Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Audiovisuelle Einsichten

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Wilhelm Furtwängler, einer der wichtigsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, starb am 30. November 1954 in Ebersteinburg (Baden-Baden). Trotz eines anhaltenden Interesses an seinen Interpretationen und Aufnahmen blieb sein 70. Todestag im öffentlichen Bewusstsein weitestgehend unbeachtet. Den bedeutenden künstlerischen Institutionen, mit denen Furtwängler gearbeitet hatte – allen voran die Berliner Philharmoniker, aber auch die Staatsoper Unter den Linden, das Gewandhausorchester Leipzig, die Wiener Philharmoniker, das Philharmonia Orchestra London oder die Salzburger Festspiele – war die Erinnerung an Furtwängler anlässlich seines 70. Todestags 2024 keine Erwähnung oder Würdigung wert. Sicher kann man darüber streiten, ob ausgerechnet der 70. Todestag ein besonderes „Jubiläum“ ist. Doch anderseits werden auch alle möglichen „krummen“ Geburts- oder Todestage von Musikern beachtet. Es lohnt sich jedenfalls der Frage nachzugehen, was uns Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tode noch zu sagen hat, warum seine Interpretationen immer noch und immer wieder faszinieren und sogar jüngere Hörer anziehen, wie zum Beispiel das Interesse des Publikums in Japan, Korea und sogar China zeigt.

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Aufmerksamen Beobachtern des Musiklebens dürfte nicht entgangen sein, dass es entgegen der vorherrschenden Tendenz doch einige Furtwängler-Würdigungen gab: Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte am 29. November, ein wenig versteckt, nicht in ihrer Printausgabe, sondern ausschließlich digital, einen lesenswerten Zweispalter von Wolfgang Schreiber. Der Geiger Daniel Hope erinnerte am 1. Dezember im WDR anderthalb Stunden lang in Wort und Ton an Furtwängler – auf eine Art, die auch Nicht-Experten diesen Ausnahmekünstler nahebringen konnte. Der Musikjournalist Kai Luehrs-Kaiser widmete sich in seiner Sendung „Meine Musik“ am 3. Dezember 2024 im rbb (radio 3) ausführlich Furtwängler – mit markanten Beispielen von dessen Interpretationskunst. Beide Sendungen sind noch eine Weile nachzuhören in der ARD Mediathek. Schließlich erinnerte der englische Musikjournalist Norman Lebrecht – der zwar immer wieder scharf Furtwänglers Haltung und Rolle während der NS-Zeit kritisiert hat, gleichzeitig aber keine Zweifel daran ließ, für wie bedeutend er den Dirigenten hält – auf seiner Website „Slipped Disc“ mit mehreren Beiträgen an Furtwängler (mit hilfreichen Links zu Texten oder Bild-Ton-Dokumenten). Und da erfuhr man denn auch, wie an Furtwängler in China erinnert wurde.

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Das Berliner Philharmonische Orchester unter Leitung seines Dirigenten, Dr. W. Furtwängler, bei einem Werkpausenkonzert in einer Halle der AEG Werke in Berlin, das von der sogenannten KdF („Kraft durch Freude“) im nationalsozialistischen Deutschland organisiert wurde. 26.2.1942 L 0607/504N. Bundesarchiv, Bild 183-L0607-504 / CC-BY-SA 3.0

Die verdienstvolle deutsche Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft (WFG), die das Ziel verfolgt, die künstlerische Leistung des Dirigenten, Komponisten und Schriftstellers Wilhelm Furtwängler lebendig zu erhalten, trug auf besondere Weise zur Erinnerung und Vergegenwärtigung des Künstlers bei. Der schon erwähnte Musikautor Wolfgang Schreiber hielt Mitte September in einer Matinee in der Berliner Universität der Künste einen Vortrag zur Bedeutung und Aktualität Furtwänglers: „Was können wir von Wilhelm Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tod lernen?“ (nachzulesen hier).

Fast genau zum Todestag des Dirigenten erschien dann die vorliegende Box „Insight – Wilhelm Furtwängler in audiovisual documents“. Sie entstand in enger Zusammenarbeit zwischen musicas.de Hamburg und der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft. Die Anregung kam von Mitgliedern der WFG und japanischen Furtwängler-Freunden, die vorschlugen, das vorliegende bzw. zugängliche audiovisuelle Material über den berühmten Dirigenten zusammenzutragen und in möglichst besserer Form zu veröffentlichen.

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Die Alte Berliner Philharmonie in der Bernburger Straße, hier während eines Furtwängler-Konzertes (Rudolf Kessler Berlin Phil Media GmbH)

Die Box enthält drei Blu-Ray-Discs. Auf BD 1 finden sich Ausschnitte von Proben, Konzerten und Ereignissen aus den Jahren 1940 bis 1963. Das sind zum einen kurze bis kürzeste Videos: z. B. der Ausschnitt eines Konzerts, das die Berliner Philharmoniker im November 1940 im Deutschen Opernhaus in Prag gaben, Schlusstakte der Probe des Brahms’schen Violinkonzertes mit dem Solisten Yehudi Menuhin (Salzburg 1947) und, sehr temperamentvoll, die Probe des Endes von Brahms‘ Vierter Symphonie in London (1948) oder der Beginn einer Probe des „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss in Berlin (1950). Zum anderen gibt es Ausschnitte mittlerer Länge. Für Konzerte, die in den Jahren 1939 bis 1945 stattfanden und natürlich auch der Propaganda der Nazis dienten, betrieb man schon einen größeren Aufwand, bis hin zur effektvollen Inszenierung auch des Publikums. Das zeigt das „Werkpausenkonzert“ in der AEG-Fabrik in Berlin-Wedding im Februar 1942 mit der Ouvertüre zu Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg und die Aufführung von Beethovens Neunter in einem Festakt am Vorabend von Hitlers Geburtstag im April 1942 (an dessen Ende ein sichtlich indignierter Wilhelm Furtwängler dem Propagandaminister Joseph Goebbels die Hand reichen muß!). Vollständig sind allein die Aufführungen der Meistersinger-Ouvertüre und des Till Eulenspiegel. Weiteres filmisches Material war nicht aufzufinden und wird sich wohl auch nicht noch finden lassen.

BD 2 enthält Furtwängler-Erinnerungen von Zeitgenossen, die ihn selbst erlebt oder mit ihm gearbeitet haben – dem Dirigenten Claudio Abbado, einem seiner Nachfolger in Berlin (der Furtwängler in Wien erlebte und ihn für den bedeutenderen Dirigenten als seinen Landsmann Toscanini hielt!), dem auch komponierenden Philosophen und Soziologen Theodor Adorno (der als junger Mann schon überaus von Furtwängler begeistert war), dem Geiger Yehudi Menuhin (der von Furtwängler schwärmt und vor allem dessen Einfühlungs­vermögen und Kunst zu begleiten lobt), dem Komponisten und langjährigen Solo-Paukisten der Berliner Philharmoniker Werner Thärichen (der 1987 das sehr lesens- und bedenkenswerte Buch „Paukenschläge – Furtwängler oder Karajan?“ veröffentlichte) sowie anderen. Alle fremdsprachigen Beiträge sind deutsch untertitelt. 

Auf BD 3 ist eine Rarität veröffentlicht: die ungewöhnliche Filmdokumentation „Wilhelm Furtwängler“ vom Neffen des Dirigenten Florian Furtwängler aus dem Jahre 1968.

Das Bild- und Tonmaterial wurde aufwendig restauriert und auf den neuesten technischen Stand gebracht. Die Box ist für den internationalen Markt konzipiert. Deshalb kommt sie in Deutsch und Englisch heraus, für den japanischen Markt gibt es einen Einleger mit den Texten in japanischer Sprache.

Wilhelm Furtwängler auf Tournee/Archiv bphneu

Die Edition wurde möglich durch das Engagement der WFG und ihres Vorsitzenden Helge Grünewald. Der Musikpublizist hat dokumentarisches Material aus den Archiven der Furtwängler-Gesellschaft und der Berliner Philharmoniker, seiner umfangreichen eigenen Sammlung sowie privaten Quellen erschließen können. Er ist auch Autor und Redakteur des reichhaltigen, 123-seitigen, zweisprachigen Begleitbuchs. Der Textteil wird illustriert mit umfangreichem, teilweise auch neuem, bisher noch unveröffentlichtem Fotomaterial.

Statt eines Vorworts liest man kluge, bedenkenswerte und Furtwängler und seine interpretatorischen Eigenheiten sehr gut charakterisierende Bemerkungen von Daniel Barenboim unter dem Titel „Warum uns Furtwängler bis heute bewegt“, ursprünglich zu Furtwänglers 60. Todestag, dem 30. November 2014 verfasst. Barenboim hatte Furtwängler noch als Jugendlicher in Salzburg erlebt, er wurde ihm sogar vorgestellt. Furtwängler äußerte sich sehr positiv über das musikalische „Wunderkind“. Daniel Barenboim ist – wie der jüngere Christian Thielemann – einer der wenigen heurigen Dirigenten, die in ihren Interpretationen an Furtwängler anknüpfen.

Man wünscht dieser auch graphisch ansprechend gestalteten Veröffentlichung, eine große Verbreitung. Editionen wie diese wünscht man sich öfter, sie sind jedoch eine absolute Rarität auf dem Markt der Ton- und auch Bildtonträger. Musicas.de, die produzierende Firma und ihr rühriger Inhaber Markus Steffen, haben sich bereits mit ähnlichen Produkten einen Namen gemacht – zum Beispiel mit drei Otto-Klemperer-Editionen. Wenn man sich auf dem Markt umsieht, findet man zwar im immer wieder in dem doch als aussterbend bezeichneten CD-Bereich Sammeleditionen, die Solisten, Dirigenten, Orchestern gewidmet sind, häufig aber in liebloser „Konfektionierung“ und fragwürdigem Mastering erscheinen. Es geht dann zumeist um die x-te Wiederverwertung von vorhandenem (historischem) Material.

In Zusammenstellung, Aufmachung, Gestaltung ist die vorliegende Edition gewiss ein Ausnahmeprodukt. Sie bietet nicht nur den Blick auf den Interpreten Furtwängler, sondern auch Einblicke in sein Denken und Arbeiten. Nicht zuletzt erfährt man, dass Furtwängler zu seiner Zeit ein „Star“ war, aber ohne Star-Allüren auskam. Peter Heissler

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Insight – Wilhelm Furtwängler in historischen audiovisuellen Dokumenten (Box mit 3 Blu-Ray Discs, Begleitbuch, gebunden, 123 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,; Texte Deutsch und Englisch; Musicas.de GmbH, Hamburg in Zusammenarbeit mit der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, Berlin; Gesamtdauer 275 Minuten, Sound Format PCM Stereo; ISBN 4 260213 919209/ Abbildung oben: Ausschnitt aus dem ARD-Film Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Ausschwitz.

Jules Massenets „Hérodiade“

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Nach längerer Zeit gibt es zur Jahreswende 2024/25 eine Massenet-Renaissance, wie nun eine neue Hérodiade bei Naxos und eine Grisélidis beim Palazzetto Bru Zane (der dem Vernehmen nach ebenfalls eine Hérodiade plante, allerdings auch weiteres von Saint-Saens in der Pipeline hat). Angesichts der fabelhaften Grisélidis möchte man nicht murren, aber es gibt so viele andere unbekannte Werke des französischen Repertoires, dass man bei bekannten Titeln wie Hérodiade doch angesichts der CD-Konkurrenz etwas eingeschränkter urteilt, selbst wenn das Naxos-Ergebnis eine Berliner Sternstunde der Deutschen Oper festhält (in der Fassung von 1884, wie es dem Programmheft zu entnehmen war und nun auf der CD-Hülle zu lesen ist). Zu besagter Konkurrenz dann nachstehend mehr, auch zu den Fassungen, denn da herrscht Verwirrung, auch bei der Quellenlage. G. H.

