Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Jahrhundertstimme und -Aufnahme

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Am 16. April 1995 verstarb Gertrude Grob­-Prandl, 1917 in Wien  geboren und trotz der nicht immer erwiderten Gegenliebe der Wiener Institutionen eine erz-österreichische Person. Mit ihr ging ein Zeitalter zu Ende, in dem die voluminösen, kraftvollen und vor allem schönen Stimmen wesentlich häufiger waren als heute. Anders als die erbarmungslos-stählerne von Birgit Nilsson war ihre riesige Stimme menschlich, warm und leuchtend. Menschlich vor allem.

Gertrude Grob, in erster Ehe verheiratete Prandl, in zweiter Ehe dann -King, lebte die letzten Jahre ihres Lebens zurückgezogen  bei Wien – eine Frau von starkem Willen und liebenswert-starken Grundsätzen. Ihre nur im diskreten Gegenüber (Thomas Voigt) geäußerten Kommentare über Sänger trafen stets den Punkt und zeugten von ihren hohen Maßstäben ebenso wie von ihrem Witz. Und ihre lsolde, Turandot, Bethoven-Leonore und vor allem auch Brünnhilde gehören zu den Ausnahmedokumenten der Gesangsgeschichte ihres Jahrhunderts. Leuchtkraft, wortdeutlichste Deklamation und tief-menschliche Gestaltung zeichnen diese Figuren aus.

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Gertrude Grob-Prandl als Isolde mit Victor de Sabata in Mailand/ Foto Piccagliani/ Isoldes Liebestod

So unauffällig sie als Privatperson blieb, so verlief auch ihre Karriere, ohne Skandale und lange im Schatten anderer, namentlich der Konetzni-Schwestern in Wien, wo sie 1944 an der Staatsoper kurz vor der kriegsbedingten Schließung mit der Elsa debütiert hatte. Im März 1945 wurde das Haus zerstört. Es ist bezeichnend, dass sie zur Wiedereröffnung 1955 nicht die Fidelio-Leonore sang (das war Martha Mödl, aber ironischerweise sang die Grob die Partie kurz nach der Eröffnung der Berliner Staatsoper wenig später). Immer waren in Wien andere vor ihr.

Dennoch ging ihre Laufbahn steil bergan, von steter Qualität getragen, namentlich an der Volksoper, nachdem sie bei den legendären Lehrern Paier und Singer-Burian (einer Schülerin der Ponselle) studiert hatte. Die Marschallin, die 1944 der Elsa folgen  sollte, fiel zum Bedauern der Grob dem Bombenalarm zum Opfer – ein Jammer, wie sie stets betonte, denn vor dem Krieg waren diese Partien Domänen der Hochdramatischen. Auch die Rosalinde gehörte dazu, die sie gerne gesungen hätte. 1949 gab sie ihre erste Walküre unter Krauss, sie „überlebte“ Dirigentenwechsel und Intendanten, sang neben Senta und Ariadne die Walküre unter Böhm in Buenos Aires und kam überhaupt viel herum.

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Getrude Grob-Prandl und Max Lorenz in „Tristan und Isolde“ an der Scala am 13. Dezember 1951/Foto Piccagliani/Cetra

Sie wurde im Ausland wesentlich glanzvoller aufgenommen als zu Hause: in Italien als Turandot, Ballo-Amelia, bei der RAI mit einem fulminanten Konzert als Rezia u. a. (ihre Arie der Isabella/ Robert der Teufel gehört auf dem Recital in Deutsch zu meinen absoluten Immortellen gleich neben Anita Cerquettis Auszug aus Agnese di Hohenstaufen); vor allem aber an der Scala – nach  ihrem Einstand 1951 in Neapel – als lsolde unter Victor de Sabata mit Max Lorenz (soeben wieder bei Pan herausgekommen).

Wer die hohe Kunst der Grob-Prandl kennenlernen möchte, muss sich den Mitschnitt anhören, auf dem die Stimme gleichermaßen strömt wie auch mühelos die langen, leuchtenden Phrasen singt. Es gibt keine klangschönere, wortdeutlichere und präsentere lsolde auf Dokumenten für mich, weder Traubel noch Flagstad noch Nilsson.

Neben Reisen nach Nordamerika, nach Brüssel, Dortmund (!) und Berlin (!) kam es bemerkenswerterweise nicht zu Auftritten in Bayreuth, wo die Kolleginnen Varnay und Mödl fest installiert waren. Dafür sang sie die Turandot auf Englisch (!) 1951 unter John Barbirolli in London und die Ortrud in Italienisch in Reggio Emilia.

Gertrude Grob-Prandl mit Ludwig Suthaus in der „Götterdämmerung“  Mailand / Foto Piccagliani / Isoldes Liebestod

Die Beziehung zur Wiener Staatsoper war in den letzten Jahren stets gespannt gewesen. 1972 gab sie nach mehr als 28 Jahren Zugehörigkeit zum Haus ihren Vertrag zurück. Sie hatte genug von den Anfeindungen, der Claque, der Ungezogenheit der Presse, die sich auch gegen ihre voluminöse Körperfülle richtete. Dass man sie ein „Buffet auf Rädern“ nannte, war wohl auch gemeiner Weise in einer Wiener Tageszeitung zu lesen. Von Montserrat Caballé oder Jane Eaglen oder von vielen heutigen Amerikanerinnen in Hochramatischen Partien hat man das nie gesagt. Die Akzeptanz hat sich eben geändert. Es ist bezeichnend für ihren Charakter, dass sie nicht um ihre Rollen kämpfte – sie hatte einfach genug. Der Prophet gilt eben nichts im eigenen Land, wie sich an dieser wunderbaren, großen und leuchtenden Ausnahmestimme zeigt.

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Dokumente: Hoffentlich kommt irgendwann die von ihr selbst zurückgehaltene Elektra-Inhouse-Aufnahme 1963/4 aus Graz offiziell auf den Markt, die (ehemals von Thomas Voigt herausgegeben) nur bei Sammlern kursiertend!

Der Musikjournalist Thomas Voigt und Gertrude Grob-Prandl/Foto King/TV

Aber es gab Turandot (aus dem Fenice bei ehemals Remington und eine aus Wien live inoffziell) nebst Wiener Radio-Recital (bei Myto), den Wiener Ring (nur Siegfried und Götterdämmerung als Ersatz für Helena Braun/Myto u. a.), die Wiener Venus/Tannhäuser unter Karajan (RCA), den bizarren Idomeneo und Don Giovanni (Haydn-Society bzw. Vox/ MMS) sowie die Erste Dame/Zauberflöte (Music & Arts et. al.) kommerziell – heute aber weitgehend nicht mehr greifbar (Discogs eventuell). Das Myto-Portrait enthält Arien aus Oberon, Robert der Teufel, Die Jüdin, Der fliegende Holländer, Lohengrin sowie Schuberts Allmacht – absolut fabelhaft). Das von Cetra herausgegebene Doppelkonzert mit Ferruccio Tagliavini bot ihre Arien aus Fidelio, Oberon, Ballo in Maschera sowie Tristan – alles vom Dezember 1953.

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Gertrude Grob-Prandl als Brünnhilde, Wien 1953/privat

Sammler haben natürlich ihren Fidelio aus Genf 1963 (Fourie/ Klobucar), ihre Venus aus Wien 1871 (Rysanek, Beirer/ klobucar), ihre Isolde aus Wien 1956 (Lustig/ Cluytens) und Lausanne 1953 (nur 2. Akt mit Windgassen und Klose/Moralt), ihre Walküre aus Genf 1^951 (Ralf, Werth/Denzler) sowie Berlin 1956 (nur Szenen mit Treptow/ Konwitschny), dto. Szenen aus dem Colon 1950 (Suthaus, Klose/ Böhm) und Graz 1963 (nur Szenen), das Siegfried-Finale aus Paris 1966 (Hollreiser). Zudem kursieren Auszüge: so Fidelio Dortmund 1962 (mit Schmid und Gutstein/Jacob), das Finale Götterdämmerung Antwerpen 1968, und der Elektra-Monolog aus Paris 1985.  Und schließlich Beethovens „Ah perfido“ aus Antwerpen 1968 (Dank an Thomas Voigt!)

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Dazu kommen vielleicht noch weitere – man kann nicht alles wissen. Es wird Zeit – auch für Wien! – , diese bedeutende Sängerin offiziell mit einer Box ihrer Aufnahmen zu ehren und ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ud vielleicht remannt sich ja Pan, ihren Wiener Ring ebenfalls wieder herauszugeben. Bitte, bitte! Geerd Heinsen

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Am 13. Dezember 1951 erklang an der Mailänder Scala eine mittlerweile legendäre Aufführung von Wagners Tristan und Isolde, deren durchweg hervorragende Besetzung bis heute begeistert. So galt Max Lorenz seinerzeit als Inbegriff des Wagner-Tenors, während Gertrude Grob-Prandls Stimme einem Naturereignis gleicht und Victor De Sabata seinen Ruf als einen der besten Wagner Dirigenten überhaupt bestätigt. Die ursprünglich sehr schlechte Tonqualität wurde 2009 vom Label Myto sorgfältig remastered. Mit dieser Pan-Classics-Edition wird die bislang vergriffene Aufnahme bei Pan wieder auf CD erhältlich. Interpreten: Gertrude Grob-Prandl; Max Lorenz; Sven Nilsson; Sigurd Björling; Elsa Cavelti; Victor de Sabata; Chor und Orchester der Mailänder Scala et al. (Pan Classics)

Verdis „Simon Boccanegra“ 1857

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Wie das Label Palazetto Bru Zane sieht auch die englische Opera Rara von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit im Katalog oder andernorts bereits vorhandene Opernaufnahmen zu duplizieren, so auch nun bei Verdis Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1857. Zu der Neuaufnahme eine Würdigung und danach einen Artikel von Roger Parker, dem Repertoireberater von Opera Rara und führendem Musikwissenschaftler auf dem Gebiet des italienischen Novecento, zum Werk selbst. G. H.

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Giuseppe Verdis Simon Boccanegra von 1857 bei Opera Rara: Fast alle späten Opern Giuseppe Verdis sind Klassiker auf den Bühnen der Welt. Manche gibt es in mehreren Versionen. Gespielt wird meistens natürlich die letzte, weil sie immer auch als das letzte Wort des Meisters gilt. Jetzt hat das Label Opera Rara eine Besonderheit auf den Markt gebracht: Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1875. Verdi hat vor allem dann Neufassungen seiner Opern gemacht, wenn es darum ging, ein Werk in einem anderen Land neu vorzustellen. Dazu machte er meist umfangreiche Änderungen. So war Don Carlos ursprünglich für Paris gedacht, für Italien gab es später sehr umfangreiche Änderungen vorgenommen. Macbeth dagegen war eine original italienische Oper und wurde dann für Paris angepasst. Aber wir haben es ganz selten bei ihm, dass er mit einer Opern-Erstkomposition generell so unzufrieden war, dass er sie dann nochmal komplett umgekrempelte. Das gibt es nur dreimal bei ihm: Beim heute völlig vergessenen Aroldo/Stiffelio, bei der Forza del Destino (Lombardi/Jerusalém war eine Bearbeitung durch Verdi nur auf Wunsch der Pariser Opéra und nicht seine Herzensangelegenheit) und bei Simon Boccanegra.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: der junge Verdi/Wikipedia

Verdis Simon Boccanegra stammt von 1857, bis zur zweiten Fassung liegt ein Vierteljahrhundert. 1857 kam die Oper nicht so gut an, weil Verdi eben schon seiner Zeit sehr voraus war, seine Zuhörer mit seinen kompositorischen Neuheiten auch überforderte. Also hat er dann ein Vierteljahrhundert später in den 1880er Jahren das Werk nochmal aufgegriffen und es dann komplett seinem Spätstil angepasst. Otello ist gar nicht so weit weg, und diese neue Fassung gehört natürlich jetzt zum allgemeinen Opern-Kanon. Die erste von 1857 spielt so gut wie niemand.

Warum nun also eine Neuaufnahme?  Einer der wichtigsten Gründe dafür ist vielleicht, dass man hier einen ganz unschätzbaren Einblick in die Werkstatt von Verdi bekommt. Wir lernen wie sich Verdis Denken mit den Jahrzehnten wandelt, was ihm dann später nicht mehr gefällt und was er eben auch noch mag. Es gibt im Boccanegra Passagen, die er überhaupt nicht veränderte. Es ist total faszinierend, dieses vertraute Werk „anders“ zu hören. Verdi hat nicht nur ein paar Stellen verändert, sondern selbst da, wo er ein thematisches Grundgerüst stehen lässt, gibt es oft rhythmische Veränderungen, gelegentlich andere Tonarten und auch andere Instrumentierung. Im Endergebnis klingt dieser „alte“ Boccanegra oft jugendlicher, heller, weniger harsch als der neue und damit natürlich auch für uns eingängiger.

Der Plot ist zwar leicht überarbeitet, aber die Geschichte selbst ändert sich nicht. In beiden Fassungen geht es um die Biografie des Dogen Simone Boccanegra. Die Oper erzählt von seinem Aufstieg, seinem sehr kurzen Glück mit seiner wiedergefundenen Tochter und eben auch seinem traurigen Ende durch Intriganten. Er stirbt dann natürlich, wie so oft bei Verdi. Da wird ja viel gestorben. Es ist vielleicht nicht der beste Plot, aber es gibt richtig große, emotionale und dramatisch packende Momente.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Mark Elder dirigiert die Oper nun zum dritten Male/Foto OR Duncan

Was mich jetzt besonders interessiert, ist, dass es in diesem frühen Boccanegra auch Musik gibt, die wir eigentlich so gar nicht kennen, die also komplett anders klingt als in der gängigen Fassung. Da ist ein ganz anderes erstes Finale. Später hat er sich entschieden, dies völlig neu zu komponieren. Außerdem wird man in der Erstfassung auch Passagen entdecken, die er später gestrichen hat. Es gibt eine sehr schöne Cabaletta für Amelia, die weibliche Hauptfigur. Und man hört hier eben auch schon deutlich den mittleren Verdi, der Spaß an großen Chören hatte, also den Verdi des Trovatore, der große Tableaus auffahren lässt. Es ist schade, dass Verdi so etwas später mied.

Simon Boccanegra von 1857 ist vielleicht die ungewöhnlichste Alternativfassung einer Verdi-Oper überhaupt, was verwunderlich ist, weil sie auch die Fassung mit den meisten Abweichungen vom Original darstellt.

Und gerade weil diese Fassung weniger düster daherkommt, mit sehr großen, ausschwingenden Melodien, stärker noch im Belcanto verhaftet, hat das Ganze einen besonderen schwärmerischen Appeal, den die späte Fassung dann nicht mehr besitzt. Dieser Appeal geht bei dem grimmigen alten Verdi verloren. Und ich finde auch manche Lösungen wirklich überraschend, in der Urfassung interessanter als in der späten. Also zum Beispiel ist mir das absolut wunderbare Vorspiel aufgefallen, das Verdi später gestrichen hat. Und es gibt auch noch eine richtige Leitmotivik. Ich kann mir vorstellen, dass Verdi sowas später nicht mehr gemocht hat, weil dann ja die Wagnerianer kamen und er sich dem Vorwurf, dazu zu gehören, nicht aussetzen wollte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: auf dem Roman von Antonio GGarcia Gutierrez beruhte die Handlung/Madrid Museo Arqueologico

Übrigens gibt es die Erstversion ebenfalls bei Opera Rara: eine BBC-Übernahme unter dem Dirigenten John Matheson (Bruscantini, Ligi). Aber diese neue ist die erste unter den Voraussetzungen der kritischen Verdi-Ricordi-Ausgabe eingespielte. Der Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus und das Hallé-Orchester unter Mark Elder bestreiten diese Neuaufnahme der Erstfassung.  Sicher sind Besetzungen mit Kiri Te Kanawa oder Mirella Freni eleganter, Eri Nakamuras Maria ist da im Vergleich in den Höhen vielleicht etwas grell, in den Einsätzen nicht immer ganz sicher. Aber insgesamt ist diese Aufnahme frappierend gut besetzt. Frappiert auch deshalb, weil Opera Rara sonst zwar oft hochinteressante Projekte macht, aber eben oft zweitrangige Besetzung bietet, gelegentlich recht enttäuschend. Deswegen muss man zu ihrer Verteidigung sagen, dass nicht so viele Weltstars bei OR singen, weil das englische Label sich von Spendengelder und den Verkauf finanziert und nicht durchweg große Namen auffahren kann. Und manchmal klingt das auch recht insular…

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Leone Giraldoni war der erste Titelsänger/Ipernity

Aber hier hat man eben sehr frische Stimmen, unbekannte, relativ unbekannte Sänger versammelt. Und man erlebt, was ein begeistertes Team leisten kann, das sich exzellent in Verdis frühen Stil eingearbeitet hat. Das zeigt diese Aufnahme. Germán Enrique Alcántarain in der Titelrolle hat mir super gefallen. Dies ist wirklich ein Boccanegra, der auch in der späteren Fassung Ehre einlegen würde, umso mehr in dieser raren Urfassung. Und eine große Überraschung war für mich Iván Ayón-Rivas, der Tenorheld, der schon vorher bei der Firma mitgesungen hat und der sich hier sich so richtig entfaltet. Hier hört man absolut großen Verdi. Dazu kommen William Thomas (ein sonorer Jacopo Fiesco), Sergio Vitale (ein etwas blasser Paolo Albiani) und  David Shipley (Pietro).  M. K./G. H.

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Verfügbares: Wie so oft gilt auch hier, dass man selten etwas zum ersten male hört. Die im eigenen Katalog geführte ältere BBC-Aufnahme des originalen Simon Boccanegra ist ein Mitschnitt des Konzertes in der Londoner Golder´s Green Hall von 1975 mit dem sehr packenden Sesto Bruscantini und Josella Ligi unter John Mathesons wie stets genialer Leitung. André Turp bleibt als Gabriele Adorno etwas blass (ehemals UORC, Ponto und andere; recording of a BBC concert performance of the 1857 version before an invited audience in the Golders Green Hippodrome on 2 August 1975 and broadcast on 1 January 1976).

1989 spielte man erstmals auf dem europäischen Festland im italienischen Martina Franca (wirklich eine Pionier-Location) die Fassung unter Renato Palumbo mit Warren Mok als Gabriele (trocken)und Vittorio Vitelli als Doge (sehr ordentlich), dazu kamen Francesco Ellero D´Artegna als Fiesco (stets sonor) und Annalisa Raspagliosi (Maria) – sehr verdienstvoll, nicht unrecht, aber wirklich nicht aufregend und einem frühen Verdi nicht gerecht bei stumpfer Open-air-Akustik aus dem Innenhof des Palazzo Ducale, damals (fälschlicherweise) als moderne Erstaufnahme bei Dynamic etikettiert (den BBC-Mitschnitt gab es nur auf grauen Platten und erst recht spät bei Opera Rara im Zuge der Matheson-Erstversionen wie Don Carlos oder Forza del Destino).

Aber in neuerer Zeit gab´s den originalen Boccanegra doch einige Male, so zuletzt beim tapferen Verdi-Festival in Parma 2002 mit Vladimir Stoyanov, Riccardo Zanellato, Piero Pretti und Roberta Mantegna unter Riccardo Frizzas sehr schwerer Hand bei der RAI. Auch hier akustisch nicht wirklich aufregend und im Ganzen eher solide Mittelklasse.

Im Konzert machte Covent Garden den frühen Boccanegra 1995 mit Jose Cura als Adorno, Anthony Michaels Moore in der Titelrolle sowie mit Alistair Miles und Amanda Roocroft unter Mark Elder, radioübertragen.

Ebenfalls radio-dokumentiert hörte man am selben Haus 1997 hochbesetzt Placido Domingo (Adorno, später erschreckte er mit der Titelrolle selbst), Sergei Leiferkus (Simon Boccanegra), Jaako Ryhanen (Fiesco), Kallen Esperian (Maria), am Pult erneut Mark Elder, auch hier sehr kompakt und wenig Trovatore nah. Das gilt für mich für alle seine Boccanegra-Dokumente (auch auf der neuen Aufnahme bei Opera Rara), und ich finde, dass für den früheren Verdi nicht transparent genug, nicht federnd genug, nicht kongenial  dirigiert. Da braucht es andere, jüngere vielleicht auch.

Opera Rara torpediert gerade den eigenen Verkauf etwas, indem sie die Neuaufnahme bei youtube im eigenen Kanal ins netz stellt. Youtube hat zudem einiges an Ausschnitten aus der Erstfassung, so Elizabeth Woods im Konzert mit Amelias Arie 2009 () sowie das Vorspiel zum 1. Akt unter Chailly von seiner Decca-CD. G. H.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Nun also Roger Parker: Mit neuen Ohren hören – der „neue“ Simon Boccanegra. Versuchen wir einmal ein Gedankenexperiment. Was würden wir heute von Verdis ursprünglichem Simon Boccanegra halten, der 1857 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt wurde, hätte er sich nicht entschlossen, die Oper mehr als 20 Jahre später zu überarbeiten? Die ursprüngliche Fassung war das Herzstück eines Trios von außerordentlich vielfältigen Werken aus den späten 1850er Jahren. Zuerst entstand Les Vêpres siciliennes („Die sizilianische Vesper“, 1855), geschrieben für Paris als expliziter Versuch, die von Meyerbeer berühmt gemachte Operngroßartigkeit nachzuahmen und diese zu übertreffen. Dann folgte Boccanegra, der zur italienischen Tradition zurückkehrt, aber nur wenige offensichtliche Vorbilder bei Verdi oder anderen hat und am besten als strenger Versuch beschrieben werden kann , eine schlanke, italienisch anmutende Avantgarde zu schaffen. Und schließlich kam Un ballo in maschera („Ein Maskenball“, 1859), das den radikalen neuen italienischen Stil von Boccanegra weitgehend aufgibt und auch eine Rückkehr zu französischen Vorbildern zeigt, diesmal jedoch eher zur Sprache der opéra comique als zu der Meyerbeerschen. Von diesen drei Werken hatte nur Un ballo in maschera eine gewisse Dauerhaftigkeit im damals entstehenden internationalen Repertoire. Insbesondere Boccanegra verschwand bald aus dem Blickfeld und wäre ohne Verdis Überarbeitung von 1881 (die heute meist zu hörende Fassung) sicherlich für viele Jahrzehnte unaufgeführt geblieben.

Allerdings wäre Boccanegra in seiner ursprünglichen Fassung von 1857 dann sicherlich wiederaufgenommen im 20. Jahrhundert worden – wie so viele vergessene Opern Verdis, da seine düstere Intensität zweifellos starken Widerhall in den sich wandelnden Zeiten dieses Jahrhunderts gefunden hätte. Doch diese Rehabilitierung blieb aus: Die Präsenz von Verdis Überarbeitung von 1881 hat dies wirksam verhindert.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

So überwältigend war unser Glaube an die Idee des Fortschritts in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts – eben an die Idee, dass das Genre, insbesondere in Verdis Händen, im Laufe des Jahrhunderts dramatisch gereift, ernster und respektabler geworden sei –, dass die ursprüngliche Boccanegra fast vollständig zugunsten seines  späteren, moderneren Bruders ignoriert wurde. Es gab zwar gelegentliche Wiederaufführungen, aber sie konnten sich nie ganz aus dem Schatten der späteren Gedanken des Komponisten befreien. Schließlich hat Verdi, so heißt es, die Partitur überarbeitet, weil er mit dem Original unzufrieden war; welches Recht haben wir, eine so ehrwürdige und maßgebliche Entscheidung in Frage zu stellen? Schon ein kurzer Blick auf den Kontext der Überarbeitung, ja sogar auf Verdis Überarbeitungen im Allgemeinen, lässt vermuten, dass die Sache nicht ganz so einfach ist.

Zum einen wurden alle größeren Überarbeitungen von Verdis italienischsprachigen Opern (Macbeth, Stiffelio und Simon Boccanegra) in erster Linie aus praktischen Gründen vorgenommen. Jede der fraglichen Opern war aus dem Repertoire gefallen, und Verdi, ermutigt durch seinen Verleger Ricordi, nutzte die Überarbeitung als Gelegenheit, sie zu aktualisieren, wobei er teilweise radikale Anpassungen an ihrer musikalischen Sprache vornahm, um sie einem Publikum mit unvermeidlich veränderten Erwartungen neu zu präsentieren.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Eine solche Haltung ist aus seiner Sicht verständlich. Er arbeitete in einer Welt, in der die Idee der „Repertoireoper“ noch in den Kinderschuhen steckte und neue Werke nach wie vor das prestigeträchtigste Element der Opernszene waren. In einem solchen kulturellen Umfeld bedeutete die Einstufung als veraltet, (oft) als erfolglos. Was war also wahrscheinlicher, als dass Verdis Aufgabe bei seinen Überarbeitungen darin bestand, die rückständigsten eines Werkes gewaltsam auf den neuesten Stand zu bringen? Vor allem aus diesem Grund schien es ihm bei seinen Überarbeitungen wenig wichtig zu sein, stilistische Unstimmigkeiten zu vermeiden, und er blieb weitgehend gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass seine Überarbeitungen oft seltsame anachronistische Dissonanzen hervorbrachten.

Es gibt berühmte Beispiele aus verschiedenen Phasen seiner Karriere, eines der offensichtlichsten ist Lady Macbeths Arie „La luce langue“, die 1865 für die Pariser Überarbeitung von Macbeth hinzugefügt wurde, fast 20 Jahre nach der Uraufführung des Werks in Florenz. „La luce“ versucht nicht, sich an die musikalische Atmosphäre der späten 1840er Jahre anzupassen, sondern ist vielmehr eines der radikalsten Stücke – orchestral und harmonisch –, die Verdi selbst Mitte der 1860er Jahre geschrieben hatte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Das Gleiche gilt für die Überarbeitungen von Boccanegra aus dem Jahr 1881, in denen praktisch alle neuen Ergänzungen stilistisch eher auf die letzten Opern, Otello und Falstaff, als auf die Welt der damals fernen 1850er Jahre verweisen. Beispiele dafür finden sich in fast jeder Nummer der Oper, insbesondere im Prolog und im ersten Akt. In die karge, schlanke Orchestrierung und die strenge Deklamation der Fassung von 1857, die oft an Il trovatore in seiner strengsten Form erinnert, fügte Verdi 1881 Passagen mit überraschenden Instrumentalfarben und flüchtigen lyrischen Ausbrüchen ein, die sehr stark in die Richtung gingen, die einige Jahre später mit Otello zum Markenzeichen seines Spätstils werden sollte.

Der größte Unterschied zwischen den beiden Boccanegras, im Finale des ersten Aktes, ist die klassische Illustration. Aus der Perspektive der frühen 1880er Jahre erklärte Verdi in Briefen, dass sein Finale von 1857 „Erleichterung, Abwechslung und mehr Leben“ brauche; und er ersetzte es durch die berühmte Ratsszenen mit ihren leidenschaftlichen Appellen an die Einheit Italiens. Natürlich ist sein Finale von 1881 großartig.

