Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Hocherfreulich

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Mit Sturmgeheule, Wellenschlagen und Krähenflug beginnt die Produktion von Verdis Macbeth in der Regie von Christoph Loy im Teatro Real von Barcelona und stimmen schon einmal, bevor die Musik beginnt, auf ein düsteres Geschehen ein. Bereits hier, wie auch noch an anderen Stellen liegen viele schöne, aber tote junge Männer am Boden, einer davon wird später immer wieder an der Seite Mabeths auftreten,  sogar im dankenswerterweise nicht gestrichenen Elfenballett ist ein solcher im Tutu zu bewundern, und auch ein Splitterfasernackter huscht aus welchem Grund auch immer verschämt über die Bühne. . Um gleich bei den Änderungen im Vergleich zu konventionellen Aufführungen zu bleiben: Nach „Pietà, rispetto, onore“ darf Macbeth noch die Schlussarie aus der ersten Fassung der Oper singen, dafür fällt die Übergabe der Krone an Malcolm weg, di in neueren Produktionen meistens deutlich zu verstehen gab, dass nun eine neue Tyrannei die vorherige ablösen würde. Eine weitere Änderung ist der Tod der Lady im Beisein des Gatten, der fürsorglich eine Decke über ihr ausbreitet, was dann die aus der entgegengesetzten Ecke mit „È morta la regina“ herbeieilende Dama  recht lächerlich wirken lässt. Aber so kleine Lapsus verzeiht man angesichts einer Inszenierung , die insgesamt den Geist des Stücks erfasst hat und wiederzugeben versteht. Dazu passt auch die hochschwangere Lady Macduff, die ein Giftblick der Lady Macbeth beim Bankett streift, die Protagonisten erst in dunkler, dann weißer Haarpracht,  weniger der Sohn Bancos, der alt genug erscheint,  sich in die Schar schöner junger Männer einreihen zu können, oder der Geist Bancos (?) in Pumps und Röckchen. Eine Choristin, die aussieht wie eine junge Lady Macbeth, regt zum Nachdenken über die noch unbefleckte Vergangenheit des Paares an. Die Produktion stammt aus dem Jahr 2016 und frönt offensichtlich der Idee der sexuellen Vielfalt. Identisch sind Hexen und Dienstpersonal, das seine Bärte auf weiblichen Gesichtern auch beim Bankett beibehält und recht naturalistisch seine Zaubersuppe zubereitet.  Das alles erzeugt genau die Stimmung, die sich Verdi und sein Librettist vorgestellt haben könnten, so wie auch die wie ein Schwarz-weiß-Film gehaltene Szene (Jonas Dahlberg) und die Kostüme (Ursula Renzenbrink), die für die Lady äußerst attraktiv sind. Die Strenge und Kühle, die Loys Produktionen oft ausstrahlen, passt sehr gut zum Stück und zur Musik.

Ein hervorragender Macbeth ist der französische Bariton Ludovic Tezier mit farbenprächtiger, geschmeidiger Stimme, großzügiger Phrasierung und reicher Agogik. Die Regie sieht ihn als von Anfang an Verstörten, Schwermütigen, eher lieber Untätigen. Seinetwegen freut man sich über die Zugabe aus der ersten Fassung der Oper, auch wenn Verdi wusste, warum er diese ersetzte. Der auf der Bühne recht rabiate, düster dräuende  Banco von Vitalij Kowaljow hat die notwendige Bassschwärze  und Durchschlagskraft für seine beiden Arien. Inzwischen hat sich der Tenor von Saimir Pirgu, der den Macduff singt, weiter entwickelt. In der vorliegenden Aufführung klingt er recht hell, seine Überzeugungskraft wird nicht dadurch erhöht, dass er sein „Dalla paterna mano“ von einem Spickzettel ablesen muss. Die begehrte lacrima nella voce hatte sich damals noch nicht entwickelt. Eine angenehme Dama ist Anna Puche, der Malcolm von Albert Casals hat wegen des Streichens des Schlusses nicht viel zu melden, markant äußert sich der Medico von David Sanchez, immer attraktiv bleibt Marc Canturri als Servo, Araldo und Assassino.

Und die Lady? Martina Serafin hat zwar nicht von Natur aus eine Lady-Stimme, bemüht sich aber mit wechselndem Erfolg um eine schneidende, scharfe Sopranstimme, die manchmal eher säuerlich klingt, aber auch Passagen schöner Herbheit aufweist, dem Brindisi wünschte man mehr Leichtigkeit, dem „La luce langue“ verleiht sie die angestrebte Dämonie, und dem „Una macchia“ eine nuancenreiche nachtwandlerische Sicherheit mit einem strahlenden hohen Ton aus dem Off.

Phantastisch ist der Chor, und „Patria oppressa“ ein Höhepunkt der Aufführung, Giampaolo Bisanti ist für die Italianità aus dem Orchestergraben zuständig und enttäuscht nicht. Alles in allem eine erfreuliche Aufnahme mit einigen Spitzenleistungen (C-Major 768804). Ingrid Wanja     

Letzte Hommage an Paris

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Das Drama lyrique Écho & Narcisse nach Ovids Metamorphosen entstand 1778 parallel zur Iphigénie en Tauride und kam ein Jahr später als Glucks letztes Werk für die Pariser Opéra zur Uraufführung. Im Stil einer Pastorale komponiert, fand es nur wenig Zustimmung beim Publikum, das dieses Genre nicht mehr akzeptieren wollte und echte Tragödien bevorzugte.

Das Label Château de VERSAILLES bringt nun eine im Oktober 2022 in Versailles entstandene Aufnahme auf zwei CDs (CVS 095) heraus, die heutigen Hörern ermöglicht, sich   ein eigenes Urteil über Glucks finales Opernwerk zu bilden. Mit der Nymphe Écho, die das letzte Wort, welches sie hört, endlos wiederholt, und dem stolzen Narcisse, der dazu verurteilt ist, sein eigenes Spiegelbild zu lieben, stehen zwei barocke Mythen im Zentrum des Geschehens.

Adriana Gonzáles, als Figaro-Contessa in Salzburg gefeiert, ist das Écho mit feinem, empfindsamem Sopran. Mit ihren vielen Airs dominiert sie den gesamten 1. Akt.

Cyrille Dubois, namhafter Tenor im barocken und französischen Repertoire, ist der Narcisse, der mit „Divinité des eaux“ gegen Ende des 1. Aktes einen zauberhaften Auftritt hat, den er mit träumerischer Stimme wahrnimmt. Auch die Airs im 2. und 3. Akt profitieren von seiner weichen, schmeichelnden Tongebung. Besonders das Lento „Beaux lieux“ im letzten Akt mit der Stimme der Geliebten als Echo berührt durch seinen flehentlichen Ausdruck.

Myriam Leblanc als lieblicher Amour fällt mit dem Air „Riens dans la nature“ das erste und mit der Hymne „Le Dieu de Paphos“ das letzte Solo zu, womit der Gott die Liebenden wieder glücklich zusammen führt.

Mehrere Nymphen und Waldwesen komplettieren solide die Besetzung: Sahy Ratia als Cynire, Cécile Achille als Églé, Adèle Cartier als Aglaé, Laura Jarrell als Thanais und Lucie Edel als Sylphie. Sie sorgen für italienisch anmutende Leichtigkeit. Im Quatuor „Ô chère et tendre amie“ zu Beginn des 2. Aktes haben die vier Nymphen einen tröstenden Gesang von bezaubernder Anmut.

Das mit dem französischen Idiom bestens vertraute Le Concert Spirituel musiziert unter seinem Gründer Hervé Niquet mit pastoraler Heiterkeit und delikaten Finessen. Wie stets bei diesem noblen Label ist der Ausgabe ein mehrsprachiges, informatives Booklet beigefügt, welches den Wert der wichtigen Veröffentlichung noch erhöht (01.05.25/Foto oben:  Narcissus und Echo Barockgarten Großsednitz/ Bildhauer Johann Benjamin Thomaes/Foto Bernd Gross Wikipedia). Bernd Hoppe

Neuer Stern am Counter-Himmel

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Der Italiener Carlo Vistoli ist ein neuer Exklusivkünstler bei harmonia mundi france. Für sein erstes Album bei der Firma versicherte er sich der Mitwirkung der renommierten Akademie für Alte Musik Berlin. Die deutsche Hauptstadt ist für den Countertenor eine Stätte des Erfolges, denn sein Orfeo in Damiano Michielettos Inszenierung der Gluckschen Azione teatrale an der Komischen Oper wurde als Sensation gefeiert.