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Massenets „Hérodiade“: Clementine Margaine in Berlin 2023/Foto Bettina Stöß

Nun also die neue Naxos-Aufnahme: Konzertante Opernaufführungen gehören zum Standardprogramm der Deutschen Oper Berlin, und zumeist zählen sie zu den Höhepunkten einer Saison. So auch am im Juni 2023, als das Publikum Jules Massenets  Hérodiade in einer Maßstab setzenden Wiedergabe unter Enrique Mazzola erleben konnte und frenetisch feierte und wie sie nun (eigens aufgenommen und ohne Beifall) bei Naxos auf der CD zu erleben ist. Der italienische Dirigent ist Spezialist für das ausgefallene Repertoire und damit regelmäßig zu Gast an der Deutschen Oper. Gespielt wurde die vieraktige Fassung Werkes „von 1884“, das 1881 in Brüssel seine Uraufführung erlebte. Mazzola breitet die vielfältige Musik in aller Pracht und mit der gebotenen schwülen Sinnlichkeit aus, scheut weder den großen schwelgerischen Rausch noch die exzessiven Klangblöcke. Das reiche Spektrum an Farben und Stimmungen kommt unter seiner Leitung zu faszinierender Wirkung – von den Préludes und Ballets bis zu den dramatischen Tableaus und packenden Finali. Der Chor und Extra-Chor der Deutschen Oper (Einstudierung: Jeremy Bines) haben mit differenziertem Gesang großen Anteil am fulminanten Gesamteindruck.

Hervorragend ist die Besetzung der fordernden Solopartien, angeführt von Clémentine Margaine in der Titelrolle mit einem Mezzo von dunkler Glut, satter Tiefe und umwerfendem Aplomb in den Spitzentönen. Furios in ihrem rasenden Zorn auf den Propheten Jean, von dem sie sich beleidigt glaubt, ist sie in der Szene „C’est sa tête que je réclame!“ im existentiellen Ausnahmezustand. Zudem wird sie gequält von der Eifersucht auf ihre Tochter Salomé, die sich in Jean verliebt hat, aber selbst von Hérode umschwärmt und begehrt wird. Die australische Nicole Car gibt der zweiten weiblichen Hauptrolle starke Kontur mit einer ausgeglichenen, perfekt geführten Stimme ohne Brüche und mit reichen Valeurs. Gleich in ihrem Auftritt kann sie bei „Il est doux, il est bon“ mit flirrenden Tönen ihre Zuneigung zu dem Propheten bekunden und am Ende des 1. Aktes im Duett mit ihm die gesteigerte Leidenschaft ausdrücken. Mit Matthew Polenzani steht eine zutiefst glaubwürdige Besetzung für die Tenorpartie zur Verfügung. Nach Mozart-Rollen und dem Belcanto-Repertoire hat sich der Amerikaner nun die Zwischenfach-Partien zu eigen gemacht. In den französischen ist er besonders erfolgreich, was auch diese Interpretation beweist, welche die derzeit auf Dokumenten erhältlichen stilistisch oft überragt. Mit exquisit geführter Stimme, dem Einsatz der kultivierten voix mixte und glanzvollen Spitzentönen erfüllt er alle Ansprüche der Partie in blendender Manier. Auch Etienne Dupuis ist ein renommierter Vertreter für das französische Fach. Sein Hérode ist prägnant differenziert zwischen dem schwärmerischen Verlangen nach Salomé („Reviens, je te veux“), der verzehrenden Leidenschaft für diese Frau („Oui, je n’aime que toi!“) und schließlich dem Hass auf sie, weil sie sich verweigert und ihre Liebe zu Jean offenbart („Je châtierai tes funestes amours!“). Glanzstück der Partie ist seine fiebrige Vision („Vision fugitive“), nachdem er den von einer jungen Babylonierin (Sua Jo mit apartem Sopran)  gereichten Liebestrank eingenommen hat. Der Kanadier kann sich hier von einer träumerischen Stimmung bis zur Ekstase steigern und bewältigt diese Herausforderung mit Glanz. Auch die anderen Partien sind kompetent besetzt. Der Bassbariton Marko Mimica gibt den Astrologen Phanuel mit Autorität und profunder Tiefe, Dean Murphy den römischen Prokonsul Vitellius mit resonanten Tönen und Kyle Miller den Grand prêtre mit jugendlicher, auffallend schöner Stimme. Bernd Hoppe

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Massenets „Hérodiade“/Illustration zur Brüsseler Aufführung in der italienischen Fassung 1881/BNF Gallica

Dazu doch ein Wort: Es drängt sich bei der Ankündigung Vieraktfassung von 1884“ doch ein fragendes Runzeln auf die Stirn, denn die lakonische Auskunft der Musikabteilung der Deutschen Oper zu ihrem Konzert machte stutzig: „Wir haben die einzige gängige, überlieferte Fassung verwendet: Das ist die 4-aktige von 1884.“ Aber es gibt keine Vierakt-Fassung von 1884 in Französisch! In Paris wurde in diesem Jahr Hérodiade als Erodiade in Italienisch aufgeführt! In der Scala-Originalfassung von 1882.

Und nun geht´s los. Die Oper wurde am 19. Dezember 1881 im Théâtre de la Monnaie (Brüssel) uraufgeführt (in einer 3-aktigen Version in italienischer!!! Sprache). Die endgültige Fassung gab es am 2. Oktober 1903 im Théâtre de la Gaîté-Lyrique (Paris), in Französisch nun endlich. Das ganze nach Hérodias von Gustave Flaubert.

Massenets „Hérodiade“: Foto der Aufführung 190? am Pariser Théâtre de la Gaiété/BNF Gallica

Der antike Stoff von Flauberts Geschichte, der tatsächliche religiöse Ereignisse in einen Rahmen orientalischer Anständigkeit stellte, lieferte Material, das sich ideal für die Komposition einer großen Oper eignete. Obwohl Salomé ihren berühmten Tanz der sieben Schleier nicht aufführt (wie später in Mariottes und Strauss‘ Opern), nimmt sie in dieser Oper eine zentrale Stellung ein. Sie ist leidenschaftlich in Jean-Baptiste verliebt und bereit, mit ihm zu sterben, während Hérode außer sich vor Eifersucht den Befehl gibt, den Propheten zu enthaupten.

Obwohl die Handlung kurz gefasst ist, wurde sie mehrfach überarbeitet, während das Werk gleichzeitig für die Pariser Oper (in französischer Sprache) und die Mailänder Scala (in italienischer Sprache) vorgesehen war. Angelo Zanardinis (ein bekannter italienischer Librettist, der auch für Verdi arbeitete ) ursprüngliche Handlung wurde von Claude Milliet (Paris) mit Unterstützung von dem Verleger Georges Hartmann überarbeitet, damit der Komponist das original italienische Libretto auf Französisch bearbeiten konnte. Massenet überwachte die dramatische Konsistenz des Werkes und stärkte seine Einheit durch die Verwendung häufig wiederkehrender Motive. Die klare Struktur der Partitur, die funkelnde, raffinierte Musik, die großartigen Chorszenen, die stimmlichen und dramatischen Anforderungen der vier Hauptrollen waren alles Elemente, die dem ursprünglichen Auftrag entsprachen. Obwohl Massenet mit diesem Werk den Höhepunkt seines Schaffens erreicht hatte, wurde es durch ein überarbeitetes Libretto untergraben, das der Titelrolle nach und nach die Substanz entzogen hatte.

Massenets „Hérodiade“: Emma Calvé als Salomé in Paris 1903/Wikipedia

Der Verlag Ricordi zog sein Angebot zurück (Hartmann übernahm es) und der Pariser Intendant Vaucorbeil lehnte das Werk in der vorliegenden Form ab, sodass Hérodiade als Erodiade statt in Mailand oder Paris in Brüssel uraufgeführt wurde. Massenet überarbeitete das Gesamtwerk viele Male. Die italienische Premiere am 23. Februar 1882 an der Mailänder Scala in italienisch („,I ballabili sono composti dal signor Cesare Coppini“) statt, die französische Premiere fand am 29. März 1883 in Nantes statt (in 3 Akten, so die Info vom Palazzetto Bru Zane) und die 4-Akt-Version (in italienisch!!!) dann am 1. Februar 1884 am Théâtre-Italien in Paris und (erneut in Italienisch) an der Scala 1886. Erst 1903 bzw. 1911 legte man (wer? Der Verlag? Massenet?) sich auf eine endgültige französische Vier-Akt-Version fest (die nun wohl als „gängige Fassung“ gilt).

Das ist ebenso überraschend wie kaum bekannt. Leider hat der Verlag Hartmann bislang nicht auf Fragen geantwortet, und da bleibt man eben bei der „gängigen Fassung“ in vier Akten und eben Französisch (mit Ausweitung der Akte zwei und drei auf einen vierten). Die ursprüngliche Struktur der Oper bestand aus drei Akten und fünf Tableaus, wobei die heutigen ersten Szenen des zweiten und dritten Aktes später hinzugefügt wurden. Die letzte Szene des zweiten Aktes war ursprünglich die letzte des ersten Aktes, wobei Salomés Arie in Akt 3, Szene 2 am Anfang von Akt 2 steht und der letzte Akt in beiden Versionen identisch aufgebaut ist. Diese zusätzlichen Szenen tragen nicht gerade zur Handlung bei, sondern erschweren eher das Verständnis, da in beiden Szenen eigentlich nichts passiert. Auch musikalisch bringen sie nicht viel, da die beste Musik in den ursprünglichen fünf Tableaus konzentriert ist.  Soweit die Sachlage.

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Kaum etwas erklingt zum ersten Male, und im Falle der Hérodiade schon gar nicht. Abgesehen von den unendlich vielen antiken und modernen Einzelstücken für Sopran, Mezzo und Bariton und den doch recht reichlichen Aufführungen namentlich im francophonen Raum (Liége, Lille, Lyon, Marseille etc.) gibt es auch einige CD-Dokumente von Rang. Die Standardaufnahme (von 1963) war jahrzehntelang der große Querschnitt bei Pathé-EMI/Warner mit Régine Crespin, Rita Gorr (brrrr), Albert Lance und Michel Dens unter Georges Prêtre, bis auf die zu placide Gorr top besetzt und kaum zu überbieten.

Aber es gibt weiteres. Vom Niederländischen Rundfunk kommt ein Mitschnitt bei Malibran mit der etwas stumpfen Andréa Guiot als Salomé, dazu sehr tapfer Mimi Arden als ihre Mutter (nur Wallonen werden jubeln), dazu recht marzialisch Guy Fouché als Jean und sonor Charles Cambon als etwas rauher Hérode  sowie Germain Ghislain (qui est?) als Phanuél (youtube hat manches von ihm, eine interessante Stimme), Jos Burcksen und Cornelius Kalkman. Albert Wolff dirigiert 1957. Der Sound ist gutes Radio-Mono (auch bei youtube)

Aus La douce France erklingt weiteres, denn trotz nicht ganz so glamouröser Technik ist der Radiomitschnitt (CQR Èditions) von 1963 unter Altmeister Pierre Delvaux mit der leuchtenden Suzanne Sarrocca, der auftrumpfenden Lucienne Delvaux und natürlich mit meiner All-Time-Liebe Robert Massard (zudem mit Paul Finel und Jacques Mars) ziemlich das Beste, was ich kenne. Gleich danach kommt die dto. Radio France-Übernahme von 1985/6 mit der grandiosen Nadine Denize in der Titelrolle, dazu Ernest Blanc und dem weniger bekannten, aber strammen Jean Brazzi. Die kurzfristig für Régine Crespin eingesprungene Muriel Channes ist eben keine Crespin, aber sie schlägt sich mehr als tapfer. Und über Diktion brauchen wir auch hier nicht reden. David Lloyd-Jones dirigiert machtvoll in gutem Stereo (bei vielen Firmen, von MRF-LP ehemals zu Rodolphe bis INA Opera). Ein Konzert der American Opera Society von 1963 in der New Yorker Carnegie Hall bei Opera Depot hält eine Hérodiade mit Regine Crespin, Rita Gorr und Guy Chauvet unter Alain Lombard fest. Die angebliche Drei-Akt-Fassung aus Marseille/Saint Etienne von 2018 bei youtube entpuppt sich als vieraktig.