Aber es sei daran erinnert, dass es nicht nur eine durchweg „späte“ Musiksprache aufweist, sondern auch auf akut zeitgenössische Themen, insbesondere auf die zerrissene Politik und die extravaganten Ambitionen des neu gegründeten italienischen Staates hindeutet. In seinem musikalischen Stil und seiner politischen Resonanz ist es mit anderen Worten sehr stark von seiner Zeit geprägt.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Karikatur von Francesco Maria Piave/Ricordi archivio storico

In diesem Zusammenhang könnte man dem Finale von 1857 eine ganz andere Stimmung unterstellen: Es handelt sich nicht um einen minderwertigen ersten Entwurf, sondern um einen höchst originellen Versuch, das zentrale italienische Finale der frühen 1850er Jahre neu zu konzipieren, in dem die Vielfalt der Ausdrucksformen vergleichsweise wenig Platz hat und in dem die Ökonomie der Komposition und die Düsternis des Tons extrem ausgeprägt sind. Und auch diese Stimmung könnte man als zeitgemäß betrachten, in diesem Fall als passend zur düsteren, konterrevolutionären Atmosphäre der späten 1850er Jahre, in der die Hoffnung auf ein neues Italien auf einem Tiefpunkt stand.

Mit anderen Worten: Es ist leicht zu verstehen, warum Verdi – der mit zunehmendem Alter und zunehmendem Ruhm sich der politischen Resonanz seiner Opern immer bewusster wurde – das Bedürfnis verspürte, 1881 eine so radikale Änderung vorzunehmen. Aber aus unserer Sicht, anderthalb Jahrhunderte später, wo beide Stimmungen nur noch historische Spuren sind, kann man eine automatische Präferenz für eine Version gegenüber der anderen nur dadurch ermöglich, dass man sowohl die musikalische als auch die historische Entwicklung Verdis ignoriert.

Solche Argumente lassen sich auch für die anderen wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Fassungen von Boccanegra anführen, in denen die Version von 1857 stets zu kräftigeren Farben, einer größeren Ökonomie der Ausdrucksweise und vor allem zu einer größeren Zielstrebigkeit neigt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ist Verdi 20 Jahre später immer und zwangsläufig besser? Ist Aida besser als Il trovatore? Ist Otello besser als Don Carlos?

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ratssaal im Palazzo degIi Abati, 1. Akt, 2. Szene, Bühnenbild von Girolamo Magnani/Ricordi archvio storico

Solange wir nicht weiterhin passiv die alte Vorstellung von der allmählichen Reifung der italienischen Oper unterstützen, kann es keine eindeutigen Antworten geben. Die meisten Liebhaber des Komponisten würden sicherlich argumentieren, dass solche Wertfragen zumindest stark von der Qualität der Aufführung und vielleicht ebenso sehr von der Beschaffenheit des Publikums abhängt – davon, wer es ist, wo es sich befindet und von der (politischen oder allgemein kulturellen) Stimmung, die es umgibt. Insbesondere wenn die ursprüngliche Fassung von Boccanegra mit Engagement und einem Bewusstsein für ihre stilistischen Besonderheiten aufgeführt wird, kann uns die Aufführung vor wichtige Fragen stellen, die sich sogar auf den gesamten Komplex ausweiten könnten, ob Verdis Überarbeitungen nicht nur Neukonzeptionen, sondern sogar Verbesserungen sind. Verdi  selbst sah sie zwar nur als solche, aber die Zeiten ändern sich, und mit ihnen ändern sich auch die Bedeutungen, die wir Kunstwerken entnehmen können. In diesem Zusammenhang könnte der „alte“ Boccanegra ganz plötzlich frisch und „neu“ werden, genauso dringend an unsere Zeit angepasst wie sein Nachfolger.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ankündigung der Uraufführung/Ricordi archvio satorico

Hintergrund: Dies ist nicht der Ort für eine detaillierte Darstellung der Entstehungsgeschichte von Simon Boccanegra. Kurz gesagt beschloss Verdi, eine Oper für die Karnevalssaison 1856/57 zu schreiben, zögerte jedoch, sich auf ein Theater oder ein bestimmtes Thema festzulegen, wahrscheinlich weil er noch über die Möglichkeit, eine Version von König Lear zu schaffen. Schließlich entschied er sich jedoch, zu dem Autor zurückzukehren, der ihn zu Il trovatore inspiriert hatte, dem spanischen Dramatiker Antonio García Gutiérrez, und vertonte dessen Drama Simón Bocanegra von 1843. Sein Librettist war wie üblich der langmütige Francesco Maria Piave (Librettist von Macbeth, Rigoletto, La traviata und einem halben Dutzend weiterer Verdi-Opern), wenn auch mit etwas Unterstützung in letzter Minute von Giuseppe Montanelli, einem toskanischen Dichter und politischen Exilanten. Die Uraufführung fand am 12. März 1857 im Teatro La Fenice in Venedig statt, mit einer Besetzung mit Leone Giraldoni (Boccanegra), Giuseppe Echeverria (Fiesco), Luigia Bendazzi (Amelia) und Carlo Negrini (Gabriele). Die Oper war bekanntlich kein Erfolg. Verdi berichtete mehreren Korrespondenten sofort in etwa mit den gleichen Worten.  Ein Brief an den Impresario Vincenzo Torelli in Neapel hat mehr als nur einen Hauch von theatralischer Übertreibung: „Der Karneval in Venedig war schön, die Theatersaison bisher gut, aber gestern Abend begannen die Schwierigkeiten: Es war die Premiere von Boccanegra, und es war ein Fiasko, fast so groß wie das von La traviata. Ich dachte, ich hätte etwas Passables geschaffen, aber anscheinend habe ich mich getäuscht.§

Wie üblich zeigten die Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften ein sehr breites Spektrum an Meinungen. Was jedoch kaum Zweifel hinterlässt, ist, dass die Hauptsänger applaudiert wurden und dass die „stumpfe Reaktion“ des Publikums vor allem durch die insgesamt düstere Farbgebung des Dramas und durch seine unkonventionelle Gesangsführung hervorgerufen wurde, wobei ein Großteil der Partitur die Traditionen des Belcanto ablehnte und stattdessen eine deklamatorische Vortragsweise einsetzte, nicht zuletzt in der Komposition für den Protagonisten der Oper.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Coronation of the Doge on the Scala dei Giganti Giambattista Brustolo/V&A Museum

Vielleicht auch wegen dieser gleichgültigen Aufnahme überwachte Verdi persönlich eine frühe Wiederaufnahme der Oper bei der Einweihung des Teatro Municipale in Reggio Emilia am 10. Juni 1857, nur drei Monate nach der Premiere in Venedig. Er nahm sich die Mühe, an den Proben teilzunehmen, verbrachte den größten Teil eines Monats vor Ort und nahm dabei einige Änderungen an seiner Partitur vor, sowohl musikalische als auch szenische. Bis Anfang der 1870er Jahre fanden noch eine Reihe weiterer Wiederaufnahmen statt, insgesamt vielleicht 40. Obwohl es gelegentliche Erfolge gab, nicht zuletzt in Reggio Emilia, war die Resonanz an vielen bedeutenden Orten (insbesondere an der Mailänder Scala im Januar 1859) bestenfalls lauwarm.

Nach dem Debakel an der Scala schrieb Verdi seinem Verleger Tito Ricordi in einer für ihn typische Mischung aus Trotz und Pessimismus: „Ungeachtet dessen, was Freunde und Feinde sagen, steht Boccanegra vielen meiner anderen Opern, die mehr Glück hatten, nicht nach, und das liegt daran, dass das Werk vielleicht eine raffiniertere Aufführung und ein Publikum braucht, das zuhören will; was für eine traurige Sache ist das Theater doch!“

Aber „das Publikum“ blieb unfähig oder zumindest unwillig, die ungewöhnlichen Qualitäten der Oper zu würdigen; im Allgemeinen wurde Boccanegra als „Problemstück“ bekannt und wurde in den renommiertesten Theatern gemieden. Schon bald beschränkten sich die Wiederaufführungen meist auf kleinere Spielstätten, und selbst diese versiegten Anfang der 1870er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt schmiedete die Firma Ricordi, die die Oper unbedingt weiter fördern wollte, Pläne für eine gründlichere Überarbeitung, die schließlich 1881 das Licht der Welt erblickte.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Parma 2022/Szene/Foto Roberto Ricci

Die neue Edition:  Unsere Ausgabe von Simon Boccanegra von 1857, die Ricordi (der noch immer existiert und sich für die Opern des Komponisten einsetzt) beim Verfasser dieses Artikels in Auftrag gegeben hat, ist die erste, die auf Verdis autographischer Partitur dieser Fassung basiert und die erst vor wenigen Jahren für Wissenschaftler zugänglich wurde. Alle früheren Fassungen mussten sich auf die fast zeitgenössische Ricordi-Vokalpartitur und verschiedene Manuskript-Kopien stützen. Diese Quellen sind größtenteils zuverlässig in der Wiedergabe der von Verdi geschriebenen Noten, aber in Bezug auf Dynamik, Phrasierung und andere Aspekte der Artikulation sind selbst die besten von ihnen nur annähernd und lassen häufig wesentliche Details vermissen. Die autographen Materialien stellen somit eine reichhaltige neue Quelle dar, die zeitgenössischen Interpreten erstmals die Möglichkeit bietet, viele von Verdis detailreichen musikalischen Anweisungen zu befolgen. © 2025 Roger Parker/G. H.

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VERDI: SIMON BOCCANEGRA 1857 VERSION (ORC65): The Hallé | Sir Mark Elder, conductor; Germán Enrique Alcántara (Simon Boccanegra); Eri Nakamura (Amelia); William Thomas (Jacopo Fiesco)Iván Ayón-Rivas (Gabriele Adorno); Sergio Vitale (Paolo Albiani); David Shipley (Pietro); Amelia’s Maid (Beth Moxon); Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus

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Der Autor und Musikwissenschaftler Roger Parker/ Foto OR/ Russell Duncan

Dank an Roger Parker, uns seinen Artikel aus dem Booklet zur neuen Aufnahme bei Opera Rara zu überlassen! Roger Parker ist Repertoireberater bei Opera Rara. Er ist emeritierter Professor für Musik am King’s College London und lehrte zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Herausgeber der kritischen Ausgabe von Donizetti, die bei Ricordi erschienen ist. Seine jüngsten Bücher sind „Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio“ (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last Four Hundred Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die Musik in London in den 1830er Jahren und an einer kritischen Ausgabe von Donizettis Solo-Liedern. Von 2013 bis 2018 war er Direktor des vom ERC geförderten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College. (Abbildung oben: Venedigs Doge Leonardo Loredano von Giovanni Bellini/Wikipedia)

Triumph der Gerechtigkeit

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Der Musikfreund kennt Händels Oratorium Athalia (1733), aber wohl kaum das gleichnamige Werk des in Lucca geborenen Komponisten Francesco Gasparini, das 1692 in Rom uraufgeführt wurde. Die Libretti beider Werke fußen auf Racines Tragédie von 1691 Athalie. Während für Händel Samuel Humphreys den Text erstellte, ist der Verfasser bei Gasparini unbekannt.

Erzählt wird die Geschichte der machtbesessenen Königin Atalia, die ihre eigene Familie, darunter den Sohn Ochozia, König von Judäa, töten ließ, um die uneingeschränkte Herrschaft über Jerusalem zu erlangen. Sieben Jahre später verbindet sich der Sacerdote mit General Ormano und der alten Nutrice, um den kleinen Joas, der das Massaker als Einziger überlebt hatte, auf den Thron zu bringen.

In jüngster Vergangenheit haben einige Sopranistinnen und Countertenöre Arien aus Gasparinis etwa 60 Opern in die Programme ihrer Recitals aufgenommen. Als komplette Einspielung liegt aber nur Il Bajazet vor.

Mit der Veröffentlichung der Atalia sorgt das Label CVS erneut für eine Novität auf dem Musikmarkt. Die Aufnahme entstand im Januar 2024 in Versailles und liegt auf einer CD mit reich ausgestattetem Booklet vor (CVS147). Das Ensemble Hemiolia und sein Leiter, der Geiger Emmanuel Resche-Caserta, sorgen für eine packende Wiedergabe der Musik, die ihren Reiz aus virtuosen Arien und affektreichen Instrumentalstücken bezieht. Als Sinfonia dient Arcangelo Corellis Concerto grosso Nr. 5 op. VI – ein stimmungsvoller, kontrastreicher Einstieg mit Musik eines Zeitgenossen Gasparinis.

Die französische Sopranistin Camille Poul formt die Titelpartie höchst eindrucksvoll. Sie hat zu Beginn des ersten Teils gleich drei Soli zu absolvieren, in denen ihre strenge, aber klangreiche Stimme sich prominent präsentieren kann. Vor allem „Destatevi à l´armi“ zeigt ihre energische Entschlossenheit, die Macht zu besitzen und nicht teilen zu wollen. In „Ah nemico del mio ben traditor“ wird sie geradezu zur rasenden Furie. Höhepunkt ihrer Interpretation ist der Monolog zu Beginn des 2. Teils, „Ombre, cure, sospetti“, in welchem sie die Zustände von Angst und Schmerz eindringlich formuliert. Auch „Oh che fierezza!“ am Ende, wenn Atalia von Schreckensvisionen heimgesucht wird und auf Geheiß des Oberpriesters ihr Leben lässt, ist ein packender Moment. Der Szene folgt ein majestätischer Choeur, „O mirabil Providenza!“, von monteverdischem Zuschnitt.

Bastien Rimondi ist ein recht junger Interpret für den Ormano. Der weiche lyrische Tenor lässt schmeichelnden Wohllaut hören, verleiht der Figur edlen Zuschnitt. Seine Soli „Vado, man ben t´inganni“ und „Lascia di paventar“ sind von purer Schönheit. Ein Star im Ensemble ist der italienische Bariton Furio Zanasi als Sacerdote den er mit resonanter Stimme plastisch porträtiert. Mit der Kontraaltistin Mélodie Ruvio als kultivierter Nutrice wird die Besetzung eindrucksvoll komplettiert. Allen Barockfreunden sei diese Neuaufnahme dringend empfohlen (06.06.25) Bernd Hoppe

 

 

Weder klassisch noch modern

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Keine Sorge, die gleich dreifach als Cover für Blu-ray-Kassette, Booklet und auf der Silberscheibe  abgebildete, für den Sopran recht unvorteilhafte Szene kommt während der im Jahre 2014 stattgefunden habenden Aufführungen im Liceu von Barcelona gar nicht vor, und auch sonst scheint Unentschlossenheit das Wirken des Regisseurs Vincent Boussard bestimmt zu haben. Die schlägt sich einmal schon in den Kostümen von Christian Lacroix nieder, der sich nicht zwischen Moderne, Rokokoperücken und Mühlsteinkragen aus dem späten Mittelalter entscheiden konnte, während die Szene ( Vincent Lemaire) eine extrem dürftige ist mit ab und zu einer Bank oder einem Tisch und im Vordergrund einem Thronsesselchen, keinem Choreographen für den letzten Akt, und im Hintergrund senkt und hebt sich immer mal wieder eine Wand, lässt oft nur Beine oder Körper ohne Kopf sehen, was gegenüber dem Sopran gegenüber äußerst uncharmant ist, weil es ihn nicht gerade optimal erscheinen lässt. Zur Ulrica begibt man sich, wohl weil es schon spät ist, in Schlafanzügen, und warum eine Glühbirne zum Mond mutiert, bleibt das Geheimnis des Regisseurs, der zwischen der Scylla der modernen und der Charybdis der klassischen Regie hilflos umhersegelt und die Sänger allzu oft völlig im Stich lässt. Dafür haben sie alle Möglichkeiten, sich für ihre Arien in Positur zu stellen, was sicher nicht nur sie selbst, sondern auch der Hörer zu schätzen weiß. Bevor man zu ihnen kommt, muss man noch zur Kenntnis nehmen, dass der Video Direktor Fabrice Castanier keine gute Arbeit geleistet hat, Großaufnahmen von Nasenlöchern oder verwackelte Aufnahmen vom Publikum lassen einmal mehr einen in Rente gegangenen, früher allgegenwärtigen Könner dieses Metiers vermissen.

Trösten kann man sich mit den Sängerleistungen, in erster Linie mit der von Piotr Beczala als Riccardo, der mit makellos strahlenden Höhen, großzügiger Phrasierung im Liebesduett, einem sehr schön-schmerzlichen „Invan tu celi, Amelia“ besticht, beim Intervallsprung nach unten allerdings im Fahlen landet und recht herbe „dolci canzoni“ vernehmen lässt. Wenn auch ein letztes Bisschen von melancholischem Schimmer in der Stimme fehlt, so ist seine Leistung doch eine überaus achtbare. Ein bewährter Verdisänger ist seit langem Carlos Álvarez, dessen Bariton großzügige Bogen spannen kann, der über eine vorzügliche Diktion verfügt, machtvoll den Ruf nach Vendetta anführt und fermatenreich sein „Eri tu“ bewältigt. Viel attraktiver, als das unselige Cover vermuten lässt, ist die Amelia von Keri Alkema, mit eine reichen, üppigen Sopranstimme begabt, die weich und melancholisch ihr „Morrò, ma prima in grazia“ singt, ihr Vibrato zu bändigen weiß und sogar das rote Spielzeugauto der Lächerlichkeit entreißt. Imponierender in der Tiefe als in der Höhe ist Dolora Zajick als Ulrica und orgelt eindrucksvoll damit, keinen bubenhaften, sondern sehr mädchenhaften Sopran besitzt Katerina Tretyakova für den Oscar, und Damián Del Castillo ist vehement bis ungehobelt der Silvano. Angemessen düster äußern sich Antonio Di Matteo und Roman Ialcic als Verschwörer. Der Chor kann sich wegen mangelnder oder fehlgeleiteter Regie weitgehend aufs allerdings sehr erfreuliche Singen konzentrieren (Conxita Garcia), Renato Palumbo weiß seine große Erfahrung im italienischen Fach (Wir sind ja nicht beim Freischütz in Berlin.) gewinnbringend einzusetzen und das Symphony Orchestra of  the Gran Teatre del Liceu (wie es im Booklet genannt wird) zum sicheren Sängerbegleiter zu machen (C-Major766804). Ingrid Wanja      

Prachtvoll

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 Die Serie seiner Einspielungen von Werken Jean-Baptiste Lullys setzt das Label Château de VERSAILLES mit der 1674 in Paris uraufgeführten Tragédie lyrique Alceste fort. Die Produktion erfolgte im Januar 2024 in Versailles im Zusammenhang mit einer konzertanten Aufführung des Werkes und liegt nun in einer luxuriösen Präsentation auf drei CDs vor (CVS 149). Sie folgt der letzten Aufnahme der Oper, die Christophe Rousset 2017 verantwortete.

Da war Stéphane Fuget noch als Cembalist im Team, der nun mit seinem Ensemble Les Épopées, das er 2018 gegründet hatte, als Mentor der Neuproduktion fungiert. Er sorgt für ein Klangbild von majestätischer Pracht. Das beginnt mit der gravitätischen Ouverture, setzt sich fort in den pastoralen Tänzen mit Rondeaus, Airs, Gavotten sowie Menuetten und bringt auch immer wieder einen heroischen Ton oder unerwartet harschen Akzent ein. Mit fahlen und düsteren ombre-Klängen wartet er im Pompe funèbre auf.

Eine exzellente Besetzung wird angeführt von Véronique Gens in der Titelrolle, die ihre stilistische Kompetenz für das französische Barockrepertoire einmal mehr unter Beweis stellt. Sie profiliert die Königin, die ihr Leben opfern will, um das ihres Gatten Admète zu retten, mit eindringlichen Tönen und flehentlichem Ausdruck. Der französische Tenor Cyril Auvity singt den König mit schmiegsamer Stimme anrührend und verletzlich. Alcide (Herkules), der die Königin liebt, bringt sie aus der Unterwelt zurück und gibt sie generös seinem Rivalen Admète zurück. Damit triumphiert Alcide über sich selbst, woraus sich der Untertitel des Werkes Le triomphe d´Alcide erklärt. Nathan Berg singt ihn mit reifem, expressivem Bassbariton.

Unter den zahlreichen Nebenrollen (Alcestes Vertraute Céphise, Admètes Vater Phérès, Diane, Apollon, la Gloire  sowie mehrere Nymphen) bewähren sich Camille Poul, Léo Vermot-Desroches, Claire Lafilliâtre, Juliette Mey und Cécile Achille. Der Choeur de l´Opéra Royal bietet als Najaden, Thessaliens, Bergers, Soldats assiégeants und Muses puren Wohlklang (06.06.25). Bernd Hoppe

Salieris „Cublai, gran kan de’ Tartari“

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Vor kurzem jährte sich der 200. Todestag Antonio Salieris (* 7. Mai 1825). Der Opernkomponist galt vielen lange als mittelmäßiger, von den Zeitgenossen überschätzter Mozart-Rivale. Jetzt erscheint pünktlich zum Jubiläum seine große Oper Cublai, gran kan de’ Tartari beim Label Aparté, am Pult steht Christophe Rousset. Eine  Gesellschafts- und Politsatire direkt aus der mittelbaren Mozart-Zeit: Geschrieben für Wien zwischen Don Giovanni und Cosi fan tutte. (M. K.)

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„Uraufführung der italienischen Originalfassung“: Cublai Kan, der Herrscher der Tartaren, hat eine ganze Menge Probleme am Hals: Seine Hofbeamten schmieden Komplotte gegen ihn, sein eigener Sohn ist so dümmlich, dass sich die Prinzessin des Nachbarlandes weigert, ihn zu heiraten, und zu allem Überfluss mischt auch noch ein italienisches Abenteurerpaar die Traditionen seines Landes auf. Antonio Salieris komische Oper Cublai, gran Kan de’ tartari, deren Libretto von Giambattista Casti stammt, spielt zwar scheinbar in Catai, doch sie schildert letztlich die Verhältnisse an den damaligen europäischen Fürstenhöfen, insbesondere am russischen Zarenhofe.

Mozart & Salieri/officialantoniosalieri/Instagram

Die zentrale Frage, die die Urheber der Oper im wahren Geiste der europäischen Aufklärung aufwerfen, ist der Umgang von Machthabern mit der Verantwortung, die diese für ihr Land tragen. Doch weil Russland Bündnispartner des römisch-deutschen Kaisers Joseph II. war, sagte der Monarch die Uraufführung mit Beginn der sog. Türkenkriege 1787 ab.

Damit geriet eine der ungewöhnlichsten Opern des 18. Jahrhunderts, die sich auf die Komödie der Commedia dell’arte beruft und in ihrer beißenden Satire Jacques Offenbachs Werken kaum nachsteht, für mehr als zweihundert Jahre in Vergessenheit.

Der Dirigent Christophe Rousset, der sich seit vielenJahren für das Musikschaffen Antonio Salieris einsetzt, zeichnet nun für die späte Uraufführung der italienischen Originalfassung von Cublai, gran Kan de’ Tartari verantwortlich. (Aparté)

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„Uraufführung der italienischen Originalfassung“ steht zu Recht im Booklet der neuen Ausgabe bei Aparté, denn „unerhört“ ist die Oper nicht. Bereits 1998 gab das mutige MainFranken-Theater Würzburg die Oper (als Kublai großer Khan der Trataren) in eigener deutscher Übersetzung von Cornelia Boese und in der Inszenierung von Ulrich Peters . Udo Wessiepe hatte sie mit Johan van Slageren ausgegraben. Letzterer  dirigierte auch den Abend. In der farbenfrohen Produktion sang immerhin Diana Damrau in ihrem ersten Engagement die Alzima.

Das Theater an der Wien brachte zudem das Werk in nicht immer kongenialer Veränderung – als „Uraufführung“ betitelt – im April 2024, Radio- und TV- übertragen (Carlo Lepore, Lauranne Oliva, Alaistar Kent, Dirigent Christophe Rousset; Inszenierung Martin Berger). 

Im Folgenden à propos der Neuaufnahme eine Rezension von Paul Korenhof, ein Blick auf Salieri von  Christophe Rousset (der ja bereits einige seiner Opern aufgenommen hat und der mit seiner kurzen Salieri-Würdigung hier zu Worte kommt) und den hochinformativen Artikel des Salieri-Spezialisten und -Biographen Tanu Jouko Herrmann aus dem luxiriösen Beiheft (das sogar – oh Wunder – Beiträge in Deutsch enthält, Dank an die französische Firma!). Nicht genug damit: Als eine Art Richtigstellung der geschichtlichen Wahrheit bringen wir schließlich ein Gespräch mit den Stretta-Geschäftsführern und Herausgebern von „Kublai Khan“ Johan van Slageren und Udo Wessiepe, die 1998 diese Oper für Würzburg ausgegraben und aufgeführt hatten.  G. H.

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Nun also Paul Korenhof: Im April 2024 fand im Theater an der Wien die Premiere von Cublai, gran can de‘ Tartari von Antonio Salieri nach einem Libretto von Giovanni Battista Casti statt. Eigentlich hätte diese Premiere bereits 1788 stattfinden sollen, ebenfalls in Wien, wo Salieri von 1774 bis 1792 als Intendant der Hofoper eine zentrale Rolle im Musikleben spielte. Das hinderte jedoch nicht den Kaiserhof daran, die Uraufführung zu verhindern, als Österreich 1787 in einen russisch-türkischen Krieg verwickelt wurde.

Ausschlaggebend für die politischen Überlegungen war vor allem der Charakter dieser „Opera eroicomico in due atti“, in der Castis Libretto die europäische monarchische Kultur auf wenig verhüllende Weise parodierte. Dass dabei vor allem die russischen Zaren verspottet wurden, dürfte dabei eine große Rolle gespielt haben. Für uns ist das heute schwer zu beurteilen, aber im Titelhelden, dem legendären Tatarenfürsten Kublai Khan, scheint man sogar eine Parodie auf den 1725 verstorbenen Peter den Großen erkannt zu haben.

Es ist klar, dass Salieris „Cublai“ in Text und Musik weit von der Oper seria des 18. Jahrhunderts entfernt ist, aber auch ein Vergleich mit den im gleichen Zeitraum entstandenen Komödien von Mozart und Da Ponte hinkt. Als Komponist fehlt für mich Salieri die Tiefe und Präzision, die sein jüngerer Kollege in seiner Musik zu erreichen wusste, während der Text von Casti durch die stärkere Betonung der Situationen gegenüber den Figuren vor allem mit italienischen Komödien unter dem Einfluss der Commedia dell’arte verwandt ist.