Das Programm der CD Sacro Furore (HMM 902383), die im Juli 2023 in Berlin aufgenommen wurde, umfasst drei sakrale Werke von Antonio Vivaldi, von denen das Stabat Mater das bekannteste ist. Es wird eingerahmt von der Kantate Nisi Dominus und der Motette In furore lustissimae irae. Erstere bringt in neun Sätzen reiche Abwechslung zwischen schwungvollen und sanften Abschnitten. Sie bietet Vistoli Gelegenheit, seine farbige Stimme und das reiche Ausdrucksspektrum zu demonstrieren. Kein Couinter der aktuellen Alte Musik-Szene besitzt ein derart ausgeglichenes und angenehm zu hörendes Organ. Gleich der brillante Eingangssatz, welcher dem Stück den Titel verlieh, und das  folgende „Vanum est vobis“ sind ein starker Kontrast. Eine Komposition von geradezu magischer Wirkung ist „Cum dederit“ mit ihrer suggestiven Schilderung des Schlafes. Von pochenden, fast unhörbaren Akkorden eingeleitet, steigert sich die Musik zu tranceartiger Wirkung, denn der Sänger lässt seine Stimme  in betörender Schönheit schweben. Nie wirkt sie angestrengt oder bemüht, behält stets ihre Rundung und den schmeichelnden Wohllaut. Danach gibt es wieder einen Stimmungswechsel bei „Sicut sagittae“, wenn die Streicher fliegende Pfeile imitieren. Hier hört man Vistoli mit energischem Nachdruck – ohnehin verliert seine Stimme nie ihre maskuline Eigenart.

Affektreich kommt der Schluss des Programms daher, denn in furioser Manier schildert die Singstimme in der Motette In furore lustissimae irae die Schrecken des jüngsten Gerichts. Mit düsterer Stimmung und fulminanten Koloraturläufen sorgt Vivaldi für ein plastisches Abbild des Geschehens und Vistoli setzt die Vorgabe mit dramatischem Aplomb und bravouröser Attacke im finalen „Alleluia“ packend um.

Im Zentrum der Anthologie steht das 1712 für eine Kirche in Brescia komponierte Stabat Mater. Es ist Vivaldis frühestes sakrales Werk und schildert den Schmerz der Gottesmutter Maria beim Anblick ihres gekreuzigten Jesu. Die neun Sätze  sind durchweg in getragenem Duktus und in der Moll-Tonart verfasst, enthalten an Seufzer erinnernde Akkorde. Vistoli interpretiert das Stück sehr eindringlich mit ernstem, berührendem Ton.

Die Akademie für Alte Musik Berlin musiziert unter ihrem Konzertmeister Georg Kallweit Affekt geladen und hat in drei Konzertstücken auch Gelegenheit für orchestralen Glanz. Das Concerto für Streicher in g-Moll imponiert vor allem durch seinen letzten Satz, Allegro, der wie ein Wirbelsturm vorüber fegt. Die Sinfonia h-Moll „Al Santo Sepolcro“, die nicht im Konzert erklingen soll, sondern im Rahmen eines Gottesdienstes während der Karwoche, besteht aus nur zwei Sätzen – einer langsamen Einleitung (Adagio molto) und einer schnellen Fuge (Allegro ma poco). Auch das Concerto „Madrigalesco“ in d-Moll ist im Stil ernst und dem liturgischen Bereich zugehörig. Solist und Orchester brillieren auf diesem Album, das für Carlo Vistoli ein gelungenes Debüt bei harmonia mundi markiert. Bernd Hoppe

Peter Seiffert

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Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war Peter Seiffert (*4. Januar 1954 in Düsseldorf; † 14. April 2025 in SchleedorfÖsterreich) einer der weltweit umjubelten deutschen Tenöre. Gefeiert wurde er als Lohengrin, Stolzing, Bacchus, Tannhäuser, Tristan und in vielen weiteren Partien. Seine klangschöne, intensive und strahlende Stimme vereinte Metall und lyrische Emphase. Er stand in der Tradition der großen Sänger des vergangenen Jahrhunderts wie Franz Völker, Peter Anders und Fritz Wunderlich.

Einen seiner letzten international im Fernsehen ausgestrahlten Erfolge feierte er 2017 als Siegmund in der Walküre unter Christian Thielemann in Salzburg. Seinen Rang und seine Bedeutung für das deutsche Tenorfach belegen eine Vielzahl von Gesamtaufnahmen, Arienportraits sowie Konzertaufnahmen auf CD und DVD.

Sein Ideal war es, seine Höhe mit einem männlichen Tenorklang zu verbinden und immer die Bedeutung der Musik wiederzugeben. Kennzeichnend für ihn waren heldische Farbe und Metall in der Stimme. Auch das Hören von Platten von Peter Anders, Giuseppe di Stefano und vielen anderen hat ihn geprägt. Dabei wollte er Andere nicht imitieren, sondern lernen, Fehler zu erkennen und einen Weg zu finden, wie man Rollen stimmtechnisch, aber auch stilistisch gestaltet.

In Düsseldorf hat er zu Beginn den Marquis Chateauneuf in Lotzings Zar und Zimmerman, den Rodolfo in Boheme, den Hoffmann, und den Lensky gesungen. Zwei Jahre nach seinem Debut wurde er an die Deutschen Oper Berlin engagiert, wo er bis 1992 im Ensemble war. Mit der Rolle des Lohengrin kam er an der Deutschen Oper in das Wagner-Fach. Strahlkraft und Poesie waren auch in dieser Rolle seine prägenden Eigenschaften. Bejubelt wurden auch als Parsifal in London und in Hamburg unter Ferdinand Leitner.

Seine spätere Frau Lucia Popp lernte er in München bei einer Produktion der Lustigen Weiber von Windsor kenne. Später war das Paar ein gesuchtes Duo in der Arabella.

Den Weg zur Weltkarriere bahnte eine Lohengrin Premiere in Berlin im Jahre 1990. Der damals renommierte Berliner Kritiker Klaus Geitel bezeichnete seine Darstellung als Weltereignis des Wagnergesangs. Wolfgang Wagner holte ihn dann nach Bayreuth, wo er von 1996 bis 2000 den Walter von Stolzing und von 2001 bis 2005 den Lohengrin gesungen hat.

Auf diese Rollen folgte der Tannhäuser. Durch seine flexible Stimme besaß er genug Metall für die Ensembles und konnte Romerzählung intensiv gestalten. Sein Geheimnis war, den Ton ausklingen lassen, winzige Schluchzer einbauen um dann die höheren Noten zu erreichen. Seine Töne klangen oft wie Sonnenstrahlen und bewundernswert waren seine gestützte und schlank klingende Tongebung und der große Atem. Ehrliches Singen und bei den Ensembles nicht tricksen war eines seiner Markenzeichen und die Grundlage seiner langen Karriere.

Ein Höhepunkt seiner Karriere war der Tristan mit Daniel Barenboim. Diese Rolle hat er als Mount Everest bezeichnet. Neben der Schwierigkeit des Textes bestand für ihn die Herausforderung darin, seine ganze Gefühlswelt zu entfalten. Wegen der Ausdrucksmöglichkeiten war es für ihn eine der erfüllendsten Tenorpartien.

In vielen weiteren Rollen hat er in allen wichtigen europäischen Opernhäusern brilliert. Zentrale Partien waren neben Lohengrin. Tannhäuser. Tristan, Stolzing auch Kaiser (Frau ohne Schatten), Rienzi, Pedro (Tiefland), Matteo (Arabella) Bacchus, Max, Otello, Siegmund) und Florestan.

Letzte große Auftritte vor der Corona Pandemie und der Schließung der Theater waren 2019 Florestan in Köln, Erik in Japan, im Sommer ein Open Air Konzert in Dresden, Tannhäuser in Berlin und im September Tristan in Köln.

Über dreihundert Auftritte in 26 Partien kamen allein in Berlin zusammen. Zum geplanten Tannhäuser an der Mailänder Scala und dem Florestan in Graz 2020 ist es nicht mehr gekommen.

Wer Peter Seiffert im Gespräch erlebte, lernte ihn als bodenständige Frohnatur und Menschenfreund kennen. Das Publikum war für ihn eine große Familie und er strahlte immer eine unbändige Freude am Leben und Singen aus.

Peter Seiffert war ein Sänger, der seine Rollen suggestiv, männlich, stark und intensiv durchlebte. Die Stimme war klangschön, ausgezeichnet geführt und unglaublich leuchtend. Sein Parsifal war ein tumber Tor mit ungemeiner Ausdruckskraft und Strahlkraft. Im Lohengrin entfaltete er auch durch seine helle Tongebung und die betörende Tongebung eine unvergleichliche Wirkung. Durch sein Textverständlichkeit, seine immense Rollenidentifikation und seine Emphase war er immer ein Fels und ein Garant für grandiose Aufführungen.

Seine Wagnerrollen liegen in zahlreichen Aufnahmen auf CD oder DVD vor. Unbedingt hörenswert sind Lohengrin, Stolzing, Tannhäuser, Kaiser und Tristan. Empfehlenswert ist auch sein Siegmund aus München bei FARAO. Seine Recitals bei EMI und Orfeo zeigen ihn auch in italienischen Rollen und anderem Repertoire in Bestform. Als persönliche Favorit wäre darüber hinaus noch Mendelssohn – Sinfonie Nr. 2 „Lobgesang“ unter Wolfgang Sawallisch zu nennen.

