scheinbarer Liebe zur Musik. (…) Charles Jernigan/ Übersetzung DeepL/Red. G. H.

Die Ausstattung bei Bongiovanni (GB 2611/12 – 2)  enthält wie stets ein schönes Booklet mit einem Artikel Claudio Toscani und das Libretto in Italienisch und Englisch, dazu ein Grußwort vom Intendanten des „Belcanto ritrovato“, Rudolf Colm. G. H.

Verismo-Szenen

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Die 2023 von der San Francisco Classical Recording Company produzierte und jetzt veröffentlichte CD enthält unter dem Titel SAIOA – IL VERISMO D‘ORO eher unbekannte Arien und Szenen des Verismo, interpretiert von Saioa Hernández. Unterstützt wird sie dabei in wenigen Stücken von Mercedes Arcuri (Sopran) und Francesco Pio Galasso (Tenor) sowie vom Coro de la Comunidad de Madrid, einstudiert von Josep Vila I Casanas. Das Orquesta Titular del Teatro Real unter Leitung von Carlo Montanaro gibt sicheren musikalischen Halt. Die spanische Sopranistin Saioa Hernández hat sich erfreulicherweise intensiv mit Unbekanntem aus dem Verismo auseinandergesetzt und eine kluge Auswahl getroffen. Im Fokus steht für sie Pietro Mascagni als Begründer der Musikrichtung durch seine Cavalleria rusticana, die noch heute allerorten höchst erfolgreich aufgeführt wird. So rahmt Hernández ihr Programm mit seinen Kompositionen ein: Mit Questo mio bianco manto aus Isabeau und Ah! Il suo nome… Flammen perdonami! aus Lodoletta setzt sie gleich deutliche Akzente mit üppiger Stimme, in der Höhe mit herausgeschleuderten Spitzen und satter Mittellage. Francesco Cilea ist mit Esser madre è un inferno aus L’Arlesiana vertreten, in der sie die Leiden der Mutterschaft eindringlich gestaltet; aus Adriana Lecouvreur überzeugt das intensiv vorgetragene Poveri fiori. Etwas Besonderes sind die beiden Beiträge von Franco Alfano: Mit Giunge il treno… Dio pietoso… aus Risurrzione nach Tolstois „Auferstehung“ gelingt der Sängerin eine erschütternde Gestaltung der verzweifelten Katyuscha; in der großen Szene O nuvola, nuvola leggera aus La Leggenda di Sakùntala greift auch der Chor mit prächtigem Klang ins Geschehen ein. Von Giacomo Puccini (nicht eigentlich ein Verist) präsentiert Hernández als Giorgetta gemeinsam mit Francesco Pio Galasso als Luigi È ben altro il mio sogno aus Il Tabarro, eindrucksvoll im Duett endend. Mit Umberto Giordanos È finita aus Marcella – ebenfalls eine nur ca. einstündige Oper wie Il Tabarro – und Ed ecco il suo ritratto aus Fedora zeigt Hernández, dass sie Piano-Passagen gut beherrscht und dynamisch abstufen kann, wenn mir auch insgesamt ihr häufiges Von-unten-Anschleifen der Töne nicht gefällt. Mit dem herzzerreißenden Nè mai dunque avrò pace? aus La Wally ist Alfredo Catalani vertreten. In der Szene O Biancofiore aus Francesca da Rimini von Riccardo Zandonai ergänzt Mercedes Arcuri das Duett sehr gut mit lyrischen Einwürfen ihres feinen Soprans. Die Schlussszene Ancora il triste sogno paurosa des 3.Aktes aus Mascagnis Iris bildet mit der Zusammenführung aller Protagonisten den gelungenen Abschluss der CD (EuroArts Music International 2011100)Marion Eckels

Roberto Alagna und eine CD zum 60.

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Roberto Alagna (* 7. Juni 1963), gestehe ich unumwunden, gehört zu den Heroen meines Opernlebens. Ich bin ihm als – als begeistert-voreingenommener – Fan in seinen frühen  Jahren nachgereist, nachdem er nach seinem Scala-Debüt 1990 als Alfredo Karriere machte, habe ihn mehrfach in Montpellier gesehen (u. a. als Roberto Devereux neben Daniela Longhi), habe seinen ersten Radames in Kopenhagen erlebt, seinen Amico Fritz in Monte-Carlo bewundert und frenetisch beklatscht, natürlich seinen Donizetti-Edgardo und andere in Berlin, London (ah, sein Romeo neben der entzückenden Leontina Vaduva ebendort), Paris bestaunt, den ersten CD-Aufnahmen bei der EMI beigewohnt, seinen Werther in Turin aufgewühlt durchlebt und ihn überhaupt vor allem im angestammten französischen Repertoire bewundert, von dem er leider zu wenig auf der Bühne gesungen, aber doch einiges eingespielt hat. Immerhin gibt’s die französische Lucie de Lammermoor und den Werther mit ihm auf DVD und CD, Lalos Fiesque, Massenets Jongleur de Notre-Dame,  Vladimir Cosmas Marius et Fanny und von seinem Bruders David Alagna dessen Le dernier jour d’un condamné, von Bizets Carmen auf DVD und CD ganz abgesehen.

Zu meinen tiefen musikalischen Erlebnissen zähle ich seinen Berlioz-Enée in Marseille und Berlin, ebendort auch seinen grandiosen Vasco da Gama Meyerbeers.  Nicht vergessend seinen Rodrigue/Le Cid in Marseille und Paris. Vieles, wie seinen bizarren Orphée aus Bologna (in der Fassung und Produktion seiner Brüder), gibt es als Radio- und natürlich Privat-Mitschnitte. Zu seinen späteren, bemerkenswerten Partien zähle ich auch seinen hochidiomatischen Lohengrin in Berlin, nachdem aus seinem Bayreuth-Auftritt neben Anna Netrebko nichts wurde.

Ich habe einige Interviews mit ihm gemacht und ihn als außerordentlich charmanten, liebenswürdigen und gebildeten Mann erlebt, mit dem ich wunderbar über Musik und alte Sänger, über Gesangstechnik und -Stil fachsimpeln konnte. Rundherum ein wirklich bezaubernder Mensch.

Nun hat er sich bei Aparté eine CD zu seinem 60. Geburtstag (bereits 2023) gegönnt – ein sehr breites Repertoire von Pergolesi über Flotow, Wagner bis zu Drigo und Alagna (-Bruder), dazu ein paar Russen und Polen, ganz bemerkenswert  und vielseitig (Arien & Lieder von Giuseppe Verdi, Charles Gounod, Adolphe Adam, Friedrich von Flotow, Richard Wagner, Stanislaw Moniuszko, Peter Tschaikowsky, Nikolai Rimsky-Korssakoff, Ambroise Thomas, Giacomo Meyerbeer, Giovanni Battista Pergolesi, Riccardo Drigo, Ruggero Leoncavallo, Vincenzo di Chiara, David Alagna, Nikolaus Brodszky, Roberto Alagna; Giorgio Croci leitet das Morphing Chamber Orchestra; Aparté AP 351).

Nachstehend leihen wir uns von der Firma Aparté mit Dank aus der CD-Beilage den Artikel von Bradley Bamberger und das kurze Interview mit Alagna, in dem er auf seine langte und schöne Karriere zurückblickt aber auch nach vorne schaut. 60 Jahre sind kein Alter für meinen Tenorschwarm. Alles Gute und herzlichen, späten Glückwunsch zum  61. Geerd Heinsen

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Wie jeder Sänger mit einer so langen Karriere hat Roberto Alagna einen berauschenden, Star-machenden Erfolg und die damit einhergehende Anerkennung von Publikum und Kritikern genossen (ganz zu schweigen von den Dramen, die er hinter den Kulissen durchgestanden hat). In mehr als vier Jahrzehnten hat der franko-sizilianische Tenor nicht nur sein Durchhaltevermögen in der Oper unter Beweis gestellt, sondern auch eine immer noch jung gebliebene Leidenschaft für Musik gezeigt, indem er seine künstlerische Entwicklung mit einer ansteckenden Freude am Singen in Einklang gebracht hat. Dieses Album, dessen Titel 60 wie ein stolzes Banner verkündet, erinnert an Alagnas 60. Reise um die Sonne, und das mit Begeisterung. Das Programm ist breit gefächert und umfasst Arien und Lieder in einer außergewöhnlichen Vielfalt an Sprachen und Stilen, wobei die meisten Stücke zum ersten Mal von Alagna aufgenommen wurden.

Alagna, der in der Nähe von Paris in eine Familie sizilianischer Einwanderer hineingeboren wurde, begann als Teenager in den Kabaretts der Stadt zu singen, beeinflusst durch die Filme von Mario Lanza. Obwohl er sich das Singen größtenteils selbst beigebracht hat, gewann Alagna 1988 den Internationalen Gesangswettbewerb Luciano Pavarotti. Innerhalb von ein paar Jahren nahm er

Einladungen von der Mailänder Scala, dem Londoner Covent Garden und der New Yorker Metropolitan Opera an und sang Verdi, Puccini und Gounod. Ein erster Plattenvertrag mit EMI unterstreicht seinen aufstrebenden Status. Der Kritiker der New York Times, Anthony Tommasini, befand 2020, dass Alagna nach Manhattan zurückkehrte, um den Rodolfo zu singen, die Rolle, in der der Tenor 24 Spielzeiten zuvor sein Met-Debüt gegeben hatte.