Salieris „Cublai-Kan“ in Wien 2024/ Foto Theater an der Wien/Herwig-Pramme

(…)  Als Christophe Rousset, der sich bereits zuvor als Fürsprecher Salieris profiliert hatte, dessen Cublai, gran Kan de‘ Tartari eine verspätete (italienische) Uraufführung bescherte, geschah dies in einer stark aktualisierten Inszenierung, in der auch der Komponist eine (Sprech-)Rolle erhielt. Die später auf CD erschienene Fassung ist jedoch originalgetreu, wobei die Rollen des Cublai, Timur und Posega mit anderen Solisten besetzt wurden. Anstelle des Arnold-Schoenberg-Chors wurde außerdem der Kammerchor von Namur engagiert.

Auf eine kurze Sinfonia mit leicht „türkischen“ Einflüssen folgt eine spritzige Abfolge von Chören, Rezitativen und relativ kurzen Arien und Ensembles, die manchmal auch ineinander übergehen. Dabei scheuen Casti und Salieri sich nicht, einen Sänger sich selbst unterbrechen zu lassen oder einer Arie eine zweite Stimme hinzuzufügen.

Komische Züge fehlen dabei nicht, aber auffällig ist, dass ich mehrfach Assoziationen zu Musik hatte, die Salieri unmöglich gekannt haben kann. So erinnert der Eröffnungschor an Rossinis L’Italiana in Algeri, die gesamte Atmosphäre der ersten Szene an den Anfang von Chabriers L’Étoile, und ein Terzett im zweiten Akt könnte sogar mit dem „trio patriotique“ aus Offenbachs La Belle Hélène verwandt sein (das wiederum eine Parodie auf ein Terzett aus Rossinis Guillaume Tell ist). Das mag alles Zufall sein, aber es ist bezeichnend für die Atmosphäre dieser „heroisch-komischen Oper“, die viel von einem „Offenbach avant la lettre“ hat.

Salieris „Cublai-Kan“ in Wien 2024/Foto Theater an der Wien/Herwig-Pramme

Das Ganze ist Christophe Rousset, dem Verfechter der Musik Salieris, der bereits durch seine feinsinnige Herangehensweise an heitere und komische Momente in der Musik des 18. Jahrhunderts aufgefallen ist, auf den Leib geschneidert. Unterstützt wird er dabei vom spritzigen Spiel von Les Talens Lyriques und einem Ensemble überwiegend junger Sänger mit hervorragenden Stimmen, Persönlichkeit, großem Sinn für theatralischen Humor und einer klaren Textbehandlung. Musikalische Komödie in Bestform!

Ohne einen Qualitätsunterschied suggerieren zu wollen, möchte ich zunächst zwei Solisten erwähnen. Da ist zunächst der Bass Mirco Palazzi als sonorer, niemals übertriebener Kublai Khan, der der Rolle trotz aller naiven Dummheit sogar etwas Sympathisches verleiht. An zweiter Stelle steht der ebenfalls nicht übertriebene Bariton Giorgio Caoduro, der sowohl in seinem Gesang als auch in seiner humorvollen Phrasierung an Renato Capecchi in der ersten Phase seiner Karriere erinnert.

Wie in einer Komödie über Eheprobleme zu erwarten, sind die Frauenrollen Musterbeispiele des Feminismus, allen voran Memma, die Italienerin, die mit ihrem frechen und entschlossenen Auftreten zur „serva padrona“ des gesamten Hofes von Kublai Khan wird. Die etwas weniger entschlossene Alzima von Marie Lys steht ihr in nichts nach und schmeichelt dabei dem Ohr mit schön ausgearbeiteten und fließend in den Gesang integrierten Koloraturen.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Ein Kapitel für sich ist die Travestierolle des Prinzen Lipi, den Lauranne Oliva mit einer schlanken, sehr jugendlich klingenden Sopranstimme als entzückenden Vorläufer von Oreste in (wieder einmal) La Belle Hélène darstellt. Eine ideale Sopranistin für Offenbach und die französische Operette, aber auch für Siebel in Faust und Cherubino in Le nozze di Figaro! Außerdem hören wir einen wohlklingenden, technisch hervorragenden Timur vom Tenor Anicio Zorzi Giustiniani und einen herrlich aufgeblasenen Posega vom Bariton Äneas Humm. Eine dankbare „Nebenrolle“ (die aber eigentlich mehr ist) hat der Bariton Fabio Capitanucci als Zeremonienmeister Orcano, der unter dem Einfluss zweier von ihm nicht besonders geschätzter Damen seine Macht immer mehr schwinden sieht.

Die Timbre von Memma und Alzima liegen für mich bei ihrer Konfrontation im zweiten Akt für die CD etwas zu nahe beieinander, aber die tieferen Männerstimmen sind immer mühelos voneinander zu unterscheiden. Das ist gerade bei diesem Werk wichtig, da Salieri recht spielerisch mit den Texten umgeht und Rezitative und Gesangsstücke nicht nur ineinander übergehen lässt, sondern manchmal sogar vermischt. Bei perfekter Balance suggeriert die Aufnahme zudem eine wohltuende Verbindung von Intimität und theatralischer Weite. Vielleicht mit etwas Hilfe von Rousset ist es Aparté gelungen, die Oper auf zwei CDs (77 und 84 Minuten) zu veröffentlichen, die in einem soliden, schlichten und ästhetisch ansprechenden Booklet verpackt sind.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Der Charakter einer Komödie mit Liedern, die das Tempo vorgeben (nur ein Duett von Alzima und Timur und die Finales dauern länger als dreieinhalb Minuten), und langen, aber flüssig vorgetragenen Rezitativdialogen ergab ein umfangreiches CD-Booklet mit über zweihundert Seiten Libretto in vier Sprachen, einer kurzen Einführung, eine nicht ganz korrekte Zusammenfassung und eine längere Erläuterung, alles dreisprachig. Die „Biografien“ beschränken sich auf den Dirigenten, das Orchester und den Chor, aber wer etwas über einen Sänger oder eine Sängerin wissen möchte, kann das heutzutage auch im Internet nachlesen. Kurz gesagt, ein Musikdrama auf dem Niveau von Mozart ist Cublai, gran Kan de‘ Tartari vielleicht nicht, aber mit den Komödien von Cimarosa und Pergolesi kann es sich durchaus messen. Auf jeden Fall habe ich mich schon lange nicht mehr so gut bei einer Oper amüsiert! Paul Korenhof/opusklassiek

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Dazu Christophe Rousset: Es ist immer schwer, ein Werk von Salieri aufzuführen. Diese Idee, dass er ein Komponist zweiten Ranges sei, ist in den Köpfen verankert – obwohl das völlig falsch ist. Die Beziehung zwischen Mozart und Salieri war eigentlich gut und von gegenseitigem Respekt geprägt. Die Vorstellung eines Konflikts zwischen den beiden ist falsch. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert – aus einer Zeit, als auch die Legende zunehmende Verbreitung fand, Salieri hätte Mozart aus Eifersucht auf dessen Genie vergiftet. Ich habe viel von Salieri dirigiert, auf Französisch, auf Italienisch, sowohl komische Opern als auch solche aus dem Genre der Opera seria.

Dirigent Christophe Rousset/©-Nathanael Mergui/Aparté

Er ist jemand, der als Komponist einen starken Charakter besitzt und immer versucht, etwas Neues zu liefern. In klanglicher und dramatischer Hinsicht war er äußerst erfindungsreich, die Formen werden in seinen Opern geschmeidig: In Cublai Kan kann eine Arie zum Beispiel mit einem Accompagnato-Rezitativ enden, eine dritte Person plötzlich in ein Duett hineinplatzen. In dieser Oper sind die Arien außerdem sehr kurz. Seine Musik spricht die gleiche Sprache wie jene von Mozart.

Vielleicht liegt ein Teil der Antwort nach der Frage (von Salieris geringerem Bekanntheitsgrad heute) darin, dass Mozart viel Kammermusik geschrieben hat, Salieri kaum. Wenn man damals ein Amateurmusiker war, konnte man daheim die Klaviermusik von Mozart spielen, seine Sonaten interpretieren und Lieder singen. Salieri hat dagegen fast nur große Werke geschrieben: Messen, Oratorien, Opern, aber kaum Musik für den Hausgebrauch. Vielleicht war dadurch die Wahrscheinlichkeit für Salieri höher, in Vergessenheit zu geraten.

Seine Werke besitzen Bedeutung. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen. Er hat damals auch regelmäßig mit Lorenzo Da Ponte gearbeitet, den man heute vor allem als Librettisten von Mozart kennt. Eigentlich hatte Da Ponte „Cosi fan tutte“ für Salieri geschrieben, nur fand der das Libretto zu schwach. Tja. (Lächelt.)/Stretta

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Der Komponist Antonio Salieri/OBA

Nun also Timo Jouko Herrmann: Der Zeit voraus – die Politsatire Cublai, gran kann de’ Tartari von Casti und Salieri. Die 1780er-Jahre waren für den kaiserlichen Kapellmeister Antonio Salieri eine Zeit künstlerischer Neuausrichtung. Im Anschluss an seine äußerst erfolgreiche Italienreise beschäftigte er sich mit deutschem Singspiel (Der Rauchfangkehrer, 1781), klassischer italienischer Opera seria (Semiramide, 1782) und französischer Tragédie lyrique (Les Danaïdes, 1784). Nach der Auflösung des „Deutschen National-Singspiels“ bot die Wiedereinrichtung der italienischen Oper Salieri die Möglichkeit, seine Tätigkeit in Wien wieder auszubauen. Die von ihm befürwortete Anstellung Lorenzo Da Pontes als Theaterdichter und das Engagement eines hervorragenden Sängerensembles sollte der italienischen Oper neuen Schwung verleihen.

Da Pontes erstes Libretto Il ricco d’un giorno war denn auch für Salieri bestimmt. Die Zusammenarbeit geriet jedoch zu einem Fiasko. Das Werk fiel beim Publikum durch, und jeder suchte die Schuld beim anderen. Angesichts des unerwarteten Misserfolgs lag es für Salieri nahe, sich Da Pontes Konkurrenten Giovanni Battista Casti zuzuwenden. Dieser hatte gerade für Paisiello das Libretto zu Il re Teodoro in Venezia geliefert und damit in Wien für Furore gesorgt. Die erste Begegnung von Casti und Salieri lag jedoch bereits länger zurück: Der Dichter war 1774 Teil des Autorenteams gewesen, das Goldonis Libretto zu La calamita de’ cuori für eine Vertonung durch Salieri revidierte. Gleich die erste große Zusammenarbeit Salieris mit Casti, La grotta di Trofonio, wurde zu einem immensen Erfolg. Das Werk erfuhr nach der Uraufführung am 12. Oktober 1785 zahlreiche Neuinszenierungen auf Bühnen in ganz Europa. Auf Wunsch Josephs II. entstand schon bald darauf der Einakter Prima la musica e poi le parole. Dieses Gelegenheitswerk wurde am 1. Februar 1786 in der Orangerie von Schloss Schönbrunn beim kaiserlichen „Frühlingsfest an einem Wintertage“ zusammen mit Mozarts Der Schauspieldirektor uraufgeführt.

Die positive Rezeption der auf Ereignisse des Wiener Theaterlebens anspielenden Satire, in der auch Da Ponte karikiert wurde, bestärkten Salieris in seinem Entschluss, an Casti als Textdichter festzuhalten. Er konnte nicht ahnen, dass keinesder folgenden gemeinsamen Projekte jemals auf die Bühne kommen sollte.

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Poster for a 1890 edition of Gli Animali parlanti by Italian poet Giovanni Battista Casti (1724-1803) with a portrait of the author/Wikipedia

Castis Libretto zu Cublai, gran kan de’ Tartari. Während seiner Reisen nach St. Petersburg in der zweiten Hälfte der 1770er-Jahre hatte Casti den Hof der Zarin Katharina II. kennengelernt und seinen Poema tartaro konzipiert. Diese beißende Satire auf die skandalösen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland wurde von ihm um das Jahr 1783 fertig ausgearbeitet.

Nicht nur die Zarin, auch andere gekrönte Häupter und geistliche Würdenträger werden in diesem Versepos kritisiert. Als aufgeklärter Geist wurde Casti hellhörig, wenn die absolute Monarchie mit Hilfe der Kirche alle Macht im Staat auf den Souverän konzentrierte. Er fürchtete die Gefahren einer aufkommenden Autokratie, nicht zuletzt deswegen sympathisierte er später mit den Idealen der Französischen Revolution. Nach weiteren Reisen durch Europa kehrte Casti im Oktober 1783 nach Wien zurück. Er machte sich Hoffnungen auf den Posten des kaiserlichen Hofpoeten, der nach dem Tod Metastasios vakant geblieben war.

Die Chancen standen nicht schlecht, war Kaiser Joseph II. dem scharfzüngigen Dichter doch durchaus wohlgesonnen. Bereits 1769 hatte er ihn in Florenz kennen- und schätzen gelernt und nach Wien eingeladen. Der Erfolg der bereits erwähnten Opern Il re Teodoro in Venezia und La grotta di Trofonio hatte Castis Qualitäten als Librettist offenbart und seine Position gegenüber Da Ponte gefestigt. Im Frühjahr 1786 fasste er Mut und präsentierte dem Kaiser den Poema tartaro. Joseph II. erkannte schnell die politische Sprengkraft des Gedichts und verfügte, dass Casti das Werk nicht in fremde Hände geben dürfe. Die eben noch fast greifbare Stelle des „Poeta cesareo“ war in weite Ferne gerückt, und Casti entschied sich, Wien zu verlassen und nach Italien zu reisen.

Etwa um diese Zeit herum war er wohl an Salieri mit der Frage herangetreten, ob dieser Interesse habe, das gerade im Entstehen begriffene Libretto Cublai, gran kan de’ Tartari zu vertonen. Bisweilen ist zu lesen, bei diesem Textbuch handele es sich um ein bloßes Derivat des Canto XI. aus dem Poema tartaro. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Casti nur die Namen mancher Personen und einige allgemeine Ideen daraus übernommen hat. Cublai erweist sich vielmehr als eigenständige Satire auf Peter den Großen und seinen Hofstaat, die nebenbei mit ganz allgemeiner Kritik an Adel und Klerus gespickt ist.

Ließ den Librettisten Casti nach anfänglicher Gunst ausweisen: Joseph II. um 1775 (Gemälde von Anton von Maron)/Wikipedia

Castis Sprache hat nichts mit den elegant abgezirkelten, bildreichen Versen eines Metastasio gemein. Sein Cublai lebt von einer schonungslosen Direktheit, von schnellen Dialogen und filmartig-abrupten Szenenwechseln. Ähnlich wie in Beumarchais’ Tarare fungiert die exotische Szenerie des Stücks nur als Deckmantel für den satirisch-kritischen Inhalt, orientalisierendes Kolorit wird man in Cublai vergeblich suchen.

Castis Figurenkonstellation unterscheiden sich fundamental vom damals üblichen Standard einer komischen Oper: Die Titelfigur ist alles andere als das Idealbild eines aufgeklärten Monarchen. Cublai wird als rücksichtsloser Autokrat gezeichnet, als despotischer und kriegslüsterner Willkürherrscher.

Der „Imperador de’ Mongolli“ lässt alle guten Manieren vermissen, er raucht und trinkt, schlägt um sich, stößt fortwährend Beleidigungen und Flüche aus. Eine Läuterung oder gar Bestrafung des Wüstlings bleibt aus, so dass die moralische Befriedigung des Publikums zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss.

In der Figur des pflichtbewusst-pedantischen Zeremonienmeisters Orcano manifestiert sich Castis Kritik am steifen Hofzeremoniell. Orcano ist den Launen und Wutausbrüchen seines Herrschers schutzlos ausgeliefert. Verzweifelt versucht er, das Chaos am Hof einzudämmen und lanciert beschönigende Berichte, um die wahren Zustände vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Der Europäerin Memma ist Cublai hoffnungslos verfallen. Gemeinsam mit ihrem hintersinnigphilosophisch veranlagten Partner Bozzone macht sie den Herrscher zum willfährigen Spielball ihrer Capricen. Die Figuren von Bozzone und Memma lassen sich zweifelsohne auf historische Vorbilder zurückführen, nämlich auf Franz Lefort, der innerhalb kurzer Zeit zum engen Vertrauen des Zaren geworden war, und auf Leforts Geliebte Anna Mons, die alsbald die Mätresse des Herrschers wurde. Aus einer Laune heraus bringt Memma Cublai dazu, allen Männern in seinem Reich die Gesichtsrasur zu befehlen – eine Anspielung auf die unter Peter I. eingeführte Bartsteuer. Die von Memma initiierte „gala di corte Europea“ am Ende des 1. Aktes prangert wie die „fête Européenne“ in Tarare den bei höfischen Divertissements zur Schau gestellten Luxus an, die sinnlose Verschwendungssucht solcher Festlichkeiten wird ad absurdum geführt.

Salieris „Kublai Khan“ Würzburg 1998/ Diana Damrau und Christian Baumgärtel/Foto Petra Winkelhardt (Dank an Ulrich Peters) 

Seinen Sohn Lipi hat Cublai dem intriganten Kleriker Posega zur Erziehung anvertraut, der den einfältigen Jungen zum Spielball seiner Interessen gemacht hat. Aus Expansionsgründen soll der geistig zurückgebliebene Lipi mit der bengalischen Prinzessin Alzima verheiratet werden – eine kaum verschleierte Anspielung auf die oft fragwürdige Heiratspolitik europäischer Herrscherhäuser. verliebten Neffen Timur als Erben einzusetzen und Lipi zusammen mit Posega in ein buddhistisches Kloster zu verbannen. In Lipis Schicksal reflektiert Casti den historischen Konflikt Zar Peters I. mit seinem Sohn Alexei.

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Salieris Musik zu Cublai: „sempre bizzarro“ und „strovagante“. Wie Salieri auf der ersten Seite der Partitur vermerkte, begann er mit der Komposition des Cublai im Sommer 1786 in Paris. Dort hielt er sich auf, um die Premiere von Les Horaces vorzubereiten und in enger Abstimmung mit Beaumarchais an der Vertonung von dessen Tarare zu arbeiten. Von der französischen Hauptstadt aus hatte sich Salieri mit Casti zwar bereits über einige Änderungen am Libretto zu Cublai verständigt, doch scheint die Arbeit an der Partitur bald ins Stocken geraten zu sein. In einem Schreiben an Salieri vom 19. Mai 1787 beklagte sich Casti über die Funkstille von Seiten des Komponisten, volle vier Monate habe er nichts von Salieri gehört, alle Briefe seien unbeantwortet geblieben. Casti konnte freilich nicht wissen, dass der Komponist völlig von der Arbeit an Tarare und den Vorbereitungen für die Uraufführung absorbiert war. Bald nach der erfolgreichen Premiere am 8. Juni 1787 kehrte Salieri nach Wien zurück, spätestens dann dürfte er die Komposition des Cublai wieder aufgenommen haben. Die Partitur wurde vermutlich im Laufe des Jahres 1788 vollendet. Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können: Im August 1787hatte das Osmanische Reich Russland den Krieg erklärt. Ein geheim gehaltenes Defensivbündnis aus dem Jahr 1781 zwang Joseph II., der Zarin Katharina II. im Februar 1788 beizuspringen. An eine Aufführung des Cublai auf der kaiserlichen Bühne war angesichts der neuen politischen Lage nicht zu denken.

Wie man aus seinen Notizen zur Oper schließen kann, stand Salieri der sorgfältig gearbeiteten Partitur und den darin enthaltenen Bizarrerien im fortgeschrittenen Alter eher kritisch gegenüber. Er befürchtete, dass manche Szenen als überzogen oder unanständig empfunden werden könnten – daher wünschte er sich im Falle einer Aufführung „delicatezza“ und „molto intelligenza“ bei der Umsetzung des Stoffes. Auch der Salieri-Biograph Ignaz von Mosel fand an dieser Oper „wegen ihres schon an sich bedenklichen, überdieß aber auch noch mehr mit beißender Satyre, als mit heiterm Witze, behandelten Stoffes“ einiges zu beanstanden.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/ Damrau und Tero Hannula/Foto Petra Winkelhardt (Dank an Ulrich Peters) 

Die Musik habe Mosel zufolge „ohne in die erste Reihe von Salieri’s Werken zu gehören, im Einzelnen viel Verdienstliches.“ Aus diesen Betrachtungen spricht der reaktionäre Geist der Restaurationszeit, aus der beide Quellen stammen. Aus heutiger Sicht muss man Salieris Cublai zu den besten und unkonventionellsten Schöpfungen im heroisch-komischen Genre zählen. Die Komposition des Werks fiel in eine äußerst innovative Phase von Salieris Schaffen; es ist im Nimbus der anderen „politischen“ Bühnenwerke Tarare (1787) bzw. Axur, re d’Ormus (1788), Le Couronnement de Tarare (1790) und Catilina (1790-92) zu sehen.

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Besonders hinsichtlich der verfeinerten musikalischen Charakterisierung der Figuren schlugen sich im Cublai die von Salieri in Paris gemachten Erfahrungen nieder: Cublais ungehobelter Charakter zeigt sich in größeren Intervallsprüngen und exaltierten Spitzentönen, mit denen Salieri die cholerischen Ausbrüche des Herrschers musikalisch nachzeichnet. Er und seine Entourage – Bozzone, Memma und der übereifrige Zeremonienmeister Orcano – werden vornehmlich mit Buffa-Motivik charakterisiert. Rasante Wortkaskaden und singspielartig-liedhafte Einsprengsel kennzeichnen diese Personen gleichermaßen.

Der von allen drangsalierte Orcano entwickelt sich im Verlauf der Oper zur tragikomischen Figur; seine letzte Arie „M’inganno se vedo“ gewährt einen Blick hinter die mühsam aufrechterhaltene Fassade des Hofbeamten. Melancholisch erinnert er sich an die Zeit, bevor er zum Erfüllungsgehilfen des machtbesessenen Potentaten geworden war – glückliche Tage, in denen Freundschaft, Friede und Freiheit herrschten.

Salieris „Amadeaus“: F. Murray Abraham war der fiese Salieri in Milos Formans den Komponisten diskriminierenden Film von 1984/Wikipedia

Alzima und Timur werden von Salieri mit den stilistischen Mitteln der Opera seria charakterisiert, er selbst hat die beiden Figuren in seinem Kommentar zu Cublai als „i due personaggi serj dell’Opera“ bezeichnet. Es sind die einzigen Partien, in denen sich häufiger Koloraturen finden. Ihre Sologesänge werden bisweilen mit obligaten Holzbläsern angereichert, so etwa solistisch geführte Klarinetten in Timurs Arie „Quando a lei che adoro“ und eine Solo-Oboe im langsamen Teil von Alzimas Arie „D’un insultante orgoglio“.

Der Kleriker Posega – laut Salieri eine Figur voller „gravità ipocrita“ – wird durch einen ironisierendpathetischem Tonfall charakterisiert. Die unstete, häufig Moll-geschwängerte Harmonik charakterisiert ihn als janusköpfigen Finsterling, der stets darum bemüht ist, sein wahres Gesicht zu verbergen.

Die Partie des einfältigen Thronfolgers Lipi hat Salieri als Hosenrolle konzipiert, ein leicht zu verstehender Hinweis auf die jugendliche Unreife der Figur – man denke nur an Cherubino in Mozarts zur gleichen Zeit entstandenem Figaro! Lipis Charakter wurde vom Komponisten mit einer kindlich-schlichten Musik bedacht, die bisweilen wie ein Erinnerungsmotiv eingesetzt wird; so kehrt etwa dessen Auftrittsmusik leicht modifiziert, jedoch klar erkennbar im Finale des 1. Aktes wieder. muss man Salieris Cublai zu den besten und unkonventionellsten Schöpfungen im heroischkomischen Genre zählen.

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Nicht nur die bezwingende musikalische Charakterisierung der Figuren, auch die formale Vielfalt der Cublai-Partitur lässt aufhorchen. Um Castis schnellem Wortwitz musikalisch entsprechen zu können, setzte Salieri bei den Sologesängen überwiegend auf kleinere, flexible Formen, so dass er die geschlossenen Nummern organisch aus den Secco-Rezitativen heraus entwickeln konnte. Oft werden Arien und Ensembles durch rezitativische Einschübe unterbrochen oder reißen unvermittelt ab, wodurch ein schillerndes Mosaik aus ariosen und deklamatorischen Bestandteilen entsteht.

Auffällig ist die Anzahl der größer besetzten Ensemblenummern, die Salieri zufolge oft nach einer Musik „tutto di scena“ verlangten und das erste Finale gar zu einem „caos […] d’azione e di musica“ mutieren ließen. Immer wieder spielt er in der Partitur zu Cublai auch mit den musiktheatralischen Konventionen seiner Zeit. Auf Alzimas großes Accompagnato im 2. Akt folgt nicht wie erwartet eine große Abgangsarie im Stil der Opera seria; stattdessen wird die Prinzessin von Orcano unterbrochen, die aufgebaute Spannung löst sich geradezu belanglos in einem dialogischen Secco- Rezitativ auf. Auch mit der grotesken Konfrontation verschiedener Stile antwortete Salieri auf die ungewöhnliche Textvorlage: So folgt auf Alzimas große, koloraturreiche Arie „Fra i barbari sospetti“ im 2. Akt eine humoristische Szene, in der Lipi in kindlicher Weise ein militärisches Manöver mit Puppen nachstellt. Am Ende dieser Szene bedient sich Salieri zudem einer ungewöhnlich modernen Montagetechnik, die er bereits im Schlussquartett von Prima la musica e poi le parole erprobt hatte. Dort werden je eine zuvor einzeln vorgestellte Buffa- und Seria-Arie miteinander verbunden und gleichzeitig abgesungen. Hier wird Lipis infantiler Marsch vom Beginn des Auftritts mit Posegas pathetischem Racheschwur am Ende des folgenden Duetts kombiniert, wodurch eine ironische Brechung der gesamten Szene entsteht.

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Antonio Salieri zwischen Paris und Wien/MAGZTER/BBC Magazine

Das außergewöhnliche Musiktheaterprojekt von Casti und Salieri blieb nicht nur aufgrund der veränderten politischen Lage weiter unter Verschluss. Auch von Seiten der Wiener Theaterzensur gab es Bedenken hinsichtlich des Stoffes. Wie der damalige Zensor Franz Carl Hägelin in der Abhandlung Hochlöbliches Directorium in politicis et cameralibus schrieb, sollten in einem „monarchischen Staate keine Stücke aufgeführt werden, deren Inhalt auf die Abwürdigung der monarchischen Regierungsform abzielte“, „Stoffe und Karacktere, wodurch ganze Nationen, besonders die freundschaftlichen, gemißhandelt oder als lasterhaft dargestellt werden, können nicht passirt werden. Nie muss der Tadel auf ganze Nationen, auf ganze Stände, besonders auf die vornehmeren und den obrigkeitlichen Stand überhaupt fallen“.