Die folgende „offizielle“ CBS/Sony-Aufnahme kann da gar nicht mithalten, trotz des Breitwandsounds live aus San Francisco 1995 unter Valery Gergiev, denn weder Renée Fleming noch Placido Domingo haben irgendetwas mit dem Werk zu tun, auch wenn sie es auf den Bühnen der Welt gesungen haben (gruselig ist sein Wiener Abend 1995 mit Agnes Baltsa in Erinnerung, der bei RCA als Live-Erlebnis festgehalten wurde). Dolora Zajic verwechselt die Hérodiade mit Azucena, Thomas Hampsons Hérode macht zwar seine lüsternen Absichten auf Salomé kaum glauben, aber er hat seine maniriert-grüblerischen Momente, Juan Pons gibt einen gutgelaunten Phanuel ohne Profil. Touts pas trop francais. Auch bei der EMI/Warner-Aufnahme mit Cheryl Studer und Ben Heppner unter Michel Plasson kommt keine Freude auf, trotz José van Dam und Nadine Denize (1995 nicht mehr in so guter Form und vielleicht vom Mikro nicht begünstigt): Die beiden amerikanischen Kräfte torpedieren die francophonen. Irgendwie ist das wieder so eine Vertragsgeschichte, deren Teile nicht zusammen passen, trotz eben…

Gruselig wird´s dann bei Gala mit Grace Bumbry und Leona Mitchel in Nizza 1987, was Georges Prêtre verantwortet. Guilbert Py bölkt sich mal wieder durch den Jean, und Jacques Mars klingt desinteressiert (Nizza war berühmt für gute Gagen). Ach ja, diese Franzosen, spätestens ab den Achtzigern wurd´ es eben dünn mit großen einheimischen Stimmen. In andere Abgründe steigt man in Barcelona 1984, wo Montserrat Caballé Verführung vorgibt und Dunja Vejzovic sich hoffnungslos mit der Titelrolle  überfordert. „Monzis“ Fans wird´s nicht rühren, und José Carréras ist immer ein Listen-in wert, aber dies ist keine Tenoroper (Legato und andere).

Insofern ist die neue Aufnahme bei Naxos ein absoluter Gewinn, denn Etienne Dupuis (mir persönlich zu weich und zu hell für den Hérode) und die fulminante Clémentine Margaine in der Titelpartie garantieren neben den übrigen für einen weitgehend idiomatisch-französischen Abend der Extraklasse, auch wenn das Ballett mal wieder (bis auf eine kurze Nummer) fehlt (das findet sich auf einer Naxos Massenet-Opern-Ballett-CD 8.573123/ Foto oben Emma Calvé als Salomé) . Geerd Heinsen

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Kabuki-Theater

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Eher als Oratorium denn als Oper scheint Regisseur Satoshi Miyagi Mozarts Frühwerk Mitridate, Re di Ponto zu sehen, denn er ließ durch den als Wall Designer bezeichneten Eri Fukazawa eine Riesenwand mit einigen Emporen und steilen Treppen an beiden Seiten ein goldenes Gebilde errichten, auf das japanische Motive wie zürnende Götter oder auch einfach Bambus projiziert wurden. Ganz im Geiste des Kabuki-Theaters, aber über kurze Strecken hinweg zumindest durch die Kostüme ( Kayo Takahashi Deschene) auch auf Japan im Zweiten Weltkrieg hinweisend, wird die Regie der ersten opera seria Mozarts, die 1770 in Mailand uraufgeführt wurde, durchaus gerecht, denn es gibt fast nur Arien, kaum Interaktion zwischen den Beteiligten mit einem kurzen Duett und einer ebensolchen Schlussszene. Ist es bei überkandidelten modernen Inszenierungen oft ein Vorteil für den Zuschauer, dass er auf dem Bildschirm nur einen Szenenausschnitt erblicken kann, vermisst man bei dieser Produktion doch häufig den imponierenden Gesamteindruck, dafür ist es dem Zuschauer vergönnt, auch Einzelheiten wie die auf das Schicksal der Personen hinweisenden Tierfiguren, mal als stolzer Helm getragen, mal wie eine Würgeschlange das Leben bedrohend, zu sehen. Etwas im Dunkeln bleibt, was neben dem Wall Designer eigentlich der Set Designer Junpei Kiz noch zu verantworten hat, und um noch beim Verzeichnis der Mitwirkenden zu bleiben, es fehlt leider ganz der Name des vorzüglichen Hornisten, der auf der Bühne eine Arie  wunderbar begleitet.

Im Orchestergraben ist übrigens nicht die Staatskapelle, sondern es sind  Les Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski auf Originalinstrumenten, die im Rahmen der alljährlich im Herbst stattfindenden Barocktage, die Daniel Barenboim die Möglichkeit zu Gastspielen mit seinem Orchester gaben, eine schöne, nun abgebrochene Tradition waren. Wie  optisch auf der Bühne, so funkelte es auch akustisch, wurde den Sängerstimmen ein sanft-eleganter Klangteppich unterlegt und durch Straffheit eine nie nachlassende Spannung erreicht.

Die Besetzung der Premierenserie braucht sich hinter der der Wiederaufnahme 2023 mit Elsa Dreisig nicht zu verstecken. Pene Pati singt die für Guglielmo d’Ettore komponierte Titelpartie mit farbiger, kraftvoller Stimme, die die Extremhöhen nicht nur nicht zu fürchten, sondern geradezu auszukosten scheint. Das begeistert auch das Publikum. Seine Pianissimi leuchten, seine messa di voce ist technisch perfekt und sein Singen, besonders und auch bei „Già di pietà mi spoglio“ überzeugt nicht zuletzt durch Nachdrücklichkeit. Auch die Aspasia von Ana Maria Labin kann mit schillerndem, geschmeidigem Sopran überzeugen, meistert die Intervallsprünge perfekt und macht viel aus den Rezitativen. Einen leichten Mezzosopran setzt Angela Brower in der Kastratenpartie des Pietro Benedetti für den Prinzen Sifare ein, lässt Vorsicht bei den Koloraturen walten, kann sich aber durchaus neben dem Bruder Farnace, gesungen vom Countertenor Paul-Antoine Bénos-Dijan, der stellenweise etwas weinerlich klingt, aber mit einem tollen Triller und optisch heldischer Gestik erfreuen kann, behaupten. Auf sich aufmerksam machen mit einem satten, farbigen Mezzo kann Adriana Bignagni Lesca als Arbate, Statthalter von Ninfa, lieblich in jeder Hinsicht ist Sarah Aristidou als griechische als Prinzessin Ismene, Sahy Ratia als Marzio, römischer Tribun, punktet mit durchdringendem Charaktertenor. Die DVD ist eine reine Freude und lässt zugleich Wehmut darüber aufkommen,  dass die Barocktage der Staatsoper Vergangenheit sind (C-Major 767908). Ingrid Wanja

Auf eigenem Label

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Für ein Zurück-zu-den-Anfängen wie zugleich für ein Zu-neuen-Ufern steht die neueste CD von Juan Diego Florez, denn eine kleine Partie in der Zarzuela Luisa Fernanda vertraute der Tenor Luigi Alva einst dem gerade Neunzehnjährigen an, und die jetzt erschienene Zarzuela-CD ist die erste im neuen Label Florez Records. Ein handliches Büchlein dient als CD-Hülle und enthält gleich drei Texte, der erste einen des Sängers, der „Glück und Stolz“ darüber ausdrücken will, dass er die Aufnahme zusammen mit dem Orquestra y Coro Juvenil Sinfonia por el Perú bewerkstelligen konnte, eine segensreiche Einrichtung, die es auch jungen Künstlern aus mittellosen Familie ermöglicht, eine musikalische Laufbahn einzuschlagen. Außerdem enthält der Text Danksagungen an alle, die an der Verwirklichung des Unternehmens beteiligt waren. Im zweiten Beitrag, von Gonzalo Lahoz, wird dem Leser ein Einblick in die Geschichte der Zarzuela gewährt, ihre Bedeutung für die Identitätsstiftung zwischen den Spanisch sprechenden Völkern erwähnt, ihre Blüte auf die Zeit zwischen 1884 und 1936 festgelegt. Im dritten Beitrag, dem von Miguel Molinari,  wird  besonders auf die Zarzuela in Lima, der Heimat des Sägers, eingegangen, auf die Geburt der Gattung im Palast La Zarzuela, was Brombeere bedeutet, auf den nicht unbekannten ersten Librettisten Calderon della Barca und die erste, 1701 in Lima aufgeführte Zarzuela mit dem Titel La púrpera della rosa.

Florez wurde in Europa zuerst durch sein Mitwirken bei den Rossini-Festspielen in Pesaro bekannt, beginnend 1996 mit Matilde di Shabran. Inzwischen hat er sein Repertoire nach der Eroberung des italienischen Belcanto auch mit französischen Partien erweitert, so dem Raoul, Hoffmann, Faust und Des Grieux. An seinem Ausflug zu Verdi (Duca, Alfredo) und Puccini (Rodolfo) scheiden sich die Geister. Die Rückwendung zur Zarzuela allerdings dürfte unangezweifelte Freude bereiten und zugleich diejenigen verstummen lassen, die sie mit der opéra comique oder dem deutschen Singspiel zu vergleichen versuchen.

Es beginnt mit Serranos El Trust de los Tenorios, in dem einer der Herren beteuert, für die schwarzen Augen seines Mädchens sterben zu müssen, was ungemein rasant und ausgesprochen tänzerisch bewegt dargeboten wird, in der Arie aus Luisa Fernanda hingegen besticht der Tenor durch die leichte Emission der Stimme, das Durchmessen der Registersprünge mit einer Stimme wie aus einem Guss und einer sicheren Höhe. In den drei Arien aus Zarzuelas von Serrano begeistert die Eleganz der Stimmführung,  durchweg in allen Tracks die anscheinende  Mühelosigkeit des Singens, die aristokratische Haltung, das perfekt gestützte Piano. Die Emigrantes von Barrera zeigen in besonderem Maße die reiche Agogik, zu der die flexible Stimme fähig ist, in El Guitarrico vereinen sich häufige Wiederholung mit einer ständigen Steigerung des Ausdrucks. Die leidenschaftliche Arie des Leandro aus La Tabernera del Puerto schließlich lässt eher an Oper als an Operette denken.

Vielseitig zeigt sich das Orchester unter Guillermo Garcia Calvo, in Deutschland ausgerechnet durch seine Wagnerinterpretationen  und als Generalmusikdirektor in Chemnitz bekannt, und hier die jungen Musiker zu temperamentvollem und dabei präzisem Spiel führend (2024 Florez Records). Ingrid Wanja

Carlo Coccias „Matilde“

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico, ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Unternehmen. Unter der Hand des künstlerischen Leiters Anthony Barrese spielt es nicht nur Standards wie Madama Butterfly, sondern hat auch mehr Rossini-Opern produziert als jedes andere amerikanische Unternehmen, darunter viele seltene. Es hat auch Raritäten von mehreren anderen Komponisten aufgeführt, darunter Franco Faccio (Amleto), Giovanni Bottesini (Alì Babà), Louise Bertin (Le loup-garou) und jetzt Carlo Coccias Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere  (oder eben im Kurztitel nach der Heldin: Matilde). Selbst die Standardwerke bieten manchmal eine überraschende Wendung: Aufgrund der großen spanischsprachigen Bevölkerung in New Mexico wurde im vergangenen Frühjahr Bizets Carmen in einer spanischen Übersetzung aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert aufgeführt, und später in diesem Monat wird der New Mexico Symphonic Chorus Mesías, Händels Messias auf Spanisch, darbieten.