„Im Laufe der Jahre hat Alagna sein Repertoire absichtlich von lyrischen Tenorrollen wie Rodolfo, für die er ideal geeignet schien, auf stimmlich gewichtigere und riskantere Rollen wie Verdis Radames in Aida und die männliche Hauptrolle in Saint-Saens‘ Samson et Dalila verlagert“, schrieb Tommasini. „Er hat es geschafft, insgesamt ein großer Tenor zu bleiben… Und er ging in den nächsten zwei Jahrzehnten frech seinen eigenen Weg, indem er schwerere Rollen übernahm, die Kraft und Ausdauer erfordern… es brauchte also einigen Mut, um zum Rodolfo zurückzukehren. Würde Alagna noch über die lyrische Eleganz und den jugendlichen Überschwang verfügen, die die Rolle verlangt?“ Tommasini verwies auf „die immensen Gaben und das Charisma“, die Alagna in den 1990er Jahren auf die Bühne brachte, und wies darauf hin, dass sein In seiner jüngsten Aufführung als Rodolfo hat er „die Qualitäten beibehalten, für die er anfangs gefeiert wurde: stimmlicher Reichtum, stilvolle Phrasierung, leidenschaftlicher Vortrag.“

Um die anhaltende künstlerische Vitalität zu unterstreichen, reicht das Programm für Alagnas 60. Geburtstag von Pergolesi, Verdi, Leoncavallo und Riccardo Drigo bis zu Gounod, Meyerbeer, Flotow, Adolphe Adam und Ambroise Thomas sowie – vielleicht überraschend – Wagner, Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow und einer polnischen Rarität aus dem19. Es gibt auch leichtere Lieder in spanischer, italienischer, englischer und französischer Sprache (darunter ein Stück, das von Alagnas Brüdern David und Frederico komponiert wurde, mit denen er oft zusammenarbeitet). Dieses anspruchsvolle Tenor-Recital endet mit „Sognare“, einem vom Sänger selbst geschriebenen Lied in italienischer Sprache.

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Das folgende Gespräch fand während Alagnas Proben für die Rolle des Calaf in Puccinis Turandot statt, die im April 2024 an der Met aufgeführt werden soll – und nur wenige Wochen nach den Aufnahmen zu diesem Album in Wien.

Was haben Sie als Jugendlicher in den Pariser Clubs gelernt, an das Sie sich jedes Mal erinnern, wenn Sie singen, sei es vor einem Studiomikrofon oder auf der Bühne?

Ich habe damals eine Menge gelernt! Es war eine Herausforderung, weil man jeden Abend improvisieren musste. Das Repertoire, das man sang, hing vom Publikum ab, und wir hatten viele verschiedene Nationalitäten im Publikum, weil es oft viele Touristen gab. Man musste praktisch in jeder Sprache ein Lied kennen – mein Repertoire umfasste 70 Lieder, damit ich für jede Situation das Richtige parat hatte. In verschiedenen Sprachen zu arbeiten, ein großes Repertoire zu kennen – das ist für einen Sänger unerlässlich. Etwas anderes, das man so früh lernen musste, war die Kommunikation mit dem Publikum. In den Clubs waren die Zuhörer sehr nah dran. Während man sang, musste man versuchen, ‚gut aussehend‘ zu bleiben, das Gesicht zu entspannen, ohne zu forcieren. Es war wichtig, sein Charisma zu bewahren, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, damit die Leute – die vielleicht während des Auftritts gegessen und getrunken hatten – einem wirklich zuhörten. Um den Zuhörer zu fesseln, war das ein sehr gutes Training für mich. Ich musste auch Durchhaltevermögen entwickeln, weil ich oft jede Nacht von Mitternacht bis sechs Uhr morgens auftrat – und dann sang ich vielleicht an einem Sonntag bei einer Gala für wohltätige Zwecke.

Heute kann ich diese frühen Erfahrungen auf meine Arbeit in der Oper übertragen. Natürlich ist es sehr wichtig, die Stile von Puccini, Verdi usw. zu respektieren. Aber ich finde, man muss auch jeden Abend etwas Neues schaffen. Man kann nicht bei jeder Aufführung dieselbe Phrasierung, dieselbe Dynamik verwenden. Wie Verdi zu sagen pflegte, muss die Interpretation im Moment geboren werden. Das ist etwas, woran ich immer versucht habe, mich zu erinnern: die Spontaneität in meinen Aufführungen zu bewahren, im Moment zu atmen, die Emotionen zu verändern, die Nuancen zu variieren. Man kann nicht alles an einer Musikhochschule lernen. Jeden Abend vor Publikum zu singen, seine Reaktionen auf das, was man tut, zu spüren und darauf zu reagieren – das ist die ultimative Schule. Und ich behalte die Lektionen auch nach all den Jahren noch im Kopf.

Sie haben als Sänger viele Helden, von Mario Lanza über Pavarotti bis hin zu Luis Mariano, Caruso… Wen bewundern Sie als Tenor, der die 60 überschritten hat?

Da gibt es mehrere. Nicolai Gedda und Alfredo Kraus hatten besonders lange Karrieren, große Karrieren natürlich, aber auch Pavarotti – Luciano war tatsächlich bis fast 70 in guter Tenorstimme. Und Gigli, Beniamino, sang bis weit in seine 60er Jahre hinein und „starb mit seiner Stimme“, da er bis zum Schluss sowohl das leichte als auch das schwere Tenorrepertoire singen konnte. Aber

Ich bewundere nicht nur die Großen, sondern auch alle meine Kollegen, denn es gibt eine natürliche Auslese – nicht viele der Milliarden Menschen auf der Erde sind in der Lage, auf hohem Niveau auf der Bühne vor Publikum zu singen. Es ist ein Segen, und ich respektiere alle Opernsänger, die in der Lage sind, so viel gute Arbeit zu leisten und daraus eine lange Karriere zu machen. Es ist eine seltene Disziplin, dass man so arbeiten muss wie diejenigen, die das vor hundert, zweihundert Jahren getan haben, ohne Mikrofone, ohne Verstärkung usw. Das ist nicht leicht!

Was ich an den großen Tenören in jedem Alter liebe, ist dieser Glanz in der Stimme, das leichte, natürliche Schweben der Linie, die Morbidezza. Ich mag keine ‚Tricks‘ beim Singen. Ich bevorzuge Spontaneität und Aufrichtigkeit in der Stimme, und wenn man nicht an die Technik denkt, sondern nur an das Gefühl in der Musik. Caruso pflegte zu sagen, dass die beste Technik vor dem Publikum verborgen ist – es ist die Kunst, die Kunst zu verbergen. Der Gesang von Caruso, Gigli, Pavarotti, Franco Corelli und Mario Del Monaco ist so natürlich, dass man, wenn man ihnen zuhört, nur denken kann, dass diese Leute einfach dazu geboren wurden, dies zu tun. Aber natürlich haben sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet und viele Opfer gebracht, um diese Qualität zu erreichen. Das ist wirklich etwas, was man anstreben sollte, egal wie alt man ist. (Quelle Aparté/ Bradley Bamberger/DeepL)

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Die Kollegen von Klassik Heute hatten zu Alagna 60. Geburtstag 2023 eine umfassende Vita von ihm erstellt, die wir mit Dank „ausleihen“: Der französische lyrische Tenor Roberto Alagna wurde als Sohn sizilianischer Eltern am 7. Juni 1963 in einem Vorort von Paris geboren. Mir 18 Jahren erhielt er die französische Staatsbürgerschaft, konnte gleichzeitig aber auch die italienische beibehalten. Als Jugendlicher betätigte er sich in Paris als Straßenmusikant und sang Popsongs gegen Trinkgeld. Die Filme von Mario Lanza und Schallplatteneinspielungen von berühmten Tenören brachten ihn zum Operngesang. Seine Gesangsausbildung war weitgehend autodidaktisch. Gabriel Dussurget, der Mitbegründer des Festivals Aix-en-Provence, wurde auf ihn aufmerksam und förderte ihn. 1988 gewann Alagna den Internationalen Gesangswettbewerb Luciano Pavarotti und erhielt sein erstes Opernengagement in Modena. Mit der Glyndebourne touring company startete er als Alfredo Germont in Verdis La traviata schließlich seine Profikarriere. Es ergaben sich daraus zahlreiche Auftritte zunächst an kleineren Bühnen in Italien und Frankreich. Insgesamt hat Alagna diese Rolle wohl mehr als 150 mal verkörpert.