Alle diese Kritikpunkte trafen auf das Cublai-Libretto zu. In einem langen Brief an seinen Souverän bemühte sich Casti, die beanstandeten Stellen als unproblematisch abzutun. Die Interpretation des Textes als Satire auf reale Personen und aktuelles Zeitgeschehen führte er auf böswillige Gegner zurück. Gleichwohl zeigte er Bereitschaft, der Zensur entgegenzukommen und Änderungen vorzunehmen. 1794 veröffentlichte der mittlerweile von Franz II. endlich zum „Poeta cesareo“ aufgestiegene Dichter ein ausführliches Argomento, mit dem er noch einmal zu verschleiern versuchte, dass es sich bei seinem Libretto um eine politische Satire handelte. Es half alles nichts, Cublai gelangte wie auch das Folgeprojekt Catilina zu Lebzeiten des Autorenduos nicht auf die Bühne.

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Der Autor: Timo Jouko Herrmann ist Komponist, Musikwissenschaftler, Geiger und Dirigent. Seit vielen Jahren setzt er sich mit Werk und Person von Antonio Salieri auseinander/Facebook

Die letzte gemeinsame Arbeit, eine Adaption von Ariosts Orlando furioso, kam über das Entwurfsstadium nicht hinaus. Ende 1796 verließ Casti Wien, da man ihn als Jakobiner denunziert hatte. Kurz darauf sprach der Kaiser ein formelles Aufenthaltsverbot für den Dichter aus, ihm sei „der hiesige Aufenthalt nicht mehr zu gestatten.“ Casti ließ sich in Paris nieder, wo er sein 1794 begonnenes Epos Gli animali parlanti vollendete und 1803 starb.

Offensichtlich war die Zeit der Wiener Klassik noch nicht reif für eine so ungewöhnliche Satire wie Cublai. Die Originalpartitur der Oper hielt Salieri – wie auch jene zu Catilina – zeitlebens unter Verschluss. Immerhin wurden die Libretti zu beiden Werken im frühen 19. Jahrhundert literarisch rezipiert. Die bissig-lakonischen Verse Castis wurden unter anderem von Lord Byron und Stendhal geschätzt. Letzterer bezeichnete Cublai als „plaisanterie pleine de feu“ und bewertete den Text im Vergleich zu Catilina als „peut-être encore plus gai“. Auf der Musiktheaterbühne gelang eine nachhaltige Etablierung der Gesellschafts- und Politsatire erst viele Jahre später durch Jacques Offenbach mit Werken wie Ba-ta-clan (1855), Barkouf (1860) oder Le Roi Carotte (1872). Timo Jouko Herrmann

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„Es hat Mozartianische Qualitäten“: Herausgeber Johan van Slageren und Udo Wessiepe über Salieris Oper „Cublai, gran Kan de‘ Tartari“. Mehr als 200 Jahre ist es her, dass Salieris Oper „Cublai, gran Kan de‘ Tartari“ auf Eis gelegt wurde: Das Stück hätte den Bündnispartner Russland brüskieren können und verschwand darum noch vor der Premiere in der Schublade. Erst 1998 kam die Zarenhof-Satire am MainFranken Theater in Würzburg 1998 zur Premiere; Johan van Slageren und Udo Wessiepe hatten sie für die Opernwelt entdeckt. Ein Gespräch mit den beiden Musikern und Chefs von Stretta Music über Salieri-Klischees, die unvermuteten Qualitäten des Italieners (…).

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Die Stretta-Geschäftsführer und Herausgeber von „Kublai Khan“ Johan van Slageren und Udo Wessiepe/Stretta

Wenn eine Oper wiederbelebt wird, heißt es im Vorfeld stets, sie sei „zu Unrecht vergessen“ worden. Warum denken Sie, ist das bei Salieris „Cublai“ wirklich der Fall? Johan van Slageren: „Cublai, gran Kan de‘ Tartari“ ist 1788 nicht aus Qualitätsgründen in der Schublade verschwunden, sondern aus politischen. Das Stück kam deshalb nicht einmal zur Uraufführung. Das Libretto von Giambattista Casti hatte sich nur scheinbar über die Tartaren lustig gemacht – tatsächlich war dies ein Deckmantel, um den Zarenhof von Alexander dem Großen zu karikieren. Casti verspottete Russland allerdings zur Unzeit: Kaiser Joseph II. und Zarin Katharina II. hatten einige Jahre davor ein Defensivbündnis geschmiedet.

Wie kam es dazu, dass die Partitur mehr als 200 Jahre später von Ihnen beiden ausgegraben wurde? J. v. S.: Wir waren damals im Theater Würzburg angestellt, Udo Wessiepe als Studienleiter, ich als Erster Kapellmeister. Das Mozartfest der Stadt plante für 1998 eine Gegenüberstellung seines Namenspatrons mit dem Zeitgenossen Salieri und wollte ein großes Werk des Italieners ansetzen. Wir sind dann auf die Suche gegangen und haben uns schon bald auf die Spur von „Cublai“ geheftet. Erst fanden wir in Volkmar Braunbehrens‘ Biografie „Salieri – ein Musiker im Schatten Mozarts“ einen Hinweis auf das Werk, nach einem Telefonat mit dem Buchautor wussten wir dann, dass das Manuskript in der Österreichischen Nationalbibliothek liegt. Im Sommer 1997 bin ich nach Wien gefahren und habe mit Handschuhen in den 621 handschriftlichen Manuskriptseiten geblättert. Sie waren damals noch nicht auf Mikrofilm abgelichtet worden. Die Partitur war zu meiner Überraschung komplett.

Wie wurden daraus in weiterer Folge gedruckte Noten? J. v. S.: Wir klopften bei verschiedenen Verlagshäusern mit der Bitte an, das Material möglichst rasch zu veröffentlichen. Für uns tickte die Uhr – wir brauchten die Noten bis zum Folgejahr. Doch die Häuser winkten ab: Ein solcher Prozess dauere drei bis vier Jahre. Darum haben wir die Arbeit selbst übernommen und uns mit dem Notensatzprogramm Finale, das damals noch ziemlich neu war, daheim hinter den Computer geklemmt. Nach drei intensiven Monaten waren wir fertig. Aus dieser Zusammenarbeit ist später auch unser gemeinsamer Notenverlag Stretta Music hervorgegangen, der später um den Notenversand ergänzt wurde: Seit 2001 sind wir als Firmenleiter tätig.

Zurück zu „Cublai“: Sie haben ihn 1998 in einer deutschen Übersetzung von Cornelia Boese aufgeführt. Wie war die Publikumsreaktion? J. v. S.: Es war wirklich ein Erfolg, die Pointen sind gut angekommen. Acht Vorstellungen hatten wir angesetzt, alle waren ausverkauft, die Leute saßen teilweise auf den Treppen. Eine Wiederaufnahme gab es wegen eines Intendantenwechsels aber leider nicht.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Jetzt, 26 Jahre später, kommt das Stück zum zweiten Mal auf eine Bühne: Das Theater an der Wien zeigt die Uraufführung der originalen, italienischsprachigen Fassung. Wieso ist dazwischen so viel Zeit vergangen? Und wie kam es zur Neuproduktion in Wien? Udo Wessiepe: Die Hintergründe der Wien-Premiere sind uns nicht bekannt. Wir haben das Notenmaterial verlegt, sind aber nicht für seine Vermarktung zuständig. Diese Aufgabe nimmt die Alkor-Edition vom Bärenreiter-Verlag für uns wahr. Sie hat damit nach der Uraufführung von „Cublai“ begonnen und bietet das Werk seither internationalen Häusern an. [Anm.: Dort sind auch die Stimmen auf Anfrage als Leihmaterial unter AE 341 erhältlich.] Tatsächlich gab es in der Zwischenzeit kleinere Erfolge: Einzelne Arien sind hier und da gespielt worden. Bis zu einer Neuproduktion des ganzen Stücks hat es aber lange gedauert. J. v. S.: Ich vermute, dass dies auch mit einem negativen Salieri-Bild zu tun hat. Auch in der Klassikwelt haftet es an dem Italiener.

Sie meinen, dass er ein hölzerner, geistloser Komponist gewesen sei – ein Bild, das vor allem Milos Formans Erfolgsfilm „Amadeus“ (1984) in der Welt verbreitet hat? U. W.: Ja, „Amadeus“ hat auf die Leute gewirkt – auch wenn es natürlich Unsinn war, dass Salieri ein schlechter Komponist war oder er Mozart gar vergiftet hätte. Salieri hatte gar keinen Grund zum Neid: Er war Hofkapellmeister – ein Posten, den Mozart gerne gehabt hätte – und führender Musiker der Stadt.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Salieri ist von Joseph II. mit Aufträgen und Titeln reichlich bedacht worden. Heute ist er ein marginalisierter Komponist: Seine Werke sind wenn, dann eher bei Originalklangfestivals zu hören. Im gängigen Konzert- und Opernrepertoire taucht Salieri aber kaum auf. Hoffen Sie, dass sich das mit der Neuproduktion in Wien ändert? U. W.: Mozarts Musik funktioniert auch, wenn sie ein Schulorchester spielt. Das ist bei Salieri nicht der Fall. Es braucht sehr gute Leute, um diese Musik zum Leben zu erwecken, Leute mit Fachkompetenz: Man muss wissen, wie diese Musik artikuliert und phrasiert wird. Sie wird, so denke ich, immer etwas für Spezialisten und Originalklangensembles bleiben. Wobei ich nicht ausschließen möchte, dass auch große Häuser mit den entsprechenden Ressourcen Salieris Opern spielen könnten. J.v. S.: Man muss schon mit Salieris Continuo-Parts anders umgehen. Sie sind eher barock orientiert zu besetzen. U. W.: Der ganze Orchestersatz von „Cublai“ ist dem Barock stärker verbunden als Mozarts Musik. Man merkt es etwa an den Bläsern: Es gibt zwar einige Stellen, in denen sie solistisch eingesetzt werden, aber über weite Strecken verwendet sie Salieri als Harmoniestimmen. J. v. S.: Er ist konservativer, würde ich sagen. U. W.: Dem galanten Stil näher als Mozart.

Salieri hatte blendende Kontakte zum Hochadel; man darf wohl anzunehmen, dass er politisch gut informiert war. Wie konnte es ausgerechnet ihm passieren, dass eines seiner Werke den Interessen des Hofes zuwiderlief und darum verschwinden musste? U. W.: Salieri hat wohl gehofft, damit durchzukommen, dass das Stück nicht explizit in Russland spielt, sondern am Hof des Khans in Peking. Vielleicht hat er sich aber auch einfach gedacht, falls die Oper jetzt nicht zur Aufführung gelangt, dann vielleicht eines Tages, wenn Russland kein Bündnispartner mehr ist. Große Sympathien schien Joseph II. für Russland ohnehin nicht zu hegen. Er hatte mit Katharina II. ein reines Zweckbündnis gegen das osmanische Reich geschmiedet. Der Pakt beruhte nicht etwa auf einer Zuneigung zu den Russen, im Gegenteil, Joseph hat das zaristische Russland mehr oder weniger verachtet, wegen eines Mangels an Aufgeklärtheit und des übertriebenen Prunks am Hof und der verarmten Bevölkerung. Das hat ihm missfallen.

Kublai Khan/Chinesische Darstellung ca. 16. Jhdt./UAO

Salieri und Casti haben womöglich schon in einem frühen Planungsstadium begriffen, dass sie sich damals keine Hoffnungen auf eine Aufführung machen konnten. Ein Beweis, dass das Stück der Zensurbehörde vorgelegt worden wäre, fehlt. Im Falle des Falles hätte die Zensur aber womöglich nicht nur verborgene Russland-Bezüge getadelt: In dieser Satire wird ganz offensichtlich ein Monarch der Lächerlichkeit preisgegeben, was seinerzeit verboten war. U. W.: Richtig. Der Khan wird in dem Stück als tumber Säufer dargestellt, das ist natürlich eine Herabwürdigung.

Sein Sohn Lipi wird auch nicht gerade schmeichelhaft dargestellt. U. W.: Ja, der Hellste ist er nicht. Sein Charakter ist aber auch von seinem Erzieher Posega geformt worden: Der hat Lipi so manipuliert, dass er nur ihm hörig ist.

Trotz der schrägen Figuren findet die zweiaktige Oper ein Happy End: Der cholerische Regent sieht ein, dass nicht sein Sohn, sondern sein Neffe Timur die schöne Prinzessin Alzima heiraten und der nächste Khan werden sollte. Wie beurteilen Sie das Niveau des Librettos? J. v. S.: Es ist ein sehr unterhaltsames und theaterwirksam. U. W.: Es ist genial. Ich würde sagen, Casti ist der bessere Librettist als Lorenzo Da Ponte. Es besitzt unglaublichen Sprachwitz, und ich denke, das hat auf Salieri einen starken Eindruck gemacht. Er hat das nicht einfach so runterkomponiert: Man merkt, es lag ihm am Herzen. Es gibt großartige Momente in dieser Partitur: Das Quartett Nummer 28 (Ti procuro e regno e sposo) zum Beispiel, kurz vor dem Happy End, hat mozartianische Qualitäten. Sehr ausdrucksstark ist auch das Duett von Alzima und Timur im ersten Akt (Deh perchè mi guardi e poi) komponiert: Man hört den Herzschlag der Prinzessin in der Musik, ihr Zittern und ihre Furcht. Sehr schön gestaltet ist außerdem Timurs Tenor-Arie am Beginn des Zweiten Akts (Quai grazie rendere) – sie hätte genauso gut von Mozart stammen können.

 Bemerkenswerterweise ist ein Schriftstück erhalten, in dem Salieri seine eigene Oper bewertet. Einige Nummern finden dabei Lob, andere Tadel. Hart geht er dabei mit dem zweiten Finale ins Gericht: Es „verdient wenig musikalisches Lob, es ist ganz auf die Handlung abgestellt“. Warum hat Salieri das geschrieben? U. W.: Ich glaube, er hat sich bei einigen Nummern gedacht: Da muss der Text Vorrang vor der Musik haben. Wenn die Musik hier zu aufwendig gestaltet ist, zu viel Zeit benötigt, leidet der Text. Das Primat des Wortes hat in diesen Passagen also dramaturgische Gründe.

Ist es richtig, dass sechs Jahre nach der Entstehung von „Cublai“ noch ein Versuch unternommen wurde, das Werk auf die Bühne zu bekommen? U. W.: Das ist eine Vermutung, ein Beweis dafür ist nicht erhalten. Es gibt nur ein Indiz: Casti hat damals eine Schrift drucken lassen, die alle politischen Anspielungen und Russland-Bezüge in „Cublai“ abstreitet. Das glaubte ihm aber niemand. Die Vorlage für die Oper war Castis „Poema tartaro“ gewesen, das bereits dieselben Figuren auftreten ließ und klar den russischen Hof aufs Korn nahm. Hinter Castis Dementi von 1794 stand vermutlich der Wunsch, die Oper doch noch aufgeführt zu sehen. Entsprechende Pläne waren aber wohl nicht sehr weit gediehen.

Salieris „Cublai Kan“/die erste Seite des Autographs, das die Österreichische Nationalbibliothek mittlerweile (2024) komplett digitalisiert hat/Stretta

Kommen wir in die Gegenwart zurück: Würden Sie sich die Arbeit noch einmal antun, ein handschriftliches Opernmanuskript aufzuspüren, es in eine spielbare Partitur zu verwandeln und diese dann herauszugeben? U. W.: Wir haben „Cublai“ soeben nochmals neu herausgegeben, nun in der italienischsprachigen Fassung. Das war allerdings nicht mehr so aufwendig wie unsere erste Auseinandersetzung mit der Oper – diesmal gab es ja schon eine gedruckte Ausgabe und auch einen Klavierauszug. Ob ich mir eine solche Arbeit von Grund auf noch einmal antun würde? Ich hätte schon Interesse. Es ginge sich aber wohl zeitlich nicht mit meinem Job als Geschäftsführer von Stretta Music aus. Ich könnte es mir aber vorstellen, in der Rente bei Gelegenheit noch einmal so ein Projekt zu übernehmen. Die Arbeit ist schon sehr reizvoll. J. v. S.: „Cublai“ war nicht die erste Oper, die einer von uns beiden editiert hat. Ich hatte mich davor schon mit „Argenore“ von Wilhelmine von Bayreuth auseinandergesetzt und diese Opera seria auch dirigiert. U. W.: Und ich hatte davor bereits das Aufführungsmaterial einer Oper von Johann Christian Bach für das Würzburger Mozartfest erstellt. J. v. S.: Als Team haben wir aber das erste Mal bei „Cublai“ zusammengearbeitet und die Musik dann erfolgreich für das Mozartfest Würzburg einstudiert. (Unsere Edition der Oper wird im Juni 2025 erscheinen. Klavierauszug und Partitur zur Oper erscheinen Mitte Juni 2025 und können vorbestellt werden.) Red.: Christoph Irrgeher (12.03.2024)

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Wie immer hat ein so umfangreicher Artikel bei uns viele Quellen. Dank vor allem an den Autor Timo  Juoko Herrmann für seinen Artikel aus dem Booklet zur neuen Aufnahme (der zuvor bereits im Programmheft der Wiener Aufführung erschienen war). Dank an den Journalisten und Kollegen Paul Korenhof, dessen Rezension aus dem niederländischen  Klassikmagazin opusklassiek übernehmen zu können. Dank an die Pressestelle des Theaters an der Wien (Andrea Gruber) für das Programmheft. Ebenso Dank an den Regisseur Ulrich Peters für seine wirklich sehr liebenswürdige, aufwendige Scan-Arbeit des Programmheftes und Fotobereitstellung zur Würzburger Aufführung 1998 (dazu auch seine website). Und schließlich Dank an die Online-Notenhändler Stretta Music für unsere Übernahme der Bemerkungen von Christophe Rousset zu Salieri und des Gespräches zwischen Christoph Irrgeher und den Stretta-Geschäftsführern und Herausgebern von „Kublai Khan“ Johan van Slageren und Udo Wessiepe, die 1998 diese Oper für Würzburg ausgegraben und aufgeführt hatten. G. H.

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Literatur (Auswahl) zum Artikel von Timo  Juoko Herrmann : Angermüller, Rudolph, „Cublai (Fassung Casti)“, in: Antonio Salieri (1750-1825) e il teatro musicale a Vienna, 2012. # Casti, Giovanni Battista, Opere di Giambattista Casti in un volume, 1838. # Corti, Mario, „Casti, Salieri e Pietro il Grande“, in: Slavia – rivista trimestrale di cultura, 29. Jahrgang, Nr. 4, 2020. # Hager, Manuela, „Virtuos, respektlos und satirisch: Der italienische Dichter Giovanni Battista Casti am Wiener Hof“, in: Mozart und Salieri – Partner oder Rivalen?, 2008. # Herrmann, Timo Jouko, Antonio Salieri – Eine Biografie, 2019. # Mosel, Ignaz von, Über das Leben und die Werke des Anton Salieri, 1827. # Rice, John A., Casti, Salieri, and Catilina: Political Tragicomedy during the French Revolution, 2016. # Salieri, Antonio, Cublai Gran Kan de Tartari. Opera Eroicomica [Partitur mit autographen Kommentaren, 2 Bde.], 1786-88. # Sorrenti, Francesco, „Sai di quanta forza / presso tutte le genti ognor sia stato / di guerra il dritte, e la ragion di Stato: rivoluzioni, complotti e autobiografismo negli ultimi drammi di G. B. Casti (1786-1796)“, in: La letteratura italiana e le arti, 2018. # Stendhal [d.i. Beyle, Marie-Henri], Promenades dans Rome, 1829.

Dorfszenen im Abendkleid

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Eine neue Jenufa hat Simon Rattle vorgelegt. Erschienen ist sie bei LSO, dem Eigenlabel des London Symphony Orchestra (LSO 0897). Vorangegangen waren mit Katya Kabanova und Das schlaue Füchslein zwei weitere Opern von Leos Janacek. Es steht zu erwarten, dass die Reihe fortgesetzt. Rattle hat dem Komponisten in jüngster Zeit mehr und mehr Aufmerksamkeit gewidmet, in der Staatsoper München sogar die selten gespielten Ausflüge des Herrn Broucek geleitet. Jenufa wurde bei zwei Konzerten am 11. und 14. Januar 2024 in der Barbican Hall in London mitgeschnitten. Diese gehört mit ihren fast 2000 Sitzplätzen zum einem großen Kultur- und Konferenzcentrum im Osten der City und ist Sitz des London Symphony Orchesters.

Auf dem Konzertpodium sind dem Werk gewisse Grenzen gesetzt. Die dramatischen Beziehungen zwischen den handelnden Personen können sich nicht so ausleben wie im Opernhaus. Tages- und Jahreszeiten spielen eine Rolle. Chöre treten nicht als Beiwerke sondern als Teil des Geschehens in Erscheinung. Ein kleines mährisches Dorf um die Jahrhundertwende mit seinen Bewohnern wird zur Bühne für Welttheater der ganz großen Gefühle zwischen Sehnsucht und Abgrund. Manche Momente verlangen nach dem bewegte Bild in einer szenischen Umgebung, um glaubhaft zu werden. Im Booklet finden sich Fotos von der Veranstaltung. Die Damen in langen Abendkleidern, die Herren in Anzügen mit Krawatten. So läuft in der Oper Jenufa niemand herum. Obwohl der Klang insgesamt sehr gut eingefangen ist, fehlt es vor allem in der großen mit Tänzen versetzten Chorszene im ersten Aufzug an räumlicher Präsenz. Die Wiedergabe wird dann etwas eng. Und, man muss das Werk sehr genau kennen, um an Lautsprechern oder unter Kopfhörern folgen zu können. Gesungen wird im originalen Tschechisch. Im Booklet gibt es zusätzlich nur eine englische Übersetzung. Wer eine deutsche Fassung benötigt, wird zum Beispiel bei Reclam fündig. Das Orchester selbst lässt nichts zu wünschen übrig. Rattle holt wunderbare Details heraus und spürt den volksliedhaften Inspirationen nach. Man könnte schwören, diese und jene Streicherklänge so noch nie gehört zu haben.

In der Sängerriege gibt es nur zwei Muttersprachler: den Tenor Ales Briscein als Laca und den Bass Jan Martinik als Altgesell und Dorfrichter. Wie bei konzertanten Aufführung nicht unüblich, übernehmen Sänger kleinerer Partien gleich mehrere Rollen. Übersichtlicher wird es dadurch allerdings nicht. Alle andere müssen sich in das schwierige tschechische Idiom finden, haben aber – wie auf den Fotos ersichtlich, auf Pulten für alle Fälle die Noten mit den Texten vor sich. Aus Schweden kommen Agneta Eichenholz (Jenufa) und Katarina Karneus (Küsterin). Beide sind den Jahren im wirklichen Leben nach, nicht weit entfernt, klingen manchmal in der Mittellage sogar etwas ähnlich. Der Interpretin der Titelrolle wird aber auch nichts geschenkt vom Komponisten. Insofern kann es nicht schaden, dass die Sängerin keine Anfängerin ist sondern viel Erfahrung mitbringt. Die Großmutter ist die Engländerin Carole Wilson, Steva der schottische Tenor Nicky Spence.

Dem Ensemble gelingt es in den entscheidenden Momenten, die strenge Distanz zwischen Podium und Bühne zu überwinden und das Drama zumindest stimmlich äußerst wirksam und glaubhaft darzustellen, als stünde es in der Kulisse. Der zweite Akt mit den großen Soloszenen der Küsterin und ihrer Ziehtochter Jenufa sowie den aufeinanderfolgenden Auftritten von Steva und Laca, die in ihrer charakterlichen Unterschiedlichkeit großen Eindruck hinterlassen, wird zum Höhepunkt des Mitschnitts. Dabei schlägt die Stunde der Wahrhaftigkeit, nicht nur des Schöngesangs (Foto oben: Hochzeitsort Niedersachsen – Wassermühle in Hude). Rüdiger Winter

Doris Soffel

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Mit dem Mezzosopran Doris Soffel stand gleich dreifach  eine der bekanntesten und beliebtesten Sängerinnen der Deutschen Oper Berlin, ihr seit vierzig Jahren verbunden, der Uraufführung von Oceane und vielen anderen Werken wie zuletzt La Fiamma, Arabella oder Elektra zum Erfolg verhelfend, bei der Vorstellung der kommenden Saison des Hauses unter dem Titel Was kommt ? auf der Bühne: als Sängerin, als Moderatorin und schließlich, was das Wichtigste ist, als Auszuzeichnende 20.Mai 2025mit der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Hauses, das ihr so viel zu verdanken hat. Nach dem Nordsternorden, dem Faust und dem Titel einer Kölner Kammersängerin ist das der vierte Ehrentitel, der der Künstlerin zuerkannt wurde.

Deutsche Oper Berlin. Saison 2025/26: Was kommt? Highlights der neuen Saison in Musik und Moderation. 19.05.2025/ Copyright: Marcus Lieberenz/bildbuehne.de/Deutsche Oper Berlin

Als Moderatorin, die zwei Beiträge, die erste Arie der Contessa aus Le Nozze di Figaro und die Tutti aus L’Italiana in Algeri ansagte und die damit  wohl nicht erwartete Kommentare, nämlich ungebremsten Jubel bei der Erwähnung von Götz Friedrich und weniger als verhaltenen bei der von Rolando Villazon als bevorstehendem Regisseur von Rossini, provozierte und tatkräftig das Publikum zu lenken versuchte. Als Sängerin, die sich für die erfahrene Ehrung mit einer empfindsamen Zueignung von Richard Strauss bedankte und die schließlich bühnenbeherrschend den Chor aus Strauß‘ Die Fledermaus optisch und akustisch anführte.

Als nunmehr Ehrenmitglied der Deutschen Oper kann Doris Soffel nicht nur auf eine unvergleichlich erfolgreiche Karriere zurückblicken, sondern sie kann auch in die Zukunft schauen, so wird sie bereits im Herbst als Madelon ( Die Gräfin hat sie bereits gesungen.) in Giordanos Andrea Chénier zurückkehren, und natürlich erwartet das Berliner Publikum auch weiterhin von dem  neuen Ehrenmitglied der Deutschen Oper begeisternde Auftritte (Foto oben: Doris Soffel/Foto Markus Lieberenz). Ingrid Wanja

Luigi Alva

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Im biblischen Alter von 98 Jahren ist der peruanische Tenor Luigi Alva am 15. Mai 2025 im norditalienischen Mariano Comense verstorben. Im Olymp der großen Sänger hatte er schon zu Lebzeiten einen festen Platz gefunden. Er war mehr als nur ein technisch brillanter „tenore di grazia“, er verband die Tugenden des modernen Sängerdarstellers mit denen des klassischen „maestro di musica“. Sein Vortrag, der in seinen Glanzzeiten auch vom Reiz einer sinnlichen, blühenden Stimme profitierte, war uneitel, stilsicher und immer von einer großen Wärme, ja Inbrunst. Das gab seinen Interpretationen in den Opern Mozarts, Rossinis und Donizettis, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben, eine unverwechselbare persönliche Note. Besonders in drei Partien hat er Geschichte geschrieben: Almaviva, Don Ottavio und Ferrando.