Mit Peter Seiffert ist ein Sänger gegangen, für die Wort, Gesang und Schönklang ein Dreigestirn in der Oper waren. Durch den grandiosen Gesang und die fulminante Gestaltung fieberte er als Tannhäuser und Tristan in jeder Faser des Herzens mit. Für ihn war Singen Leben.

In der Gesangsgeschichte wird er als der herausragende Wagner-Tenor seiner Generation einen singulären Platz einnehmen.

Peter Seiffert war in zweiter Ehe verheiratet mit der Sopranistin Petra Maria Schnitzer. Ihr und seinen Söhnen gilt unsere Anteilnahme (Foto oben: Peter Seiffert, Parsifal, Hamburg 1988, Ioco copyright Peter Schünemann). Michael Stange

José de Nebras: „Venus y Adonis“

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Selten habe ich eine Neuaufnahme mit soviel Enthusiasmus begrüßt wie José de Nebras dramatische Buffa Venus y Adonis (1729 Madrid) bei Aparté (AP 373), wo schon Komponistenname und Operntitel uns geographisch ansiedeln. Zeitlich ist dies spanische Übergangszeit zwischen Barock (da war die iberische Halbinsel immer ein bisschen hinterher) und Prä-Gluck, noch dem Barocken sehr verpflichtet, aber doch schon mit franco-italienischem Schwung des Kommenden.

Gesungen wird ganz prächtig, und das ist für einen Stimmen- und Opernfan vielleicht noch wichtiger als musikhistorische Bedeutsamkeiten. Das Damenduo Paola Valentina Molinari und Natalie Pérez in den Titelrollen sind einfach prachtvoll, sattstimmig und rundherum eine Wucht, dazu kommen ihre Kollegen Jone Martínez und  Ana Vieira Leite; begleitet und geführt von Alberto Miguélez Rouco und seiner Truppe Los Elementos: fetzig, fabelhaft, Freude machend.

Dem stimmt auch Kollege Matthias Käther vom radio 3 zu: „An Raritäten mangelt auf dem Klassikmarkt wahrhaftig nicht. Dass aber ein hierzulande völlig unbekannter Komponist auch versierte Hörer erstaunt und beglückt, das passiert selten. Dies ist so ein Fall – da möchte man nach jedem Satz ein Ausrufezeichen setzen. Welche Sinnlichkeit! Was für hinreißende melodische Einfälle! Wie originell komponiert von der Ouvertüre bis zum Schlusschor!

Nebra war ein zentraler Opernkomponist Spaniens; dieses Frühwerk von 1729, das raffiniert italienische und spanische Traditionen, Buffa- und Seria-Einflüsse miteinander verquirlt, soll erst der Anfang einer Reihe von Gesamtaufnahmen sein, die das Ensemble Los Elementos in den nächsten Jahren einspielen will.“ ( radio3 am (21. 03. 2025).

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Wobei man ehrlicher Weise sagen muss, dass dies nicht die erste Begegnung mit dem Komponisten Nebra ist. Luis Antonio Gonzales dirigierte bei Alpha Nebras Dramma intitulata, ebenfalls bei Alpha kam unter seiner Leitung die Oper Amor valante de Amor (1728); und Alberto Miguélez Rouco spielte bei Glossa Donde hay violencia, no hay culpa (Zarzuela in 2 Akten, Madrid 1744) sowie bei Aparté Vendado es Amor,no es Ciego (Zarzuela,Madrid,1744) ein, bezeichnender Weise alle auf französischen Labels. Und sicherlich gibt es weiteres.

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Los Elementos/LE/TVE

Der Dirigent Alberto Miguélez Rouco, der die Oper rekonstruierte,  hat im Beiheft zur Aufnahme bei Aparté einen hochinteressanten Artikel zu seiner Arbeit an Venus y Addonis und zum Werk selbst  geschrieben, den wir hier mit Dank an den Autor in unserer eigenen Übersetzung widergeben. G. H.

Warum José de Nebra? José Melchor Baltasar Gaspar de Nebra Blasco (Calatayud, 6. Januar 1702 – Madrid, 11. Juli 1768) ist einer der bedeutendsten Komponisten des Spanien des 18. Jahrhunderts. Mit einem umfangreichen theatralischen und geistlichen Werkkatalog war er vielleicht der einzige spanische Komponist, der mit den italienischen Musikern im musikalischen Panorama des Madrider Hofes während der zentralen Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts mithalten konnte. Nach seiner musikalischen Ausbildung in Calatayud und Cuenca kam er 1717 nach Madrid, wurde 1719 zum Organisten der Descalzas Reales ernannt und 1722 zum Musiker des Herzogs von Osuna

Nach der Krönung von Ludwig I. im Jahr 1724 den Posten des ersten Organisten in der Königlichen Kapelle von Madrid. Als dieser starb, blieb er als Interimsorganist und begann seine erfolgreiche Karriere in den öffentlichen Theatern von Madrid, die ihm sowohl in Spanien als auch in den amerikanischen Kolonien enormen Ruhm einbrachte.

Mit der Thronbesteigung von Ferdinand VI. im Jahr 1746 gab Nebra allmählich die Komposition von Theatermusik auf, um sich der Bereitstellung von geistlicher Musik für die Königliche Kapelle zu widmen, insbesondere nachdem er zum Vizemeister der Kapelle von 1751 bis zu seinem Tod im Jahr 1768 ernannt wurde. Sein zweifellos herausragendstes Werk dieser Zeit ist das Requiem für Königin Bárbara de Braganza (1758), das sich großer Beliebtheit erfreute und bei allen königlichen Beerdigungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein aufgeführt wurde.

Interessanterweise galt Nebra in der spanischen Musikwissenschaft lange Zeit als entschiedener Verteidiger der spanischen Musiktradition gegen die „italienische Invasion“ von Farinelli, Corselli, Scarlatti und Conforto, die den Hof beherrschten. Es genügt jedoch, einen einfachen Blick auf Nebras Musik zu werfen, um den italienischen Einfluss zu erkennen, wenn auch mit einer hervorragenden Integration der spanischer Folklore und des spanischen Geschmacks, sowohl in seinen Opern und Zarzuelas als auch in seinen religiösen Kompositionen.

Teatro del Principe Alfonso in Madrid/Wiklipedia

Wir haben es also mit einem der vielseitigsten und renommiertesten spanischen Musiker seiner Zeit zu tun, dessen Name heute selbst in Spanien fast unbekannt ist. Deshalb war es von Anfang an mein Hauptziel mit Los Elementos, sein umfangreiches Werk bekannt zu machen, angefangen bei seinem gesamten Bühnenwerk, das grundlegend für das Verständnis des musikalischen Panoramas des spanischen Barocks sind. Mit dieser allerersten Präsentation von Venus y Adonis möchten wir weiterhin unseren Beitrag dazu leisten, Nebra durch eines seiner wichtigsten Werke, das sich so sehr von späteren Zarzuelas unterscheidet, wieder zu altem Glanz zu verhelfen sowie den überschwänglichen hispanischen Barock, von dem es noch unzählige Schätze zu entdecken gibt, zu würdigen.

Venus und Adonis (Venus y Adonis) ist ein pastorales Melodram, das eine der bekanntesten Geschichten aus der antiken Mythologie erzählt. In der Version des Librettisten José de Cañizares ist die Göttin wütend darüber, dass Adonis‘ Schönheit ihrer eigenen trotzt, und macht sich daran, ihn zu töten. Sie bittet ihren Geliebten, den Gott Mars, zu handeln, und dieser ruft mit Hilfe der Göttin Kybele einen monströsen Eber, der den Hirten töten soll. Venus trifft jedoch zufällig auf den jungen Mann, und sie verlieben sich unsterblich ineinander. Als er von der Existenz des riesigen Ebers erfährt, beschließt er, ihn zu töten, trotz der Bitten der Göttin, die alles versucht, um ihn aufzuhalten. Adonis stirbt in den Armen von Venus, nachdem er von dem Tier gerammt wurde, woraufhin die Göttin beschließt, ihn zu verewigen, indem sie ihn in eine Blume verwandelt.

Venus und Adonis/Peter Paul Rubens/Wikipedia

Nachdem wir die Zarzuelas Vendado es Amor, no es ciego und Donde hay violencia no hay culpa, beide aus dem Jahr 1744, wiederhergestellt hatten, beschlossen wir, an seiner Oper (oder seinem melodramma) Venus y Adonis zu arbeiten, die 1729 als zweiter Teil von Las tres comedias en una. Es handelt sich um eine der beiden erhaltenen Opern aus seiner Jugend, bevor die italienischen Musiker, die Königin Isabella von Farnese Jahre später mitbrachte, einreisten. Im selben Jahr schrieb Nebra die Zarzuela Las proezas de Esplandián, die Autos sacramentales La semilla y la cizaña, La redención del cautivo und mehrere Komödien. Las tres comedias en una wurde von der Kompanie San Miguel am 12. November 1729 im Teatro del Príncipe in Madrid uraufgeführt und lief fünf Tage lang. Es ist möglich, dass Venus y Adonis einen Monat später, am 12. Dezember, als eigenständiges Werk im Teatro de la Cruz wiederaufgeführt wurde.  Die genauen Namen der Sänger bei der Premiere sind nicht bekannt, aber zu den Sängern, die in diesem Jahr Teil der Kompanie San Miguel waren, gehörten mehrere der talentiertesten Schauspielerinnen und Sängerinnen der damaligen Zeit, darunter Francisca de Castro, Petronila Jibaja und Paula de Olmedo.