Schließlich wurden auch die großen Opernhäuser auf den jungen Tenor aufmerksam. 1990 feierte Alagna sein Debüt an der Mailänder Scala, 1992 im Covent Garden und 1996 gelang ihm mit seinem Debüt an der New Yorker Metropolitan Opera endgültig der internationale Durchbruch. 2007 kam es an der Scala zu einem Eklat, als Alagna als Radames in Verdis Aida von den oberen Rängen ausgebuht wurde und daraufhin die Bühne verließ. Antonello Palombi musste in Straßenkleidung einspringen, um die Vorstellung zu retten. Als Pinkerton in Madama Butterfly an der Met engagiert, sprang Alagna im selben Jahr (2007) als Romeo in Roméo et Juliette ebenfalls dort für den erkrankten Rolando Villazón an der Seite von Anna Netrebko ein. Und ebenfalls 2007 erntete Alagna standing ovations, als er in der Aufführung der Aida am 16. Oktober in der Met für den indisponierten Marco Berti einsprang. Die Aufführung von Roméo et Juliette am 15. Dezember mit ihm an der Seite von Anna Netrebko wurde von der Met in 447 Opernhäuser weltweit in HD übertragen und von schätzungsweise 97000 Zuschauern live verfolgt. Am 25. Juli 2018 hätte Alagnas Debüt bei den Bayreuther Festspielen als Lohengrin erfolgen sollen, wegen Überlastung musste er sein Debüt aber am 29. Juni absagen. Nachdem Alagnas erste Frau Florence Lancien 1994 an einem Gehirntumor gestorben war, war er von 1996 bis 2013 mit der rumänischen Sopranistin Angela Gheorghiu verheiratet. 2015 heiratete er die polnische Sopranistin Aleksandra Kurzak. Im Laufe seiner Karriere hat Roberto Alagna ca. 40 verschiedene Opernrollen verkörpert und kann auf eine stattliche Anzahl an Einspielungen und CD-Veröffentlichungen zurückblicken. Im Jahr 2008 wurde er von der französischen Regierung zum Ritter der Ehrenlegion erhoben. Quelle: Klassik Heute (Farbfotos Florian Bonfay; Aufnahmefotos Ana Fedisz/alle Aparté)

Korrektur des Verkannten

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Der Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen bricht in seiner neusten Publikation allen weitverbreiteten Vorurteilen zum Trotz – schon im Vorfeld seines hundertsten Todestages – eine Lanze für Giacomo Puccini: „Zweifellos zählt Puccini zu den umsatzstärksten und wertbeständigsten Klassikern des internationalen Kulturbetriebs. La Boheme, Tosca, Madama Butterfly und Turandot gehören zum Kanon der abendländischen Kulturgeschichte.“ Puccini sei“ neben William Shakespeare, Giuseppe Verdi und Henrik Ibsen der meistgespielte Tragödienautor des Welttheaters. Dieser Befund unterliegt keinen kurzfristigen Moden und konjunkturellen oder regionalen Schwankungen, sondern ist bereits seit mehr als einem Jahrhundert offenkundig und stabil.“ Die Gründe bekräftigt Jacobshagen in seinem weit ausholenden Buch mit Analysen der musikalischen Dramaturgie sowie einer präzisen Familien-, Werk- und Zeitdarstellung. Puccinis Leben reichte weit ins 20. Jahrhundert, auch wenn man ihn eher in der Nähe des fast 50 Jahre älteren Verdi verortet, als an der Schwelle zur Moderne. Ein Irrtum wie Jacobshagen klarstellt. Puccini war für Jacobshagen „ein Perfektionist singulären Ranges. Er schuf eine Reihe von Werken for die Opernbühne, die sich neben ihren offenkundigen dramaturgischen, melodischen, harmonischen und instrumentationstechnischen Qualitäten vor allem durch die äußerste Präzision sämtlicher musikalischer Strukturen und Details bei konsequentem Verzicht auf Randständiges und Ausuferndes, auf Leerlauf und Redundanz auszeichnen. Puccini war ein Meister des Zuspitzens wie des Maßhaltens – Eigenschaften, die sich übrigens nicht nur in seinen Werken, sondern auch in seiner Persönlichkeit zeigen.“ Es lässt sich nicht abstreiten: Puccinis Musik trifft den Zuhörer ins Herz, aber es lohnt sich, diese Musik zu reflektieren, um zu erkennen, wie raffiniert das vermeintlich Seichte, das vermeintlich Konventionelle bei Puccini ist. In seinem „Trittico, einer „retrospektiven Zeitreise von der Gegenwart zurück bis ins hohe Mittelalter“ gewährt Puccini Einblick in seine Arbeitsweise. Mit „Gianni Schicchi“ legte er nach Verdis „Falstaff“ eine meisterhafte Komödie vor und bewies, dass die italienische Opera buffa, die oft totgesagt wurde, noch erstaunliche Lebenskraft hat. Der humorvolle Höhepunkt des „Trittico“ erzählt eine Posse um einen Erbschaftsstreit. Lauretta und Rinuccio wollen heiraten, aber dies geht nur, wenn sie ein Vermögen erbt. Um ihren Vater zu manipulieren, singt sie völlig unvermittelt in diesem Commedia- dell’arte-Durcheinander die herzzerreißende Arie „O mio babbino caro“, in der sie droht, vom Ponte Vecchio zu springen, falls der Vater sich nicht für sie einsetze. Löst man diese Arietta mit ihrer lyrischen Melodie aus ihrem Kontext, liegt der Kitschverdacht nahe, bettet man sie hingegen richtig ein, ist nicht zu übersehen, dass Puccini sich selbst mit Augenzwinkern ironisierte. So arbeitet er, wenn er berühren und bewegen wollte, was ihm das Wichtigste war, wie er einmal in einem Brief bekannte. Nicht nur bei Laurettas Vater wirkt das süße Gift des Wohlklangs, auch bei den Zuhörern. Das Bemerkenswerte ist jedoch, dass, auch wenn man um die Manipulationsabsicht weiß, es trotzdem wirkt. Ja, es macht sogar noch mehr Freude, sehenden Auges dem Sirenengesang auf den Leim zu gehen. Es ist der Gesang eines Trotzdem. „In gewisser Weise“ so betont Jacobshagen, „präsentiert sich das gesamte Werk als eine einzige gewaltige Ensembleszene der fünfzehn am Stück beteiligten Figuren, von denen alle nahezu ununterbrochen auf der Bühne anwesend bleiben, wie René Leibowitz hervorgehoben hat: ‚Gleichwohl erzeugt diese ständige Präsenz der Figuren keinerlei Immobilität oder Statik, denn es ist die Musik, der es in überwältigender Weise gelingt, die Bewegung und Aktion des Dramas zu konstituieren.‘ Hierin unterscheidet sich das Stück fundamental von den üblichen Gepflogenheiten der Opera buffa, für die der rasche Wechsel von Soloszenen, Duetten und größeren Ensembles konstitutiv ist und in denen gewöhnlich nur in den Finalnummern das gesamte Bühnenpersonal vereinigt ist. Dieser ständige szenische Wechsel fehlt in Gianni Schicchi, und selbst Lorettas berühmte Kurzarie ‚O mio babbino caro‘ steht nicht für sich isoliert, sondern erweist sich als Bestandteil der übergeordneten Ensemblestrukturen. Puccini kompensiert die szenische Uniformität vor allem durch extreme Besetzungsunterschiede und äußerste Flexibilität in der Orchesterbehandlung. Seine motivisch-thematische Arbeit beruht überwiegend auf kurzen melodischen Zellen, die einem kontinuierlichen Repetitions- und Variationsprozess unterworfen werden. …Präsentiert sich Puccini in der virtuosen Durchgestaltung dieser motivisch-thematischen Arbeit gleichsam als Neoklassizist, so beindruckt das suggestive Insistieren auf solchen Elementarstrukturen im Kontext der musikalischen Moderne durch ein erhebliches Innovationspotenzial.“