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Carlo Coccia/Wikipedia

Während die meisten von uns während der Covid-Pandemie nur eingeschränkt oder gar nicht aus dem Haus gehen konnten und Opernhäuser auf der ganzen Welt geschlossen waren, verbrachte der Musikwissenschaftler und Dirigent Anthony Barrese viel Zeit damit, sich mit unbekannten Partituren aus der kurzen Zeit in der Musikgeschichte Venedigs zu beschäftigen, als kurze Einakter, die als farse bekannt waren, populär waren (ca. 1790-1820). Diese 80- bis 90-minütigen Werke wurden in der Regel in kleineren Theatern wie dem San Moisè und dem San Benedetto aufgeführt, und das Format verbreitete sich bald auch in anderen Städten Italiens. Es war eine gute Möglichkeit, preiswerte Unterhaltung anzubieten, für die eine begrenzte Besetzung und ein kleines Orchester, in der Regel ohne Chor und mit einer einfachen Kulisse, ausreichten. Es war auch eine gute Möglichkeit, aufstrebenden Komponisten einen Weg in den Opernmarkt zu ebnen und jungen Sängern die Möglichkeit zu geben, ihre Kunst zu perfektionieren, ohne den Druck, in einer großen Produktion aufzutreten.

Rossinis erste inszenierte Oper war eine Farsa (La cambiale di matrimonio, 1810), und in den nächsten drei Jahren produzierte er vier weitere Beispiele. Rossini war jedoch nicht der Einzige, der Farses schrieb, und in den Spielzeiten 2001–2005 würdigte das Rossini Opera Festival in Pesaro die Bedeutung des Genres, indem es mehrere Farses von Rossinis Zeitgenossen unter dem allgemeinen Titel Il mondo delle farse aufführte. Eine von ROF produzierte Oper war damals Carlo Coccias Arighetto, die 1813 einen großen Erfolg hatte (und die es auf die DVD gebracht hat).

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Anthony Barrese, Musikwissenschaftler, Musikarchäologe und Dirigent an der Opera Southwest von Aluquerque/NM/ Flavia Loreto Fotografia/ operalounge-Lesern bekannt durch die vielen Berichte über seine Opernausgrabungen wie Faccios „Amleto“

Maestro Barrese, der sich durch die Partituren dieser Kurzopern arbeitete, um eine davon in einer Welt nach Covid auf die Bühne zu bringen, stieß auf Carlo Coccia und seine einaktige Farsa Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere. Wie Rossini hatte Coccia fünf Werke geschrieben, die als Farse für den venezianischen Markt klassifiziert waren, und zwar zur gleichen Zeit, als der junge Rossini dort arbeitete. Barrese sah sich mehrere frühe Coccia-Partituren an, darunter eine Carlotta e Verter, die auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers basiert. Eine Online- und persönliche Suche in Archiven ergab mehrere Libretto-Kopien und eine zugängliche Partitur von Una fatale supposizione im Konservatorium von Neapel. Das Autograf im Ricordi-Archiv erforderte einen persönlichen Besuch, den Barrese nach dem Abklingen der Pandemie antreten konnte. Aus diesen Quellen erstellte er eine Aufführungsausgabe, die er vom 12. bis 14. September 2024 in Albuquerque einstudierte.

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Wer war Carlo Coccia? Er wurde am 14. April 1782 in Neapel geboren und starb am 13. April 1873 in Novara. Als Knabensopran studierte er in seiner Heimatstadt Musik und ging schließlich an das Conservatorio di Santa Maria di Loreto. Obwohl er nicht bei Paisiello studierte, förderte der ältere Maestro seine Karriere und sorgte dafür, dass er als Begleiter für Konzerte ernannt wurde, die für Joseph Bonaparte, den damaligen König von Neapel, veranstaltet wurden. Coccias erste Oper, Il matrimonio per lettera di cambio, wurde 1807 am Teatro Valle in Rom aufgeführt und war ein Misserfolg. Coccia war entmutigt und wollte das Theater aufgeben, aber Paisiello ermutigte ihn, weiterzumachen, und sein zweiter Versuch im folgenden Jahr in Florenz, Il poeta fortunato, war erfolgreich.

Ritratto di Carlo Coccia Medaglione, 1890- 1899 (in Novara)/ Wikipedia

Coccia ging dann nach Venedig und schloss sich dort den Komponisten an, die an farse arbeiteten, mit La verità nella bugia. Nach einer Mischung aus Erfolgen und Misserfolgen und zunehmend unfähig, mit Rossini zu konkurrieren, nahm er 1820 eine Stelle in Lissabon als Direktor des Teatro São Carlos an. Nachdem er vier Opern zu alten Libretti für dieses Theater und eine Kantate (Il lusitano) geschrieben hatte, zog Coccia im Januar 1824 nach London, wo er Direktor des King’s Theatre in Haymarket und Lehrer an der Royal Academy of Music wurde. In London produzierte er eine Oper, Maria Stuarda, regina di Scozia (1827), die von der Kritik gefeiert wurde, aber trotz einer Besetzung mit Giuditta Pasta und Filippo Galli kein Kassenerfolg war.

1828 kehrte er nach Italien zurück und änderte seinen Stil, um ihn an die Romantik von Donizetti und Bellini anzupassen. Es gab Erfolge (L’orfano della selva, Edoardo in Iscozia, Caterina di Guisa), aber auch einige Misserfolge (darunter eine Rosmonda d’Inghilterra mit demselben Libretto von Felice Romani, das Donizetti fünf Jahre später verwendete). 1836 wurde Coccia Direktor der Accademia Filarmonica in Turin und 1840 Kapellmeister an der Kathedrale von Novara. Seine letzte Oper – Il lago delle fate wurde 1841 in Turin uraufgeführt, war jedoch kein Erfolg. Danach widmete er sich der Kirchenmusik. 1868/69 wirkte er an der von Verdi zu Ehren Rossinis geplanten Totenmesse mit einem Lacrimosa für den A-cappella-Chor mit. Er starb 1873, einen Tag vor seinem einundneunzigsten Geburtstag.

Wie so viele andere bemühte sich Coccia, im Schatten Rossinis zu überleben, aber zumindest in seinen frühen Tagen war keineswegs klar, welcher Komponist triumphieren würde. In gewisser Weise konkurrierten sie in den Jahren 1810–1813 direkt miteinander, insbesondere bei der venezianischen Farsa, und so kann ein Werk wie Una fatale supposizione Licht auf Coccia selbst und auch auf Rossini werfen.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 2. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zunächst einmal haben Coccias erste Oper, die 1807 aufgeführt wurde, und Rossinis erste inszenierte Oper (1810) dieselbe Quelle, Camillo Federicis La cambiale di matrimonio viel gemeinsam. Da Coccia bereits in Venedig war, als Rossini 1810 ankam, und da Una fatale supposizione etwa einen Monat nach La cambiale di matrimonio im San Moisè uraufgeführt wurde, ist es wahrscheinlich, dass Rossinis Librettist Gaetano Rossi von Coccias Oper aus derselben Quelle wusste.

Das Genre der Farsa folgte demselben Muster mit einigen Variationen. Alle endeten glücklich, aber einige waren wirklich Opern semiserie, während andere eher eine Farce waren. Una fatale supposizione nähert sich dem Genre Semiseria, ebenso wie Rossinis L’inganno felice – beide mit demselben Librettisten, Giuseppe Foppa, und beide mit demselben Topos: eine unschuldige Ehefrau, die von einem abgewiesenen Verehrer fälschlicherweise beschuldigt wird, mit den daraus resultierenden Turbulenzen. Normalerweise, wie in L’inganno felice, befiehlt der Ehemann, dass die von Verleumdungen betroffene Ehefrau getötet wird, aber ein mitfühlender Gefolgsmann überlässt sie stattdessen sich selbst in einer wilden Umgebung; schließlich kommt die Wahrheit ans Licht, das Paar versöhnt sich und der Ankläger wird bestraft.

Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 1. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Coccia selbst komponierte La donna selvaggia, eine Oper in zwei Akten mit genau diesen Zutaten (die der Librettist Foppa auf der Grundlage seines eigenen Prosadramas von 1800 verwendete). In dieser Variante wird der „wilden Frau“ des Titels vom Diener die Kleidung als „Beweis“ für ihren Tod abgenommen, sodass sie gezwungen ist, Tierfelle zu tragen, und für ein wildes Tier gehalten wird. In Una fatale supposizione sind jedoch die Kinder die Leidtragenden der Verleumdung: der Sohn des Verräters und die Tochter der fälschlicherweise beschuldigten Ehefrau.

Die Struktur der Farsa sah vor, dass die Oper mit einer ausgedehnten Introduzione beginnt, die manchmal eine Arie für eine Hauptfigur enthielt. Es folgen ein oder zwei Arien und ein Duett, die zu einem großen Ensemble führen (ein Trio, das in Una fatale supposizione zu einem Quartett wird). Diese Nummer ist wie ein Finale des ersten Aktes, aber in einer Farsa geht die Handlung weiter, oft mit einer Aria di sorbetto für eine Nebenfigur, gefolgt von weiteren Arien und/oder Duetten, einschließlich des letzten formellen Stücks für den Sopran; eine abschließende Auflösung bringt alle Figuren auf der Bühne für das Finale zusammen. Alle fünf Einakter farse von Coccia (obwohl nicht alle offiziell als farse bezeichnet wurden) folgen diesem Muster, ebenso wie die fünf farse von Rossini, die etwa im gleichen Zeitraum komponiert wurden.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 3. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zur Handlung: In Una fatale supposizione ossia Amore e dovere (Eine fatale Vermutung, oder Liebe und Pflicht) ist Dolibanos Frau Sofia kürzlich gestorben und Dolibano ist in den Besitz eines Briefes seines alten Freundes Guglielmo Vodmar gelangt, aus dem hervorgeht, dass Guglielmo eine Affäre mit Sofia beendet hat und dass Matilde in Wirklichkeit sein Kind ist und nicht das von Dolibano. Matilde kann nicht verstehen, warum ihr Vater versucht, Guglielmos Sohn Federico, der ihr Verehrer ist, von ihr fernzuhalten, und sie drängt den treuen alten Diener Pantarotto, zu verraten, dass ihr Vater glaubt, seine verstorbene Frau sei untreu gewesen. Obwohl sie es nicht glaubt, stimmt sie zu, das Geheimnis für sich zu behalten. Als Dolibano darauf besteht, Matilde fortzuschicken, ist Federico wütend und versucht, dies zu verhindern. Matilde verteidigt jedoch ihren Vater und stimmt zu, zu gehen, womit sie ihre Unterwerfung unter die Pflicht (das „Dovere“ des Untertitels) bestätigt. Dennoch verhindern Federicos Männer Matildes Abreise und alle kehren zu Dolibanos Schloss zurück. Hier enthüllt Federico, dass auch er einen Brief von seinem Vater hat, der auf dem Sterbebett geschrieben wurde und in dem er gesteht, dass seine Anschuldigungen der Untreue falsch waren und Matilde in Wirklichkeit Dolibanos Tochter ist. Der Weg für ein Happy End ist frei.

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Coccias „Matilde“: Cast Opera Southwest 2024

Musikalisch bewegt sich die Partitur zwischen Musik, die im 18. Jahrhundert zu Hause wäre, wie die Sinfonia, und Musik, die viele als „Rossini-ähnlich“ bezeichnen würden, außer dass Rossini unbekannt war, als Coccia seine Partitur schrieb. Es gibt sogar Passagen mit Phrasen, die denen ähneln, die wir in späteren Rossini-Partituren hören werden. In diesem frühen Stadium ihrer Karriere klingt Coccia nicht so sehr wie Rossini, sondern Rossini manchmal wie Coccia. Was der Partitur fehlt, ist ein charakteristisches Rossini-Crescendo. Coccias Partitur enthält jedoch Neuerungen, wie die Verwendung von Blasinstrumenten allein als Begleitung für einen Teil des Quartetts, und die Musik folgt dem Text genauer als es Rossinis Musik oft tut. Coccia wusste auch, wie man eine einprägsame Melodie schreibt: Selbst die Arie für Fiammetta, das Dienstmädchen, hat eine Ohrwurm-Melodie.

Die Oper scheint in Venedig ein Erfolg gewesen zu sein, denn sie erlebte auch in mehreren anderen Städten ein respektables Nachleben, darunter Neapel, Turin, Padua, Palermo und Barcelona. Der wohl bekannteste Sänger bei der venezianischen Premiere war Nicola de Grecis, ein Bass, der Pantarotto sang. In Neapel (Teatro del Fondo, Sommer 1812) wurde die Tenorrolle jedoch von dem jungen Domenico Donzelli übernommen, der seit vier Jahren in Neapel sang. Er war bereits so bekannt, dass Coccia eine neue, formellere Arie für ihn schrieb.