Das musikalische Manuskript, das im Heiligtum von Loyola aufbewahrt wird, weist darauf hin, dass das Werk 1733 kopiert wurde, während im Libretto, das in der Biblioteca Nacional de España aufbewahrt wird, ein Eintrag besagt, dass es auch in Valencia aufgeführt wurde. Es ist möglich, dass die musikalische Kopie, die bis heute erhalten ist, diejenige ist, die bei der Aufführung in Valencia verwendet wurde. Tatsächlich war die erste Arie der Venus in einem Pasticcio, La Dorinda, enthalten, das Francesco Corradini 1736 in Valencia komponierte.

Diese Oper hat eine Einakterstruktur und besteht aus einer Reihe von Rezitativen, Arien, drei Duetten und zwei Chören im italienischen Stil mit deutlichen internationalen Einflüssen. Nebra, der den Publikumsgeschmack kennt, verweigert dem Publikum jedoch nicht eine Arie mit einem eindeutig spanischen Charakter: Die Arie „Cualquiera mozuela“, gesungen von der komischen Figur Celfa, ist eine hervorragende Kombination aus einem Fandango in Teil A (der an das spätere Tempestad, amigo von Vendado es Amor, no es ciego) und einem Zarabandeque in Teil B, einem beliebten Tanz afrikanischen Ursprungs,  den Komponisten wie Santiago de Murcia in ihren Werken für Gitarre verwendeten. Zu den vier ernsten Charakteren gesellen sich zwei komische, ganz in der Tradition der spanischen Zarzuela des 17. Jahrhunderts.

Die spanischen Dramatiker José de Cañizares und José de Nebra selbst erforschten alle theatralischen Mittel der damaligen Zeit aus, was zu einer großen stilistischen und thematischen Vielfalt führte: Bravour-Arien, Träume, Jagd, Tod, Rache und sogar ein Duett von „Hühnern“, in dem die komischen Figuren das Publikum begeistert haben müssen. Die Verwendung des Chors in den Rezitativen ist von besonderem Interesse, eine Praxis, die zweifellos aus der literarischen Tradition von Calderón de la Barca und Lope de Vega, Autoren des Goldenen Zeitalters Spaniens, die einen enormen Beitrag zur Entwicklung der Zarzuela leisteten. In Venus y Adonis kommentieren die Nymphen und Hirten das Geschehen in der Art eines griechischen Chors, spielen aber auch eine aktive Rolle in der Handlung in der großen Szene, in der Mars die Göttin Kybele anruft: Es sind die Stimmen, die in einem großen Effektvollen Zug auf den Gott von außerhalb der Szene reagieren, bevor die Göttin die Bühne betritt. Adonis wird in der Szene nicht vom Eber angegriffen, aber sein Tod in den Armen von Venus und seine anschließende Verwandlung in eine Blume finden auf der Bühne statt, und dies ist zweifellos einer der bewegendsten Momente des Werkes. Alberto Miguélez Rouco,/DL

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 Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich hier.

 

Nicht überzeugend

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Zwischen Sankt Veit an der Flaum, Fiume und nun Rijeka schwankt der Name der heute kroatischen Stadt, die die Ungarn Szentvit nennen und die ihre Beherrscher genau so oft wie ihren Namen wechselte. Die Römer kämpften hier bereits gegen die Illyrer, Napoleon I. schlug sie dem italienischen Reich seines Stiefsohns Eugen Beauharnais zu, der Wiener Kongress gab sie an Österreich, das es ab 1887 von den Ungarn verwalten ließ, nach 1918 und dem Zerfall des Habsburgerreichs verwalteten die Alliierten die Küste. Da die Hälfte der Einwohner und zwar die Elite aus Italienern bestand, wollte der italienische Dichter D’Annunzio der endgültigen Entscheidung der Sieger zuvorkommen und besetzte mit einer Schar Freiwilliger das Gebiet, das bis 1945 so weit italienisiert wurde, dass schließlich 80 Prozent der Bevölkerung aus Italienern bestand, die nach 1945 nach Italien flohen oder vertrieben wurden. Tausende wurden in den Foibe, Karsthöhlen oberhalb Triests, von Tito-Anhängern ermordet.

Abwechselnd österreichischen, italienischen und slawischen Einflüssen war auch der Komponist Antonio Smareglia, ein Freund Boitos, unterworfen, dessen Oper Nozze Istriane in Triest, das auch heute noch österreichische Einflüsse nicht verleugnen kann, uraufgeführt wurde. Über diese Oper gibt es in Operalounge bereits einen Artikel, der natürlich immer noch zugänglich ist. Inzwischen gibt es aber eine neue Aufzeichnung des Verismoeinflüsse, aber auch Spuren kroatischer Volksmusik verratenden Stücks, und zwar interessanterweise aus dem Theater von Rijeka.

Es geht um ein seine Liebe noch geheim haltendes Paar, dem durch eine Intrige vorgegaukelt wird, der jeweilige Partner habe Verrat geübt, die Braut soll mit einem gutgläubigen, dem Vater eher genehmen Bauernsohn verheiratet werden, der sogar zum Verzicht bereit ist, als er von den Gefühlen seiner Erwählten erfährt, aber durch den Jähzorn seines Rivalen herausgefordert, sieht er sich gezwungen, diesen zu erstechen. Das Werk beginnt mit einem dräuenden, nichts Gutes erwarten lassenden Unwetter und endet mit der Klage der Heldin um den toten Geliebten.

Die Musik verfügt über alle Qualitäten des italienischen Verismo, lässt slawische Volksmusik erahnen, und das Rijeka Symphony Orchestra unter Simon Krečič kann in der Sinfonia durchaus beachtliche Qualitäten zeigen, wird dann aber, sobald Stimmen dazu kommen, sehr zurückhaltend wie auch der Rijeka Opera Chorus, der eher wie beiläufig eingreifend erscheint, was alles wohl der mangelnden Durchsetzungskraft einiger Mitwirkender geschuldet ist. So werden die Stimmen umschmeichelt, das häufige Parlando auf akustischen Händen getragen.

Marussa, das schöne Bauernmädchen, wurde einst von einer Leyla Gencer oder der Dauer-Aida der Arena di Verona, Maria Chiara, gesungen. Daneben ist das von Anamarija Knego nur ein Soubrettenstimmchen mit beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten, sich in der Höhe verengend, kindlich, mit einem fil di voce singend, aber immerhin geschmeidig und lieblich in lyrischen Gefilden. Überfordert erscheint der Sopran aber in seinen Zornausbrüchen, da hätte man sich eher Santuzza-Qualitäten gewünscht. Die unwissentlich ins Komplott verstrickte Luze von Stefany Findrik steuert ein sanftes Mezzosäuseln zum Drama bei. Giorgio Surian als Vater der Braut lässt erahnen, wie das Werk beim Einsatz erstklassiger Kräfte klingen könnte. Eher weinerlich als melancholisch ertönt der Tenor von Jorge Puerta, aus dem auch das gute Legato keinen stürmischen Liebhaber machen kann. Der Intrigant Biagio klingt in der Darstellung Filippo Polinellis recht schütter, der nicht genehme Bräutigam Nicola ist Jure Počkaj anvertraut und erfreut durch gute Diktion und Phrasierung, verfügt über einen weich und geschmeidig klingenden Bariton.  (cpo 555 686-2). Ingrid Wanja

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.PS.: Aber es gibt ja noch weitere und überzeugendere Aufnahmen der Oper. Vor allem bei Bongiovanni der auch klanglich mehr als anständige Mitschnitt aus Triest von 1972 mit der leuchtenden Maria Chira und dem bekannten Tenor Ruggero Biondino, dazu Alessandro Cassis und weitere unter der straffen Leitung von Manno Wolf-Ferrari (immerhin) ist ein gültiges Dokumnent des Werke. Auch die spätere Aufnahme, ebenfalls aus Triest bei Bongiovanni von 1999, mit der sich verzehrenden Svetla Vassileva, dazu Ian Storey unter Tiziano Severini, tut der Oper einen rauschenden Gefallen.

Dazu kommen zwei Radioaufnahmen mit eindrucksvollen Besetzungen: Bei der Rai gab es Renata Mattioli, Guido Mazzini Und Luigi Rumbo unter Pietro Argento in Mailand 1961 sowie 2023 in Castell´Arquato eine weitere Aufführung unter Jacopo Brusca mit Sarah Tisba, Graziano Dallavalle und Filippo Polinelli (wie auf der cpo-Einspielung hier auch blass) in den Hauptrollen, ebenfalls als Mitschnitt.

Zudem gibt es bei uns einen langen Artikel zum Werk als Vergessene Oper. Ebenfalls in dieser Reihe findet sich zu Smareglia ein Artikel zu seinem Vasallo di Szigeth. G. H.