Puccini, so zeigt Jacobshagen, erweist sich auch und gerade „in seiner einzigen komischen Oper als ein Seismograph der musikalischen Moderne.“ Aber die Trotzdem-Haltung ist allen Opern Puccinis eigen: Zum einen, damit das Denken nicht übergangen wird, denn es verhindert nicht, sondern intensiviert die Gefühle durch Bewusstwerdung. Zum anderen, weil Puccini selbst diesen Umweg macht, in den meisten seiner zwölf Opern. Indem bitterste Wirklichkeiten nicht mit bitterer Musik dupliziert werden, sondern im Wohllaut daherkommen, manifestiert sich der Wunsch nach einer Gegenwelt als einem Trotzdem. Ganz anders Kitsch. Er evoziert falsche Gefühle. Damit hat Puccini nichts zu tun. Trotzdem zu lieben (und zu singen), leidenschaftlich und überschwänglich, davon erzählt Puccini mit seiner Musik. Verismus bedeutet in diesem Sinne, die wahre Radikalität des Gefühls erkennen. Puccinis Werke fordern vom Publikum einen Protest gegen eine Wirklichkeit, die die Wahrhaftigkeit verunmöglichen will. Puccini zu lieben bedeutet, sich zu diesem Trotzdem zu bekennen. – Die Oper erlebte mit Puccini einen Paradigmenwechsel, was schon am Beispiel seiner Geschlechterrollen und Operntitel sichtbar wird. Viele weiblichen Bühnengestalten in den Opern Puccinis sind Frauen, die liebend leiden oder leiden lieben. Die sich selbst opfern oder geopfert werden.  Puccini zeigt in seinen Opern acht Frauen-, aber nur zwei Männernamen Bei den beiden Giganten unter den Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Verdi und Richard Wagner, dominieren noch Männer im Werktitel. Puccini blieb seinen Idealen zu Musik und Theater treu. Er entfernte sich nie von der chromatischen Vielschichtigkeit am Ende der Romantik. Und doch fand sein Werk das Lob zahlreicher Kollegen: Strawinsky, Ravel und Schönberg – für den Puccinis Werk dasjenige Verdis übertraf – brachten ihre Bewunderung zum Ausdruck. Ein deutscher Journalist schrieb nach der Premiere von „Turandot“: „Puccini hat hier sicherlich die raffinierteste Musik seines Lebenswerkes geschrieben – sie reicht von Strauss zu Strawinsky über Mahler und Schönberg. Er kannte alles, wusste alles und konnte ungeheuer viel, besonders in der „Turandot.“ Puccini wird in der Regel als Vertreter des Endes einer Tradition gesehen, aber er hat den Speer weit in die Zukunft geschleudert. Anspielungen auf seinen Stil lassen sich in Werken von Janáček, Korngold, Orff und Berio hören (letzterer veröffentlichte 2001 seine eigene Ergänzung von Turandot). Unzählige Komponisten von Musiktheater- Musical und Filmmusik, von Rodgers und Hammerstein bis zu John Williams haben sich von seinem Werk hörbar beeinflussen lassen, ebenso der Jazzmusiker Al Jolson oder der Musicalkomponist Andrew Lloyd Webber. ‚Ein guter Musiker muss alles können, aber nicht alles geben‘ hat Puccini einmal treffend formuliert. Er hat sich immer aufs Wesentliche beschränkt. Die technologische Präzision seiner Partituren weist ihn als einen der ersten Repräsentanten der europäischen Moderne im Bereich des Musiktheaters aus.“ Das haben nach vielen Jahren der Ignoranz in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die Interpreten (Regisseure und Musiker) seines Musiktheaters erkannt.  „Angesichts dieser Gegebenheiten sollte heute eigentlich Niemand mehr leichtfertig den Fehler begehen, Puccini als Komponisten zu unterschätzen. Zwar war es in gewissen High-Brow-Milieus lange Zeit üblich, Puccini mit Missachtung zu begegnen. Kurt Tucholskys Diktum, Puccini sei der ‚Verdi des kleinen Mannes‘ spiegelt besonders die Ansichten jener Kreise wider, die auch in Verdi bloß den reißerischen ‚Leierkastenmann‘ sehen wollten… Noch immer sind zahllose, darunter sehr namhafte Autoritäten aus allen Bereichen des Musik- und Wissenschaftsbetriebs recht anfällig für solche Fehleinschätzungen.“ Jacobshagen ist nichts hinzuzufügen. Er hat eine Summe der Auseinandersetzung mit Puccini von seiner Zeit bis heute ist gezogen. Eindrucksvolles Fotomaterial, ein Werkverzeichnis, eine informative Bibliographie und verschiedene Register machen das Buch zum neuen Standardwerk (Arnold Jacobshagen: Giacomo Puccini und seine Zeit; 408 Seiten mit 31 Abbildungen und 15 Notenbeispielen. Geb./ Große Komponisten und ihre Zeit 27; ISBN 978-3-89007-807-6). Dieter David Scholz

Aus gegebenem Anlass

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Genau neun Jahre ist es her, dass eine reine Puccini-CD mit Jonas Kaufmann auf dem Markt erschien, nun gibt es eine neue mit dem Titel Puccini : Love Affairs, als könnte es   bei Puccini noch um etwas bemerkenswert Anderes als die Liebe gehen. War 2015 die einzige Partnerin im vorwiegend mit Tenorarien bestückten Album  Kristina Opolais,  so begleiten heute gleich sechs Diven den deutschen Tenor, der nur zweimal mit einer Arie vertreten ist. Sang er zuvor „Recondita armonia“ aus Tosca, so nun “E lucevan le stelle“ mit seinen enormen Anforderungen an die Fähigkeit des Sängers, zwischen einem zum Forte führenden Crescendo und einem ins Pianissimo geleitenden Diminuendo zu wechseln, wobei die alten Stärken, eine hochpräsente, baritonal gefärbte tiefe Lage und eine darstellende Stimme sowie auch die Schwächen, ein Piano, das eigentlich keines, sondern eher ein leises Forte ist, zum Schluss der CD noch einmal Revue passieren. Unmittelbar davor zeigte sich beim Bohéme-Rodolfo und seinem „Che gelida manina“  , dass Kaufmann dieser Partie bereits entwachsen ist, dass er zwar um das für die Rolle Notwendige weiß, ohne es auszuführen, mit schwerer gewordener Stimme zu schwärmerisch beim Mitteilen von Informationen, zu sehr bemüht ist, in einer Phrase extreme Gefühlsregungen gleichzeitig unterzubringen, Gegensätze auszureizen.

Es beginnt mit dem den ersten Akt von Bohéme beschließenden „O soave fanciulla“, in dem der Tenor eine starke, dunkle Mittellage hören lässt, aus der die Stimme nicht bruchlos in eine flacher klingende Höhe klettert, begleitet von dem Sopran Pretty Yendes, der an dolcezza, wie sie einer Mimi gebührt, kaum zu überbieten ist.   Ein wesentlich dramatischeres Kaliber setzt Anna Netrebko für das Duett im zweiten Akt von Manon Lescaut ein, das auch auf der alten Puccini-CD zu hören war, das aber bei den jetzigen Stimmen weit besser aufgehoben ist, die angemessen dunkel, schwer und eine bittere Erfahrung hörbar machend sind. Das reiche Timbre des Soprans passt gut zum stählernen „ Non m’ami più“, zwei Hochdramatische ringen akustisch miteinander, können einander aber auch schmeichelnd anhimmeln im „È fascino d’amor“, und nur wenn es nach oben wie in „Nel occhio tuo profondo“ geht, wird es eng.

Heller, leichter, weicher, aber durchaus eine gestandene Tosca ist im Duett des ersten Akts Sonya Yoncheva, verführerisch im Ausmalen der nächtlichen Freuden,  während der Tenor reich an vokalen Facetten ist, um Belustigung, Ungeduld oder Schwärmerei auszudrücken, letzteres besonders im „Qual’occhio“.  Wie in der Manon erweist es sich als glückliche Entscheidung, längere Szenen vokal aufzuführen, die es dem Hörer ermöglichen, sich wirklich ein akustisches Bild zu malen. Dazu gehört auch der vernehmbar liebevolle Spott, mit dem der Sopran“ l’arte di farti amare“ argumentiert.

Aus dem ersten Akt der Fanciulla stammt das Duett, in dem auch noch die Walzermelodie  nachhallt, Malin Byström ist eine akustisch klare, helle, in der Höhe etwas schrille Minnie, er ein wie weichgespült klingender, sanfter, sehr kommunikativer Dick, der zu einem zärtlich-zarten „Quelle che tacete“ fähig ist, allerdings auch gern innerhalb einer Phrase die Extreme auslotet. Dem Luigi in Il Tabarro verleiht Kaufmann seinen unverwechselbaren Charakter im hochdramatischen Ausbruch, sie ist Asmik Grigorian mit geschmeidigem Sopran voller Sehnsucht. Das letzte Duett ist das aus dem ersten Akt der Butterfly, die Maria Agresta mit rundem, warmem Sopran schönster Pianissimi singt, er lässt alle Gedanken an „la sposa americana“ vergessen mit geradezu orgiastischem Aufblühen der Tenorstimme, selten hörte man den Schluss des ersten Akts derart üppig.

Das Orchestra del Teatro Comunale di Bologna unter Asher Fischer erweist sich als routinierter Begleiter der Creme de la Creme des Soprangesangs in Verein mit dem Ausnahmetenor in guter stimmlicher Verfassung (Sony 19802896702). Ingrid Wanja     

Gemischte Eindrücke

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Gerühmt für seine Interpretationen von Partien des französischen Repertoires (Massenets Werther und Des Grieux, Gounods Roméo und Offenbachs Hoffmann) wird der Tenor Benjamin Bernheim gegernwärtig hoch gehandelt. Jetzt hat er für sein drittes Album bei seiner Stammfirma Deutsche Grammophon französische Mélodies und Chansons ausgewählt, die unter dem Titel „Douce France“ erschienen sind (486 6155). Dieser ist der gleichnamigen Komposition von Charles Trenet entnommen, welche gemeinsam mit Joseph Kosmas „Les feuilles mortes“ und Jacques Brels „Quand on n´a que l´amour“ für einen populären Ausklang der Anthologie sorgt. Der Sänger schlägt damit auch eine Brücke zwischen dem klassischen Lied und dem zeitgemäßen Chanson.