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico

Opera Southwest in Albuquerque brachte die Oper vom 12. bis 14. September 2004 als Matilde zur modernen Uraufführung, ein Titel, der für das amerikanische Publikum leichter zu merken ist als Una fatale supposizione. (Tatsächlich wurde sie nach ihrer Premiere in italienischen Städten als La Matilde oder La Metilde aufgeführt.) Die Besetzung bestand aus den Nachwuchskünstlern Will Kellerman (Dolibano), Alexandra Wiebe (Matilde), Eric Botto (Federico), Kim Stanish (Fiammetta) und Joshua Hughes (Pantarotto). Anthony Barrese dirigierte und Martha Collins führte Regie. Das Unternehmen plant, die Aufführung in naher Zukunft über iTunes oder YouTube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie ein Indiana Jones der Oper hat Maestro Barrese einen weiteren Schatz gehoben, und weit weg von Venedig war Coccias kleine Farsa nach zweihundert Jahren des Schweigens wieder ein Hit. Charles Jernigan/DeepL

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Auf Dokumenten ist Carlo Coccia eigentlich ganz gut repräsentiert: Die tapfere Firma Bongiovanni hat seine Caterina di Giusa aus Savona von 1990 unter Massimo de Bernart im Programm, auch seine Clotilde von 2003 unter Fabrizio Dorsi.   Ebenfalls bei der Firma gibt es aus Savona (2005) als DVD den Arrighetto erneut unter Fabrizio Dorsi.

Und wie Charles Jernigan schreibt, hat Opera Southwest vor die Matilde in naher Zukunft über iTunes oder youtube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei youtube gibt es zudem auch einiges: eine Alicia „Ash“ Hurtado steuert eine Arie aus der Matilde bei; es finden sich ein Requiem aus Bologna von 2017, natürlich Coccias Anteil aus der Messa per Rossini (8. Lacrimosa – Amen), eine Sinfonia in Sol Maggiore, Einzelstücke aus den Opern La donna selvaggia und Maria Stuarda (Opera Rara), Kammermusik und Lieder und schließlich eine etwas bizarre Hino constitucional von 1820 aus Lissabon (2024). G. H.

Jungfrau in der Anstalt

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Das badische Heidenheim hat knapp 50 000 Einwohner, eine Fußballmannschaft in der  Ersten Bundesliga und seinen Namen tragende Opernfestspiele. Die haben sich, seit der Dirigent Marcus Bosch mit seinem Orchester Cappella Aquileia dafür verantwortlich ist, zu einem Hort der Verdi-Pflege entwickelt, in den letzten Jahren kontinuierlich Frühwerke des Italieners aufgeführt und in der Spielzeit 2023 sogar neben Giovanna d’Arco im Congress Centrum noch Don Carlo im Rittersaal der Burgruine.

War man einige Jahrzehnte lang bei Sommer-Festspielen noch relativ sicher vor Auswüchsen des Regietheaters, gab es nur sporadisch eine kiffende Mimi in Macerata oder eine Maria Devia als Violetta im Miniröckchen in der Arena di Verona, so hat sich spätestens mit dem Freischütz in Bregenz gezeigt, dass sein Siegeszug in die letzten Winkel des Opernerlebens wohl unvermeidlich ist.

Weiß die Regie mit einer Handlung, und sei sie noch so stark an eine Zeit, in einen Raum gebunden, nichts anzufangen, dann kann diese als Traum, besser noch als Wahnvorstellung, hier der Jungfrau von Orléans, dargestellt werden, die bei Regisseur Ulrich Proschka in einer Nervenklinik allerlei medizinischen Prozeduren unterworfen wird, um sie vor den Wahnvorstellungen zu befreien, sie habe den  göttlichen Auftrag erhalten, Frankreich gegenüber den Engländern zu verteidigen. Letztere stellen das medizinische Personal und die himmlischen Stimmen, Talbot ist der Chefarzt, der Chor betätigt sich als sehr, sehr viele Ober-, Stations- und Assistenzärzte, zu denen sich noch Krankenschwestern in strenger Tracht mit Häubchen und Schürze gesellen. Ach, wie oft hat man dieses Personal in den letzten Jahren bereits auf Opernbühnen gesehen!

Pfähle säumen das einschließlich Bettpfanne naturalistisch gestaltete Krankenzimmer ein, außerhalb desselben treibt eine wohl nur in der Phantasie Giovannas vorhandene  Hofgesellschaft, die zugleich die Dorfbewohner darstellt,  ihr Unwesen, zum Teil phantasievoll, zum Teil abscheulich, so mit Monsterbrillen verunstaltet, gekleidet( Bühne und Kostüme Lena Scheerer). Wie bei Schiller (Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude), von dem Verdi auch das von der historischen Wahrheit abweichende Ende auf dem Schlachtfeld übernommen hat,  gibt es am Schluss die versöhnende Verklärung,  aber nur im Gesang, während auf dem Krankenbett bereits der gut verschnürte Leichnam der Jungfrau liegt.

Musikalisch eine reine Freude sind der Czech Philharmonic Choir of Brno (Petr Fiala) und die Cappella Aquileia unter Marcus Bosch, die das Brio, den Drive und den dauernden Eindruck von Spontaneität für den jungen Verdi haben. Die Gesangssolisten sind mit Miniports ausgestattet, die natürlich auf dem Bildschirm nicht zu übersehen sind. Sophie Gordeladze ist eine optisch attraktive Giovanna mit rotem Haarschopf. Ihr Sopran ist leicht, hell, meistens höhensicher und eher eine Gilda oder Violetta, kann mit „Ah, son guerriera“ punkten, für das sie die notwendige Agilità hat, ist in der Extremhöhe aber manchmal recht spitzig.  In der tieferen Lage wünscht man sich mehr Substanz. Héctor Sandovals Tenor hat für den Carlo wenig Glanz, klingt trocken, streckenweise belegt, mit unüberhörbaren Problemen beim passaggio. Um die Voraussetzungen für den Verdi-Gesang weiß der Giacomo von Luca Grassi, dem eher die kraftvollen, verdammenden Töne gelingen als die mitleidsvollen.  Machtvoll äußert sich Martin Piskorski in der kurzen Partie des Delil, düster Rory Dunne als Talbot.

Das Publikum zeigt sich begeistert und geizt auch nicht mit Szenenapplaus, allerdings stellt sich das Regieteam dem Urteil des Auditoriums nicht (Coviello COV92419). Ingrid Wanja

Tüchtiger Fabio Biondi

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Von seinem Erstling bis zu seinem Schwanengesang hat Fabio Biondi das gesamte Theater Verdis aufgeschlagen. Un giorno di regno, die unglückselige Buffa von 1840, hat er im Rahmen des Warschauer Festival „Chopin and his Europe“ im August 2022 im Warschauer Teatr Wielki dirigiert, den Falstaff, die Commedia liricia, mit der sich Verdi 53 Jahre später von der Bühne verabschiedete, in diesem September beim Verdi Festival in Parma. Der König für einen Tag liegt nun auf CD vor, in einer dieser umfangreichen signalroten Hardcover-Boxen, mit denen vor allem Biondis Warschauer Moniuszko-Aktivitäten dokumentiert werden (2 CD NIFCCD 096-097). Lange war Biondi ausschließlich Italiens Mann für die Alte Musik, spielte als Geiger in allen relevanten Formationen, bevor er 1990 sein eigenes Ensemble, Europa Galante, gründete und sich ab den 2010er Jahren auch verstärkt dem klassischen und romantischen Repertoire zuwandte.

Beim Warschauer Festival widmete er sich beispielsweise Bellinis Norma und den Capuleti e i Montecchi ebenso wie Verdis Macbeth und Il Corsaro. Bei den Aufnahmen in Warschau muss eine ausgezeichnete Stimmung geherrscht haben. Zumindest vermittelt Biondi auf Anhieb eine ansteckende Spiellust und –Freude. Er macht klar, dass es sich bei dem Stück um eine lange zu Unrecht geächtetes Werk Verdis handelt und dieser für das, milde ausgedrückt, konventionelle Komödienlibretto, das man ihm aufdrückte, nichts konnte und aus Formeln und Schablonen das Beste machte. Die lustvoll gespielte Ouvertüre versprüht Esprit und Leichtigkeit, zugleich Draufgängertum und Leidenschaft. Das verführerische Fluidum und eine polacca-tänzerische Leichtigkeit durchziehen die zwei kurzen Akte um den Cavaliere Belfiore, der im Auftrag des Hofes die Rolle des polnischen Königs Stanislaus Leszczyński spielt und für allerlei Turbulenzen auf dem Schloss des Barons Kelbar in der Nähe von Brest sorgt. Immerhin bringt er die jungen Liebenden, Edoardo und Giulietta, unter die Haube, bevor er seine wahre Identität und die Heirat mit der Marchesa del Pioggio bekannt gibt.

Die feinsinnige Begleitung der Europa Galante-Musiker, ihre instrumentale Eleganz und rhythmische Alertheit sowie Biondis offenkundige Lust am kokettierenden und sich umschmeichelnden Spiel der Stimmen kreieren eine elegant beschwingte Komödienstimmung und verleihen selbst den schwächeren Nummern musikalische Güte und Einheitlichkeit. Der Podlasische Opern und Philharmonische Chor steuert die wenigen prägnanten Chorweinwürfe bei. Die Rezitative freilich ziehen sich ein wenig, doch die Cavatinen der Marchesa, wenig individuell und scharfkantig Tina Gurina, und der Giulietta, als welche Vivica Genaux immer noch eine ausgesprochen gute Figur macht, sind ausgesprochene Schmankerl im ersten Akt. Dazu gehören das Terzett der Damen mit Edoardo, in welchem sie den jungen Offizier umgarnen, den Giulio Pelligra mit Charme und der Erfahrung singt, die er sich in vielen Partien des jungen Verdi erworben hat, wenngleich nicht ohne Anstrengung, wie die Arie zu Beginn des zweiten Aktes zeigt. Zu den Höhepunkten des ersten Aktes gehören zudem das Sextett mit dem betörenden Rossini-Drive und das Duett des Barons Kelbar mit dem Tesoniere La Rocca, in dem Ugo Gualiardo und Riccardo Olivera gekonnte Buffonistenlaune und Witz vermitteln. Wie ein lächelnder Monarch inmitten: Germán Olivera als zurückhaltend kultivierter Belfiore.    Rolf Fath

 