Luis Ernesto Alva y Talledo, wie er eigentlich hieß, wurde am 10. April 1927 in der peruanischen Hauptstadt Lima geboren und erhielt dort seine erste Ausbildung bei Rosa Mercedes de Morales. Bereits 1949 stand er in Peru in Zarzuelas auf der Bühne. In Italien setzte er dann seine Studien bei Emilio Ghirardini und Ettore Campogalliani fort, der später auch Lehrer von Mirella Freni und Luciano Pavarotti war. Bereits 1953 übernahm er – neben dem Protagonisten Ettore Bastianini – in einer NDR-Produktion von Puccinis „Tabarro“ die kleine Rolle des Liederverkäufers. Zwei Jahre später debütierte er an der Mailänder Scala als Paolino in Cimarosas „Il matrimonio segreto“. Der Erfolg war so durchschlagend, dass ihn die Intendanz kurz darauf als Partner der Callas im „Barbier von Sevilla“ (unter Carlo Maria Giulini) und als Ferrando in „Così fan tutte“ (unter Guido Cantelli) einsetzte.

Die eigentliche internationale Karriere begann 1957 bei den Salzburger
Festspielen, wo er unter Karajan den Fenton im „Falstaff“ sang. Auf Salz-
burg folgten Aix-en-Provence, die Wiener Staatsoper und schließlich 1964
die Metropolitan Opera, an der er bis 1975 regelmäßig auftrat. Auch auf
deutschen Bühnen war er häufig zu Gast. So übernahm er an der Deut-
schen Oper Berlin den Ferrando in Otto Schenks und Karl Böhms Neupro-
duktion von „Cosi fan tutte“ (1972), ein Jahr darauf den Don Ottavio in Rudolf Noeltes „Don Giovanni“. In dieser Zeit sang er in Berlin auch andere Partien wie den Alfredo in „La Traviata“ sowie – natürlich in deutscher Sprache – Tamino und Belmonte. Diese Partie hatte er nach dem Tod von Fritz Wunderlich zuvor schon bei den Salzburger Festspielen übernommen.

Alva war immer klug genug, die Grenzen seines Faches nicht zu überschreiten. Sein Repertoire blieb deshalb auf die italienische Oper des Settecento und Partien Mozarts, Rossinis, Donizettis und Bellinis (Elvino in „La Sonnambula“) begrenzt. Erst spät in seiner Karriere fügte er den Werther hinzu. Deshalb mag es überraschen, dass der Sänger auf Wunsch des Dirigenten Hermann Scherchen an der Mailänder Scala die Rolle des Bacchus in „Ariadne auf Naxos“ übernahm, eine Partie, die sonst den Heldentenören vorbehalten ist. Dass er damit Erfolg hatte, hängt mit einigen Eigenmächtigkeiten des Dirigenten zusammen, der kurzerhand einige schwere Passagen der Partie strich und auch im Orchestersatz Retuschen vornahm, um eine reine Rokokowelt zu beschwören. In Mailand kam es in dieser Zeit auch noch zu zwei weiteren überraschenden Rollendebüts. Da die damalige Intendanz offensichtlich entschlossen war, den Hosenrollen in der Oper den Garaus zu machen, wurde Alva nicht nur als Siebel in Gounods „Faust“, sondern auch als Sesto in „La clemenza di Tito“ besetzt, in jener Produktion, in der die große Giulietta Simionato 1966 in der lyrischen Sopranpartie der Servilia ihre unspektakuläre Abschiedsvorstellung gab.

Er selbst war bis 1989 als Sänger aktiv. Eine Karriere also, die sich über vier Jahrzehnte erstreckte, also relativ lange für einen Sänger seines Stimmfaches. Ich erinnere mich an seine verblüffte Reaktion, als ich ihn in einem Interview während der Berliner „Così“-Proben fragte, ob er sich vorstellen könne, in reiferem Alter ins Charakterfach zu wechseln, beispielsweise Herodes oder Mime zu singen. Sein stärkster Konkurrent im Fach des lirico-leggero, Ugo Benelli, ist später diesen Weg gegangen und hat seine Karriere damit um einige Jahre verlängern können. Alva zog sich aber keineswegs von der Oper zurück, war als Regisseur und zeitweise als Intendant in Lima und bis ins hohe Alter auch als Pädagoge in Mailand tätig.

Sein diskographischer Nachlass ist, wenn auch mit einem überschaubaren Repertoire, beträchtlich und repräsentativ. In seiner Paraderolle als Almaviva liegt mehr als ein Dutzend Aufnahmen vor. Neben den Studio-Produktionen unter Ionel Perlea, Vittorio Gui, Arturo Basile und Claudio Abbado gibt es zahlreiche Live-Mitschnitte, von denen ich den Dokumenten aus Mailand (mit Maria Callas) und London (mit Teresa Berganza) den Vorzug gebe. In beiden Fällen war Carlo Maria Giulini der inspirierende und zugleich präzise Dirigent. Ihm verdanken wir auch die schon klassische Referenzaufnahme des „Don Giovanni“ (mit Elisabeth Schwarzkopf). Bei „Così fan tutte“ ziehe ich die Live-Aufnahmen unter Cantelli und Hans Rosbaud der späteren Studio-Aufnahme unter Otto Klemperer vor. In Antal Doratis Haydn-Zyklus ist Alva in drei Partien eine tragende Säule des Unternehmens. Die Studio-Produktion von Cimarosas „Il matrimonio segreto“ entstand kurz nach der Bühnen-Aufführung an der Piccola Scala und ist ein weiteres beeindruckendes Dokument seiner glorreichen Anfänge. Fenton unter Herbert von Karajan liegt sowohl als Mitschnitt von den Salzburger Festspielen wie auch als Studio-Produktion mit Referenz-Charakter vor. Als Alternative ist hier ein Mitschnitt unter Giulini vom Holland Festival 1963 zu empfehlen. Einer meiner Favoriten in der Diskographie ist die vom greisen Tullio Serafin verantwortete Aufnahme von Donizettis „L’elisir d’amore“, da der Dirigent schweren Barolo statt Lambrusco serviert, Alva die „furtiva lagrima“ der Komödie erkennen lässt und die Kollegen Rosanna Carteri, Rolando Panerai und Giuseppe Taddei in keiner späteren Aufnahme des Werkes übertroffen wurden.

Die Quintessenz von Alvas unverwechselbarer Kunst finden wir in zwei Alben mit spanischen und südamerikanischen Liedern („Ay ay ay“) und mit Kanzonen Paolo Francesco Tostis. Letzteres ist hier weniger bekannt geworden. Alle Tenöre von Rang haben diese Lieder gesungen und teilweise auch aufgenommen, mir gefallen sie in der Lesart Alvas am besten. Er setzt nicht auf vokale Glanzentfaltung, sondern auf Schlichtheit des Vortrags und ehrliche Emphase und trifft damit den Geist und die Seele dieser Salonlieder genau. Er hat immer Sonne in der Stimme, um es blumig-feuilletonistisch auszudrücken.

Die stattliche Diskographie ist um eine Reihe von Videos zu ergänzen, die den Darsteller Alva in Aktion zeigen. Einige sind als DVDs greifbar, der Rest ohne Mühe im Internet zu finden. An prominenter Stelle steht da Jean-Pierre Ponnelles Inszenierung des „Barbiere“, in der Teresa Berganza und Hermann Prey Alvas Partner sind. Auch in den Fernseh-Produktionen von „Così fan tutte“ und „Don Pasquale“ (in deutscher Sprache!) begegnen wir dem Herren-Gespann Alva-Prey wieder, die Mozart-Oper verdient zusätzliches Interesse wegen dem Dirigat von Karl Böhm und dem Einsatz von Gundula Janowitz und Christa Ludwig als bewährtes Schwestern-Paar. Der Regisseur Vaclav Kaslik betonte in einem Gespräch mit dem Autor, dass er mit dieser Produktion nicht zufrieden war, sie gar als „Prostitution“ empfand, da er seine visuellen Vorstellungen nicht verwirklichen konnte und ganz darauf reduziert wurde, der Musik gehorsamer Diener zu sein.

Eine auf DVD festgehaltene Aufführung von Haydns „Lo speziale“ (Lugano 1982) präsentiert den späten Alva in der Titelrolle, die im Allgemeinen den Spielbässen vorbehalten ist. Im Netz kann man noch eine Reihe weiterer interessanter Funde machen. So gibt es gleich drei Versionen des „Don Giovanni“: einen italienischen Fernsehfilm und zwei Live-Mitschnitte aus Neapel und Aix-en-Provence. Da sie im gleichen Zeitraum (1958-60) aufgenommen wurden und das Zeitalter des Regie-Theaters noch nicht angebrochen war, weisen die Interpretationen des Don Ottavio keine wesentlichen Unterschiede auf. Das sängerische Umfeld ist aber in allen Fällen interessant. Der attraktive Mario Petri (TV, Neapel) war damals ein führender Vertreter des Don Giovanni, den Gabriel Bacquier in Aix als dekadenten Rokoko-Wüstling gab. Die erfahrenen Mozart-Sänger Sesto Bruscantini (TV, Neapel) und Rolando Panerai (Aix) wechseln sich als Leporello ab, Teresa Stich-Randall (TV, Aix) als Donna Anna sowie Ilva Ligabue (Neapel) und Leyla Gencer (TV) als Donna Elvira vertreten die Frauenriege prominent. Eine besondere Entdeckung ist eine italienische Produktion von „Le nozze di Figaro“ aus den Kindertagen der Fernseh-Oper (1956) in der Inszenierung von Herbert Graf, in der Luigi Alva, hier noch in der ersten Blüte seiner Laufbahn, neben Heinz Rehfuß, Nicola Rossi-Lemeni, Marcella Pobbe und Rosanna Carteri als Basilio zu erleben ist. Selbstverständlich singt er die Arie von der Eselshaut und erfüllt die Partie mit stimmlichem Glanz und diskretem komödiantischem Witz.

Ein nur kurzes, aber berührendes und freudig stimmendes Video aus Peru kann als Epilog zu zwei großen Sängerkarrieren gesehen werden: der damals 81jährige Alva und die 73jährige Berganza präsentieren sich 2008, gleichsam „in alter Frische“, einem hingerissenen Publikum mit dem Zarzuela-Duett „La Rosa con el Clavel“. (Fotos Wikipedia/Metropolitan Opera Archive/prtivat) Ekkehard Pluta

„Intensität, Zartheit, Stärke …“

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Die aus dem Kosovo stammende Sopranistin Marigona Qerkezi hat sich in einem Repertoire etabliert, das von Belcanto über Verdi bis zu Puccini spannt. Derzeit ist sie an der Oper Frankfurt als Norma zu erleben, einer ihrer zentralen Partien. Im Interview mit Beat Schmid spricht sie über ihre musikalischen Wurzeln, ihren Weg zu den großen Rollen des italienischen Fachs und über die Herausforderung, Normas emotionale Tiefe und vokale Raffinesse miteinander zu verbinden.

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Marigona Qerkezi soundcloud

Was sind Ihre frühesten Erinnerungen an Oper und Gesang? Und wann wurde Ihnen klar, dass Sie Sängerin werden wollen? Eine meiner frühesten und schönsten Opernerinnerungen ist, wie ich meine Mutter als Azucena in Verdis „Il trovatore“ auf der Bühne gesehen habe. Ich war bei vielen ihrer Vorstellungen, Konzerte und sogar Proben dabei, und habe mich in dieser magischen Welt immer zu Hause gefühlt. Sie war (und ist es noch heute, gemeinsam mit mir) ein großer Maria-Callas-Fan, und ich erinnere mich lebhaft daran, wie wir ihre Schallplatten gehört haben. Aufnahmen von Callas und anderen Legenden, die unser Zuhause mit Musik füllten. Mein Vater arbeitete außerdem in der Kostümabteilung der Oper, ich war also wirklich von dieser faszinierenden Welt komplett umgeben. Es war unmöglich, sich nicht darin zu verlieben. Ich wusste schon sehr früh, dass ich Teil dieser Welt sein wollte, und mit sechs Jahren trat ich bereits in Konzerten in Ljubljana auf, wo wir damals lebten.

Ihre Karriere begann mit Mozart, Ihr Bühnendebüt gaben Sie als Königin der Nacht in „Die Zauberflöte“, schnell gefolgt von der Contessa in „Le nozze di Figaro“. War dieser Fokus auf Mozart eine bewusste Entscheidung, eine Empfehlung Ihrer Lehrer oder entwickelte sich das ganz natürlich?
Es hat sich ganz natürlich entwickelt. Mozart ist für viele Sänger eine Grundlage, und seine Musik passte sehr gut zu meiner frühen stimmlichen Entwicklung und Technik. Rollen wie die Königin der Nacht, die Contessa oder Donna Anna waren wichtige Schritte zu Beginn meines Weges. Sie führten mich auch auf wunderschöne Bühnen, etwa das Royal Opera House in Muscat oder das New National Theatre in Tokio. Zu Beginn meiner Karriere habe ich auch viel Rossini gesungen, z. B. im Gran Teatre del Liceu, an der Dutch National Opera in Amsterdam oder beim Rossini Opera Festival.

Marigona Qerkezi & Stefano LaColla ijn „Norma“ an der Oper Frankfurt/Foto Barbara Aumüller

Auch in Rollen wie Lucia in Lucia di Lammermoor oder Gilda in Rigoletto haben Sie zu Beginn Ihrer Karriere Erfolge gefeiert. Hatten Sie die Höhe für diese Rollen von Natur aus, oder mussten Sie sich die Spitzentöne erarbeiten? Sowohl als auch. Ich hatte schon immer einen großen Stimmumfang und viel Flexibilität, aber um das in ein zuverlässiges und ausdrucksstarkes Werkzeug für diese extrem anspruchsvollen Rollen zu verwandeln, braucht es viele Jahre sorgfältigen, disziplinierten Trainings. Und das hört eigentlich nie auf. Die Stimme entwickelt sich ja ständig weiter, besonders wenn das Repertoire größer wird, und damit entwickelt sich auch das Training.

Wie haben Sie diese Kontrolle und Beweglichkeit der Stimme entwickelt, und diese präzisen Koloraturen? Vielen Dank! Ich glaube, Präzision ist genauso eine Sache des Geistes wie der Stimme. Durch konsequentes Training und gezielte Übungen wird die Koloraturtechnik zu einem kontinuierlichen Prozess. Da sich die Stimme immer weiterentwickelt, ist es wirklich eine tägliche Arbeit. Persönlich fand ich Koloraturen nie besonders schwierig, und dass ich Querflöte spiele, hat mir dabei definitiv geholfen. Ich bin überzeugt, dass man unabhängig von der natürlichen Veranlagung eine starke Grundlage für Koloraturtechnik aufbauen kann. Die Arbeit an der Beweglichkeit hält die Stimme fokussiert, flexibel und diszipliniert, auch wenn das Repertoire sie nicht ständig fordert.

Später sind Sie in Repertoire übergegangen, das zwar weiterhin virtuos ist, aber mehr dramatisches Gewicht verlangt. Rollen wie Anna Bolena, Leonora in „Il trovatore“, Lucrezia Contarini in „I due Foscari“, Abigaille in „Nabucco“ und natürlich Norma. Wie haben Sie diese Entwicklung stimmlich und darstellerisch gemeistert? Indem ich meiner Stimme genau zugehört und ihrer allmählichen Entwicklung über die Jahre vertraut habe. Es war klar, dass sie auf natürliche Weise an Volumen und Wärme gewonnen hat, ohne an Beweglichkeit zu verlieren. Diese Entwicklung geschah ganz organisch. Dramatisch gesehen sind viele der Rollen, die ich in letzter Zeit gesungen habe, starke, komplexe Frauen, die extreme emotionale Höhen und Tiefen erleben. Ich habe festgestellt, dass meine eigenen Lebenserfahrungen mir helfen, diese Figuren authentisch und mit mehr Tiefe darzustellen.

Momentan sind Sie als Norma an der Oper Frankfurt zu erleben. Wann und wo haben Sie diese Rolle zum ersten Mal gesungen? Norma gilt oft als Meilenstein für eine Sopranistin, als Synthese aus Virtuosität und emotionaler Tiefe. Wie nähern Sie sich dieser komplexen Figur? Ich habe mein Debüt als Norma 2024 an der Palm Beach Opera in Florida gegeben, und es war eine unglaublich bereichernde Erfahrung. Norma ist wirklich eine gewaltige Rolle, eine Frau voller Widersprüche und psychologischer Komplexität. Sie ist göttlich, mütterlich, leidenschaftlich und zugleich zerstörerisch. Diese Rolle verlangt mir alles ab, stimmlich wie emotional. Norma zu singen bedeutet, pure Gefühle zu transportieren.

Was sind aus rein vokaler Sicht die größten Herausforderungen beim Singen der Norma? Die größte Herausforderung ist es, der Stimme die richtige Farbe und Autorität zu geben und gleichzeitig die enormen technischen Anforderungen zu bewältigen, die diese Rolle stellt. Die Gesangslinie mit der emotionalen Erzählung in Einklang zu bringen und die dramatische Tiefe dieses Belcanto-Meisterwerks herauszuarbeiten, erfordert völlige Hingabe. Bellini schrieb mit solcher Eleganz, seine Linien sind lang, getragen und müssen stets ausdrucksvoll bleiben. Norma lebt genauso sehr von innerer Spannung wie von äußerem Glanz und dramatischer Kraft. In dieser Partitur steckt alles: Intensität, Zartheit, Stärke und ein Hauch göttlicher Schönheit. Es ist eine monumentale Rolle in jeder Hinsicht.

Gibt es neben Norma noch andere Rollen, die Sie als Wendepunkte in Ihrer künstlerischen Laufbahn betrachten? Es gibt mehrere Rollen Giuseppe Verdis, die besonders prägend für meine Entwicklung waren: Leonora in „Il trovatore“, Giovanna d’Arco, Elvira in „Ernani“, Aida, Abigaille und Lucrezia Contarini. Diese Partien sind mit bedeutenden Auftritten an Theatern und Festivals verbunden, etwa beim Festival Verdi in Parma, am Teatro La Fenice in Venedig, beim Savonlinna Opera Festival, den Festspielen St. Gallen, an der Polnischen Nationaloper, der Dubai Opera, der Ópera de Oviedo, in A Coruña oder an der Deutschen Oper am Rhein, um nur einige zu nennen. Diese Rollen gehören heute zu meinem festen Repertoire und haben mich künstlerisch stark geprägt. Ich nähere mich auch immer mehr Puccini-Rollen. Neben Mimì („La Bohème“) und Manon Lescaut wird nun bald auch die wunderbare Tosca dazukommen.

Wenn Sie nur eine einzige Oper mit auf eine einsame Insel nehmen dürften, welche wäre es? Und wer ist Ihr Lieblingskomponist? Oh, wenn ich wirklich nur eine Oper mitnehmen dürfte, würde ich einfach viele Reisen auf die Insel unternehmen, um ganz viele Opern mitzunehmen! (lacht)
Aber im Moment würde ich Verdis „Messa da Requiem“ wählen. Das ist zwar keine Oper im eigentlichen Sinn, enthält aber all das Drama, die Tiefe und die emotionale Intensität einer Oper.
Was meinen Lieblingskomponisten betrifft, ist es schwer, nur einen zu nennen. Verdi und Puccini haben immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen gehabt.

Zum Schluss: Können Sie uns von einigen Ihrer kommenden Engagements erzählen? Nach der Norma-Serie in Frankfurt singe ich die Aida am Teatro Lirico di Cagliari, gebe mein Debüt als Tosca an der Royal Danish Opera in Kopenhagen, bin erneut als Norma in konzertanten Aufführungen an der Staatsoper Prag zu erleben und gebe mein Debüt als Lady Macbeth am Theatro Municipal in São Paulo, Brasilien. Das sind einige der Abenteuer, auf die ich mich schon sehr freue! (Foto oben: Marigona Qerkezi/Sabonlinna Opera) Beat Schmid

Klaus König 

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Klaus König (* 26. Mai 1934 in BeuthenProvinz Oberschlesien – 7. Juni 2025 Berlin). König wuchs in Bad Muskau auf. Er absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Maler und Lackierer und arbeitete im väterlichen Betrieb. Später eröffnete er in Krauschwitz eine eigene Lackiererei. Ab 1965 studierte er dann an der Musikhochschule Dresden Gesang.

Sein Debüt als Opernsänger erfolgte 1970 am Theater Cottbus mit der Rolle des Riccardo in der Oper Die vier Grobiane von Ermanno Wolf-Ferrari. Es folgte ab 1973 ein Engagement am Landestheater Dessau, wo er bereits erste Rollen als jugendlicher Heldentenor sang, unter anderem den Max in Der Freischütz von Carl Maria von Weber und den Erik in Der fliegende Holländer. Von 1978 bis 1982 war König am Opernhaus Leipzig engagiert, wo sich seine Stimme ins schwere Heldentenorfach entwickelte. Mit der Rolle des Tristan in Richard Wagners Tristan und Isolde gelang ihm 1980 in Leipzig der Durchbruch zu einer internationalen Karriere. Seit 1982 war König festes Ensemblemitglied an der Dresdner Staatsoper. 1985 sang er dort anlässlich der wiederaufgebauten Semperoper in der Eröffnungsvorstellung die Rolle des Max. Außerdem sang er dort den Sänger in Der Rosenkavalier von Richard Strauss. Die Aufführungen wurden 1985 für das Fernsehen aufgezeichnet und später auch auf CD und DVD veröffentlicht. An der Staatsoper Dresden sang er außerdem regelmäßig die Titelhelden in den Wagneropern Tannhäuser und der Sängerkrieg auf WartburgLohengrin und Parsifal, ferner Florestan in Fidelio, Erik in Der fliegende Holländer, Stolzing in Die Meistersinger von Nürnberg und Bacchus in Ariadne auf Naxos. Von 1985 bis 1992 sang König auch regelmäßig an der Wiener Staatsoper. Er sang dort insgesamt 5 verschiedene Partien, den Bacchus in Ariadne auf Naxos, den Erik, den Stolzing in Die Meistersinger von Nürnberg sowie die Titelrollen in Tannhäuser und Lohengrin.[1]

König hatte umfangreiche Gastverträge im In- und Ausland. Er gastierte am Staatstheater Karlsruhe (1983–1985 als Tannhäuser und Tristan), an der Covent Garden Opera in London (1984 Debüt als Tannhäuser, 1987 als Bacchus), an der Mailänder Scala (Debüt 1984 als Tannhäuser), am Théâtre Royal de la Monnaie (1985 als Tristan), am Teatro San Carlos in Lissabon (1986 als Florestan), an der Oper Köln (1987 als Tannhäuser) und am Teatro Colón in Buenos Aires (1988 als Florestan).

1988 trat er an der Bayerischen Staatsoper in München die Titelrolle in der Oper Guntram von Richard Strauss auf.[2] Im Dezember 1989 übernahm er das Tenor-Solo in der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven in der mittlerweile legendären Aufführung im Berliner Schauspielhaus unter der Leitung von Leonard Bernstein.[3] 1988 gab König in Houston als Tannhäuser sein erfolgreiches USA-Debüt. 1991 sang er den Bacchus am Opernhaus von Seattle. 1994 erfolgte sein spätes Debüt an der Metropolitan Opera in New York als Erik in Der Fliegende Holländer. In den 1990er Jahren gab König weitere Gastspiele im europäischen Ausland: in Amsterdam (1991 als Siegmund), an der Hamburger Staatsoper (1992 als Bacchus) und am Teatro Bellini in Catania (1994 als Tannhäuser). 1998 sang er an der Dresdner Staatsoper den Bürgermeister in der Oper Friedenstag von Richard Strauss.

Neben seiner Tätigkeit als Opernsänger war König auch intensiv als Konzertsänger tätig. Er interpretierte insbesondere immer wieder Werke von Ludwig van Beethoven, Anton Bruckner und Gustav Mahler. Mehrfach trat König bei den Schlesischen Musikfesten in Görlitz auf. Dort sang er 1996 in Anton Bruckners Te Deum.[4] 1998 übernahm er dort das Tenor-Solo in Beethoven 9. Sinfonie.[5]

Ab 2000 beendete König allmählich seine professionelle Opernkarriere. Seine letzten Partien waren der Aegisth in Elektra und der Erste Geharrnischte in Die Zauberflöte. 2002 war er nochmals am Staatstheater Cottbus gemeinsam mit Theo Adam und anderen Künstlern der Semperoper Dresden im Rahmen einer Benefiz-Gala zugunsten der Opfer der Dresdner Flutkatastrophe zu hören.[6]

König wurde für seine künstlerischen Leistungen mehrfach ausgezeichnet. 1985 wurde ihm der Nationalpreis der DDR III. Klasse für Kunst und Literatur verliehen. Von der Dresdner Staatsoper erhielt er den Titel Kammersänger. (Wikipedia)

Verdienstvoll

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Weg vom Salonlied, den Romanze mit sentimentalem Text, wollte Ildebrando Pizzetti mit seinen Liriche, von denen es über vierzig gibt und die ihn während seiner gesamten Laufbahn, zwischen Naole aus dem Jahre 1899 bis hin zu den Tre Canti d‘Amore aus den Fünfzigern, beschäftigten. Dem Dirigenten Gavazzeni, auch im Bereich der Oper besonders an dieser Zeit interessiert, hat der Komponist viel zu verdanken, so weil auf sein Konto eine Aufnahme seiner bekanntesten Oper, vom Assassinio nella Cattedrale nach dem Versdrama von T.S. Eliot geht mit Leyla Gencer, Nicola Rossi-Lemeni und Nicola Zaccaria. In Wien wurde das Werk mit Karajan und Hans Hotter, Christa Ludwig und Ruggero Raimondi aufgeführt.

Das Liedschaffen Pizzettis umfasst einen kleinen Zyklus im neapolitanischen Dialekt, Texte von Freunden aus seiner Heimatstadt Parma,  den unverzichtbaren D’Annunzio, Griechisches sowie Michelangelo und Petrarca und Hugo. Pizzetti komponierte übrigens nicht nur, sondern verfasste auch wissenschaftliche Werke u.a. über Lieder.

Sämtliche, auch die bisher noch nie veröffentlichten  Stücke für Stimme und Klavier finden sich auf den (großzügig!) auf drei CDs verteilten Darbietungen von Vansisiem, einem Lied-Duo, bestehend aus dem Sopran Paola Camponovo und dem Pianisten Alfredo Blessano, das sich in dieser Epoche besonders wohl zu fühlen scheint, denn voraus ging der CD eine mit Liedern von Malipiero, und 2016 erhielt es in Verona einen Preis für Respighi-Aufnahmen, arbeitete u.a. auch zusammen mit Helmut Deutsch.