Einige dieser Nummern hatte Bernheim schon in das Programm seines Salzburger Liederabends von 2023 integriert, so Henri Duparcs „L´invitation au voyage“, „Phidylé“ und „La vie antérieure“ oder Ernest Chaussons „Poème de l´amour et de la mer“.

Als Auftakt der CD erklingt Hector Berlioz´ bekannter Zyklus „Les nuits d´été“, der zumeist von Frauenstimmen interpretiert wird. Legendär sind die Einspielungen  von Régine Crespin, Victoria de los Angeles und Janet Baker. John Eliot Gardiner (wie auch vorher der BGerlioz-Pionier Colin Davis) hatte in seiner Aufnahme 1989 die Lieder verschiedenen Sängerinnen und Sängern zugeteilt, darunter dem Tenor Howard Crook und dem Bassisten Gilles Cachemaille. Bernheim aber ist nun alleiniger Interpret des kompletten Zyklus. Bei seiner Einspielung hat er sich für dessen ursprüngliche Fassung mit Klavier entschieden und in der Pianistin Carrie-Ann Matheson eine einfühlsame Partnerin gefunden. Zunächst ist die exemplarische Diktion des Franzosen hervorzuheben. Auch der kompetente Gebrauch der voix mixte ist ein Trumpf des Sängers. Irritierend aber sind der zuweilen aufgeraute, spröde Klang des Tenors und die forcierten hohen Töne. Man vermisst oft den Schmelz und die Süße – noch vor kurzem seine Markenzeichen. Und bei einer Platte mit dem Begriff „douce“ im Titel erwartet man schließlich Anmut und Charme. Der Beginn mit „Vilanelle“ klingt plärrend, um nicht zu sagen penetrant. Ein günstigerer Eindruck ergibt sich bei getragenen Stücken, so beim folgenden „Le spectre de la rose“, das träumerisch und mit feinen Zwischentönen ausgebreitet wird. Auch „Sur les lagunes“ und „Absence“ gefallen in der entrückten Stimmung und schwebenden Linie. Doch auch hier gibt es Momente, wo exponierte Töne im mezzoforte und forte ertrotzt wirken. Zauberisch  kommt „Au cimetière“ daher, während das letzte Stück, „L´île inconnue“, wieder verhärtet und uncharmant tönt.

Es folgt der Chausson-Zyklus („La fleur des eaux“ und „La mort de l´amour“) mit gleichfalls diversen  Eindrücken – auch dem der stimmlichen Überforderung.

Die Mélodies von Duparc schließen sich an und bieten mit „L´invitation au voyage“ deren bekannteste Komposition. Man kennt sie in feinsinnigerer Deutung. „Extase“ und „Phidylé“ haben dagegen delikate Nuancen, während das finale „La vie antérieure“ in seinem forcierten Duktus wieder irritiert.

Erstaunlich, dass Kosmas „Les feuilles mortes“ als erstes der drei populären Chansons am Ende einer der gelungensten Titel ist. Ähnlich angenehm tönt die Stimme in Trenets „Douce France“, womit die Platte versöhnlich ausklingen könnte, käme danach nicht noch das missglückte „Quand on n´a que l´amour“ von Jacques Brel. Bernd Hoppe

Carolina Ucellis „Anna di Resburgo“

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Eine Opernkomponistin 1835 in Italien? Aber ja! Carolina Ucelli! Die Suche nach Carolina Uccelli begann mit einem Druckfehler. Will Crutchfield – Maestro, Musikwissenschaftler, Musikkritiker, Gelehrter – durchforstete die Listen der Opern und Komponisten in Band IV von Francesco Florimos monumentalem Werk, das alle in Neapel in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts produzierten Opern katalogisiert, als er auf einen interessanten Eintrag für eine „Carolina Miceli“ und eine Oper namens Anna di Resburgo stieß, die laut Florimo 1835 am Teatro San Carlo nach einem Libretto von Gaetano Rossi aufgeführt wurde. Eine Oper von einer Frau? Im Italien der 1830er Jahre? Aufgeführt an einem großen Opernhaus? Für einen Belcanto-Liebhaber und Musikhistoriker in der Tat verlockend, aber nachfolgende Recherchen ergaben nichts über „Miceli“, bis Crutchfield einen korrigierten Eintrag in Giovanni Salviolis viel späterer „Bibliography of the Italian Dramatic Theatre…“ fand, in dem vermerkt war, dass der Komponist nicht Miceli, sondern Uccelli hieß und dass das Theater der Uraufführung nicht das San Carlo Neapel war, sondern das gemeinsam verwaltete Teatro del Fondo.

Die Komponistin Carolina Ucelli/Teatro Nuovo

Bei der Suche nach der Partitur wurde das Manuskript eines Kopisten in der Bibliothek des Konservatoriums von Neapel gefunden (wo Donizetti-Zeitgenonosse und Biograph Florimo eineinhalb Jahrhunderte zuvor Archivar gewesen war). Crutchfield nannte es „Hühnerkratzer“, aber auch Beweise für „eine geborene Opernkomponistin“, und es begann die lange Aufgabe, die handschriftliche Partitur für eine Aufführung dieser völlig unbekannten Oper einer völlig unbekannten Komponistin nutzbar zu machen, die sich in die Höhen der Opernproduktion in der Stadt gewagt hatte, die die Karrieren von Rossini, Donizetti, Bellini und so vielen anderen begründet hatte. (…)

Die Musik ist bemerkenswert, unnachahmlich melodisch und der dramatischen Situation angemessen. Die musikalischen Formen sind die, die man in einer Belcanto-Oper von 1835 erwarten würde – Arien, Romanzen, Cabalettas und Ensembles, die sich zu großen Höhepunkten steigern. Es ist eine erstaunliche Leistung für einen fast unerfahrenen Komponisten von etwa 23 oder 24 Jahren. Besonders erwähnenswert im ersten Akt ist das Trio der Anerkennung für Anna, Edemondo und Olfredo, „Io ti adoro, o ciel clemente“ mit seinem schönen Mittelteil und dem schönen Finale des Aktes. Der zweite Akt, dessen Libretto von Uccelli überarbeitet und verstärkt wurde, enthält jedoch die wahren Perlen. Man beachte die äußerst ungewöhnliche Auftrittsarie für Olfredo, „Nel Consiglio già raccolti“. Das Tottola-Libretto der Geschichte für G.S. Mayr hatte die Figur des Olfredo in einen Buffo-Bass verwandelt, der auf Neapolitanisch sang, aber als Rossi die Geschichte aufgriff, war Olfredo eine ernste Figur. Uccelli behielt die Tradition der komischen Plauderarie des Buffo bei, verwandelte sie jedoch in eine atemlose Schilderung der Beratungen des Rates, die zu Edemondos Todesurteil führten – ein einzigartiges Beispiel für ein ernstes Plauderlied in der italienischen Oper.

Fanny Tacchinardi-Persiani sang die Titelrolle in der Uraufführung der „Anna di Resburgo“, hier als Donizettis Lucia di Lammermoor/BNF Gallica

Oder man nimmt Norcestos zwei wunderbare Szenen im zweiten Akt – das Duett mit Anna, als sie versucht, ihn mit seinen schuldbewussten Ausflüchten davon zu überzeugen, den Mord zu gestehen, und seine Arie auf dem Friedhof, ebenfalls von Schuldgefühlen geplagt („Io ritrovo in ogni oggetto“) – beides echte psychologische Porträts eines nicht ganz so üblen Schurken, der weit entfernt ist vom romantischen Bösewicht aus Pappe (z. B. Enrico in Lucia). Oder nehmen Sie das gesamte Finale des zweiten Aktes, das sich auf dem Trauermarsch aufbaut, der Edemondos Marsch zum Friedhof zur Hinrichtung begleitet. Der von Uccelli mit einer Prise Dissonanz komponierte Marsch entwickelt sich zu einem kraftvollen Höhepunkt, der erst durch das rettende Ende und ein glückliches Duett für das treue Paar („Tra soavi ritorte di amore“) zu einer fröhlichen Melodie belebt wird.

Anna di Resburgo war 189 Jahre nach ihrer Geburt am 20. Juli im Alexander Kasser Theatre auf dem Campus der Montclair State University in Montclair, New Jersey, endlich wieder zu hören; dann folgte  eine weitere Aufführung ins Rose Theater am Columbus Circle in New York. Die halbszenische Produktion stammt vom Teatro Nuovo (TN), der Belcanto-Schmiede von Will Crutchfield (es sangen Chelsea Lehnea /Anna, Santiago Ballerini /Edemondo, Ricardo José Rivera/Noresto, Lucas Levy/Olfredo, Elise Albian/Etelia,/ Orchester und Chor/Derrick Goff des Tetro Nuovo, Leitung Elisa Citterio (Violine) und Lucy Tucker Yates (Cembalo); Inszenierung Marco Nisticò; Ausstattung  Adam Thompson/ Devon Allen/.Jason Flamos).  Charles Jernigan

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Dazu Will Crutchfielod selbst: Wer war Carolina Uccelli?  Biografische Informationen über Carolina Uccelli sind spärlich, und einige der Informationen, die man finden kann – sie wurden ohne neue Nachforschungen von einem längst vergangenen Wörterbuch zum anderen weitergereicht – sind nicht korrekt. Die obige Zeitleiste fasst den derzeitigen (noch vorläufigen) Stand unseres Wissens über sie zusammen.