Ponchiellis „Lituani“

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Der Komponist Amilcare Ponchielli ist – wenn überhaupt – heute nur noch für berühmten Tanz der Stunden aus seiner Oper La Gioconda bekannt (von Walt Disney so hinreißend mit tanzenden Krokodilen, Nashörnern und Straussen umgesetzt). Giannina Arangi-Lombardi, Zinka Milanov, Maria Callas (!!!), Anita Cerquetti, Renata Scotto und die nachfolgenden Damen nutzten die Oper – nicht den Tanz – als Vehikel ihres Ruhms. Mehr oder weniger erfolgreich (ich erinnere Leonie Rysaneks zweifelhafte Verkörperung der Titelrolle und die grässliche rote Nelke in der ebenso grässlichen roten Perücke an der Deutschen Oper Berlin in Filippo San Justs antiker Pappe, bis vor kurzem immer noch der Renner bei ausverkauftem Haus).

Der Komponist Amilcare Ponchielli/Wikipedia

Aber Ponchielli, zu dem nachfolgend der italienische Musikwissenschaftler Fernando Battaglia Gültiges schreibt, war nicht nur ein hervorragender Lehrer vieler berühmter Komponisten, sondern auch und vor allem der Komponist der Gioconda und anderer, weniger erfolgreicherer oder zumindest weniger bekannter Opern, so die Promessi sposi (bei youtube gibt’s die ganz hinreissend, und operalounge hat einen Opernführer dazu),  der Figlio prodigo und eben die Lituani (1874 Scala) nach der Vorlage des polnischen Dichters Adam Mickiewicz (Konrad Wallenrod), in der die Letten den deutschen (!) Ritterorden durch patriotischen Verrat vernichten. Weg mit den Besatzern! Für das Publikum an der Scala 1874 selbst nach der 1870 erfolgten Einheit Italiens immer noch eine schöne Gelegenheit, den abgezogenen Österreichern noch mal so richtig eins drauf zu hauen, so lange war´s ja nun nicht her.

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Die Oper zeigt viele Einflüsse. Mir fallen da Zeitgenossen wie Gomes, Faccio oder auch Apolloni ein, Verdis frühe Werke ebenfalls, auch ein paar Franzosen. Sie beginnt mit der eindrucksvollen Ouvertüre, die rauschhaft die Liebesbeziehung der Protagonisten aber auch den marzialischen Kampf um Freiheit umreisst. “: „Man muss nur die sinfonia von I Lituani hören, um die einzigartige Wirkung von tausend Schönheiten zu verstehen, die in nur einer verdichtet sind. Die Partitur umfasst alle Vorzüge der litauischen Legenden, all ihre Emotionen: unwiderstehliche Leidenschaft, Gebet, Bedrohung, Wut, Schlachten, endlose Horizonte, geheimnisvolle Zeremonien, gedämpfte Worte der Liebe, tiefe Verzweiflung, obskure Pläne, Orgien, Raserei, unheilvolle Vorhersagen, Tränen und Tod. Diese Symphonie ist ein Meisterwerk für sich.“ (schreibt die zeitgenössische Kriti)k. Viele Momente in der Oper selbst sind memorabel, so das Chorgebet und Bass-Solo des Prologs, die wunderbaren Choreinlagen im zweiten Akt, Aldonas Arie, der Trauermarsch und Corrado/Walters Arie im dritten Akt. Vielleicht ist nicht alles so eingängig wie die Gioconda, aber auf ihre Weise stehen die Lituani unangefochten gleichwertig daneben, wie für mich auch die Promessi sposi nach dem berühmten Roman von Manzoni.

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Die neue Accentus-Aufnahme der Lituani (AC 80642) ist zwar als Studioaufnahme in der Folge der Konzerte 2020 in Vilnius hochwillkommen als Bereicherung der kargen Dokumente dieser Oper und Ponchiellis. Aber es bewahrheitet sich doch erneut, dass das Bessere des Guten Feind ist. Die Konkurrenz schläft eben nie. Und so muss sich die erst 2025 herausgekommene Einspielung von 2020 (mit Ausnahme des Tenors mit der Konzert-Besetzung identisch) doch an dem älteren, etwas gekürzten RAI-Dokument von 1979 bei Bongiovanni messen lassen, wo eigentlich alle Beteiligten ihre lettischen Kollegen hinter sich lassen (GB 2390/91-2).

Das beginnt mit Gianandrea Gavazzeni vor dem operngeübten Rai-Torino Orchester, der sinnlichen Streicherfluss und zügige Dramatik im kleinen Finger hat und der das Drama über manche Längen des Werkes vorantreibt, der einfach einen spannenden Job macht. Er kann das! Modestas Pitrénas am Pult des Lithuanian National Symphony Orchestra und des Kaunas State Choir bleibt da dicker im Klang, weniger agogisch, eben ordentlich, aber nicht so aufregend wie Gavazzeni, der dieses Novecento-Idiom hundertfach in seiner langen Karriere bedient hat.

Ponchiellis „Lituani“ im Konzert Vilnius 2020 (mit dem Tenor Mickael Spadaccini als Walter)/ youtube

Das setzt sich mit den Vokalkünstlern fort. Und da leidet die neue Aufnahme an dem höhenengen, rauhen lettischen Tenor Kristian Benedikt (im Konzert 2020 sang der italo-belgische Kollege Mickael Spadaccini seine Partie, der Austausch war ein Fehler, wenn man dem youtube-Dokument glauben darf), der gegen Ottavio Garaventas strammen Walter/Corrado bei der RAI nicht ankommt. Der vielbeschäftigte Garaventa zählte sicher nicht zu den allerersten italienischen Tenören seiner Zeit und galt gern als tapferer Provinztenor, aber für diese Partie, die viel Lunge in der Folge eines Verdischen Aroldo oder Gomes-schen Guarany verlangt, ist er gerade richtig – heldisch, engagiert und vor allem idiomatisch-wortdeutlich. Das gilt für alle Beteiligte der alten Aufnahme. Auch für Yasuko Hayashi, die in Italien verheiratete Japanerin mit einer schönen Opernkarriere ebendort, die einen gut fokussierten, etwas herben Verismo-Ton als engagierte Aldona zeigt. Da kann die Kollegin Jurate Svedaite-Waller nicht mithalten. Ihr Ton spreizt sich doch schon recht und bleibt im Ganzen eher etwas quallig. Der deutlichste Unterschied zeigt sich bei den Bässen, denn auch Arunas Malikenas wirkt blass gegen Carlo de Bortolis routiniert-prachtvollen, orgelnden Albano der Eingangsszene. Alessandro Cassis macht als Arnoldo einen tollen Job. Dazu kommen gut besetzte Nebenrollen (bei Bongiovanni). Modestas Sedlevicius (mit sehr schönem, sonoren Bariton und Rollenintensität eine Labsal) und Kollegen auf der neuen Aufnahme sind wirklich nicht unrecht und kennte man das Bongiovanni-Dokument nicht, wären sie überzeugend lückenfüllend, aber eben auch nicht wirklich idiomatisch trotz gut gelerntem Italienisch – man zieht Parallelen zu Biondis nicht immer zufriedenstellenden polnischen Besetzungen seiner italienischen Opernaufnahmen bei NIFF. Idiomatik, eben das Singen in der eigenen Sprache, ist die Basis für überzeugenden, sinntragenden Ausdruck.

Dennoch begrüße ich die neue Aufnahme aus Vilnius, schon weil sie die Oper ungekürzt mit ausgiebigem 2. Akt bringt, der eine lange Tanz-/Ballettsequenz mit und ohne Chor und Solisten enthält, ungewöhnlich in den meisten Opern der Zeit und natürlich nicht ganz so lang und schmissig wie der Tanz der Stunden. Da kann die ältere Aufnahme nicht mithalten, deren 2. Akt ziemlich rudimentär eingedampft ist.

Das begleitende Booklet (Beata Baublinskiene) hebt angesichts des Deutschen Ritterordens ständig auf „Teutonen“ ab, was natürlich Unsinn ist. Das wird im anglo-amerikanischen Sprachgebiet bis heute gerne pejorativ als Synonym für Deutsche verwendet wird. Deutsche Ritter waren natürlich keine Teutonen. Ich sehe im recht allgemeinen Text auch keinen Hinweis auf die gespielte Fassung, von deren es zwei gibt. Zudem wird eine (mir völlig unbekannte) Balkanton-Aufnahme eines Mitschnitts das Gastspiels der Lithuainian Opera Company in New York von 1981 erwähnt. 2001 nahmen Violeta Urmana und Virgilio Noreika (immer noch!!) Ausschnitte aus der Oper auf (die wohl nur in Lettland verfügbar waren).

Die Litauische Nationalphilharmonie feierte 2020  mit einer konzertanten Aufführung dieses vormals vergessenen und von der Thematik sicherlich nicht unabsichtlich gewählten Werkes ihr 80-jähriges Bestehen. Und die Saisoneröffnung in schwierigen Corona-Zeiten. Die Aufführung im ausverkauften Großen Saal der Nationalphilharmonie Vilnius war ein seltenes Ereignis. Bei youtube gibt’s den Konzertmitschnitt optisch. Und die Radioübertragung des Konzertes fand viele internationale Abnehmer. Aber Radio-live ist eben nicht Studio-CD. Und manchmal ist das Alte doch das Bessere. G. H.