Der erste Beitrag, Epitaphe, lässt einen zarten Sopran vernehmen, der geschmeidig geführt wird und viel Wärme ausstrahlt, während die Vigilia nuziale wie gezwitschert klingt und eine glasklare Höhe vernehmen lässt. Die Diktion ist nicht durchgehend ein Verständnis ermöglichend, so dass die Texte doch im Booklet recht schmerzlich vermisst werden. Ein gelungener Intervallsprung nach unten kann da nur teilweise versöhnen. Für Remember nimmt die Stimme einen angemessenen Erzählton an, während im Incontro di Marzo Frische und Spritzigkeit vorherrschen, eine kindliche Naivität gekonnt vorgetäuscht wird.

Der Hörer sollte nicht in den Fehler verfallen, alle drei CDs hintereinander weg zu hören, dazu sind zwar nicht die Lieder einander zu ähnlich, sondern die Beschaffenheit der Sopranstimme, die recht klein und recht begrenzt in den Ausdrucksmöglichkeiten ist, so dass ein Wiegenlied eher kindlich-naiv als mütterlich klingt, Erotica aber auch gar nichts Sinnlich-Schwüles an sich hat. Immerhin gibt es Abwechslung mit dem volkstümlichen Touch für Angeleca und Assunta, Sprechgesang und an Janacek Erinnerndes. Zerbrechlich gläsern geben sich die Sonette von Petrarca, schön geheimnisvoll Oscuro é il Ciel und zumindest dramatische Akzente hat La Vita fugge.

Auf der dritten CD kann man sich über eine abwechslungsreiche Zusammenstellung der Lieder freuen, die von einem schmerzlichen E il mio Dolore über ein lustiges Galoppieren in Bebero e ilsuo Cavallo bis hin zu einem vibratoreichen My cry reicht. Ein zuverlässiger und einfühlsamer  Begleiter ist durchweg Alfredo Blessano (3 CDs, Brilliant Classics 97507). Ingrid Wanja     

Philidors „Ernelinde“

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Und wieder haben uns die Brüder Dratwicki in Dankesbande geschlagen, diesmal Benoit, Directeur artistique beim Centre de musique baroque de Versailles (und gleichzeitig  Conseiller artistique beim Palazzetto Bru Zane, das von seinem bei operalounge vielfach erwähnten Bruder Alexandre geleitet wird). Benoit Dratwicki ist verantwortlich für die vielen Ausgrabungen der vor-romantischen französischen Oper, meistens des Barock, aber in diesem Falle eben auch der vor-revolutionären Epoche vor dem Sturm auf die Bastille und Napoleon. Es geht um die Oper Ernelinde, Princesse de Norvège, von François-André Danican Philidor, die 1767 an der Pariser Oper Premiere hatte und die nun mit Glanz bei Chateau de Versailles nach konzertanten Aufführungen in Frankreich auf CD (CVS 161, 2 CD) erschienen ist – wie stets bei dieser Firma luxuriös ausgestattet, mit einem  hochinformativen Artikels von Benoit Dratwicki, den wir mit Dank an den Autor nachstehend bringen.

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Ein paar Worte zur Einführung: François-André Danican Philidors Ernelinde ist eine tragische Oper in drei Akten. Sie war ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der französischen Oper. Sie zeigt die erfolgreiche Anpassung italienischer Formen und Musikstile an die französische Operntradition. Philidor (genannt: André Danican Philidor „der Jüngere“, * 7. September 1726 in Dreux; † 31. August 1795 in London)  erlangte schon früh großen Ruhm ausgerechnet als Schachmeister, und hätte er in ganz Europa an Wettkämpfen teilgenommen, wäre er aufgrund seines Könnens Weltmeister geworden.

Als Komponist hatte er Schwierigkeiten, sich zu etablieren, da seine Musik in Frankreich als viel zu italienisch empfunden wurde, und tatsächlich war er stark von den aktuellen italienischen Trends beeinflusst. Große Erfolge feierte er jedoch mit seinen Opéra comiques (Tom Jones vor allem). Ernelinde war ein Versuch, die französischen Traditionen der tragédie lyrique mit ihren Balletten, Spektakeln und tragischen Versen mit den Formen und Ausdrucksweisen der italienischen opera seria zu verbinden. Philidors Librettist, Antonine Alexandre Henri Poinsinet, sah sich selbst als eine Art Kreuzritter und Anführer der Reformbewegung der Enzyklopädisten. In der Einleitung zum Libretto schrieb er eine Art Manifest zur Opernreform und erklärte klar seine Ziele bei der Entwicklung eines neuen Stils der französischen Oper. Tatsächlich war Poinsinet ein weniger begabter Dichter und erntete von den anderen Schriftstellern und Intellektuellen seiner Zeit nichts als Spott.

André Danican Philidor/Collection Musée de Paris

Philidors Partitur mit ihren dramatischen, groß angelegten Arien, dem Recitativo accompagnato, dem obbligato Recitativo und den dramatischen Doppelchören verbindet jedoch sehr gelungen den französischen und den italienischen Stil. Anstelle einer fünfaktigen tragédie lyrique nach französischer Tradition komponierte Philidor ein dreiteiliges italienisches Stück, in dem die Arien als Teil der Handlung behandelt wurden und nicht aus dem Drama herausgenommen und für die Divertissements reserviert waren. Er schuf Raum für dramatisch wirkungsvolle Ballette, wie es in der französischen Tradition üblich war, verzichtete jedoch auf jeglichen Versuch eines traditionellen französischen merveilleux. Obwohl seine Oper reich an Spektakulärem ist, darunter eine Gefängnisszene, Truppen zu Pferd, heidnische Rituale und Ballette, gibt es keine magischen oder übernatürlichen Elemente. Das Thema der Oper hatte für die Franzosen einen exotischen Reiz, da es sich um eine Geschichte aus der Wikingerzeit handelt; ein düsteres, kraftvolles Drama mit einer fantasievollen Balletteinlage, getanzt von Tataren, Kosaken, Isländern und Lappen. Das Thema für das Libretto stammt aus einem Operntext von Francesco Silvani. Sein Werk wurde ursprünglich von Ferrandini und später von Gasparini vertont. Die Uraufführung von Ernelinde fand am 24. November 1767 in der Pariser Oper statt. Das Werk war so beliebt, dass mehrere Versionen und sogar Parodien davon produziert wurden.

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Soweit die Historie, die in Benoit Dratwickis Artikel noch vertieft wird. Nun interessiert den „normalen“ Opernliebhaber wohl doch in erster Linie, wie das Ganze klingt, und das ist erstaunlich aufregend. Eine Glucksche Revolution von 1769 vor Gluck sozusagen (dessen Ophée liegt bei 1774, seine Iphigenie en Aulide für Paris ebenfalls bei 1774), eine packende, rasante Musik mit einer ziemlich plausiblen Handlung, absolut superb gesungen und vor allem ebenso dirigiert. Der junge norwegische Dirigent Martin Wahlberg sorgt am Pult des Orkester Nord Trondheim und der Voix Nidrosiensis (wer???) für aufregende Spannung, für ein Kaleidoskop an Farben, vor allem für eine vorwärtsdränge Klangsprache (unüberhörbar sind in der Ouvertüre die Vor-Echos zu Mozarts Don Giovanni/1787), die die Handlung vorantreibt und die Rezitative (namentlich in der Exposition des 1. Aktes) sehr erträglich handlungstragend macht.

Martin Wahlberg/Facebook

Gesungen wird auch, und das prachtvoll. In der Titelrolle ist Judith van Wanroij (die man eher etwas müde in Erinnerung hatte) hier eine entschlossene, aktive Ernelinde voller Pathos und schöner Rollengestaltung. Reinoud van Mechelen wiederholt als liebender Sandomir den guten Eindruck seiner vergangenen Einspielungen. Thomas Dolié zählt (hier als Vater Rodoald) zu Recht zu den bewährten Hauskräften auch des Palazzetto. Dazu kommen mit Glanz Matthieu Lécroat hervorragend als Bösewicht Ricimer sowie  Jehanne Amzal, Martin Barigault sowie Clément Debieuvre in kleineren Rollen. Alle zusammen sind superb, aber der eigentliche Held ist das Orkester Nord in seiner vorwärtsdrangenden Klangqualität unter Martin Wahlberg, absolut ravissant! Die Aufnahme bei Chateau der Versaille hat einen Ehrenplatz in meinem Opern-Olymp. G. H. (02. 05. 25)

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Philidor: „Ernelinde“: Chef des Danois/Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Ein kurzer Blick zum Inhalt: Ernelinde ist zwischen ihrer Kindespflicht gegenüber ihrem Vater Rodoald und ihrer Liebe zu Sandomir hin- und hergerissen. Obzwar Sandomir Rodoald anfangs feindlich gesinnt ist, dient er dem König schließlich aus Liebe zu dessen Tochter. Ricimer stiftet Frieden, doch die Freude ist nur von kurzer Dauer, als er seine Absicht, Ernelinde zu erringen, bekannt gibt. Obwohl es Ricimer nicht gelingt, Ernelinde für sich zu gewinnen, hält er offiziell bei Rodoald um ihre Hand an. Da er die Liebe der Prinzessin nicht erringen kann, erpresst er sie, indem er Rodoald und Sandomir verhaften lässt und bedroht. Ernelinde rettet ihren Vater, lehnt sich aber gleichzeitig gegen die Grausamkeit des tyrannischen Ricimer auf. Sandomir ist immer noch gefangen und verzweifelt: Er kann sein Leben nur retten, wenn er Ricimers Befehl, auf Ernelinde zu verzichten, nachkommt, wozu ihm auch Rodoald rät. Ernelinde, die Sandomir weiterhin liebt, zieht den Tod mit ihrem Geliebten der Ehe mit dem tyrannischen Ricimer vor. Das Liebespaar, das bereit ist, miteinander zu sterben, wird schließlich von König Rodoald gerettet, dem es auch gelingt, sein Land zu befreien. Daraufhin begeht der gedemütigte Ricimer Selbstmord. Chateau.de Versailles.

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Philidor: „Ernelinde“: Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Und nun Benoît Dratwicki vom Centre de musique baroque de Versailles: Philidors Ernelindeeine vorzeitige Revolution. Ernelinde princesse de Norvège [„Ernelinde, Prinzessin von Norwegen“], die erste Tragédie en musique von François-André Danican Philidor, wurde 1767 an der Pariser Oper – die damals Académie royale de musique hieß – uraufgeführt. Das Werk entstand in einem besonderen Kontext: Es handelt sich nämlich um die letzte Produktion, die auf Initiative der Geiger, Komponisten und königlichen Verwalter François Rebel und François Francoeur, unter deren Leitung die Institution seit genau zehn Jahren stand, aufgeführt wurde. Gleich nach ihrer Ernennung Anfang 1757 hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, die noch verbliebenen Glutnester des Buffonistenstreits zu löschen, der die französische Opernwelt zwischen 1752 und 1754 entzweit und die Verfechter der italienischen und der französischen Oper gegeneinander aufgebracht hatte. Moderne und Tradition waren von Künstlern, Literaten und Philosophen gleichermaßen heftig gegeneinander ausgespielt worden, und das Publikum nahm sich heraus, Werke je nach seinem Empfinden zu unterstützen oder zu Fall zu bringen. Doch schließlich siegte der französische Geschmack dank einiger markanter Ur- und Wiederaufführungen wie Dauvergnes „Les Amours de Tempé“, Mondonvilles „Titon et l’Aurore“ oder Rameaus „Platée“ und „Castor et Pollux“.

Sowohl aus künstlerischer Neigung als auch aus politischem Pflichtgefühl entschlossen sich Rebel und Francoeur dazu, die Meisterwerke des alten Repertoires neu aufzuführen, allen voran die wichtigsten Werke von Lully („Alceste“, „Proserpine“, „Amadis“, „Armide“, „Acis et Galatée“ und „Thésée“). Diese wurden mit prächtigen Bühnenbildern und Kostümen ausgestattet, wobei die Musik – besonders in den Balletten – ein wenig bearbeitet wurde, um ihr mehr Glanz und Sinnlichkeit zu verleihen. Gleichzeitig gaben sie neue Werke bei prominenten Komponisten in Auftrag: Rameau, Dauvergne, Berton oder Trial zum Beispiel, aber – erstaunlicherweise – auch bei einigen Musikern, die damals auf der konkurrierenden Bühne der Comédie-Italienne (der späteren Opéra-Comique) große Erfolge feierten. So komponierten Pierre-Alexandre Monsigny seine „Aline reine de Golconde“ und Philidor seine „Ernelinde princesse de Norvège“, die 1766 bzw. 1767 uraufgeführt wurden, als die Amtszeit der beiden Direktoren gerade zu Ende ging.

Philidor: „Ernelinde“: Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Während „Aline“ der Gattung der Ballettoper [Opéra-ballet] angehörte, die den Demi-caractère und eine gewisse Leichtigkeit des Tons begünstigte, ist „Ernelinde“ der Gattung der Tragédie en musique zuzurechnen, die die großen Leidenschaften sowie alle auf der wichtigsten Opernbühne denkbaren spektakulären Triebkräfte in sich vereinte.

Während sich die zwei Werke in ihrem Genre unterscheiden, ähneln sie einander in Stil und Form: Beide Werke führten in die Pariser Oper die italienische Art ein, wie sie seit einigen Jahren in der Opéra-Comique angewandt wurde, indem sie eine Aufteilung in drei Akte ohne Prolog aufweisen. Beide lehnen auch das Märchenhafte zugunsten eines exotischen Themas ab: Indien für „Aline“, Norwegen für „Ernelinde“. Bühnenbild und Kostüme schöpften also aus Beständen, die für die Opernbühne noch kaum gezeigt wurden, was dazu beitrug, den beiden Werken ein besonderes Profil und vor allem einen Hauch von Neuheit zu verleihen, der nicht unbemerkt blieb. Monsigny und Philidor müssen somit als zwei wesentliche Reformer der französischen Oper betrachtet werden, und das etwa zehn Jahre bevor Christoph Willibald Gluck nach Paris kam und ihren Erneuerungsversuch weiterführte, um eine radikale Revolution einzuleiten, die das alte Repertoire in nur wenigen Monaten zu Fall bringen sollte.

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Der Autor, Benoit Dratwicki/Directeur artistique beim Centre de musique baroque de Versailles (und gleichzeitig  Conseiller artistique beim Palazzetto Bru Zane,/Facebook

Das Libretto von „Ernelinde“ stammt von Antoine-Alexandre-Henri Poinsinet, der nicht verschwieg, dass er sich direkt von Ferradinis Vertonung von „Ricimero, redei Goti“ inspirieren ließ, von deren Text er meinte, er sei von Antonio Noris 1684 geschrieben worden. Tatsächlich stammte dieses Libretto aber aus Francesco Silvanis „La fede tradita e vendicata“ (1704). Das Drama basiert teils auf einer historischen, teils auf einer legendären Handlung in Skandinavien, in der die Könige von Norwegen und von Gotland (Schweden) einander feindlich gesinnt sind. Im Vorwort zu seinem Libretto verteidigt Poinsinet seine Entscheidung zur vollständigen Verdrängung des Märchenhaften, und zwar sowohl aus ästhetischen Gründen, um zu versuchen, ein „neues Genre“ an der Oper zu etablieren, als auch aus pragmatischeren Überlegungen, denn „die Ausgaben zu reduzieren“ war seiner Meinung nach „das sicherste Mittel, um es zu schaffen, aufgeführt zu werden“… Auch wenn die Verse nicht die kunstvollsten sind, und sich die Handlung nicht mit der ganzen Klarheit großer Tragödien entwickelt, muss man sich die Wirksamkeit der von Poinsinet erdachten dramatischen Situationen eingestehen. Das Libretto wurde 1769, 1773 und 1777 bei den aufeinanderfolgenden Aufführungen in Paris und Versailles überarbeitet und gewann allmählich an Kraft, wobei die avantgardistischen moralischen und philosophischen Werte wie Patriotismus, Heldentum und das Streben nach Freiheit und Gleichheit nun deutlicher hervortraten und die Liebeshandlung in den Hintergrund drängten. Daher ist es nicht erstaunlich, dass einer der Chöre von „Ernelinde“ (« Jurons sur nos glaives sanglants… » [„Schwören wir auf unsere blutigen Schwerter…“]) während der Revolution gesungen wurde.

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Philidor: „Ernelinde“: Kostümentwurf von René-Robert Bouquet/Gallica BNF

Bei seiner Uraufführung hatte das Werk etwa gleich viele Befürworter wie Gegner, die ihr Missfallen in lauten Buhrufen bekundeten. Was die Interpreten betrifft, könnte es sein, dass die Mitglieder der Académie royale de musique sich nicht genug bemühten, eine Partitur zu erlernen und sich für sie einzusetzen, die ihrer täglichen Praxis nicht entsprach. Poinsinet behauptete jedenfalls, er habe gegen den „unziemlichen Tumult der Proben ankämpfen müssen“. Von Seiten des Publikums wurde Philidor vor allem vorgeworfen, Jomelli undGluck plagiiert zu haben. Tatsache ist, dass der Komponist, der ein großer Bewunderer von Glucks 1762 in Wien uraufgeführtem „Orfeo ed Euridice“ war, die Musik dieses Komponisten in der Ouvertüre und im ersten Duett von „Ernelinde“ annähernd notengetreu übernimmt. Rameaus Anhänger waren über die Heftigkeit des Gesangs – ihrer Meinung nach voller Schreie – und über die Begleitungen entsetzt, die sie als laut und eintönig empfanden. Philidors Musik wirkte schockierend, da sie sich radikal vom bisher Gewohnten abwandte: Die Carrures, Entwicklungen und Modulationen waren von einem entschieden italienischen Stil geprägt und kündigten die damals im Entstehen begriffene Wiener Schule an. Man kann abwechselnd die Musik von Pergolesi, Haydn und sogar Mozart erahnen, doch ist vor allem die reformierte gluckistische Tragödie zu erkennen: Philidor war ein unbestrittener Meister der Opéra-comique.

Philidors „Ernelinde“: Bühnenbild/Gabriel Jacques de Saint-Aubin/ Centre de Musique de Baroque de Versaille

Er besaß ein hervorragendes Gespür für das Theater und hatte sich bereits die Grundsätze des deutschen Komponisten zu eigen gemacht. Doch Paris war noch nicht bereit, sie anzunehmen. Das Plagiat moderner Autoren war nicht der einzige Grund, der zur Kontroverse beitrug. Unter anderem scheint die Abwesenheit der ersten Sängerin der Oper, der vom Publikum angehimmelten Sophie Arnould, eine große Rolle gespielt zu haben. Da sie, wie so oft Mitte der 1760er Jahre krankheitshalber ausfiel, musste sie die Titelrolle, die extra für sie komponiert worden war, an eine ihrer Rivalinnen, Marie-Jeanne Lemière, abtreten. Die Starsängerin schäumte vor Wut, und die „Mémoires secrets“ [„Geheimen Memoranden“] berichten gallig vom „extremen Wunsch von Mademoiselle Arnould, den Sturz von „Ernelinde“ weiter zu beschleunigen“ (T. 17, S. 350, 24. Dezember 1767), um zu sehen, wie ihre Rivalin von der Bühne verschwindet. Obwohl Mademoiselle Lemière in den virtuosen Arien und in den Rollen von Schäferinnen oder Nymphen hervorragend war, hatte sie Mühe, in der edlen Figur einer verliebten Prinzessin zu überzeugen. Auch enthielt die Komposition von „Ernelinde“ nichts, was ihr entgegenkam: keine Vokalisen, keine hohen Noten, keine verzierte Melodie. Die Titelrolle, die voller Verzögerungen und tragischer Posen ist, erforderte eine perfekte Schauspielerin und eine Stimme, die die Rezitativszenen mit der emphatischen und ausgefeilten Deklamation, auf die sich Sophie Arnould spezialisiert hatte, wiedergeben konnte. Die Sängerin wurde daher heftig kritisiert, worunter das Werk zweifellos litt.

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Philidors „Ernelinde“: Opernstar Sophie Arnould sollte  die Titelsängerin sein und musste zugunsten von Marie-Jeanne Lemière verzichten/Marmorbüste von Antoin Houdon im Pariser Louvre/Wikipedia

Verbreitung: Im Jahr 1767 wurde das Werk nur siebzehnmal aufgeführt, ein für die damalige Zeit eher magerer Erfolg. Trotz dieser Widrigkeiten triumphierte „Ernelinde“ schließlich und wurde für einige Zeit wieder ins Repertoire aufgenommen: die Oper wurde 1769 gespielt, als der dänische König zu einem offiziellen Besuch in Paris weilte (was es aus diplomatischen Gründen erforderlich machte, das Libretto zu überarbeiten und den Titel in „Sandomir roi de Danmark“ zu ändern, wovon die Erstausgabe der Partitur zeugt). 1773 wurde „Ernelinde“ in das Programm der Hochzeitsfeierlichkeiten des Grafen von Artois (des späteren Karl X.) in Versailles miteinbezogen und schließlich 1777 für das Publikum der Pariser Oper wiederaufgenommen.

Ihr Nachruhm endet hier, zehn Jahre nach der Uraufführung. Doch mehr als das Werk selbst war es vor allem der Kontext, der dafür verantwortlich war. Die Flut neuer Komponisten in Paris in den frühen 1780er Jahren führte zu einer ständigen Erneuerung des Repertoires, aus dem nur einige wenige Opern dauerhaft hervorgingen: die Opern von Gluck und eine kleine Anzahl von Werken von Piccinni („Dido“), Sacchini („OEdipe à Colone“) und Salieri („LesDanaïdes“). „Ernelinde“ wurde ebenso wie Grétrys „Céphale et Procris“, Floquets „L’Union de l’Amour et des Arts“, Johann Christian Bachs „Amadis de Gaule“ oder Grétrys „Andromaque“ – alles Opern aus dem Jahrzehnt 1770-1780, die beim Publikum gut angekommen waren – endgültig abgesetzt. Einerseits hatte sich der Geschmack geändert, andererseits zwang der Brand der Oper im Jahr 1781, der die Lager verwüstete, die Verwaltung dazu, nur erfolgreiche Werke zu spielen, mit denen eine kostspielige Wiederherstellung von Bühnenbild und Kostümen zu rechtfertigen war. Dies traf auf „Ernelinde“ allerdings nicht zu. Bis 1792 hegte Philidor jedoch die heimliche Hoffnung auf eine Wiederaufnahme seines Werkes und überarbeitete die Partitur sogar, um ihr vorromantische Züge zu verleihen. „Ernelinde“ war zwar verstummt, doch ihr Ruhm überlebte sie. Noch 1791 lobte Pierre- Louis Ginguené die Oper als ein Werk, „das Epoche macht und seinem Autor den Ruhm sichert, als erster auf unserer Opernbühne das einfach deklamierte Rezitativ und die Arien, Duette, Terzette und andere gemessene Musikstücke nach der italienischen Methode an die Stelle der alten, einschläfernden französischen Psalmodie gesetzt zu haben“ (Encyclopédie méthodique).

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Philidors „Ernelinde“: der Tenor Joseph Legros sang den Sandomir/Stich von Lecrerc Macret 1770/Wikipedia/Gallica BNF

Eine Aufführung von „Ernelinde princesse de Norvège“ im Jahr 2024, wirft für den Forscher und Interpreten ernsthafte Fragen auf. Zunächst hinsichtlich der Wahl der Fassung. 1767? 1769? 1773? 1777?… Hier musste nach dem Ausschlussverfahren vorgegangen werden. Die Version von 1777 ist zwar die dramaturgisch ausgereifteste, sieht aber für alle Rezitative eine Orchesterbegleitung vor und verwischt so die Einzigartigkeit und Modernität, die Philidor in den 1760er Jahren auszeichnete. Die Fassung von 1773, die für eine königliche Hochzeitsfeier bestimmt war, enthält pompöse Feste und glänzende Ballette, die die Handlung verwässern und ihre Wirkung abschwächen. Die Musik der Originalfassung schließlich aus dem Jahr 1767 ist nur als Manuskript überliefert und teilweise verloren gegangen. Folglich bleibt die Version von 1769 übrig, die der ersten Veröffentlichung der Musik entspricht. Siewar sowohl die praktischste in Bezug auf die Quellen als auch die ausgewogenste in Hinsicht auf ihren Gehalt. Diese Fassung wurde hier aufgenommen.

Darüber hinaus erfordert das Werk zwar die gleiche Aufmerksamkeit wie das übrige Barock- und Klassik- Repertoire der Académie royale de musique in Betracht auf Musikquellen, Besetzung oder Stimmton, doch Philidors ausgesprochen moderner Stil verlangt, sich mit bestimmten Aspekten auseinanderzusetzen, wie etwa mit der Verzierung der Gesangslinien oder der ersten Punkt betrifft, kann man anhand der einzelnen Stimmhefte, die noch heute in der Bibliothèque de l’Opéra de Paris aufbewahrt werden, in etwa beurteilen, inwiefern Philidors Kompositionsweise für Singstimmen eine Besonderheit darstellt: Um seine gesungenen Melodien aufzuwerten, behält der Komponist einige Verzierungen aus der Zeit Rameaus bei, aber anstatt sie mit Verzierungszeichen in der traditionellen Form (wie das für die französische Musik seit der Zeit Lullys charakteristische +) zu präsentieren, schreibt er alle Noten der Ornamente aus und versteift die Verzierung, indem er ihr eine genau definierte Dauer, Tonhöhe und auch den Stimmfall auferlegt. Dies ist vor allem bei den Tremblements, Ports de voix und Sanglots der Fall. Diese Entscheidung war keineswegs nebensächlich, sondern ein großer Schritt, um den italienischenBelcanto in Frankreich zu assimilieren, der sich allerdings erst Anfang des 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte. Im Bereich der Oper ist der Keim dieser Entwicklung in „Ernelinde“ bereits deutlich zu erkennen.