Was dieses Wissen heute so interessant macht, ist die außergewöhnlichste Phase ihres kurzen Lebens: Für eine kurze Zeit in ihren Zwanzigern strebte sie danach, mit den Konventionen zu brechen, indem sie eine öffentliche Karriere als Theaterkomponistin anstrebte. Das war für Aristokraten stark verpönt und für Frauen schlicht unerhört.

Ucellis „Anna di Resburgo“ vom Teatro Nuovo New York/Szene/Teatro Nuovo

Die junge Carolina war musikalisch frühreif und erwarb sich bereits im Teenageralter einen Ruf für ihre Klavierimprovisationen, ihren Gesang und ihre Kammer-Kompositionen. Wahrscheinlich komponierte sie Anna di Resburgo in den Jahren 1833-1835, und das Werk wurde in der Herbstsaison 1835 am Teatro del Fondo in Neapel viermal aufgeführt, mit einer weiteren Aufführung (möglicherweise Anfang 1836) am gemeinsam geführten Teatro San Carlo in derselben Stadt. Die Hauptsänger gehörten zur ersten Riege der Stars: die Sopranistin Fanny Tacchinardi-Persiani (die ursprüngliche Lucia di Lammermoor), der Tenor Napoleone Moriani (für den Donizetti und Verdi neues Material in Lucrezia Borgia und Attila einfügten) und der Bariton Giorgio Ronconi (der ursprüngliche Nabucco).

Das von Uccelli gewählte Libretto wurde erstmals 1819 von dem jungen Giacomo Meyerbeer und in den 1820er Jahren von mindestens zwei weiteren Komponisten vertont. Uccelli schrieb es grundlegend um, änderte den Namen der Heldin (ursprünglich Emma) und brachte das Drama auf den neuesten Stand für das hochromantische Zeitalter von Bellini und Donizetti. Die von ihr geschaffene Partitur rechtfertigt das hohe Lob, das Komponisten wie Rossini und Mayr ihren früheren Werken entgegengebracht hatten. Sie hat eine Frische der Erfindung, eine Klarheit der Charakterisierung und eine Sicherheit des theatralischen Tempos, die zweifellos Zuspruch gefunden hätte, wenn sie von einem Komponisten auf dem normalen Karriereweg produziert worden wäre.

Ucellis „Anna di Resburgo“ vom Teatro Nuovo New York/Szene/Teatro Nuovo

Obwohl das Werk in Neapel kein Flop war, wurde es von der Uraufführung einer anderen „schottischen“ Oper, Lucia di Lammermoor, durch dasselbe Ensemble in derselben Spielzeit gründlich in den Schatten gestellt. Die Hürden für die Akzeptanz einer Oper einer weiblichen Komponistin waren bereits hoch, wie wir aus der umfangreichen Korrespondenz zwischen Uccelli und dem Impresario Alessandro Lanari wissen, und nach Anna scheint sie sich von ihren theatralischen Ambitionen zurückgezogen zu haben. Nach Anna scheint sie sich von ihren Theaterambitionen zurückgezogen zu haben. Sie kehrte zu den gesellschaftlichen Kreisen ihrer aristokratischen Erziehung zurück, gab neben einigen öffentlichen Konzerten viele Privatkonzerte und komponierte kleinere Werke. Dazu gehörten eine Kantate zum Gedenken an Maria Malibran und vokale Kammermusik in italienischer und französischer Sprache, die hauptsächlich in Paris veröffentlicht wurden.

Ab Mitte der 1840er Jahre trat in ihren Programmen häufig ihre Tochter Emma, eine Sopranistin, auf. Sie wirkten mit großem Erfolg in London, Amsterdam, Mailand und München. Im Jahr 1852 traten sie bei einem der berühmten Pariser Salonkonzerte auf, die von Rossini veranstaltet wurden, der Jahrzehnte zuvor Uccellis Bemühungen um einen Platz an der Spitze der Opernwelt unterstützt hatte. Wir können nur vermuten, was sie produziert hätte, wenn dieser Wunsch in Erfüllung gegangen wäre. Anna di Resburgo lässt ahnen, dass wir eine geborene Opernkomponistin mit großem Potenzial verpasst haben.

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Napoleone Moriani sang die Tenorpartie der Uraufführung von „Anna di Resburgo“/Teatro Nuovo

Die Musik: Sowohl Rossini als auch Giovanni Simone Mayr (Donizettis Lehrer und Autor von Medea in Corinto, das in der ersten Spielzeit des Teatro Nuovo aufgeführt wurde) schrieben Briefe, in denen sie ihre Eindrücke von Uccelli als Opernkomponistin schilderten. Rossini kommentierte ihre erste Oper, Saul, deren Uraufführung er in Florenz besuchte. Mayr las die Partitur eines projektierten Eufemio di Messina, der nie produziert wurde. Es ist keine Partitur dieser Opern gefunden worden; einige Teile von Eufemio könnten in die spätere Anna di Resburgo eingeflossen sein (wir wissen, dass dies bei der Ouvertüre der Fall ist).

Uccelli legte großen Wert auf diese Briefe; es war ihr wichtig, als Frau, die einen Platz am Tisch der Männer suchte, zeigen zu können, dass einige der wichtigsten Männer, die bereits dort waren, sie für würdig hielten, aufgenommen zu werden. Beide leitenden Komponisten lobten Uccellis Fähigkeit, für die Instrumente des Orchesters zu schreiben. Mayr bewunderte ihren Kontrapunkt, „besonders die Basslinien“, und riet ihr, die Rezitative nicht auf die Streicherbegleitung zu beschränken, sondern der modernen Neuerung zu folgen, auch Bläser darin zu integrieren. Die Partitur von Anna zeigt, dass sie diesen Rat befolgte.

Rossini erklärte Saul für „geeignet, einen glücklichen Erfolg zu erzielen“, und bescheinigte der Debütantin „Ideenreichtum“ sowie „Ausdruckskraft und Eleganz in Deklamation und Melodie“. Er riet ihr, nicht so eifrig nach Aufführungen zu streben, dass sie riskieren würde, sie mit minderwertigen Sängern zu geben, sondern nach erstklassigen Künstlern Ausschau zu halten, „denn auch die beste Musik ist verloren, wenn sie dieser Hilfe beraubt wird.“ Dieser Empfehlung konnte Uccelli glücklicherweise auch folgen, wie die Starbesetzung der Anna-Premiere beweist.

Il Teatro del Fondo (a sinistra), dal 1870 Teatro Mercadante (a destra). L’edificio fu sottoposto a diversi interventi di restauro nel corso degli anni. /INA

Ihre Gesangskenntnisse und ihr Geschick im Schreiben von Vokalwerken scheinen ihr diese Aufgabe leicht gemacht zu haben; die Sänger waren begierig, Uccellis Musik aufzuführen. Sie hatte bereits mit Adelaide Maldotti und Lorenzo Bonfigli zusammengearbeitet, die Unterstützung von Maria Malibran und Gilbert-Louis Duprez in Anspruch genommen und eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Carolina Ungher begonnen. Lange nachdem Uccelli ihre Hoffnungen auf eine öffentliche Theaterkarriere aufgegeben hatte, traten in ihren Salonkonzerten weiterhin Künstler von ähnlichem Format auf. Sie schrieb (und begleitete) unter anderem für Sofia Cruvelli, Giambattista Rubini, Giulia Grisi und Antonio Tamburini. Jeder dieser Namen spricht Bände für Studenten der Opernwelt, in die die Komponistin eintreten wollte.

Die Partitur selbst: Uccellis Status als einsame Frau in der rauen Welt der männlichen Belcanto-Komponisten ist ein offensichtlicher Magnet für Aufmerksamkeit. Um so weit zu kommen, wie sie es tat, muss sie bemerkenswert gewesen sein. Das ist ein guter Grund, sich mit der von ihr komponierten Oper zu beschäftigen, aber kein ausreichender, um sie im 21. Jahrhundert zu reproduzieren. Dafür muss die Oper selbst Überzeugung und Befürwortung erwecken. Was finden wir also in dieser einzigen erhaltenen Partitur?

Zu „Anna di Resburgo“: Resburgo ist das schottische Roxburgh, wo auch Donizetttis „Lucia di Lammermoor“ angesiedelt ist/INA

Zuallererst, wie sowohl Rossini als auch Mayr bemerkten: Sicherheit. Sie versteht, wie das Orchester funktioniert, versteht den Aufbau von Musikstücken und deren Verteilung auf eine Geschichte; versteht in hohem Maße, wie man für Opernstimmen schreibt. So weit so gut, aber da ist noch mehr.