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Zu Ponchiellis „Lituani“: La piazza della Cattedrale a Marienburgo, bozetto di Giroloamo Magniami 1874/Ricordi Archivio Storico

Nun also Fernando Battaglia zu Ponchiellis Lituani: Im Jahr 1873 war Amilcare Ponchielli achtunddreißig Jahre alt. In seinen frühen Theaterkompositionen hatte er hervorragende professionelle Fähigkeiten und eine fließende, fesselnde melodische Ader gezeigt, die von einer bemerkenswerten Fähigkeit getragen wurde, sowohl die Stimmen als auch das Orchester zu kontrollieren. In Jahren, die von einem reifen Verdi dominiert wurden, dessen unbestreitbare Meisterschaft europäische Dimensionen erreicht hatte, war Ponchielli möglicherweise der vielversprechendste Komponist seiner Generation. Seine makellose Beherrschung der Werkzeuge seines Handwerks hob ihn zweifellos von den Komponisten ab, die bereits Ruhm und Erfolg erlangt hatten oder dies bald tun würden. Er war zweifellos ein viel vollkommenerer Komponist als Petrella, Marchetti, Apolloni, Auteri-Manzocchi, während Boito und Gomes eine gesonderte Bewertung verdienen.

Und trotz seiner Meisterschaft und seines offensichtlichen Talents für das Operntheater hatte Ponchielli Schwierigkeiten, sich in der tückischen Arena der italienischen Oper durchzusetzen. Während andere Komponisten seines Alters bekannt und gefeiert waren – Filippo Marchetti mit seinem Ruy Bias und Carlo Gomes mit seinem Guarany zum Beispiel – war Ponchielli gezwungen, als Kapellmeister zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Zu Ponchiellis „Lituani“: Elena Bianchi-Capelli sang die Aldona 1919/Vitrola Opera Book

Nach einigen eher erfolglosen Experimenten begründete eines seiner frühen Werke, Promessi Sposi“ (aus dem Jahr 1856), das 1872 in Mailand am neuen Teatro Dal Verme überarbeitet und produziert wurde, endlich seinen Ruf. Die Oper fand beim Publikum Anklang, wurde in ganz Italien aufgeführt und Musikverlage begannen, sich für den nicht mehr ganz jungen Komponisten zu interessieren. Es war Ricordi, der schließlich die Rechte an I Promessi Sposi erwarb und bald darauf eine neue Oper in Auftrag gab, die an der Mailänder Scala aufgeführt werden sollte.

Dieser schmeichelhafte Vorschlag bereitete dem schüchternen und gewissenhaften Maestro jedoch Sorgen und Ängste: Würde er in der Lage sein, eine großartige, beeindruckende Partitur für das anspruchsvolle Publikum der Mailänder Scala zu komponieren? Die Briefe, die er in jenen Tagen an seine Freunde und seine Verlobte (die Sopranistin Teresina Brambilla, eine hervorragende Lucia in I Promessi Sposi) schrieb, sind voller Sorgen. Das erste Problem war der Inhalt der Oper, aber Ricordi löste es bald dank eines klugen Mitarbeiters: Salvatore Farina (1846-1918), ein Roman- und Theaterautor sowie Herausgeber der von Ricordi herausgegebenen Gazzetta Musicale di Milano. In seiner Bibliothek fand Farina ein historisches Gedicht des polnischen Dichters Adam Mickiewicz: Konrad Wallenrod, das 1828 in St. Petersburg veröffentlicht wurde. Dieser eher ungewöhnliche Hinweis faszinierte offenbar sowohl Ponchielli als auch Antonio Ghislanzoni, der zu dieser Zeit dank des Textes, den er Verdi für Aida geliefert hatte, ein hoch angesehener Librettist war.

Zu Ponchiellis „Lituani“: Luigi Bolis war der erste Walter/youtube

Das pathosreiche Gedicht – das sicherlich in einer italienischen Übersetzung gelesen wurde, deren Autor ich nicht ausfindig machen konnte – spielt im 14. Jahrhundert, einer schwierigen Zeit für das litauische Volk. Seit dem 12. Jahrhundert war Litauen – mit einem viel größeren Territorium als heute – von den Deutschen Rittern bedroht, einem Ritterorden, der nach dem ersten Kreuzzug mit dem Ziel gegründet wurde, das Heilige Grab zu schützen. Zurück in Europa unternahmen die Deutschen Ritter häufig Raubzüge gegen ihre östlichen Nachbarn, angeblich um die heidnischen Völker zum Christentum zu bekehren, aber hauptsächlich, um die deutsche Kontrolle nach Osten auszudehnen. Um sich vor den Deutschen zu schützen, schlossen sich die litauischen Fürsten zu einer Konföderation zusammen. Einer von ihnen, Fürst Mindaugas, konvertierte zum Christentum und wurde von Papst Innozenz IV. zum König von Litauen ernannt. Während die Raubzüge der Germanen weitergingen, heiratete König Jagellone – der 1395 zusammen mit dreißigtausend Litauern getauft wurde – Edwige, die Erbin des polnischen Throns, und schuf so ein persönliches Bündnis zwischen Litauen und Polen. Es war sein Cousin Vitold, der die Germanen ein für alle Mal besiegte.

Zu Ponchiellis „Lituani“: Francesco Pandolfini war der erste Arnoldo/Victrola Opera Book

In seinem Gedicht erzählt Mickievicz die Geschichte eines jungen Litauers, Walter Alf, der zwar als Deutscher erzogen und ausgebildet wurde, aber dank der Lieder von Halben, einem litauischen Barden, seine nationale Identität bewahrt. Walter flieht in sein eigenes Land, heiratet Aldona, die Tochter des Fürsten Kiejstut, und lehrt sein Volk die Kriegskunst, die er von den Deutschen gelernt hat. Während in Litauen der Krieg tobt, folgt Walter dem Grafen Wallenrod ins Heilige Land. Als Wallenrod getötet wird, nimmt er den Namen des Grafen an, kehrt nach Europa zurück, tritt dem Deutschen Orden bei und wird schließlich zum Großmeister des Ordens ernannt. Jetzt kann er Rache nehmen, indem er den Orden vernichtet. Während er die Deutschen gegen die Litauer anführt, strebt er absichtlich eine verheerende Niederlage an, wird jedoch entlarvt und wegen Verrats zum Tode verurteilt. Als Christ ist er sich jedoch seiner verlogenen, schändlichen Tat bewusst und vergiftet sich selbst. Der Dichter wollte daher das Dilemma des Helden unterstreichen, den Kampf zwischen der Liebe zu seinem Land und der Ethik in solch tragischen, dunklen Zeiten.

Der arme Ponchielli fühlte sich zweifellos verpflichtet, eine lange, düstere Tragödie zu vertonen, die das Schicksal eines unterdrückten Volkes sowie die Qualen eines von Zweifeln und Gewissensbissen geplagten Herzens schildert. Er arbeitete das ganze Jahr 1873 hindurch hart, konzentrierte sich insbesondere auf die vielen breiten Chorszenen und versuchte, das Unbehagen zu überwinden, das er empfand, weil das Libretto nicht vollständig vorlag. Ghislanzoni schickte ihm tatsächlich einen Akt nach dem anderen, manchmal mit langen Pausen zwischen den einzelnen Lieferungen. Aber die reiche Instrumentierung wurde schließlich mit kraftvollen und farbenfrohen Ergebnissen umgesetzt.

Zu Ponchiellis „Lituani“: Schlacht um die Marienburg/youtube

Die Oper wurde am 7. März 1874 an der Mailänder Scala uraufgeführt und kam gut an, obwohl ein Teil des Publikums und einige Kritiker auf ihre übermäßige Länge und düstere Atmosphäre hinwiesen. Zu den hervorragenden Darstellern gehörten die österreichische Sopranistin Antonietta Frietsche (geboren 1849 in Wien, gestorben 1912 in Turin), die in Italien ihren Namen in Fricci geändert hatte, der Tenor Luigi Bolis, der Bariton Francesco Pandolfini (geboren 1836 in Termini Imerese, gestorben 1916 in Mailand) und der Bass Giulio Petit unter der Leitung des Dirigenten Franco Faccio. Nachdem einige der bei der Premiere festgestellten Unvollkommenheiten beseitigt worden waren, wurde die Oper genau ein Jahr später, am 6. März 1875, erneut an der Scala aufgeführt. Während Walter erneut von Luigi Bolis verkörpert wurde, sang die Rolle der Aldona die Sopranistin Maddalena Mariani Masi, die Sopranistin, die bald darauf die erste Gioconda sein sollte (Florenz 1850, Erba 1916), der Bariton Adriano Pantaleoni (Udine 1833-1908) war Arnoldo und Albano wurde vom Bass Ormondo Maini (Viadana 1885- 1906) gesungen. Diese zweite Version wurde durch Ballette und das kurze Terzetto mit dem Chor der Spielleute ergänzt, während die Arie „Ivi il sospiro estremo“ im dritten Akt für Mariani Masi drastisch verändert und erweitert wurde.