Philidors „Ernelinde“: der Bass Nicolas Gélin sang den Rodoald, hier als Castor mit Rosalie Campagne als Phébe in Rameaus Oper 1772 in Paris/BNF Gallica

Ein weiterer wesentlicher Aspekt für die richtige Interpretation von Philidors Musik ist die Art der Deklamation, die auf die Rezitative angewandt wird. Die Kompositionsweise ist hier scheinbar sehr modern, mit einer schlichten Basslinie in langen Werten nach dem Vorbild des italienischen Rezitativs. Zwar lädt sie a priori zu einer vollkommenen Freiheit und einer großen Variationsmöglichkeit des Gesangflusses ein, doch es zeigt sich, dass die rhythmische Notation und die Prosodie, die sich (in der Tradition von Lully und Rameau) auf den starkenTaktteil konzentrieren, den Sänger zu einer gewissen Emphase zwingen, die nicht die völlige Flexibilität zulässt, die er vermeintlich hat. Dieses Rezitativ, das nicht versucht, das gesprochene Wort zu imitieren, sondern vielmehr die Gemütsbewegungen zu übertreiben, wird übrigens von einem reichen Basso continuo begleitet, der schwer völlig flexibel sein kann: Von den 1670er Jahren bis nach der Revolution unterstützte in der Pariser Oper eine Gruppe von 5 bis 7 Bässen (der Petit choeur [kleine Chor]) einstimmig die Sänger. In den 1760er Jahren waren dies ein Cembalo, zwei oder drei Violoncelli und ein Kontrabass. Diese Besetzung wurde auch für die vorliegende Aufnahme eingesetzt, wodurch sich die „Ernelinde“-Rezitative deutlich vom zeitgenössischen italienischen Recitativo secco unterscheiden, das bescheidener von einem Cembalo und einem Cello oder sogar nur von einem Fortepiano begleitetwird.

Philidors „Ernelinde“/ Schach: Une partie d’échecs à l’aveugle contre l’ambassadeur de Turquie/Wikipedia

Dank der Forschungsarbeit von Hilary Metzger (die hier das erste Cello des Continuos spielt) wurde außerdem – zum ersten Mal in der Diskographie des französischen Repertoires dieser Epoche – die Technik der Akkordbegleitung durch eines der Celli des Petit choeur angewandt, wie sie in zahlreichen europäischen (und insbesondere französischen) Quellen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts belegt ist. Das klangliche Ergebnis ist absolut neuartig, ebenso wie die daraus resultierende theatralische und poetische Wirkung. Es handelt sich zweifellos um eines der mutigsten Experimente der Performance practice, die in den letzten Jahren in diesem Bereich durchgeführt wurden. Diese beiden Aspekte – Verzierung und Deklamation – führten dazu, dass die Solopartien mit Stimmen von besonderer Qualität besetzt wurden und dadurch an die Sänger der Uraufführung erinneren (soweit wir heute in der Lage sind, sie anhand von Musikquellen und zeitgenössischen Kommentaren zu erahnen). Das heißt, beredte Stimmen, die der Kunst des Sprechens verpflichtet und fähig sind, alle Feinheiten der musikalischen Gestaltung zu beherrschen. Als Ernelinde brauchte man keine glänzende Stimme – wie die von Mlle Lemière, die daran scheiterte –, sondern eine farbenreiche, die alleindurch ihr Timbre rühren und durch ihre Vortragskunst Mitleid erregen kann, wie die von Sophie Arnould, hätte sie diese für sie konzipierte Rolle interpretiert. Ihre Stimme war nicht kräftig – man nannte sie liebevoll « le plus asthme de l’Opéra » [das heftigste Asthma der Oper] –, aber dafür besonders ausdrucksstark. Für den Sandomir brauchte man einen Hautecontre,dessen Stimme an Joseph Legros erinnerte, einen tapferen und zugleich zärtlichen Sänger, der gleichermaßen von Heroismus und Lyrik durchdrungen war. Für Rodoald und Ricimer, deren Rollen bei der Uraufführung Nicolas Gélin und Henri Larrivée sangen, konnte man sich nur brillante, durchdringende, aber agile Baritonstimmen vorstellen, die eher das romantische Zeitalter ankündigten als in der alten barocken Manier verhaftet zu sein.

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Philidors Büste an der Fassade der Pariser Oper/Salle Garnier/Wikipedia

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass Philidors Instrumentierung zwar sehr italienisch anmutet: Er setzt Oboen und Hörner ein, die vor allem eine harmonische Rolle spielen, wenige selbständige Fagottstimmen im Vergleich zum Repertoire der Ramisten und – was für die Pariser Oper erstaunlich ist – fast keine Flöten, doch sollten die geschriebenen Noten die Praxis nicht verdecken, denn damals bestand das Pariser Orchester aus vier Oboisten und vier Fagottisten. Die Bläser spielten also in kompletten „Sektionen“ und nicht als Solisten wie im restlichen Europa. Um die besondere Klangfarbe und den daraus resultierenden Masseneffekt wiederherzustellen, wurden vier Oboen und vier Fagotte um die Streicher gruppiert, wodurch das Klangergebnis deutlich verändert wurde.

Die Frage des Balletts: Obwohl die aufeinanderfolgenden Fassungen von „Ernelinde“ jede Menge Tänze enthielten, mussten wir uns dazu entschließen, nur einige wenige davon zu übernehmen: Die vorliegende Aufnahme spiegelt ein Konzert wider, dessen Rahmen nicht dazu geeignet war, dem Publikum endlose Ballettszenen in Form von Orchestersuiten darzubieten. Doch in einem Bereich, in dem man es nicht von Philidor erwartet hatte, erwies er sich als äußerst inspiriert, wie die aufgenommenen und alle anderen Tänze, in deren Noten wir Einblick nahmen, belegen.

Mögen zukünftige Gelegenheiten dazu führen, dass diese Tänze vollständig zu hören sind und vor allem, dass ein eminent theatralisches und effektvolles Werk wieder auf die Bühne gebracht wird. Benoit Dratwicki/DeepL/Red. G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich  hier.

Edouard Lalos „Roi d`ys“

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„Ambizioso spirto …!“ Singt Lady Macbeth und meint damit sich oder ihren Mann. Und da hat sie ja auch recht. Es geht ja nichts über Ehrgeiz, bloß keine halben Sachen. Was nicht immer klappt …

Das Label Palazzetto Bru Zane hat es sich zwar vor allem zur Aufgabe gemacht, ganze Teile des in Vergessen geratenen musikalischen Erbes aus dem französischen 19. Jahrhundert wiederzuentdecken, schließt jedoch (nicht immer nachvollziehbar) die Produktion neuer Versionen für Werke, die bereits dokumentiert sind, nicht aus. Nun ist Edouard Lalos Le Roi d’Ys (von 1878 an der Opéra-comique) an der Reihe.

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Edouard Lalo/Wikipedia

Um was geht´s?  Das Libretto stammt von Édouard Blau und basiert auf einer Bretonischen Legende vom Untergang der mythischen Stadt Ys.. Im Königreich Cornouaille an der bretonischen Küste in mythischer Zeit neigt sich der Krieg zwischen Prinz Karnac und den Einwohnern der Stadt Ys endlich dem Ende zu. Die Bedingung des Friedensvertrags ist, dass Karnac Prinzessin Margared heiratet. Doch ihre Liebe zu Mylio, der mit ihrer Schwester Rozenn verlobt ist, wird eine schreckliche Flutwelle auslösen, die von ihrer Rachsucht angefacht wird. Édouard Lalo fand hier ein inspirierendes Libretto, das er mit einer selten erreichten theatralischen Dringlichkeit umsetzte. Die Figuren leben ihre Leidenschaften aus, unterstützt von einer vehementen, farbenfrohen Orchestrierung. Insbesondere die Rolle der Margared verdient es, zu den erfolgreichsten der französischen Romantik gezählt zu werden. Das Werk wurde 1888 in Paris uraufgeführt und feierte einen Triumph, der sich bei jeder Wiederaufnahme in der Provinz und im Ausland wiederholte.

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Obwohl die Oper kaum zwei Stunden dauert, bordet sie von dramatischen Situationen über: bretonische Feste, die übernatürliche Erscheinung des Heiligen Corentin, eine Hochzeit mit Orgelbegleitung, eine Flutwelle, deren tosende Wellen sehr eindrucksvoll wiedergegeben werden. Le Roi d’Ys hätte eine ambitionierte Inszenierung an der Pariser Oper verdient, die ihm zu Lalos Lebzeiten verwehrt blieb.

Das Werk wurde oft als wagnerisch bezeichnet, was zum Teil auf seine dunkle, blechbläserreiche Orchesterfärbung und die Anklänge an Elsa und Ortrud in Lohengrin zurückzuführen ist, die Lalo bei der Darstellung der Beziehung zwischen Rozenn und Margared verwendet. Diese Beschreibung ist jedoch in vielerlei Hinsicht unzutreffend, da Lalo mit seiner absoluten Prägnanz und der Vermeidung symphonischer Entwicklungen das genaue Gegenteil von Wagner darstellt. Wiederholte rhythmische Muster, die manchmal obsessiv werden, treiben die Musik voran. Die umfangreichen und anspruchsvollen Chöre oszillieren zwischen Ritual und Gewalt. Und die außergewöhnliche Gesangspartie für Margared, wahnsinnig geworden, neurotisch und deklamatorisch, untergräbt fatalerweise die Lyrik aller um sie herum.

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Lalos „Roi d`Ys“ in Budapest 2024: Cyril Dubois und Judith van Wanroij/Müpa

Le grand repertoire der französischen Oper beinhaltet diese hochinteressanten, großformatigen „Schinken“, die in Umfang und Anforderung vergleichbar mit Wagners Tetralogie-Opern oder mit seinem Lohengrin oder Tannhäuser sind. Bei aller meine Dankbarkeit an den Palazzetto und den Prinzipal Alexandre Dratwicki (von dem nachstehend mit Dank an den Autor sein hochinformativer Artikel aus der Beilage zur neuen  Aufnahme folgt) die französische romantische Oper erneut bekannt zu machen: Der Palazzetto trifft bei Lalo auf dasselbe Problem für seine Ambitionen, das „große Fach“ der französischen Oper einzuspielen, wie man von anderen Aufnahmen weiß. Die Besetzung! Es gibt vielleicht auch keine großen Stimmen dafür mehr, wenngleich die Erinnerungen an Michael Spyres oder Edgar Montvidas oder auch Marina Rebeka doch gute sind. Frankreich selbst hat diese Stimmen nicht mehr, Amerika oder das Baltikum/Osteuropa sicher noch einen Reichtum an großen Stimmen mit guter französischer Diktion. Zumal der neue Roi d´Ys (nach dem Konzert am 12. Januar 2024) in Ungarn aufgenommen wurde. Die hatten doch immer viele gute Tenöre der Spinto-Schiene.

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Lalos „Roi d`Ys“: Évariste-Vital Luminais, 1884, „La fuite du roi Gradlon“/Wikipedia

Die Diskografie von Lalos Oper ist nicht eben umfangreich (davon nachstehend mehr). Diese Neu-Aufnahme erinnert daran, dass Le Roi d’Ys ein bedeutendes Werk des nationalen französischen Repertoires des späten 19. Jahrhunderts war (eben le grand repertoire), aus einer Zeit, in der die französische Oper (und auch Gesellschaft) mehr denn je auf der Suche nach ihrer Identität war angesichts des damals überwältigenden Wagnerismus, der für Unruhe und Diskussionen sorgte.

Die Sänger der damaligen Zeit hatten, neben Massenet, D´Indy oder Gounod eben auch Wagner im Programm, wie man den Pariser Besetzungslisten entnehmen kann. Sie waren Interpreten des großen Formats, selbst wenn sie nicht Birgit Nilssons Lunge besaßen (die eh ein Irrtum des Wagner- und Strauss-Gesangs für mich war). Man sang anders, konzentrierter (wie man noch bei Berthe Monmart,  Claudette Camart,  Jane Rhodes oder George Noré nacherleben kann).  Aber eine Brünnhilde oder ein Tristan singt sich nicht mit lyrischer Stimme (naja, da fallen einem doch heurige Gegenbeispiele ein…).

Lalos „Roi d`Ys“: Jean-Alexandre Talazac sang den Mylio der Uraufführung/Ipernity

Die Sänger der Neuaufnahme beim Palazzetto Bru Zane machen an Engagement wett, was ihnen an Kraft fehlt. Sie sind wirklich mehr als anständig, im Ganzen mir zu schmalstimmig und eher – sehr gut und richtig – für eine Art Referenzaufnahme mikrophongerecht stehend, wie sie die Aufnahme-Politik des Palazzetto verkörpert. Ich verstehe, dass dessen Prinzipal eine an der Wirkung durch die Aufnahme-Mikrophone orientierte Hausbesetzung anstrebt, und das ist absolut zu loben. Am Mikro ist ein idealerer Klang viel besser zu erreichen. Und das klappt für früher liegende Opern wie La Vestale (Spyres – Rebeka) ganz prächtig, wackelte bei Meyerbeer schon etwas mehr, bei Massenet besonders und zeigt sich nun im Roi d´Ys erneut als Problem. Zumal es akustisch auch ein bisschen rumst.

In der Rolle des Mylio, einem typisch französischen Démi-timbre-Tenor, dem ein kräftiger Schuss Heroismus abverlangt wird, schlägt sich mein Lieblingstenor im lyrischen französischen Fach, Cyrille Dubois, mehr als zufriedenstellend, auch wenn das Mikrophon mehr als das Budapester Konzert im Januar 2024  seine Grenzen aufzeigt, insbesondere in der berühmten Aubade im dritten Akt, die er mit seiner gewohnten Sensibilität singt (soft palate wird sein Problem, eben dieser mü-verzögerte Einsatz der Stimme bei exponierten Noten). Die heroischen Passagen bringen ihn akut an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Die Stimme ist dafür nicht gemacht. Er gibt einfach alles, manchmal auch mehr. Da denkt man aber auch an den klugen Alain Vanzo, der mit Raffinesse und noch geschickterer Verwaltung seiner nicht riesigen Resourcen die stimmlichen Anforderungen wie einen Spaziergang erscheinen ließ. Ich will hier nicht das Wort einem Brüller wie Guy Chauvet das Wort reden, und sicher war es auch nach dem Krieg schwierig, heroische französische Tenöre zu finden (nur so erklärt sich Jon Vickers Einsatz in diesem Feld), aber mehr Kraft hätte dem Mylio gut getan. Dubois, den ich über die Maßen schätze, bleibt zu höflich, zu liebenswürdig, einfach nett. Und auch mal auf der Strecke.

Lalos „Roi d`Ys“: Blanche Deschamps-Jehin sang die Margared der Uraufführung/Ipernity

Ihm gegenüber steht mit Judith van Wanroij eine sehr strenge, etwas schmale, stimmlich recht scharfe Rozenn. Auch die van Wanroij scheint mir zu klein für die Partie, die doch eine leuchtende, große Stimme einer Marguérite, Grisélidis/Massenet oder Ariane/dto. verlangt, keine Manon oder Berthe/Meyerbeer. Ihr Engagement wie das der übrigen trägt über vieles hinweg.

Kate Aldrich (was für eine attraktive Frau im Konzert) hingegen kompensiert für ihre Margared fehlende Farben mit Aplomb, schonungslosem zum Teil. Sie hat sich mit ihrer von Hause aus eher kleinen Stimme im Format einer Frederica von Stade mit ihren zu großen Rollen wie Carmen etc. absolut übernommen. Sie singt bedenkenlos, schonungslos. Auch wortfern. Eindrucksvoll das Vorhandene verwaltend. Schade, schade. Sie war mal so aufregend im mittleren französischen Fach.

Jerôme Boutillier ist ein Karnac in der großen französischen Tradition, die in dieser Partie von solchen Größen wie Jean Borthayre, Ernest Blanc oder vor allem Robert Massard verkörpert wurde. Er ist der eigentliche Held der neuen Aufnahme, wortmächtig, bedrohlich, vielfarbig, sehr schön. Was für eine tolle Stimme, was für ein Gestalter.

Nicolas Courjal als König von Ys  jedoch zeigt akute Abnutzungserscheinungen, die auch von viel Charakter der Rollengestaltung nicht verdeckt werden. Christian Helmer (etwas unruhig im Ton) fällt angenehm in der Doppelrolle des Jahel und des Heiligen Corentin auf.

Lalos „Roi d`Ys“: Cécile Simonet (hier als Sélika) sang die Rozenn der Uraufführung/Foto Atélier Nadard/Ipernity

Die Qualität der französischen Aussprache des Ungarischen National Chores ist erfreulich, ebenso wie das Engagement des Ungarischen Nationalen Philharmonischen Orchesters, das man in einem Werk dieser Art nicht unbedingt erwartet hätte. György Vashegyi dirigiert mit Kenntnis und Entschlossenheit – man würde sich angesichts der jungen neuen Dirigenten wie Martin Wahlberg (und in Erinnerung an André Cluytens!) aber mehr Drive und orchestrale Rasanz und Transparenz wünschen. Hier ist manches doch auch dick und vor allem recht laut im Klang. Aber zweifellos engagiert.

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Als Konzert optisch vielleicht beeindruckender als rein akustisch auf der CD kann man bei Müpa das eben live im Budapester Saal miterleben, wo der Beifall nicht aufzuhören scheint. Das Video vom Januar 2024 bringt so viel mehr an Spannung und Drive herüber, fast als hätte man zwei verschiedene Gelegenheiten vor sich. Das Konzert fand am 12. 1. 24 statt, die Aufnahmestrecke wird vom 9. – 11. Januar angegeben. Möglich, dass das Live-Ereignis viele verfügbaren Kräfte aufbrauchte und für die Nach- und Probenaufnahmen soviel nicht übrig blieb, oder weniger zumindest. Natürlich hilft die Optik von Gestik und Gesangsproduktion selbst sehr viel zur Ergänzung des dramatischen Eindrucks.

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Wie stets ist die Ausstattung des CD-Buches (BZ 1060) beim Palazzetto hervorragend (wie gewohnt nur englisch und französisch), neben dem Libretto gibt es wieder einführende Artikel (Alexandre Dratwicki, Vincent Giroud und Erinnerungen von Victorin Joncieres) und die üblichen grauen Bildchen. Warum man das Ganze nicht nur ins Netz stellt? Und dann mit deutschen Texten? Wäre billiger.

Es soll absolut nicht lahm klingen, wenn ich trotz einiger Einschränkungen dem Palazzetto sehr danke, dies großartig instrumentierte Werk uns erneut zugänglich gemacht zu haben, darin liegt das eigentliche Verdienst des Labels über eine bloße Wiederholung hinaus. Keine der vorangegangenen offiziellen Aufnahmen ist ideal (davon nachstehend mehr). Und eine Neueinspielung mit heutigen Stimmen ohne den gewissen historischen Staub der älteren ist absolut lobenswert. Und das Engagement springt über, das ist viel.

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Lalos „Roi d´Ys“: Szene zu Akt 1/Victrola Book of Opera/BNF Gallica

Nun zum Vorhandenen: Wie meist und wie bereits angedeutet gibt es selten etwas zum ersten Mal zum Hören. So auch hier. Die Standardaufnahme des Roi d´Ys stammt von 1957 bei Pathé-Marconi (später EMI und nun Warner) unter einem rasanten, federnden und transparenten André Cluytens. Dass es schon damals Probleme gab, größere Stimmen zu finden zeigt sich bei der allgegenwärtigen Janine Micheau, die wie Mady Mesplé einen festen Fuß bei der Pathé hatte und viele Aufnahmen „bevölkerte“. Mein Ding war sie mit ihrer essig-dünnen, manierierten Sopranstimme nicht (Rozenn). Henry Legay ist ein bezaubernden, hier zu schüchterner Kavalierstenor im Stile eines Cyril Dubois (Mylio). Dagegen ziehen mit der etwas ordinären Rita Gorr ungestüme Gewitter auf, ich mag das Timbre und die knappe Höhe nicht, aber sie macht als geifernde Margared wirklich was her. Dass die alle ertrinken lassen will glaubt man sofort. Wirklich nicht nett.

Trotz Armin Jordans temperamentvoller Leitung bei Radio France (ca. 1985) ist die Erato-Aufnahme eine blasse Sache, als  Kammerbesetzung arbeiten sich dünnstimming Barbara Hendricks (leider mit festem Fuß bei Erato und im Frankreich jener Jahre) und die woanders besser aufgehobene Delores Ziegler durch die beiden Kontrahentinnen – nicht wirklich spannend. Edoardo Villa ist eher ein uneleganter Alfredo denn ein Mylio, timbremässig irgendwie fremd und rauh. Jean-Paul Courtis habe ich stets wegen seines balsamischen Tmbres geliebt (und viele Male in Frankreich und Liège gehört), und das ist hier bei dem König falsch. Marcel Vanaud war ein sehr vielseitiger Bariton, und auch ihn habe ich oft erlebt, sein Carnac ist robust und rollenfüllend. Aber die Mädels …

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Lalos „Roi d´Ys“: Szene zu Akt 2/Victrola Book of Opera/BNF Gallica

Das war´s eigentlich an offiziellen/Studio-Aufnahmen. Der Rest sind Live-Mitschnitte, von denen der jüngste „offizielle“ ein Soundtrack der DVD aus Liége 2009 bei Dynamic ist. Sébastien Guéze hat mich woanders in lyrischen Partien (Werther, Priester in Salammbo) beeindruckt, als Mylio bleibt er blass (ich red´ mal nur von der akustischen Seite). Giuseppina Piunti ist eine tapfere, erfahrene Zwischenfach-Sängerin einer Verdi-Leonora oder Aida, und ihre Margared klingt nicht unrecht, aber auch unspezifisch italienisch. Guylaine Girard war mir unbekannt und macht einen guten Eindruck – sie ist nationalsprachig, das ist´s wohl. Mit dem gestandenen Léonard Graus, dazu sehr tapfer Werner van Mechelen und anderen ist dies unter Patrick Davin ein schöner Abend in der Wallonie. Klanglich etwas dumpf.

Auf dem mir unbekannten Label Ornamenti gibt es eine Mittelklasse-Übernahme mit Inva Mula (in diesem Fach in Frankreich sehr vertreten und vielseitig), Sophie Koch (für die Margared viel zu höflich), Charles Castronuovo (stramm und engagiert) unter Yves Abel aus Toulouse 2007, soso in der gesanglichen Wirkung und toll dirigiert.

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Lalos „Roi d´Ys“: Szene zu Akt 3/Victrola Book of Opera/BNF Gallica

Radioaufnahmen: Die älteste  dokumentierte Aufnahme gibt es bei youtube und Malibran zu hören: Désiré-Émile Inghelbrecht dirigiert die Aufführung mit Germaine Cernay, Gaston Micheletti, Ginette Guillamat und Georges Ravoux   aus Marseille, die 1943 für den Rundfunk aufgenommen wurde. Die Sopranistin Ginette Guillamat, die die Rolle der Rozenn sang, erinnert sich, dass am Tag vor der Aufnahme französische Widerstandskämpfer in Marseille einen deutschen Offizier getötet hatten. Als Vergeltungsmaßnahme verhängten die deutschen Besatzungsbehörden eine Ausgangssperre für die Bevölkerung. Da die Solisten und das Orchester nach einer nächtlichen Aufführung nicht nach Hause zurückkehren konnten, wurde beschlossen, die Oper am Nachmittag auf Acetatplatten aufzunehmen, die dann nachts eingespielt werden sollten. Aus diesem Grund ist diese Aufführung erhalten geblieben. Die Aufnahme soll übrigens aus der persönlichen Kopie von Mme. Guillamat stammen. Die Besetzung wird im Vorspann genannt. (Die Ouvertüre und Szene 2 des zweiten Aktes wurden aufgeführt, aber die Aufnahme ist nicht erhalten geblieben).

1986 gab es eine Aufführung in Avignon mit Vanzo und der bemerkenswerten Michele Vilma. Dazu kamen Marion Sylveste, der alte Pierre Thau und immerhin schon der aufsteigende Alain Fondary. Beim Massenet-Festival in Saint-Etienne sah ich Lalo 2007 mit der als Rozenn dünnen Nathalie Manfrino unter Laurent Campellone. Nora Javakhize blieb als Margared eher laut als erfüllend und verschwand danach. Florian Lanconi und Olivier Grand bestreiten nicht nachhaltig die Herrenpartien. Aber ich hatte zumindest die Gelegenheit, das Werk live zu erleben. Saint-Etienne war immer eine Reise wert.

Sehr historisch wird’s noch einmal 1963 mit Cerani, Guillamat und Micheletti bei Radio France, ebenso 1954 mit Boué, Macaud und Noré, dto., zudem stark gekürzt.

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Die eigentlichen Goodies kommen nun: 1967 singt meine große Liebe Andrée Esposito die Rozenn neben Berthe Monmart (Margared, die sang auch Fidelio und Brünnhilden), José Liccioni, Espsitos Ehemann Julien Haas (Karnac) und Jacques Mars unter Maurice Suzan beim französischen Rundfunk – mannomann, ist da was los (Musidisc). Diese Stimmen eben füllen Anforderungen und Rollen beispielhaft aus. Zum Niederknien.

Und dann sind da Alain Vanzo, Robert Massard (ahhhh,  quelle voix), Pierre Thau, Jules Bastin, Andréa Guiot und natürlich die unvergleichliche Jane Rhodes als CD-sprengende Rozenn, 1973 beim französischen Radio und in auch bestem Radio-Sound (Musidisc). Dies ist die Aufnahme für die einsame Insel. Auf die Kunst Vanzos, aus seiner nicht großformatigen Tenorstimme alles Nötige herauszuholen bei Bedarf verwies ich ja bereits, aber seine Kollegen um ihn herum machen die Aufnahme zum Fest. Ob nun ohne scheinbare Limits die immer fulminante Jane Rhodes als Margared (da bebt der Saal) oder leuchtend und doch keusch-französisch die leistungsfähige Guiot, ob die Herrenriege, angeführt von dem bedrohlich-charaktervollen (und dazu schönstimmigen) Massard: noch 1973 war es einfacher, diese Partien entsprechend zu besetzen. Dazu Pierre Dervaux am Pult auch des fabelhaften Radiochores unter Renée Alix – einfach super (ehemals Gala und andere Graue).

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Der Schlager der Oper, die berühmte Aubade des Mylio, fand die Liebe von vielen Tenören, von Richard Crooks, J. Rogatchevky, André D´Arkor, Beniamino Gigli, Caruso, Maurice Muratore, José De Trevi, sogar Nellie Melba bis hin zu modernen. Und auch populäre Sänger wie Tino Rossi waren mit der Aubade vertreten.

Als Kuriosum sei noch eine Bearbeitung von Frank Wright für Brass-Band bei Paxton angemerkt. Major G. H. Willcocks 1960 dirigiert die Black Dyke Mills Band, was es alles gab.

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Und nun  Alexandre Dratwicki zur Entstehung der Oper und zum Werk selbst:  Bedauernswert ist der arme Édouard Lalo, der mehr als ein Jahrzehnt warten musste, bevor er seine Oper Le Roi d’Ys hören konnte, die heute neben der Symphonie espagnole und dem Cellokonzert als eines der Juwelen seines Oeuvres gilt. Die 1875 begonnene Partitur erlitt das gleiche Schicksal wie viele andere Werke dieser Zeit, in der sich der Wettbewerb zwischen den Komponisten der neuen französischen Schule verschärfte: Massenet, Godard, Massé, Reyer, Saint- Saëns, Chabrier, Delibes und andere. Viele von ihnen mussten warten, sich für eine Premiere in Brüssel oder Monaco eine Gelegenheit bot, um ihre Musik zu hören, oder sie gaben ihre Bemühungen einfach auf.