An mehreren Stellen sehen wir unkonventionelle Entscheidungen, die von der Bereitschaft und Fähigkeit zum Experimentieren zeugen. Mit einer Sängerin, die Erfahrung mit „Buffo“-Rollen und deren Sprücheklopfern hat, hat sie für die ganz und gar nicht komische Rolle des Olfredo eine brillante Rarität geschaffen: eine rasante Silbenarie, die nicht „buffo“ ist, sondern todernst, wenn der Vater atemlos die Geschichte des Prozesses erzählt. Sie ist eine der Perlen der Partitur. Ein weiteres ist der langsame Satz der Konfrontation zwischen Anna und Norcesto, in dem die beiden Kontrahenten innehalten, um sich getrennt voneinander ihre Angst vor der Pattsituation zu gestehen, die sie erreicht haben. Die Orchestrierung kombiniert hier Streicherbegleitung mit einem höchst ungewöhnlichen Paar von Soloinstrumenten, Flöte und Pauke. Das eine vielleicht für den Hoffnungsschimmer in Annas Herz, das andere für das Pochen der Schuld in Norcestos.

Auch das Schlussallegro („Cabaletta“) dieses Duetts ist kühn: Sopran und Bariton singen ihre obligatorische gemeinsame Reprise nicht unisono, nicht harmonisch, sondern im Kanon, mit verzahnten Einstiegen im Abstand von einem Takt. Dies ist ein Trick der „gelehrten Komponisten“, den schon Berlioz gern angewandt hat, aber ich kenne kein anderes Beispiel, in dem dies in einer italienischen Cabaletta versucht wurde. Es ist alles andere als einfach, die von der Cabaletta-Form geforderte musikalische Direktheit mit der technischen Herausforderung des kanonischen Schreibens zu verbinden. Uccelli gelingt dies mit beeindruckender Leichtigkeit und Brio.

Von Roxburgh Castle ist nur noch ein historischer Steinhaufen übriggeblieben/INA

Norcestos Schuldgefühle hingegen sind in seiner Musik irgendwie hörbar, noch bevor wir eine Andeutung davon im Text erhalten. Auf den ersten Blick singt er eine Arie voller Fröhlichkeit, in der er sich als wohlwollender Herr präsentiert, der sich am Glück seiner Untertanen erfreut – doch auf halbem Weg scheint er in einer unerwarteten Molltonart stecken zu bleiben und braucht eine beharrliche Wiederholung von Text und Musik, um aus ihr auszubrechen. Als Norcesto am Ende der Oper schließlich von seinem Gewissen übermannt wird, stellt er sich vor, wie der Geist des Ermordeten sich erhebt, um nach Gerechtigkeit zu rufen – nicht mit der erwarteten Stimme von Blut und Donner, sondern mit dem klagenden Flüstern einer unbegleiteten Flöte.

Momente wie diese sind in der gesamten Partitur zu finden. Im „großen Finale“ in der Mitte jeder Belcanto-Oper, wo die Handlung die Krise erreicht, die in der zweiten Hälfte gelöst wird, war es üblich, einen zentralen Überraschungsmoment zu haben, der alle in lyrische Reflexion versetzt, das „largo concertato“. (Das Sextett aus Lucia und die Szene von Bartolos Verblüffung in Der Barbier von Sevilla sind klassische Beispiele). In Uccellis Oper gibt es zwei Kandidaten für diesen Moment: Norcestos Schock, als er im Gesicht des vermeintlichen Waisenkindes Elvino die Züge des verbannten Edemondo sieht, und Annas Ausbruch, als sie ihre Verkleidung ablegt und offenbart, dass sie die Mutter von Elvino ist. Anstatt zwischen ihnen zu wählen, kennzeichnet Uccelli jedes mit einem eigenen kurzen, kompakten „Largo“ – was ein zusätzliches Allegro dazwischen ermöglicht und so ihr Finale zu einer noch symphonischeren Abfolge von ineinandergreifenden Sätzen ausbaut.

All dies sind für mich Anzeichen für einen geborenen Theaterkomponisten. Finden wir auch Zeichen der Jugend und der Unerfahrenheit? Natürlich – genau wie in den frühesten Opern von Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi. Es gibt nur wenige Komponisten, die bei ihren ersten Bühnenwerken nicht noch „auf der Suche“ sind. Als Musikkritiker würde ich sagen, dass Uccelli bestimmte „pikante“ harmonische Verläufe ein wenig zu sehr mag, die sie zwar gerne und gut verwendet, aber zu oft und zu eng beieinander. Und manchmal, wenn sie die Musik in eine neue Tonart gelenkt hat, ist sie etwas pedantisch, wenn es darum geht, in die alte Tonart zurückzukehren. Ich bin mir sicher, dass sie in ein paar Jahren geschickter darin geworden wäre.

Will Crutchfield conducting at Teatro Nuovo’s predecessor, the Bel Canto program at the Caramoor Festival (Photo by Gabe Palacio)

Aber als langjähriger Interpret italienischer Opern finde ich etwas Wichtigeres: Das Stück singt, und es spielt. Damit meine ich: Uccelli hat die Gabe, stimmliche Gesten und Phrasen zu finden, die die Dramatik des Augenblicks verkörpern, und sie setzt diese Momente überzeugend und in gutem Verhältnis zu der Geschichte, die sie inspiriert hat. Wir erleben die Gefahr und den Mut der Eltern mit; wir spüren die Gewissensbisse des Gegners, der versucht, seine Ambivalenz zu überwinden; wir werden von den einzelnen Ereignissen mitgerissen, während sie sich entfalten; nichts lässt uns zu lange warten oder überstürzt die Handlung. Sie weiß, wie man die Spannung einer Szene aufbaut und wie man sie in einem Höhepunkt entlädt.

Diese Qualitäten sind für einen Opernkomponisten sehr wertvoll. Es gibt einige großartige Komponisten (Haydn und Schubert zum Beispiel), die sie nie ganz gefunden haben. Und es gibt einige Italiener, die zu Uccellis Zeiten viel erreicht haben (Mercadante und Pacini zum Beispiel), ohne die Natürlichkeit der Erfindung zu haben, die sie von Anfang an zu besitzen scheint. Ich würde Anna di Resburgo nicht als Meisterwerk bezeichnen, aber sie hat aufregende Abschnitte, die mich leicht glauben lassen, dass ihre vierte oder fünfte Oper eine solche hätte sein können. Und noch etwas: Obwohl sie sich in den bekannten Formen und Stilen der Epoche bewegt, klingt ihre Musik nicht wie die der oben genannten Komponisten. Sie klingt wie sie selbst. Das ist mehr als genug Grund, ihre Stimme nach zwei Jahrhunderten der Vergessenheit wieder zu hören und eine mitreißende Oper, die keiner anderen gleicht, im Bel Canto-Kanon zu begrüßen. Will Crutchfield

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Zu „Anna di Resburgo“: Bothwell Castle, das historische Schloss für Ucelli und Donizetti, hier auf einer zeitgenössischen Darstellung/INA

Handlung: Die Handlung der Oper wird von zwei Vätern beherrscht, die bereits vor Beginn der Oper gestorben sind. Roggero und Duncalmo waren benachbarte Herren und waren Freunde und Waffengefährten gewesen. Doch der letztere, der die Ländereien des ersteren begehrte, ermordete seinen Kameraden heimlich und schob die Schuld auf Roggeros eigenen Sohn Edemondo.

Der von Schuldgefühlen geplagte Patriarch gestand die Tat auf dem Sterbebett seinem eigenen Sohn und Erben Norcesto. Doch Norcesto, der sich für das Verbrechen seines Vaters schämt, hat beschlossen, das Geständnis zu verheimlichen.

Edemondo ist ins Exil geflohen und hat seine Frau Anna und ihren kleinen Sohn Elvino zurückgelassen. Anna ist untergetaucht und lässt das Kind als unbekanntes Waisenkind bei dem Gutsbesitzer Olfredo aufwachsen, während sie sich als Bäuerin („Egilda“) verkleidet, um in seiner Nähe zu sein. All dies wird im Vorwort des veröffentlichten Librettos erklärt und im Laufe der Oper nach und nach in Dialogen enthüllt.

Erster Akt: Der Vorhang hebt sich in der Morgendämmerung von Olfredos Festtag. Seine Tochter Etelia dankt für die reiche Natur und begrüßt dann ihren Vater und die Gemeinschaft der Bauern und Hirten, die später gemeinsam feiern werden. Herannahende Trompeten kündigen die Ankunft von Norcesto, dem Herrn von Lanerck, an. Ein Herold verliest ein neues Edikt: Fremde dürfen in Lanerck nicht beherbergt werden, ohne dass ihre Identität bestätigt wurde, bis der flüchtige Verbrecher Edemondo gefunden und für den Mord an seinem Vater vor Gericht gestellt wurde. Unter vier Augen zeigt Norcesto sein Unbehagen, während Olfredo und Etelia ihren Verdacht äußern.