Ponchiellis „Lituani“ als Lettisches Gastspiel in der Ukraine 2023/youtube

Sowohl die Uraufführung als auch die zweite, endgültige Fassung wurden gut aufgenommen, und einige Kritiker verloren sogar jegliches Augenmaß. So schrieb Francesco Uda für „La Lombardia“: „Man muss nur die Sinfonia von I Lituani hören, um die einzigartige Wirkung von tausend Schönheiten zu verstehen, die in nur einer verdichtet sind. Die Partitur umfasst alle Vorzüge der litauischen Legenden, all ihre Emotionen: unwiderstehliche Leidenschaft, Gebet, Bedrohung, Wut, Schlachten, endlose Horizonte, geheimnisvolle Zeremonien, gedämpfte Worte der Liebe, tiefe Verzweiflung, obskure Pläne, Orgien, Raserei, unheilvolle Vorhersagen, Tränen und Tod. Diese Symphonie ist ein Meisterwerk für sich.“ Vielleicht eine Übertreibung, auch weil Filippo Filippi zufolge „Ponchielli ein kurzes Vorspiel für seine Oper komponiert hatte, aber fast am Vorabend der Premiere plötzlich beschloss, eine Ouvertüre zu schreiben, und diese in nur vierundzwanzig Stunden komponierte“. Derselbe Kritiker gab jedoch zu, dass „Ponchielli ein großartiger Orchestrator ist: Sein Orchester offenbart exquisite Eleganz, außergewöhnlich vielfältige Farben, neue musikalische Mischungen und ausgewogene Klänge.“

Was dem Publikum in der ersten Version sofort gefiel, waren die sinfonia, das Chorgebet des Prologs, die wunderbaren Choreinlagen im zweiten Akt, Aldonas Arie, der Trauermarsch und Corrado/Walters Arie im dritten Akt. Die zweite Version hatte acht ebenso erfolgreiche Aufführungen und die vom Autor vorgenommenen Änderungen, die die Oper noch fesselnder machten, wurden besonders geschätzt.

Zu Ponchiellis „Lituani“: Antonietta Fricci (née Frietsche) war die erste Aldona/Daguerographie von Sebastianotti 1870 Triest/Wikipedia

Am 5. September 1876 wurde Lituani in Cremona aufgeführt und war, wie vorherzusehen war, ein durchschlagender Erfolg. Die gesamte Besetzung – dieselbe wie an der Mailänder Scala – und Maestro Faccio wurden lautstark gefeiert und das Publikum verlangte häufig nach einer Zugabe. Zwanzig Jahre später – am 5. April 1903 – wurde I Lituani erneut an der Mailänder Scala aufgeführt, mit einem glänzenden Orchester unter der Leitung von Toscanini, aber die Reaktionen waren eher verhalten. Insbesondere die Besetzung wurde als unzureichend empfunden: Obwohl sie gute Profis waren, wurden die Sopranistin Bianchini-Cappelli, der Tenor Mariacher, der Bariton Blanchart und der Bass Luppi als nicht geeignet für ihre jeweiligen Rollen angesehen. Die Oper wurde nur drei Abende lang aufgeführt.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde I Lituani in Triest, Brescia, Rom und Turin sowie in Buenos Aires, Montevideo und Chicago aufgeführt. Besonders erwähnenswert ist die einzige russische Aufführung im Jahr 1884 im Kaiserlichen Theater von St. Petersburg mit dem Titel „Aldona“. Im 20. Jahrhundert entdeckte die RAI 1979 die Partitur wieder – mit der Aufführung, die auf dieser Bongiovanni-CD zu hören ist – und 1984 inszenierte das Teatro Ponchielli in Cremona die Oper zum dritten Mal in der kurzen Theatergeschichte dieses interessanten Lituani.

(2020 folgten dann die Aufführungen in Vilnius sowie die neue Aufnahme bei Accentus; zuletzt als Lettisches Gastspiel (politisch nicht unbeabsichtigt) in der Ukraine 2023 beim LNOBT Open Festival recht episch dirigiert von Mikolas Diadiura mit einer etwas stumpfen  Viktoriia Chenska als Aldona und einem schmalbrüstigen Genaidij Vashenko als Walter, letzteres auch bei youtube als Konzert zu erleben/G. H.)

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Zu Ponchiellis „Lituani“: Oreste Luppi war der erste Albano/Reklamebild für seine Plattenaufnahmen bei Fonotipia/Yperniti

Die heutigen kulturellen Bedingungen ermöglichen es jedoch, einen ehrlichen, korrekten und begabten Komponisten wie Amilcare Ponchielli zu schätzen und neu zu bewerten, wobei das musikalische und spirituelle Klima seiner Zeit zu berücksichtigen ist. Ich möchte einige Zeilen zitieren, die Gaetano Cesari, ein Musikwissenschaftler, der wie der Maestro in Cremona geboren wurde, 1934 anlässlich des hundertsten Geburtstages von Ponchielli schrieb: „Die besonderen lombardischen Züge in Ponchiellis Musik, die ich (in meiner Jugend) gehört hatte, blieben in meiner spezifischen Sensibilität als Musiker aus Cremona eingeprägt. Und das ermöglichte es mir, Ponchiellis Werke von denen anderer Komponisten zu unterscheiden. Partituren anderer Komponisten könnten durch das breite, rhythmische Tempo des von Verdi geadelten emilianischen Arbeitsliedes, durch die leidenschaftliche Sinnlichkeit der Neapolitaner, durch die farbenfrohe stornello-ähnliche Qualität der Meister aus Lucca, durch den elektrischen, leichten Fluss der von Petrella, Pedrotti, Gomes oder Marchetti geschriebenen Melodien charakterisiert werden, aber ich konnte Ponchiellis Stimme sofort in der fesselnden Kraft seiner Ballette erkennen, im traurigen Rhythmus seiner Trauermärsche, die bei Sonnenuntergang verklingen – Erinnerungen an liebe Verstorbene – und in seiner sorgfältigen, meisterhaften Verwendung von Elegien, die er in seinen inspiriertesten Opernpartituren verschwenderisch einsetzt. Und seine Musik würde mich erreichen und meine tiefsten Gefühle mit der Fülle einer kontemplativen Seele oder der Zärtlichkeit eines vertrauensvollen Herzens berühren.“

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Zu Ponchiellis „Lituani“: Libretto-Cover 1875/Wikipedia

Das Libretto von Ghislanzoni besteht aus einem Prolog und drei Akten. Die Eröffnungssymphonie baut auf einigen der Themen auf, die gemäß dem italienischen Stil ordnungsgemäß eingeführt und entwickelt werden. Es handelt sich um eine symphonische Partitur von großer Wirkung, die bewundernswert orchestriert ist und in ihrer Struktur im Wesentlichen die Ouvertüre von I Promessi Sposi widerspiegelt, die so einhellig gefeiert wurde.

Zum Inhalt: Der Prolog spielt in einer verfallenen litauischen Burg mit Blick auf eine unwirtliche Landschaft, die von Bränden und den Zeichen des schrecklichen Krieges gezeichnet ist, den die Litauer gegen die einfallenden deutschen Ritter führen. Während ein alter Barde, Albano, vor einem kleinen Publikum aus Frauen und alten Leuten über das Schicksal der Heimat klagt, macht sich Aldona, eine litauische Prinzessin, Gedanken über Arnoldo, ihren Bruder, und Walter, ihren Ehemann, die noch nicht vom Schlachtfeld zurückgekehrt sind. Während sie auf ihre Liebsten wartet, bittet Aldona alle, das „Abendgebet“ zu sprechen, und ein bewegender Chorgesang wird angestimmt. Arnoldo und Walter berichten von der Niederlage der litauischen Armee und dem abscheulichen Verrat durch Vitoldo, einen ihrer Anführer. Arnoldo schlägt jedoch rätselhaft vor, dass es einen Weg gibt, sich zu rächen, und seine Worte der Hoffnung führen zu einem bemerkenswerten, konzertierten Stück, in das die Solisten mit einer Phrase von großer lyrischer Wirkung einstimmen. Nun allein mit Albano, erzählt Walter dem alten Mann, dass er vorhabe, einem Vorschlag zu folgen, den er ihm vor langer Zeit selbst gemacht habe: Dank seiner germanischen Erziehung sei Walter der Einzige, der die Litauer möglicherweise rächen könne. In einem melodisch intensiven Duett, das den Prolog abschließt, informiert Walter seine Frau über seinen Plan: Um jeden Preis, selbst mit unlauteren Mitteln oder Verrat, werde er die Germanen vernichten und sein Volk befreien. Mit leidenschaftlichen Worten versichert er seiner verzweifelten Frau, dass sie eines Tages wieder vereint sein werden, entweder in Freiheit oder im Himmel. Nachdem er seinen Schwager Arnoldo gebeten hat, sich um Aldona zu kümmern, geht Walter.