Der Musikwissenschaftler und Prinzipal des Palazetto, Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru zane)

Das Libretto von Édouard Blau basiert auf einer bretonischen Legende, deren Ursprünge so weit zurückreichen, dass seit dem 18. Jahrhundert sehr unterschiedliche Versionen davon existieren. Die dem Pariser Publikum in den 1880er Jahren am bekanntesten erzählt von dem Mord an Dahut durch ihren Vater, König Gradlon, der sie in die tosenden Fluten wirft, um sein eigenes Leben zu retten, während sie auf Pferden aus der Stadt Ys fliehen, die zusammen mit ihren Einwohnern in den wütenden Wellen versinkt. Je nach Fassung ist es entweder der Heilige Gwennolé oder der Heilige Corentin, der sich den bösen Mächten entgegenstellt, die die Stadt bedrohen. Die Legende vom König von Ys wurde auch von einem Gemälde von Évariste-Vital Luminais wiederbelebt, das im Pariser Salon von 1884 (also zwischen dem Zeitpunkt, als Lalo mit der Komposition der Partitur begann, und ihrer Uraufführung 1888) für Aufsehen sorgte. Das großformatige Gemälde zeigt den Moment, in dem der flüchtende König seine Tochter ins Meer fallen lässt.

Das Publikum war beeindruckt von Blaus Darstellung der verzweifelten Bewegungen Dahuts, als sie sich an ihren Vater klammert, während das wilde Aufbäumen der Pferde die Gischt der bedrohlichen Wellen hochpeitscht. Wahrscheinlich aus Gründen der Klangfülle wird in Lalos Oper „Dahut“ zu „Margared“, „Corentin“ wird ‚Gwennolé‘ vorgezogen und ‚Gradlon‘ wird nur als ‚le Roi‘ bezeichnet.

Nachdem die Oper 1878 für das Programm des Théâtre Lyrique angenommen und dann wieder zurückgezogen worden war, wurde Le Roi d’Ys eine Zeit lang für die Pariser Opéra in Betracht gezogen, bevor sie 1879 abgelehnt wurde. Vielleicht würde Lalo heute zustimmen, dass diese Verzögerungen ein Glücksfall waren. Denn sie gaben ihm viel Zeit, seine Oper reifen zu lassen und vorteilhafte Änderungen vorzunehmen, insbesondere in der letzten Arbeitsphase im Jahr 1886. Die Uraufführung am 7. Mai 1888 durch die Opéra-Comique  „extra muros“ (nach dem Brand, der 1887 die Salle Favart zerstört hatte) präsentierte eine radikal veränderte Partitur. Ein Journalist schrieb, dass sie ursprünglich „vier Akte und ein Ballett“ umfasste, bevor sie komplett „überarbeitet“ worden (Le XIXe Siècle, 3. Mai 1888).

Lalo ging so rigoros vor, das, was er als ‚Längen‘ oder ‚obligatorische‘ Ziernummern betrachtete, herauszuschneiden, dass am Ende nicht einmal mehr zwei Stunden Musik übrig blieben. Hundert Aufführungen im Jahr nach der Premiere sind ein ausreichender Beweis für den Erfolg dieser endgültigen Fassung. Vergleicht man die veröffentlichte vollständige Partitur mit der wahrscheinlich später entstandenen Vokalpartitur, zeugen zahlreiche Abweichungen im Text und in den Gesangsstimmen von diesen zehn Jahren des Zweifelns und Umschreibens.

In diesem Jahrzehnt gelang es Lalo, mehrere Auszüge aus dem Werk in Konzerten aufführen zu lassen. Insbesondere die Ouvertüre war ab Mitte der 1870er Jahre ein Favorit in französischen Orchesterkonzerten und wurde zu einer festen Größe im Repertoire der großen Orchester. Nach dem Prinzip des Potpourri aufgebaut, bot sie dem Publikum die Möglichkeit, die attraktivsten Melodien des Werks zu entdecken. Le Roi d’Ys war auch durch Margareds Arie bekannt, die die Altistin Julie de Marigny – die Frau des Komponisten – bei jeder sich bietenden Gelegenheit sang. Möglicherweise war es auch für sie, dass Lalo die beiden Sopranarien der Partitur, die normalerweise Rozenn zugewiesen waren, transponierte, damit seine Frau sie als eigenständige Soli in den Salons oder bei Sinfoniekonzerten singen konnte. Die Bibliothèque de l’Opéra in Paris bewahrt die Manuskripte dieser Transpositionen auf. Leider scheint es unmöglich, die bei der Überarbeitung herausgeschnittenen Musikabschnitte zu finden.

Das Werk enthielt wahrscheinlich eine große Arie für Karnac, eine weitere für den König, und möglicherweise eine Konfrontation zwischen Mylio und dem rebellischen Prinzen oder zwischen Margared und Mylio. Die Presse erwähnt – ohne Beweise – dass für den Anfang des zweiten Aktes ein ganzes Tableau geplant war, das Karnacs Armee zeigt, wie sie vom Heiligen Corentin in Stein verwandelt wird. In diesem Fall wäre der Siegeschor, der nun den Akt einleitet, nur das verkürzte Finale der fraglichen Szene. Die Ouvertüre, die die die Motive des Werkes vorstellt, deutet auf die Stretta des Duetts für Margared und Karnac im dritten Akt hin. Denn als die beiden Protagonisten den Vorplatz der Kapelle verlassen, in der die verhasste Hochzeit stattfindet, präsentiert das Orchester ein stürmisches Motiv, das das Ohr schon einmal gehört hat. Es ist jenes, das zu Beginn des Allegro der Ouvertüre erklingt, wo es sich durch äußerst gelungene melodische Erweiterungen auszeichnet und durchaus die ursprüngliche Musik für dieses Duett sein könnte, die später aus dramaturgischen Gründen gekürzt wurde. Nur eine wesentliche Änderung findet sich in der Autographen-Handschrift der Bibliothèque Nationale de France: Sie betrifft Änderungen an der Konfrontation zwischen Rozenn und Margared am Ende des ersten Tableaus des zweiten Aktes. Das ursprüngliche Libretto sah vor, dass der König und Mylio Margareds Schmähungen miterleben und sie verfluchen, während Rozenn sich zwischen die beiden Gruppen stellt und mit ihrem Arioso „Que ta justice fasse taire la plainte de ton coeur brisé“ die Gemüter zu beruhigen versucht.

Dies macht es leichter, einige von Margareds Zeilen zu verstehen, die sich direkt an den Mann richten, den sie liebt, und nicht an ihre Schwester: „Pars! Mylio, c’est là mon voeu suprême! / Pars! pour ne plus revenir!‘.

Eine letzte Frage stellt sich: Hatte Lalo wirklich ein „bretonisches“ Ballett für die Opéra im Sinn, als das Werk 1879 für diesen Veranstaltungsort in Betracht gezogen wurde? Zumindest wissen wir aus Beschreibungen der Inszenierung von 1888, dass die Hochzeitsszene im dritten Akt teilweise choreografiert war, wahrscheinlich zu der Musik, mit der die Feierlichkeiten beginnen, die die Feierlichkeiten einleitet (Noce bretonne).

Wo wir gerade dabei sind: In welcher Beziehung stand Lalo in seiner Partitur zur bretonischen Folklore? Die Vokalpartitur weist einige direkte Anleihen aus traditionellen Melodien auf, insbesondere das Lied, das Rozenn Mylio nach seiner Aubade im ersten Tableau des dritten Aktes singt. Weniger sicher ist, dass die drei aufeinanderfolgenden Refrains, die den ersten Akt eröffnen, echte bretonische Melodien sind, aber jede von ihnen besitzt einen unverwechselbaren Charakter dank einiger auffälliger rhythmischer Details, darunter stark akzentuierte offbeats. Es sei daran erinnert, dass Lalo ein enger Freund des Komponisten und Musikschriftstellers Louis Albert Bourgault-Ducoudray war, der nach einer zweimonatigen Reise in die Bretagne im Sommer 1881 eine Sammlung von Trente Mélodies populaires de Basse-Bretagne bei Lemoine veröffentlichte.

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Lalos „Roi d´Ys“: Schluss-Szene/Presse-Illustration/BNF Gallica

Es wird gesagt, der Komponist sei ein überzeugter Wagnerianer gewesen. Obwohl Le Roi d’Ys den Einfluss des Bayreuther Meisters andeutet, offenbart es auch Lalo’s sehr persönliche Auffassung von Wagner. Zwar ist der Gesamtdiskurs kontinuierlich, aber das freie Rezitativ nimmt nicht mehr Raum ein als die formalen Nummern:  Chöre, Arien, Duette, Quartette. Lalo bestritt jeglichen Wunsch, mit der alten Form zu brechen, außer dass er versucht habe, den dramatischen Verlauf zu beschleunigen.

Dies erklärte er in einem Brief an den Kritiker Adolphe Jullien im Mai 1888: Ich habe eine einfache Oper geschrieben [un simple opéra] – wie der Titel meiner Partitur; diese elastische Form erlaubt es noch, Musik zu schreiben, ohne seine Vorgänger zu pastichieren, so wie Brahms Symphonien und Kammermusik in der alten Form schrieb, ohne Beethoven zu pastichieren. Bei der Rekonstruktion von Le Roi d’Ys habe ich bewusst sehr kurze Formen verwendet: Der Vorteil, den ich mir davon versprach, war, die dramatische Handlung zu beschleunigen, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht zu ermüden; der Nachteil ist der, den Sie ansprechen – die Verkürzung der Musik. Sie kennen meine Kammermusik und wissen, dass ich ein Thema mit seinen Motiven entwickeln kann; in Le Roi d’Ys habe ich bewusst das Gegenteil getan: Ich habe systematisch jede Entwicklung des Themas weggelassen, um die Handlung auf der Bühne niemals zu verlangsamen. Ich versuche nicht, dies zu rechtfertigen; ich gebe Ihnen eine Erklärung.

Ein weiteres Thema in der Pariser Presse war das deutsche Leitmotiv, ein typisch wagnerianisches Stilmittel, das Lalo zugunsten der seit langem etablierten französischen Technik des Motif de rappel (Erinnerungs-Motiv) verworfen hatte. Letzteres wird ohne wirkliche melodische oder harmonische Veränderung präsentiert und somit ohne Veränderung des emotionalen Inhalts. Unter den Motiven, die der Zuhörer leicht erkennen kann, ist das ansprechendste ein melodisches Muster aus sieben regelmäßigen Noten, das Rozenns zarte Natur symbolisiert und zu Beginn des Duetts im ersten Akt erklingt. Es kehrt dann regelmäßig wieder und hüllt die Heldin schließlich in einen orchestralen Heiligenschein, der ihrem Arioso im zweiten Akt („Que ta justice fasse taire…“) eine fast mystische Farbe verleiht.

Lalos „Roi d´Ys“: Poster für die Uraufführung 1888 von Francois-Marie Gourget/BNF Gallica

Angesichts dieser moralisch untadeligen Jungfrau wird die wilde Margared von zwei gegensätzlichen musikalischen Stilen begleitet. Der erste ist eine lange, heftige Melodie, die den unbändigen Drang zum Ausdruck bringt, der ihr Herz zu Mylio zieht.  Dieses Thema untermalt die Worte ihrer großen Arie „Lorsque je t’ai vu soudain reparaître, / Vivant et superbe ainsi qu’autrefois“. Die empörte Prinzessin ist jedoch vor allem an der „abgehackten“ Begleitung erkennbar, die ihren ersten Auftritt kennzeichnet und die Lalo anschließend bei allen ihren Einsätzen beibehält. Fortissimo-Ausbrüche des Orchesters untermalen ihre kämpferischen Phrasen und wechseln sich ab mit einer Begleitfigur, deren ungleichmäßiger Rhythmus (zwei Sechzehntel und eine Achtel), der in den Kontrabässen dröhnt, mit der Gesangslinie kollidiert.

Mylio seinerseits wird zunächst mit einer zarten Melodie in Verbindung gebracht, die er seiner Geliebten ins Ohr flüstert („Si le ciel est plein de flammes, Ô Rozenn…“). Diese Phrase ist zu Beginn der Ouvertüre zu hören, gespielt von der Solo-Klarinette, und wird dann in identischer Form zu Beginn des zweiten Aktes wiederholt, als wolle sie Margareds Wut wecken, die bald darauf wirklich explodieren wird. Als Kontrapunkt zu dieser zarten Vokalisation erhält Mylio auch eine kämpferische Phrase, die martialischste der Oper: „Et les croyants sont les forts“, ruft er aus, als wolle er sich selbst Kampfgeist einflößen. Das Thema wandert vom Orchester (Ouvertüre und Vorspiel zum zweiten Bild des zweiten Aktes) zum Chor und zum Trio der „guten“ Figuren (Mylio, Rozenn und der König). Es sind keine Änderungen erforderlich, um die Spannung und Kraft dieses bestens  gewählten heroischen Motivs zu bewahren.

Weder Karnac noch der König noch der Heilige Corentin haben ein eigenes musikalisches Thema, vielleicht weil sie weniger introspektive persönliche Gefühle als vielmehr universelle Haltungen repräsentieren, nämlich Kriegslust, Religiosität und Politik.

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Lalos Orchester besticht durch das erstaunliche Fehlen einer Reihe von Instrumenten: keine Harfe, kein Englischhorn: Farben, die seit Berlioz charakteristisch für die französische Musik waren.

Ein weiteres Opfer der vielen Überarbeitungen ist die Glocke, die die Hochzeitsszene im dritten Akt untermalen sollte: Sie ist in der Orchesterpartitur deutlich markiert (und nicht durchgestrichen) und erscheint auch teilweise als Stichwort in der Gesangspartitur. Doch die separate Stimme fehlt im Orchestermaterial… Die Rekonstruktion in unserer Aufnahme ist also ist der erste belegte Nachweis auf Tonträger für den von Lalo beabsichtigten Effekt. Eine weitere Bemerkung betrifft die Tuba, die in der Ouvertüre zu hören ist, aber ab der ersten Szene für den Rest der Oper plötzlich zu einem Ophikleiden wechselt (ein historisches Blechblasinstrument aus der Familie der Klappenhörner, mit Klappen und nach oben gerichtetem Schalltrichter). Man könnte vermuten, dass die klangvollere Tuba ideal für separate Konzertaufführungen der Ouvertüre war und dass der Verleger – der bei der Veröffentlichung der vollständigen Stimmen der Oper wiederverwendete, dieses Detail entweder nicht bemerkt oder für unwichtig hielt. In jedem Fall handelt es sich um eine Kuriosität, die in keiner anderen Oper dieser Zeit zu finden ist.

Ausgehend von einer traditionellen instrumentalen Grundlage entwickelte der Komponist Farben und dynamische Kontraste, die zuvor nur selten verwendet worden waren. Dies ist einer der Punkte, der von allen Kritikern hervorgehoben und der selbst von den progressivsten unter ihnen am wenigsten verstanden und akzeptiert wird.

Im Allgemeinen, getrieben von dem Wunsch, den Text von jeder musikalischen Komplikation zu befreien, konzipierte Lalo einen orchestralen Stil, der eher eine Frage der Interpunktion als einer dicht gewebten Melodienstruktur war. Dennoch erfordern die Chöre, die Finales und die Zusammenfassung der Ensembles einen Einsatz des gesamten Orchesters. Ebenso wie die Flutwelle am Ende der Oper: ein Phänomen, das in der Musik so schwer zu vermitteln ist, dass es zumindest eine ungewöhnlich überwältigende Klanggewalt erfordert. Die Presse beklagte das Ungleichgewicht zwischen den Blech- und Streichersätzen, da sie den Komponisten als geschickten „Symphonisten“ betrachtete. Lalo erklärte dies auch Adolphe Jullien: Ebenso für die Klänge, die Ihnen missfallen, hier ist meine Erklärung: Seit fünfundzwanzig Jahren bin ich an unsere Symphonieorchester gewöhnt, in denen die große Streicherbesetzung mir immer ein Gegengewicht zu den Klängen der Blechbläser geboten hat, und es kam mir nicht in den Sinn, dass ich im Theater völlig andere Bedingungen vorfinden würde: dünne Streicher aufgrund ihrer geringen Anzahl neben der gleichen Besetzung der Blechbläser. Dabei hätte mir das Beispiel Wagners als Lehre dienen müssen: Wenn ich Wagners extravagante Klänge in Sinfoniekonzerten höre, gefallen sie mir, weil die große Masse der Streicher sie im Gleichgewicht hält, aber dieselben Stücke, die ich in allen Theatern Deutschlands gehört habe (außer in Bayreuth, wo die Balance offenbar perfekt ist), haben mir überall dieselbe unangenehme Überraschung bereitet: die Brutalität der Blechbläser gegenüber der Unzulänglichkeit der unzureichenden Streicherbesetzung. […] Die Wahrheit ist, dass ich vor fünfundzwanzig Jahren im Theater Misserfolge hätte erleben müssen, um allmählich die Erfahrung zu sammeln, die ich in der Orchestermusik durch Hören und mich jedes Jahr korrigieren, erworben habe.

Lalos „Roi d´Ys“: Reklame-Bildchen/Beilage/BNF Gallica

Was können wir aus der frustrierenden Entstehungs-Geschichte von Le Roi d’Ys lernen? Vielleicht schlummern noch andere, weniger vom  Glück begünstigte Meisterwerke in öffentlichen oder Familienarchiven und warten nur darauf, einem Publium präsentiert zu werden. Wenn ja, würden sie beweisen, dass Louis Paravey, der Direktor der Opéra-Comique im Jahr 1888, mit seiner Einschätzung Recht hatte: Ich würde behaupten, dass es heute keinen Mangel an Komponisten gibt. Es gibt sicher zehn Carmens in den Schubladen der Entmutigten! (in Gil Blas, 9. Mai 1888). Alexandre Dratwicki/Übers. Christa Baumann

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Édouard Lalo (1823-1892). Le roi d’Ys, opéra en trois actes et cinq tableaux sur un livret d’Édouard Blau, d’après une légende bretonne. Uraufführung: 7.5.1888 Paris, Opéra Comique (Salle du Chatelet).
mit Blanche Deschamps-Jehin, Cécile Simonnet, Jean-Alexandre Talazac, Max Bouvet, Jean-Henri-Arthur Cobalet, René Fournets,
Dirig. Jules Danbé

Pazzetto Bru Zane: Judith van Wanroij, soprano (Rozenn) ; Kate Aldrich, mezzo-soprano (Margared) ; Cyrille Dubois, ténor (Mylio) ; Jérôme Boutillier, baryton (Karnac) ; Nicolas Courjal, basse (Le Roi) ; Christian Helmer, (Jahel / Saint Corentin). Hungarian National Choir. Hungarian National Philharmonic Orchestra, direction : György Vashegyi. BZ 1060 2 CD Bru Zane. Enregistrés du 9 au 11 janvier 2024 au Béla Bartók National Concert Hall du Müpa Budapest.

A la francaise

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Anna Gottlieb, die erste Pamina in der Zauberflöte, war bei der Uraufführung siebzehn. Eine neue Einspielung der Oper von Wolfgang Amadeus Mozart folgt genau diesem Vorbild. In einem Auswahlverfahren wurde sie gefunden. Ihr Name: Ruth Williams. Sie stammt wie das von Martin Wåhlberg geleiteten Trondheimer Orkester Nord aus Norwegen. Den Chor stellt das Vokalensemble Vox Nidrosiensis, das auch mit Bach-Kantaten in Erscheinung getreten ist. Aufgenommen wurde in der katholischen Kirche Saint-Michel der mittelfranzösischen Gemeinde Pontaumur. Der Dirigent schließt damit eine der französischen Opéra-comique gewidmeten Aufnahmeserie mit seinem Ensemble ab. In deren Tradition sieht er auch die Zauberflöte. Deshalb wurde entschieden, den meist drastisch gekürzten Sprechtext des Librettos von Emanuel Schikaneder komplette einzuspielen. Figuren wie Sarastro treten dadurch deutlicher und auch zwiespältiger hervor. Wer mitlesen will, wird im Boooklet mehrsprachig fündig. An der bei Aparte erschienen Ausgabe (AP367) in Buchformat wurde nicht gespart wurde.

Im erklärenden Vorwort, das entgegen den Angaben auf der Rückseite des Covers nur in Englisch und Französisch abgedruckt ist, kommt der Dirigent selbst zu Wort. Nach seiner Überzeugung ergebe Mozarts Musik nur dann ihren vollen Sinn, wenn sie als Teil des gesamten dramatischen Gefüges erlebt werde, aus dem sie hervorgehe. Hinweise oder Anhaltspunkte für die aktuelle musikalische Umsetzung hätten sich in verschiedenen Quellen gefunden. Bei den Vorarbeiten sei man schließlich auch auf das Aufführungsmaterial gestoßen, das nach Einschätzung von Wåhlberg selten erforscht worden sei und in keiner der Urtext-Ausgaben Berücksichtigung gefundene habe. Es stamme aus dem Archiv des Theaters auf der Wieden, dem Uraufführungshaus und offenbare faszinierende Informationen. Es gebe Markierungen, Phrasierungs- und Bogenangaben, die die Partitur detailliert beschreiben würden und auch Hinweise darauf, wo Pausen, Pizzicato-Spiel und die Balance der Instrumente zu beachten seien, so der Dirigent.

Bisher unveröffentlichte musikalische Fragmente wurden eingebaut. Am auffälligsten ist eine kurze Flötenfantasie während der Prüfung des Schweigens im zweiten Akt, die Tamino erfolgreich besteht (CD 2, Tr. 17). Im Ergebnis solcher Forschungen klingt in der an Verzierungen reichen neuen Aufnahme manches anders. Warum aber der ungenannt bleibende dritte Sklave, der seinen Peiniger Monostatos an den Galgen wünscht, schwäbelt, erklärt sich nicht. Es hört sich allerdings vergnüglich an, wenn er sagt: „Pamina, des reizende Mädl ischt enschprunge.“ Der Gag fällt umso mehr auf, als sich einige Solisten, mit ihren Dialogen in deutscher Sprache schwer tun. Wenn man sie denn vollständig bietet wie hier, hätte an der Aussprache gefeilt werden müssen. Das gilt allerdings nicht für den jetzt 36-jährigen schweizerischen Bariton Manuel Walser, der den Papageno gibt und auf dem Besetzungszettel des Booklets an erster Stelle erscheint. Diese ungewohnte Position – mag sie zufällig sein oder nicht – ist allemal durch Leistung unterfüttert. Gewandt in Wort und Musik zeichnet er ein in sich geschlossenes Porträt. Mit seinem einnehmendes Timbre und ist er von allen Mitwirkenden am besten zu verstehen. Für mich schafft der stimmlich und darstellerisch glänzend aufgelegte Walser gemeinsam mit dem Tamino von Angelo Pollak die gesanglichen Höhepunkte der Neuerscheinung. Bereits ihr erster gemeinsamer Auftritt gleich nach der Ouvertüre lässt erahnen, warum der Dirigent das Werk Mozarts in formaler Nähe zur Opéra-comique sieht. Pollak, der noch keine dreißig sein dürfte, schloss sein Masterstudium in Gesang erst 2019 ab. Zuvor war er an der Wiener Universität für Darstellende Kunst und Musik in ein Hochbegabten-Förderungsprogramm für Klavier und Violoncello aufgenommen worden. Gnädig hört man darüber hinweg, dass sich seine Stimme fast überschlägt, wenn er in jugendlicher Großspurigkeit dem zuvor nie gesehenen Sarastro mit geschwellter Brust entgegenschleudert: „Erzittre feiger Bösewicht.“

Dem folgenden Auftritt des Sprechers, der zu den ergreifenden Szenen der Oper zählt, weiß Eric Ander schlichte Würde zu verleihen. Der 32jährige Bastian Kohl dürfte einer der jüngsten, wenn nicht gar der jüngste Sarastro auf dem Musikmarkt sein. Er kommt nicht salbungsvoll daher, sondern mehr als Konkurrent von Tamino, der seine erotischen Begehrlichkeiten hinter priesterlichen Ritualen zu verberben weiß. Auch der in Mulhouse geborene Oliver Trommenschlager, der den Monostatos singt, befindet sich noch im Frühstadium seiner Karriere. Die Pamina von Ruth Williams, der für die Produktion ein Vocal-Coach zur Seite stand, hat es nicht leicht neben Kollegen, die bereits gut im Geschäft sind. Dennoch nötigt es Respekt ab, wie selbstbewusst sie die anspruchsvolle Aufgabe durchsteht.

Pauline Texier als Königin der Nacht folgt den hochdramatischen Erwartungen, die der gewaltige Donner bei ihrem ersten Erscheinen weckt, zunächst sehr verhalten, steigert sich aber im Verlauf ihrer ersten Arie immer mehr. International sind die drei Damen mit Julie Goussot, Natalie Perez und Alienor Feix besetzt, was man auch hört, weil sie in den Dialogen ihre eigenen Akzente einbringen und gelegentlich durch die gesprochenen Passagen radebrechen, was letztlich aber nicht sonderlich stört. Schließlich steht nirgendwo geschrieben, woher sie stammen. Auch der umtriebige Papageno, den sie mit Speis und Trank versorgen, weiß nicht, wer sie eigentlich sind. Ihm ist wichtig, dass er am Ende seine Papagena findet, die in Person von Solveig Bergersen stimmlich und darstellerisch vorzüglich zu ihm passt. Wie in fast jeder Einspielung der Zauberflöte wissen die drei Knaben Felix Hofbauer, Ludwig Meier-Meitinger und Benedikt Ebert für sich einzunehmen zu. Sie kommen aus dem Tölzer Knabenchor und agieren mit betont individuellen Stimmen und nicht als kollektives Neutrum. Der feierliche Gesang der beiden Geharnischten Kristoffer Emil Appel und Filip Eshetu Steinland gelingt ausgesprochen ergreifend.

Martin Wahlberg/Facebook

Überhaupt geht von der Aufnahme eine starke real-assoziative Wirkung aus. Da zwitschern Vögel, knarren Türen, läuten Glocken. Die virtuelle Bühne mit ihren eigenen Geräuschen ist allgegenwärtig. Martin Wåhlberg waltet an seinem Pult wie ein Musikregisseur, der die Zügel straff in seinen Händen hält, gleichzeitig aber den Eindruck zulässt, als sei manches dem Zufall überlassen und spontan aus der jeweiligen Situation geboren. Das gilt auch für die Tempi. Für das Publikum an den Lautsprechern kann die Aufnahme so zum reinsten Vergnügen werden, vorausgesetzt, es wird keine traditionelle Darbietung mit Stars der Opernbühne erwartet, die extra für eine Produktion anreisen. Vielleicht kommt ja Wåhlberg der Uraufführung von 1791 klanglich nahe. Auch, weil die meisten Solisten derselben noch jungen Generation angehören wie seinerzeit. Rüdiger Winter