Der Bass der Uraufführung: Giorgio  Ronconi/Stahlstich von_Joseph Kriehuber(1840)/Archivio Storico Ricordi_

Während die beiden letzteren die Situation besprechen, ertönt der Klang einer Harfe. Die Harfenspielerin ist in der Grafschaft als „Egilda“ bekannt, aber Etelia vermutet, dass sie eine verkleidete Adelige ist. Wie wir nach ihrem Solo erfahren, weiß Olfredo insgeheim, dass sie Anna ist, die Frau des flüchtigen Edemondo. Er hat vermutet, dass sie die Mutter von Elvino ist, dem vermeintlichen Waisenkind, das er in Schutz genommen hat, und er verspricht Anna dasselbe.

Nun trifft Edemondo ein, der sein Exil unter Einsatz seines Lebens bricht, weil er die Trennung von seiner Frau und seinem Sohn, die er seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hat, nicht ertragen kann. Er ist wettergegerbt und abgemagert. Olfredo begegnet ihm, erkennt ihn aber erst, als Anna ihn anspricht. Olfredo glaubt ihm seine Unschuldsbeteuerung am Tod seines Vaters. So ist das Paar wieder vereint und auf Olfredo angewiesen, um sich vor dem Usurpator Norcesto zu schützen.

Die Schlussszene des ersten Aktes ist das Fest zu Olfredos Ehren, zu dem sich unerwartet Norcesto gesellt, dem zu Ehren gesungen wird. Anna und Edemondo sind anwesend, aber versteckt. Zu ihrem Entsetzen erkennt Norcesto im Gesicht des kleinen Elvino die Züge des Vaters und befiehlt, das Kind wegzutragen. Anna, verzweifelt, gibt sich zu erkennen, aber Olfredo hält Edemondo davon ab, dies zu tun. Als der Vorhang fällt, wird das Kind in Norcestos Schloss in Gewahrsam genommen.

Zweiter Akt: Der zweite Akt beginnt im Schloss, wo Olfredo und Etelia nach Elvino suchen. Wie sie bald erfahren, ist auch Anna aus demselben Grund gekommen. Ein wütender Mob ist ihr gefolgt, um von Anna zu verlangen, dass sie den Aufenthaltsort ihres flüchtigen Mannes verrät. Sollte sie sich weigern, drohen sie damit, sie und Elvino für sein Verbrechen verantwortlich zu machen. Edemondo, der sich in der Menge versteckt und die Gefahr für seine Frau sieht, gibt sich nun seinerseits zu erkennen. Er erklärt sich bereit, dem Tod ins Auge zu sehen, auch wenn er ungerechtfertigt ist, und bittet um die Sicherheit seiner Familie. Er wird zu einer Anhörung vor dem Ältestenrat abgeführt.

Anna hat jedoch Norcestos Anzeichen eines schlechten Gewissens wahrgenommen und stellt ihn zur Rede. Sie verlangt von ihm zu schwören, dass er nicht der wahre Mörder von Roggero ist, da sie davon ausgeht, dass ein Adliger nicht offen eine Lüge schwört. Aber sie weiß nicht, dass sein unangenehmes Geheimnis das Verbrechen seines Vaters betrifft, nicht sein eigenes. Nach einigem Zögern schwört er, was sie verlangt, und Anna ist verblüfft.

Bühnenbildentwurf zu „Lucia di Lammermoor“ von Tancredi Liverani/Archivio Storico Ricordi

Außerhalb der Ratskammer wartet Etelia auf das Urteil. Ihr Vater eilt herbei, nachdem er die Beratungen miterlebt hat, und berichtet ihr davon. Das Ergebnis: Edemondo ist zur Hinrichtung neben dem Grab seines ermordeten Vaters verurteilt worden.

Die letzte Szene spielt sich auf dem Friedhof ab, wo sowohl Roggero als auch sein wahrer Mörder Duncalmo begraben liegen. Norcesto ist der erste, der dort ankommt, und seine Gewissensbisse gipfeln darin, dass er glaubt, den Geist des Ermordeten zu sehen, der sich erhebt, um Rache zu fordern. Als er den Marsch der Henker und des Volkes hört, versteckt er sich hinter dem Grab seines eigenen Vaters.

Edemondo tröstet Anna und bereitet sich auf sein Schicksal vor, als Norcesto plötzlich hervortritt und seinen Betrug und den Wunsch seines Vaters vom Sterbebett aus zugibt, Wiedergutmachung zu leisten. Die Bevölkerung bittet Edemondo um Verzeihung für ihre ungerechte Wut.

Edemondo und Anna, die nun wieder in Sicherheit sind und ihren angestammten Besitz zurückerhalten haben, jubeln in einem letzten Duett. Will Crutchfield

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Der kurze Artikel von Charles Jernigan ist die Einleitung zu seiner Rezension der Aufführung in New Jersey 2024 (s. Die besondere Oper); der von Will Crutchfield stammt aus dem Programmheft des Teatro Nuovo zur nämlichen Vorstellung und wurde uns – in unserer Übersetzung/DeepL – liebenswürdiger Weise überlassen. Natürlich hoffen Belcanto-Fans auf eine CD-Aufnahme der Oper. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper finden Sie  hier  Red. Geerd Heinsen

Aggressivität und Melancholie

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Natürlich steht Joana Mallwitz beim CD-Debüt für die Deutsche Grammophon vor „ihrem“ Konzerthausorchester Berlin. Der Titel „The Kurt Weill Album“ (487 5670) steht für den Mut der Dirigentin bei der Programmauswahl, hat sie doch Weills nicht eben populäre Sinfonien Nr. 1 und 2 mit dem bekannten Ballett „Die sieben Todsünden“ kombiniert und damit nicht unbedingt einen Verkaufserfolg garantiert. Nach dem Hören der CD wird wohl mancher Musikfreund seine anfängliche Skepsis ablegen und das nächst  gelegene Musikgeschäft aufsuchen, um die CD zu erwerben. Denn Mallwitz bringt den Tonfall der Musik zu optimaler Wirkung – ihre Aggressivität wie ihre Melancholie.

Die Symphonie No. 1, betitelt die „Berliner Symphonie“, ist ein Frühwerk von 1921, wurde erst 1958 uraufgeführt, was dafür spricht, dass man dem Werk damals jegliche Bedeutung absprach. Die viersätzige Komposition beginnt mit einem Grave. Breit und wuchtig. Mallwitz realisiert diese Vorgabe imponierend, ohne den lyrischen Inseln des Satzes weniger Aufmerksamkeit zu schenken.   Auch den Charakter des 2. Satzes, Allegro vivace, Wild, heftig, trifft sie genau, suggeriert einen nervösen Großstadtlärm. Der 3. Satz, Andante religioso, kontrastiert als träumerisches Intermezzo, der 4., Larghetto. Ruhig, ohne Leidenschaft, beginnt mit einem pochenden Motiv, das sich zu einer hymnisch-breiten Klangfläche entwickelt Mit dem bestens aufgelegten Orchester gelingt der Dirigentin eine exemplarische Wiedergabe, die sich würdig einreiht in die wenigen existierenden Einspielungen (H. K. Gruber/Anthony Beaumont/Marin Alsop/Roland Bader).

Die Symphony No. 2 entstand 1934, ist dreisätzig und trägt die Bezeichnung „Fantaisie Symphonique“. Sie klingt viel Weill-typischer als die 1. und weist Gemeinsamkeiten mit den Sieben Todsünden auf. Motorische Hektik vernimmt man im 1. Satz, Sostenuto – Allegro molto, gewichtige ernste Klänge im folgenden Largo und am Ende im Allegro vivace eine ausgelassene Tanzszene. In Bruno Walter, der die Uraufführung in Amsterdam leitete, fand das Werk einen starken Fürsprecher. Joana Mallwitz folgt dem großen Vorgänger mit totalem Einsatz.

Zwischen den beiden sinfonischen Werken ist das Ballett platziert, welches 1933 in Paris zur Premiere kam.   Hier dominiert Katharine Mehrling als Anna I und II, sekundiert von den Tenören Michael Porter und Simone Bode sowie dem Bariton Michael Nagl und dem Bassbariton Oliver Zwarg in den Partien der Familie. In Sachen Brecht/Weill ist Mehrling eine erprobte Sängerin. Man hört bei ihr nicht den pathosreichen Diven-Ton einer Milva oder den gemeißelten Sound von Gisela May, freilich auch nicht deren geschärfte Diktion. Ihre Interpretation klingt weicher, dadurch weniger eindringlich und packend – mehr in der Nähe des französischen Chansons. Daneben gibt es auch plärrende oder an stimmliche Grenzen stoßende Momente (wie am Schluss der dritten Sünde: „Zorn“, der fünften: „Unzucht“ und siebten: „Neid“). Dennoch gelingen Mehrling bemerkenswerte Details in Tonfall und Färbung, vor allem in den kurzen Einwürfen von Anna II. Und mit dem Epilog, „Darauf kehrten wir zurück nach Louisiana“, knüpft sie an den von ihr den atmosphärisch  geformten Prolog, „Meiner Schwester und ich stammen aus  Louisiana“, an. Bernd Hoppe