Wilfried Hösl: „Through the Looking Glass“

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Es ist eine seltsame Welt, die Wilfried Hösl über dreißig Jahre lang mit seinen Fotografien einfing. So seltsam, wie die Welt, die Alice durch einen Spiegel über dem Kamin ihres Wohnzimmers betreten kann. Der Originaltitel Through the Looking Glass von der Alice im Wunderland-Fortsetzung Alice im Spiegelland passt also ganz ausgezeichnet zu der Arbeit des Bayerischen Staatsopern-Theaterfotografen Wilfried Hösl, der Ende 2024 seine Tätigkeit beendet. Auf der Basis einer Retrospektive hat Hösl eine Auswahl getroffen, die von dem dafür prädestinierten Verlag Schimer/Mosel zu einem prächtigen und äußert gewichtigen Fotoband zusammengebunden wurde. Through the Looking Glass vereint auf 232 Seiten 185 Farbtafeln und dokumentiert die Ära Jonas/Mehta, die Hösl vom Bayerischen Staatsschauspiel an die Oper holten, sowie die Arbeiten mit und unter Kent Nagano, Nikolaus Bachler und zuletzt Serge Dorny, wobei die Umschlagbilder mit Rinaldo auf der Titelseite und Les Troyens auf der Rückseite den ästhetischen Aufbruch der legendären Jonas-Zeit feiern (ISBN 978-3-8296-1026-1-6). Im Lauf der Dezennien sind Hösls Fotos „eigenständige Kunstwerke“ geworden, wie ihnen Dorny attestiert, denn „Hösl Theaterfotografie ist weit mehr als nur die bloße Abbildung einer Aufführung. Sie fängt die Essenz einer Inszenierung ein, die Dynamik des Augenblicks, das Zusammenspiel von Licht, Bewegung und Emotion. In jedem Bild spiegelt sich ein feines Gespür für den richtigen Moment wider“. Keine Schnappschüsse, sondern „tief durchdachte Kompositionen“. In einem kurzen Gespräch, das bereits in einer Publikation der Bayerischen Staatsoper zu den Opernfestspielen 2006 veröffentlich wurde, macht Hösl klar, dass er als Theaterfotograf die Wünsche seiner Auftraggeber zu erfüllen sucht: „Der erste Auftrag des Hauses ist es, eine Inszenierung zu dokumentieren. Für das Marketing ist es wichtig mit bestimmten Bildinformationen – berühmte Sängerinnen oder Sänger, Dynamik oder Modernität einer Szene, Schlüsselsituationen des Stücks oder der Inszenierung etc. – zu werben. Dann gibt es den Auftrag, Bilder für das Programmbuch zu liefern. Für die Presse müssen es Bilder sein, die der Druckqualität von Zeitungen entsprechen usw.“. Es ist erstaunlich welche künstlerische Qualität die Fotos von Hösl besitzen, die offenbar diesen vielen Anforderungen gerecht wurden. Vor allem der Hauptteil des Bandes, der die Jahre an der Staatsoper von 2024 bis 1993 zurückblättert ohne eine Chronologie zu ersetzen, zeigt schöne und berührende Momente, die für sich stehen, ohne zu viel über die Aufführung zu verraten. Umrahmt wird er von kurzen Kapiteln über das Bayerische Staatsballett und das Residenztheater, an dem Hösl bereits 1983 begonnen hatte, und den Kapiteln „Proben“ und „Persönlichkeiten mit bestechenden Porträts von Moreau bis Abramovic. Manchmal scheint die Momentaufnahme besser als die Aufführung.  Rolf Fath

Indien-Oper aus Polen

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„Nel tenebror notturno, mio duce, cupo ed oppresso, turbato in cor, Fuor delle mura che l conduce, Qul forza occulta guida il tuoi passi“. Unweit der heiligen Gräber von Benares fragt Ratef seinen Freund Idamor, weshalb sie diesen nächtlichen Ausflug unternehmen. Idamor gesteht, dass er die Priesterin Neala liebt und sie bei ihren Gebeten zu sehen hofft, mit denen sie die aufgehende Sonne begrüßt. Das Italienisch ist nicht das Eleganteste, doch der sich andeutende Konflikt zwischen dem Dienst im Heiligtum und der weltlichen Liebe, wurde mehrfach behandelt. Intensiviert wird er durch die Tatsache, dass Idamor, der einen Paria, einen Ausgestoßenen, vor seinen Verfolgern in Sicherheit bringt, selbst ein Paria ist, der sich zum Helden hochkämpfte. Wüsste man es nicht besser, würde man den im Dezember 1869 in Warschau uraufgeführten Paria des Stanislaw Moniuszko nach einem französischen Drama, für das er sich schon als junger Mann begeisterte – und das die Vorlage zu Donizettis Il paria lieferte –  für eine etwas altmodische Seria eines weniger bekannten Italieners halten.

Denn auf der Neuaufnahme singt David Astorga den Auftritt des Idamor und die anschließende Cavatine in Italienisch (!), und das mit der Eleganz der alten Schule und dem stürmischen Impetus des jungen Verdi, mit einem klaren und tonschönen Tenor und gewinnendem Vortrag. Nach dem DUX-Mitschnitt vom April 2019 in Poznań im originalen Polnisch steht jetzt mit der von Fabio Biondi im August 2023 im Teatr Wielki in Warschau dirigierten Aufnahme eine italienische Alternative für Moniuszkos letzte vollendete Oper zur Verfügung (2 CD NIFCCD 093-094).

Die Ausstattung des poln. /engl. Beiheftes, das beispielsweise den zweisprachigen Bios der Mitwirkenden drei bis vier Seiten und für Biondi natürlich sechs Seiten einräumt, ist konkurrenzlos. Wenig über den Warschauer Bassisten Wladyslaw Miller, der 1850 in Warschau sein Debüt in Belisario gab, ab 1862 an zahlreichen italienischen und südamerikanischen Bühnen wirkte und u.a. 1872 den Philip in Neapel sang, wofür ihm Verdi das kleine Duetto mit Posa („Restate“) schrieb. Dieser Miller verfasste eine italienische Übersetzung, die einer internationalen Verbreitung des Werkes förderlich sein sollte. Vergebens.

Wie Moniuszkos Opern, die häufig ein bestimmtes Polenbild der ländlichen Güter und adretten Dörfer idealisierten, blieb auch das indische Kasten-Drama Paria, dessen Chören etwas steifleinen wirken, eine lokale Angelegenheit, mit der sich die polnischen Bühnen erst nach 1945 regelmäßig befassten. Nun also die durchaus befeuernde und stellenweise mitreißende Aufführung unter Fabio Biondi, wobei Lukasz Borowicz, der bei DUX das Werk mit dem Poznań Philharmnic Orchestra einstudiert hat, nicht unterschätzt werden darf. Fabio Biondi bringt nochmals eine Priese mehr Italianità mit, die dem Stück und den geschmeidig ineinandergreifenden Szenen einen gewaltigen Drive gibt, der beispielsweise nach der wirkungsvollen Arie des Brahmanenpriesters Akebar des charaktervoll gegerbten Bass des Aleksey Bogdanov im packenden ersten Finale gipfelt. Die Musiker von Europa Galante und des Philharmonic Choir folgen dem Meister mit bedingungsloser Hingabe. Leidenschaft und Hingabe kaschieren die Dürftigkeit mancher handwerklicheren Artigkeiten Moniuszkos, die ohne bemerkenswerterweise exotische Couleurs auskommt. Marta Torbidoni, eine gefragte Abigaille und Odabella, bringt für die Priesterin Neala einen klangvoll lodernden Sopran mit, der mexikanische Bariton Germán Olivera als Idamors Vater und der brasilianische Tenor Matheus Pompeu als sein Vertrauter runden das sehr gut besetzte Ensemble ab.   Rolf Fath

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PS.: Etwas verärgert liest der Opernfreund nicht ein einziges Wort zur befremdlich-italienischen Fassung der hier eingespielten Oper (wie auch der italienischen Halka bei NIFF) . Sicher, Herr Miller wollte Moniuszkos Oper auf die internationalen Sprünge helfen, aber wir Hörer in moderner Zeit hätten doch gerne irgend etwas zu eben dieser Version gelesen. Wo und ob ist sie überhaupt aufgeführt worden? Wo hat Biondi sie gefunden? Das ist doch recht schlampig, so etwas nicht zu erwähnen. Ganz sicher gewinnt der etwas steife Paria durch die glattere italienische Sprache,. aber dennoch … Exotisch allein ist nicht genug, caro Maestro. (Zur Oper s. Die vergessene Oper 57) G. H.

 

Verdienstvoll

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Alles andere als ein Grand Seigneur, so der Titel der CD mit dem Bariton Nicola Alaimo, ist der bekannteste aller Donizetti-Baritone, Enrico, der seine Schwester Lucia di Lammermoor mit einer erzwungenen Ehe in den Wahnsinn treibt. Auch den wesentlich unbekannteren Herren, denen sich der Italiener widmet, würde man nicht unbedingt Grandezza zubilligen, allerdings sind sie teilweise aus nachvollziehbaren Gründen auf einem Rachfeldzug oder aus dynastischen Erwägungen heraus gezwungen, sich von der zwar geschätzten, aber unfruchtbaren Gattin zu trennen.

So geht es auch dem Conte in Gemma di Vergy, der befürchtet, die verstoßene Gattin sei durch seine Schuld ums Leben gekommen und der dem Sänger die Möglichkeit gibt, ein angenehmes Timbre, das sich weder eindeutig dem des Brunnenvergifters noch dem des baritono nobile eindeutig zuordnen lässt, zu demonstrieren, dazu viel Brio für die Cabaletta aufzubringen und mit einer schönen Fermate zu prunken. Allerdings wird auch bereits hier deutlich, dass die Extremhöhe deutlich an Farbe und Fülle verliert. Als Alahor in Granata, womit Granada gemeint ist, kommt er als Rächer des Vaters und Befreier der Schwester in die Heimat zurück und beweist sich als Sänger raffinierter Koloraturen und einer ebensolchen Kadenz. Auch aus dem Rezitativ weiß der Sänger viel zu machen. Noch dazu mit dem eigenen Sohn aus erster Ehe sieht sich Azzo in Parisina d’Este betrogen, allerdings noch nicht im ersten Akt, wo die farbige Mittellage im „tutto spiri gioia e pompa“ sich entfalten kann, die Kontraste wirkungsvoll herausgestellt werden. Nicht um den Titelhelden Marin Faliero, sondern um den Galeerenbauer Israele geht es in „Oh miei figli! Oh dolce il canto della forte età primiera!“, wo die fröhliche Stimmung nach der Kränkung durch den Patrizier schnell zu einem  „…vili voi, superbi ingrati!“ führt und der Sänger die Gegensätze scharf herausarbeitet, mit einer generösen Phrasierung erfreut.

Auch Dom Sebastian ist nicht selbst auf der CD vertreten, sondern der glücklich vom Kreuzzug nach Lissabon zurückgekehrte Poet Camoena, der eine sanfte Klage anstimmt. Der Gatte der untreuen Maria di Rohan ergeht sich in schöner Melancholie, so in „è tomba il suol per me“, während er für „voce fatal di morte“ machtvoll auftrumpft und für „di sangue un rio“ eine schöne vokale Entschlossenheit zeigt.

Eigentlich für einen Tenor gedacht war die Titelpartie von Torquato Tasso, der auf der CD mit seiner großen Schlussszene nach der Entlassung aus dem Kerker vertreten ist. Wunderschön korrespondiert die Stimme mit dem sie sanft umspielenden Blasinstrument, konsequent wird auf ein machtvolles „Roma immortal mi fa“ hingearbeitet, und insgesamt hat die CD nicht nur das Verdienst, eine beachtliche Stimme zu dokumentieren, sondern auch das, mit fast unbekannten Werken Donizettis bekannt zu machen. Orchestra e Coro del Maggio Fiorentino unter Giacomo Sagripanti leisten dabei kompetente Schützenhilfe.

Übrigens sollte man Nicola Alaimo nicht mit dem wesentlich älteren Bass Simone gleichen Namens verwechseln! (Dynamic CDS8042I). Ingrid Wanja

Sintflut per Video

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Wer im Herbst 2023 bei den alljährlich in Bergamo stattfindenden Donizetti-Festspielen in des Komponisten azione tragica sacra mit dem Titel Il diluvio universale geraten war, konnte stellenweise vermuten, er befände sich im falschen Stück, denn das mit wenig Erfolg in Neapel uraufgeführte Werk hatte Donizetti später als Steinbruch für Anna Bolena gedient, und als Genua zu seiner Überraschung danach verlangte, hatte er Teile neu komponieren müssen. Trotzdem hatte man sich in Bergamo für die Fassung aus Neapel entschieden, und wie immer zuverlässig hat das Label Dynamic davon eine Aufzeichnung gefertigt.

Der Untertitel vermeidet nicht zufällig die Bezeichnung opera, ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass man nach einem Stück für die Fastenzeit verlangt hatte. Natürlich vermutet man, dass in einem Stück über die Sintflut Noah und seine Familie sowie ein Paar jeder Tierart im Mittelpunkt stehen, es geht aber im wesentlichen um das Königspaar Cadmo und dessen Gattin Sela, die heimlich den Glauben Noès, so die italienische Form, angenommen hat und dafür mit Scheidung und dem Entzug ihres Sohnes bestraft wird. Im letzten der drei Akte sind diese beiden auch neben dem Chor die Einzigen auf der Bühne, allerdings hat die Regie darin wohl auch eine Schwäche des Stücks gesehen und lässt deshalb Noè als stumme Person auf der Bühne anwesend sein. Seine drei Söhne und ebenso viele Schwiegertöchter reihen sich allesamt in Schwarz gekleidet in den Chor ein, der an einer langen Tafel aufgereiht ist, die sich zusehends mit sich schnell leerenden Rotwein(?)gläsern bedeckt. Auf der Bühne herrscht also eher oratorienhafte  Unbeweglichkeit, während die sehr viel mehr Raum einnehmende Videowand ein mit der Zeit nervendes Kunterbunt von oft mehreren Filmen gleichzeitig, oft von Wasser, was einleuchtet, aber auch Großaufnahmen von Gesichtern und vieles andere wie zum Beispiel unappetitliche Zubereitung von Mahlzeiten  zeigt. Da ist man als Betrachter der Video-Aufnahme zunehmend dankbar, dass man oft nur einen Bruchteil dessen sieht, was dem Publikum im Saal zugemutet wurde.

Wie gewohnt in Bergamo steht am Dirigentenpult Riccardo Frizzi, der sich im Booklet vehement für das Werk einsetzt, es in eine Reihe mit Rossinis Mose und Verdis Nabucco stellt, und tatsächlich  ist vor allem die Musik für den Chor höchst eindrucksvoll und wird ebenso vom Coro dell’Accademia della Scala dargeboten. Das Sextett der Noe-Nachkommen, eine Preghiera voller Innigkeit, ist einer der Höhepunkte, denn die jungen Stimmen aus der Bottega Donizetti sind geschmeidig und leuchtend. Eine Regie wird allerdings weder diesem noch den Solisten zuteil, das Duo MASBEDO beschränkt sich auf die Auswahl wilder Videopassagen, Solisten und Chor blieben wohl weitgehend sich selbst überlassen und behelfen sich mit dem Hantieren mit den Gläsern.

Die Partie des Noè verlangt nach einem basso cantante, als welcher sich Nahuel Di Pierro mit geschmeidiger, zu schöner Phrasierung fähiger Stimme darstellt. Sela ist Giuliana Gianfaldoni mit weichem, beweglichem Sopran etwas anonymer Färbung, der aber in einer höchst virtuosen Arie glänzen kann. Erstaunlich ist die Leistung der noch der Bottega Donizetti angehörigen Mezzosopranistin Maria Elena Pepi, die einen substanzreichen Mezzo für die falsche Freundin Selas, Ada, hat.

Die Videoaufzeichnung ist eine Welturaufführung, die man durchaus und vielleicht sogar intensiver auch als CD genießen kann. (Dynamic 38029) Ingrid Wanja

Hübscher Kitsch

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Ist das Zeffirelli, Wien 1978? Nein. Dort ging es viel lebendiger, theatralischer und packender zu, auch wenn der Regisseur jede Spitzenapplikation an den Mantillas persönlich überwachte und sich in Details verspielte. Das ist Rouen, 2023. Originaler geht es nicht. Der Palazzetto Bru Zane präsentiert die originale Carmen, wie sie 1875 an der Opéra-Comique ausgesehen hat. Oder ausgesehen haben soll. Entsprechend üppig und im ausladenden Querformat präsentieren die Herausgeber ihr Kunstwerk im festen Hardcoverbuch mit zusätzlicher Papphülle (2 DVD BZ 3001). Romain Gilberts historisch informierte Regiearbeit sieht zuerst einmal ganz hübsch aus, so wenn die schmucken Soldaten mir ihren sauber gestutzten Bärten, darunter Bariton Yoann Dubruque als Moralès und später Bass Nicolas Brooymans als Zuniga, mit der neckischen Micaela schäkern oder eine Episode mit einer jungen Schönen kommentieren, der ein alter Verehrer folgt, während ihr junger bäuerlicher Freund das Nachsehen hat. Ein bisschen wie die konservierten Bournonville-Ballette oder Choreographien aus der Glanzzeit des Mariinsky-Balletts.

Die Verantwortlichen haben viel Mühe darauf verwendet, was sie in englisch-, französisch- und deutschsprachigen Texten ausgiebig erklären, haben jahrelang Bühnen- und Kostümentwürfe, kolorierte Tafeln, Skizzen für Bühnenaufbauten, Pläne für Bewegungsabläufe, Regiebücher und entsprechenden Kritiken und Beschreibungen gesammelt, haben Berichte, Fotos, Posen studiert und daraus eine Vorstellung gefiltert, wie es möglicherweise am 3. März 1875 in der Operá-Comique aussah, als die 38jährige Célestine Galli-Marié erstmals ihre spätere paraderolle sang. Carmen war bei der Uraufführung ein mäßiger Erfolg, der in einen „internationalen Triumph“ mündete. Der Erfolg setzte erst langsam ein. Die Galli-Marié sang zehn Jahre später noch die hundertste Aufführung an der Opéra-Comique, wo bereits 1904 die tausendste Aufführung gefeiert wurde. Wir können uns nur schwer vorstellen, weshalb das Werk nicht auf Anhieb einschlug. An der fehlenden szenischen Opulenz der vier Schauplätze, der Pracht der Kostüme kann es nicht gelegen haben. Auch wenn man solchen Rekonstruktionen skeptisch gegenübersteht, hat die zahme Aufführung aus Rouen mit dem Orcheste de l‘Opéra de Rouen Normandie und dem Choeur accentus/Opéra de Rouen Normandie und einem Kinderchor des Konservatoriums unter dem damals 29jährigen und mittlerweile zum Musikdirektor der Wiener Volksoper berufenen Ben Glassberg eine liebevolle Betulichkeit und einen provinziellen Touch. Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten, „dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Wir wissen, dass es zur Zeit der Uraufführung die Funktion des Regisseurs nicht gab, „Die Opéra-Comique hatte einen régisseur général, einen allgemeinen Regisseur – im Jahr 1875 Charles Ponchard -, dem es oblag, für den reibungslosen Ablauf der Aufführung zu sorgen: Er protokollierte die verschiedenen Bewegungsabläufe der Künstler und die Platzierung der Bühnenbilder, aber er war nicht für die Inszenierung zuständig“. Dennoch war alles sorgfältigst und ausführlich vorbereitet. Seit Oktober 1874 wurde für die Uraufführung geprobt. Die Proben wurden in zahlreichen Exemplaren des Regiebuchs festgehalten. Dieses diente neben den vier kolorierten Lithografien als Grundlage für diese Rekonstruktion. Die Lithografien halten Momentaufnahmen von jedem Akt fest.: „die fünfte Szene im Akt, das Vorspiel zum zweiten Akt, die Kartenszene im dritten Akt und das Ende der ersten ersten Szene im vierten Akt (nachdem die Quadrilla vorbeigezogen ist)“.

Wie Zinnsoldaten treten die Soldaten auf, wie Kinder aus dem Dickens-Museum marschieren die Kinder, puppig wirken die gezierten Gesten der Verkäuferinnen, wie Ballett-Pantomimen die übertrieben lebhaften Gesten der Männer und die Koketterie der Fabrikarbeiterinnen, artig der Auftritt des Escamillo im Operettenrokoko der Taverne. Alles wie von einem Zuckerguss überzogen, von einer marzipanfarbenen Glasur, wobei über den porzellanzarten Gesichtern ein zusätzlicher Weichzeichner zu liegen scheint, so dass jede geschneckelte Haarlocke der Carmen wie aufgemalt wirkt – natürlich war die Beleuchtung 1875 eine ganz andere, viel intimere. Antoine Fontaine, der auch die Bilder des unbekannten Bühnenbildners nachbaute, sagt dazu; „1875 beleuchtete man die Bühne mit Gaslampen, deren Licht viel gedämpfter war als unser aleketrisches Licht, vor allem ohne die Scheinwerfer (die es natürlich noch nicht gab). Die Sänger waren sehr stark geschminkt und mussten sich, um sichtbar zu sein, auf der Bühne so weit vorn wie möglich platzieren. Wir haben mit … zusammengearbeitet, um das Bühnenlicht nach den Bühnenskizzen von Daumier oder Degas zu erschaffen, unterstützt durch Standleuchten von schwacher Intensität, platziert hinter jedem Spannrahmen, um die passende Lichtstimmung zu rekonstruieren“. Die im Osman geborene, in Los Angeles ausgebildete Deepa Johnny ist eine  mehr als ordentliche Carmen. Der sich vom lyrischen zum Heldentenor mausernde Stanislas de Barbeyrac verkörpert mit Geschmack den naiven José, der sich von Micaela anschmachten – herrlich ihre steif angewinkelten, ihn auf leichten Abstand haltenden Hände – und Carmen verführen lässt. Die Rumänin Iulia Maria Dan ist eine stimmlich rundere Micaela als man in einem kleinen Haus erwarten würde. Faustine de Monès und Floriane Hasler sowie Florent Karrer und Thomas Morris treffen als Zigeunerinnen und Schmuggler den rechten leichten Comique-Ton und werfen sich am Ende des Schmuggler-Quintett herrlich in Pose, Palazzetto-Hauskraft  Nicolas Courjal ist ein robuster Escamillo.

Interessanter sind vielfach ihre Kostüme. Couturier Christian Lacroix nennt seine Mitarbeit, „die Erfüllung eines meiner ältesten Träume“. Etwas jedoch lässt sich trotz aller Akribie nicht herstellen, denn „ein letztes delikates Thema für mich war die Patina, die ich immer sehr schätze und einsetze, um den Kostümen ein wenig mehr Seele und Epochenbezug zu geben… Aber paradoxerweise geht es hier darum, Bühnenbild und Kostüme in ihrem Glanz und ihren Farben an jenem Abend des 3. März 1875 zu zeigen, auf die Gefahr hin, dass sie ein wenig kitschig glamourös erscheinen“. Rolf Fath (Fotos Marion Kerno & Julien-Benhamou, Rouen 2024).

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Und als PS.: Um obiges aufzugreifen: Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten,„dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Was für eine armselige Kapitulation! Warum nahm der Palazzetto – der sich angeblich die Wiederbelebung der französischen Oper auf die Fahne geschrieben hat – nicht die Chance wahr, statt der an jedem Stadttheater gespielte und absolut jedem Schulkind bekannte bekannte Version der Carmen 1885 nicht die viel, viel spannendere Urfassung (!) von 1884 zu präsentieren, wie sie jüngst (2024) René Jacob in der Hamburger Elbphilharmonie so außerordentlich überzeugend gezeigt hat (Link zum youtube Video-Stream der Hamburger Aufführung vom 25.3.2024)? Zumal mit einer sehr (!) viel aufregenderen Besetzung und eben vielen, vielen Unterschieden zur spätere Fassung von 1875, mit mehr und anderer Musik und vor allem dem kompletten Dialog, der interessante Aufschlüsse über die handelnden Charaktere gibt, namentlich Carmen und Don José. Ein weiterer Beitrag zu eben der Originalfassung folgt bei uns/operalounge.de in Kürze. Aber das hätte man sich vom Palazzetto Bru Zane doch wirklich erwartet. Geb´s der Himmel, dass der Jacobs-Mitschnitt zumindest als CD erscheinen wird.  G. H.

Ausnahme-Mezzo

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Schlicht Aigul nennt sich die neue Platte der russischen Mezzosopranistin Aigul Akhmetshina. Sie ist das erste Ergebnis eines Exklusivvertrages der Sängerin, die mit ihren 28 Jahren bereits die wichtigsten Zentren der Opernwelt erobert hat, bei DECCA. Und die man bereits als „Stütze“ auf der CD Freddie de Tommaso – Il Tenore bewundert hatte. Ihre Visitenkarte ist die Carmen, die sie an der Met, am Royal Opera House London und bei den Festspielen in Glyndebourne gesungen hat. Die Arienauswahl beginnt dann auch mit Ausschnitten aus Bizets Opéra-comique. Die Habanera, Seguidilla und die Kartenszene zählen zu den bekanntesten Nummern des Werkes und gehören zu den Lieblingsarien aller renommierten Mezzosoprane. Entsprechend zahlreich sind die vorhandenen Aufnahmen, was die Messlatte hoch setzt.

Mit ihrem aparten, sinnlichen Timbre kann sich Aigul mühelos gegen die Konkurrenz behaupten. Sie führt die Stimme schlank und verzichtet auf vulgäre Effekte, ohne an erotischer Wirkung einzubüßen. In der Seguidilla assistiert ihr Freddie De Tommaso als Don José. Dessen kurze Einwürfe von einem solch prominenten Tenor singen zu lassen, spricht für die seriöse Besetzungspolitik der Firma. In der Kartenszene sind es die Sopranistin Elisabeth Boudreault als Frasquita und die Mezzosopranistin Kezia Bienek als Mercédès. Auch das Royal Philharmonic Orchestra unter Daniele Rustioni ist erste Wahl als engagiert begleitender Klangkörper. Der Carmen folgt die Charlotte aus Massenets Werther mit deren Briefszene und der Arie „Va! laisse couler mes larmes“. Vielleicht ist die Stimme für diese Partie zu dunkel gefärbt, aber keineswegs fehlt ihr die Empfindsamkeit für die Rolle. Nach Auftritten in der Partie in London wird sie diese im Mai 2027 auch an der Deutschen Oper Berlin vorstellen. Als Romeo in Bellinis I Capuleti e i Montecchi hatte die Sängerin einen spektakulären Erfolg bei den Salzburger Festspielen. Drei Ausschnitte aus diesem Werk belegen ihre besondere Eignung für die Partie. Romeos ersten Auftritt mit der schwelgerischen Kavatine „Se Romeo t´uccise un figlio“, absolviert sie mit voluminösem, generös strömendem Mezzo. Die satte Tiefe, die strahlende Höhe in der Sopranregion, das sinnliche Vibrato und der energische Aplomb sind auch für die Cabaletta „La tremenda ultrice spada“ ideale stimmliche Voraussetzungen. Die Apollo Voices, auf dem Album mehrfach im Einsatz, überzeugen hier besonders. Berührend die letzte Szene an Giuliettas Grab mit der wehmütigen Kavatine  „Deh! tu, bell’anima“ von berückend schönen Tönen.

Paradenummern aus zwei populären Opern Rossinis komplettieren das Programm. Als Angelina in der Cenerentola war Akhmetshina erfolgreich am Teatro Real in Madrid aufgetreten und kann in der Schlussszene neben ihrer Virtuosität auch Anmut und Charme zeigen. Die Rosina im Barbiere di Siviglia verkörperte sie bereits in London und Paris. Mit der Paradenummer „Una voce poco fa“ zeigt sie sich als gewitzte und temperamentvolle Interpretin. Am Schluss stellt die Sängerin mit baschkirischen Wurzeln nach all den bekannten Titeln noch ein Volkslied aus ihrer Heimat vor: „The Nightingale“, arrangiert für Stimme und Orchester von Kamil Yusufovich Rakhimov. Damit gibt es immerhin eine Novität – und diese setzt durchaus einen attraktiven Schlusspunkt.

Die CD, aufgenommen im November 2023 in London (487 02629), hat alle Chancen für einen OPUS KLASSIK. Ärgerlich ist allein die Gestaltung des Booklets, dessen Seiten durchgängig von roter Farbe triefen und dessen Text in winziger Schriftgröße kaum lesbar ist. Bernd Hoppe

Von Rittern und anderen Helden

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Nach seinem gelungenen Rossini-Album stellt der französische Bariton Florian Sempey bei Alpha Classic nun eine weitere, sehr originelle Platte vor, die im Februar 2024 in Bordeaux aufgenommen wurde (ALPHA 1104). Ihr Titel Ferrum splendidum (Glänzendes Metall) verweist auf die Vorfahren des Sängers, die im französischen Périgord als Schmiede arbeiteten. Er spricht aber auch von Sempeys Affinität zu Mittelalter-Burgen und Ritter-Romantik. Der Bariton widmete sich statt der Familientradition jedoch dem Schmieden seiner Stimme, die es inzwischen zur Weltgeltung gebracht hat. Im Programm der CD werden dann auch Helden aller Art vorgestellt, beginnend mit Blondels „Ô Richard! Ô mon roi!“ aus Grétrys Richard Coeur de Lion. Das ist ein schwungvoller Einstieg, der die Qualitäten des Sängers sogleich deutlich herausstellt – das männlich-markige Timbre, die sichere Höhe, die Emphase des Ausdrucks. Es folgen zwei Szenen aus Donizettis Lucia di Lammermoor, jedoch in der französischen Fassung, so dass der Titel Lucie de Lammermoor korrekter wäre. Die Fassung wurde 1839 in Paris uraufgeführt. Zu hören sind Ashtons „D´un amour qui me brave“ und „À moi viens, ouvre tes ailes“. In beiden ist ein grimmiger Duktus zu vernehmen, was die Gefährlichkeit der Figur kennzeichnet. Auch die Spitzennoten werden nicht als Glanztöne verstanden, sondern als Zeichen der Macht. Die kleinere Tenorrolle des Gilbert nimmt Yoann Le Lan zuverlässig wahr.

Ein kühner Sprung wird mit zwei Nummern aus Orffs Carmina Burana vollzogen: „Estuans interius“ und „Ego sum abbas“/„In taberna quando sumus“ aus „In Taberna“. Vom Orchester rasant eingeleitet, sind sie Glanzstücke in ihrem stimmlichen Prunk und der Vehemenz des Vortrags.

Aus Thomas´ Hamlet hat der Bariton zwei Szenen ausgewählt – das Trinklied des Titelhelden „Ô vin, dissipe la tristesse“, wo das Orchester den gebührenden Schwung vorgibt, den der Sänger effektvoll aufnimmt, und seine betroffene Szene nach Ophéiies Tod „Comme une pâle fleur“. Weitere französische Komponisten sind mit

Gounod und Meyerbeer vertreten. Von Ersterem erklingt Mercutios Chanson „Mab, la reine des mensonges“ aus Roméo et Juliette mit ironischen Untertönen, von Zweitem „Ô puissante magie“ aus Le Pardon de Ploërmel als groß angelegte Szene in der Manier der Grand opéra. Wolframs „O du mein holder Abendstern“ aus Wagners Tannhäuser in beeindruckend sensibler Ausdeutung und die dramatisch aufgewühlte Finalszene des Prinzen aus Tschaikowskys L´Enchanteresse zeugen von der idiomatischen Vielseitigkeit des Sängers. Sogar eine Uraufführung gibt es mit Romain Dumas´ Les mirifiques aventures du chevalier d´Éon von 1985, aus der die Szene „De Bourgogne. je suis un fruit“ vorgestellt wird – ein lebhaftes Stück mit Melismen und hastigen Passagen.

Das Orchestre National Bordeaux Aquitaine ist unter Victor Jacob der Garant für eine stimmige und farbige Begleitung. Darüber hinaus trägt es mit vier Instrumentalnummern – vom Prélude zu D´Indys Fervaal über Ausschnitte aus Tschaikowskys La Belle au Bois Dormant bis zum Vorspiel zu Wagners Lohengrin – sehr zur Attraktivität der Platte bei (08. 12. 24).  Bernd Hoppe

 

Grandios

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Auch ohne den vom Librettisten und Komponisten Arrigo Boito nicht mehr fertiggestellten fünften Akt ist man beinahe  erschlagen von den  mit Hilfe von Freunden des Musikers fertiggestellten vier Akten der Monumentaloper Nerone, deren Titel fast nicht mehr der zutreffendste ist, denn das Werk würde  mit einer ausgedehnten Liebesszene zwischen den beiden Christen Rubria und Fanuél enden, käme nicht noch ganz zum Schluss der römische Kaiser auf die Bühne, wenn auch nur, um den ihn stets begleitet habenden wunderschönen Jüngling zu erstechen.  

Jahrzehntelang  am Werk abgearbeitet hatte sich der auch als Verdis Librettoschreiber bekannte Boito an dem komplexen Stoff, wie bereits bei dem ungleich erfolgreicheren Mefistofele einen Bösewicht in den Mittelpunkt der Handlung stellend, aber anders als bei diesem nicht mit Schlagern wie „Dai campi, dai prati“ oder „L’altra notte in fondo al mare“ den Ohren schmeichelnd, sondern eher einen deklamatorischen Stil bevorzugend, erst in besagtem Liebesduett werfen Erinnerungen an das frühere Werk geweckt. Neben den Antagonisten Nerone und Fanuél tritt als dritte männliche Figur der erste Häretiker  des Christentums, Simon Mago, auf, auf den bekanntlich der Begriff Simonie für Ämterkauf zurückgeht, die weiblichen Protagonisten sind die Nero in Liebe zugetane Asteria, die zum Christentum übertritt,  und die von Nerone einst vergewaltigte Vestalin Rubria, die diesen Schritt ebenfalls vollzieht. Den Hintergrund bildet die hier von Simon veranlasste, von Nerone aber gebilligte Vernichtung Roms durch den bekannten Brand. Der Diktatur will zum Gründer eines noch prächtigeren, noch gewaltigeren Roms werden. Akustisch endet die Aufführung mit einem auch aus einer anderen, weit bekannteren Oper vertrauten „Pace, pace, pace“, gesungen von der Nun-auch-Christin Asteria.

War man bereits seit Jahren von Bewunderung erfüllt für den Mut des Opernhauses von Cagliari, unbekannte Werke nicht nur aus dem italienischen Repertoire dem Publikum vorzustellen, zuletzt Cileas Gloria mit Anastasia Bartoli in der Titelpartie, so kann man zusätzlich noch hoch erstaunt darüber sein, welchen ungeheuren Aufwand das Haus mit aufwändigsten Kostümen, Kulissen, Personal betreibt, so dass man stellenweise an Hollywood denken könnte, wäre nicht alles auch von einem exquisiten Geschmack  bei aller überborenden Üppigkeit (Bühne Tiziano Santi, Kostüme Claudia Pernigotti). Da schreckt man weder vor Bellezza noch vor Grandiosità zurück, wagt einen eindrucksvollen Kontrast zwischen Antikisierung und Modernität, so dass Nero links nach altrömischer, rechts nach Art des Risorgimento gekleidet ist, und wahrt doch eine sängerfreundliche Inszenesetzung  (Regie Fabio Ceresa) für die Interpreten anspruchsvollster Partien. Das inszenatorische Augenzwinkern mildert auch das teilweise unangenehme Pathos des Librettos etwas.

Auch in Italien und für ein dort heimisches Werk kommt man nicht mehr mit nur einheimischen und damit muttersprachlichen  Sängern aus, so dass die Titelfigur mit Mikheil Sheshaberidze besetzt ist, einem optisch den Vorstellungen von einem Nero entsprechenden Tenor, dessen Stimme nicht schön, leicht gepresst klingend, aber durchdringend und strapazenresistent ist. Zwei gestandene italienische Baritone nehmen sich der  beiden anderen Protagonisten an. Franco Vassallo bewährt sich als böser Visionär Simon Mago mit dunkel dräuender Stimme, auch vokal schlanker, aber nicht weniger eindrucksvoll und farbig ist Roberto Frontali, optisch eher eine Vater- als eine Liebhaberfigur, als die er sich im Schlussduett outet. Eine bemerkenswert schöne, tiefste Tiefen auslotende Bassstimme besitzt Dongho Kim für den getreuen Tigellino. Mit extremer darstellerischer Hingabe und schonungslos eingesetzten kraftvollen Stimmmitteln ist Valentina Boi eine eindrucksvolle Asteria, während die  sanfte Rubria mit geschmeidigem, warmem Mezzosopran rollengerecht von Deniz Uzun verkörpert wird. Auch die kleineren Partien sind rollendeckend besetzt, teilweise ist ein Solist für deren mehrerer zuständig.

Dem Label Dynamic kann man gar nicht dankbar genug dafür sein, dass es ein so selten gespieltes Werk und immer wieder die Arbeiten des verdienstvollen Teatro Lirico di Cagliari einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat und hoffentlich auch in Zukunft machen wird (Dynamic 38047). Ingrid Wanja