Der letzte Akt spielt zehn Jahre später auf dem Domplatz von Marienburg. In einer breiten Chorszene feiert das Volk den neuen Hochmeister des Deutschen Ordens, Corrado Wallenrod, niemand anderen als Walter. Er hat eine so hohe Ehre für seine Heldentaten gegen die Muslime erhalten, aber die allgemeine Freude – unter den Bläsern – berührt Vitoldo nicht: Der Verräter ist wütend, weil der Titel, den er begehrte, einem anderen Mann gegeben wurde. Auch Albano, der sich in der Menge versteckt, beobachtet das Ereignis: Begleitet von düsteren Celli und Kontrabässen werden zehn litauische Gefangene in Ketten gebracht, um zu Ehren von Corrado geopfert zu werden. Arnoldo ist einer von ihnen. Ein Sprechchor aus der Kathedrale stimmt eine feierliche Choralseite an, während der Bischof, der Fürst, die Deutschen Ritter und ihr Großmeister mit ihrem Gefolge den Platz verlassen. In seiner Rede an das Volk spricht Corrado unerwartet von Vergebung und christlicher Toleranz und lässt die Gefangenen frei. Seine edlen Worte werden von einem großartigen Chor des Einverständnisses begrüßt. Kurz darauf, allein auf dem leeren Platz, denkt Arnoldo über das nach, was er gerade gesehen hat: Er hat Walter erkannt und spricht in einem breiten Rezitativ, gefolgt von einer sanften Arie – „O rimembranze“ – über die Hoffnungen, die durch die gerade wiedererlangte Freiheit geweckt wurden. Fernando Battaglia

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Den vorstehenden Artikel entnahmen wir mit Dank dem Booklet der RAI-Aufnahme der Oper bei Bongiovanni; Übersetzung DeepL. Redaktion G. H./ Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Le Prix de Rome

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Die französischen Komponisten in der Villa Medici im 19. Jahrhundert: Der 1803 ins Leben gerufene Prix de Rome für Musik ermöglichte es der Elite der französischen Komponisten, mehrere Jahre in Italien zu studieren. Der Wettbewerb und der anschließende Aufenthalt des Gewinners waren ebenso umstritten und beneidet wie bewundert und begehrt …

Der Wettbewerb um den Prix de Rome war lange Zeit der begehrteste Weg an die Spitze der französischen Kunstausbildung. Dies lag daran, dass er nicht nur die Elite der Nation auszeichnete, sondern seinen Preisträgern auch finanzielle Unterstützung und – inoffiziell – Karriereförderung bei ihrer Rückkehr aus Italien in Form von Lehrstellen oder staatlichen Aufträgen bot. Obwohl die Episode der Aufnahmeprüfung selbst reichhaltig dokumentiert und ausführlich kommentiert wurde, insbesondere von den Kandidaten selbst (und vor allem von Berlioz und Debussy), vermittelt die Zeit des Aufenthalts in Rom immer noch den Eindruck einer goldenen Legende, über die wenig bekannt ist. Es ist dieses Geheimnis um das „Pensionnat“ in der Villa Medici, das der Palazzetto Bru Zane mit seinem Frühlingsfestival teilweise auflösen möchte.

Die Villa Medici um 1900/Palazzetto Bru Zane

Die dort entstandene Musik – die „envois de Rome“, so genannt, weil die Stücke zur Begutachtung nach Paris geschickt wurden – deckt ein sehr breites Spektrum ab, von Oper und Symphonie bis hin zu Mélodie und Kammermusik. Da die italienische Herkunft der meisten envois, die der Nachwelt erhalten blieben – darunter Debussys Ariettes oubliées, Gounods Le Soir und Berlioz‘ Rob-Roy Overture – oft wenig bekannt ist, haben sich nur wenige Kommentatoren für einen Aufenthalt ausgesprochen, bei dem das Farniente die Oberhand über solide harte Arbeit zu gewinnen schien. Eine solche Einstellung zeugt jedoch von einem geringen Verständnis für den leidenschaftlichen künstlerischen Austausch, die oft überbordende Kompositionsproduktion und die endlosen Polemiken, die das Ergebnis eines Aufenthalts in der Villa Medici waren …

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Von Paris nach Rom: In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es keine leichte Aufgabe, die Villa Medici zu erreichen, als Pferdekutschen und die Seefahrt die einzigen Transportmittel waren. Es gab zwei Möglichkeiten: über die Alpen zu fahren und dann Italien von Norden nach Süden zu durchqueren oder im Hafen von Marseille an Bord zu gehen und zu einer Küstenstadt in der Nähe von Rom zu segeln. Obwohl das Mittelmeer selten rau war, war die Überfahrt dennoch chaotisch und anstrengend. Vor allem aber beraubte sie den Reisenden der herrlichen Landschaften und der Möglichkeit, in legendären Städten Halt zu machen. Daher entschieden sich die meisten Gewinner des Prix de Rome für eine Landroute, die sie nacheinander durch Turin, Mailand, Venedig, Bologna und Florenz führte. Um zur ersten dieser Städte zu gelangen, reiste man mit einem Maultierzug über den Mont-Cenis, durch Windböen und Schneestürme. Bei der Ankunft am Gebirgspass, der das Tor zu Italien bildet, eröffneten sich dem Auge neue Landschaften. Der Maler Flandrin schrieb, dass er noch nie etwas so Reichhaltiges gesehen habe: „Die Ebene war von Licht durchflutet, aber von so weichem Licht“. Für den Bildhauer Simart war „die Reise von Lyon nach Rom allein schon den Gewinn des Grand Prix wert“. Diese erste Etappe blieb allen Reisenden lange in Erinnerung.

Hector Berlioz made four attempts at winning the Prix de Rome music prize, finally succeeding in 1830. As part of the competition, he had to write a cantata to a text set by the examiners. Berlioz’s efforts to win the prize are described at length in his Memoirs. He regarded it as the first stage in his struggle against the musical conservatism represented by the judges, who included established composers such as Luigi Cherubini, François-Adrien Boieldieu and Henri-Montan Berton. Berlioz’s stay in Italy as a result of winning the prize also had a great influence on later works such as „Benvenuto Cellini“ and „Harold en Italie“. The composer subsequently destroyed the scores of two cantatas („Orphée“ and „Sardanapale“) almost completely and reused music from all four of them in later works. There was a revival of interest in the cantatas in the late 20th century, particularly „Cléopâtre“, which has become a favourite showcase for the soprano and mezzo-soprano voice./Gemälde 1832, Émile Signol/Wikipedia

Akademismus trifft auf Modernität: In jeder Epoche der Geschichte des Prix de Rome kam es zu Aufständen seitens der Bewohner, von denen einige ihren Anspruch auf völlige kreative Freiheit geltend machten. Während der Wind der Romantik den kreativen Geist beflügelte, kam es unter den Direktoren Vernet und Ingres (1828–41) zu einer „gotischen“ Welle. Diese Rückkehr zur harmonischen Schlichtheit Palestrinas erreichte ihren Höhepunkt dank der Anwesenheit der Komponisten bei den Auftritten der Kastraten der Sixtinischen Kapelle. Androt fand ihren Gesang „großartig“ und Massenet sagte, er sei „beeindruckt“. Dann erfasste der Wagnerismus die Villa: Alle beeilten sich, diese Modernität zu studieren, die das Institut vergeblich auszumerzen versuchte. „Und zu denken, dass es Amateure gibt, die diese Musik bewundern“, schrieb Gabriel Pierné. Im Gegensatz dazu erlebte Gustave Charpentier dank Wagner „unvergessliche Schauer, Tränen, Vibrationen, den Zusammenbruch des Wesens, die Erhebung der Seelen“. In den 1870er Jahren protestierte das Ministère des Beaux-Arts gegen den akademischen Immobilismus in der Villa, die es beschuldigte, „das ursprüngliche Temperament der Studenten einzuschränken und zu ersticken“. Nach und nach entstanden auf dem Pincio Werke, die ihre Wurzeln in der Beschäftigung mit den neuen „Ismen“ hatten: Symbolismus, Naturalismus, Expressionismus … Der Weg schien endlich frei, um sich Gehör zu verschaffen. Zwei Schlüsselkonzepte wurden zur Norm: Anfechtung und Übertretung. Dieser Widerstand gegen die etablierte Ordnung zeugte von der Entschlossenheit erfinderischer, freiheitsliebender junger Menschen. Die Art und Weise, wie sie die Vorschriften umgingen – sei es in der Art der envois oder in ihrem Stil – veranschaulicht perfekt den daraus resultierenden Machtkampf zwischen zwei Generationen, in dem ältere Mentoren und junge Dissidenten jeweils ihre Argumente in eine lebhafte ästhetische Debatte einbrachten. (Palazzetto Bru Zane)

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Es ist das große Verdienst des Palazzetto Bru Zane, einige Preisträger des Prix de Rome in gewohnt luxuriösen CD-Buch-Ausgaben mit ihren Kompositionen für und um diesen Anlass zu präsentieren. Bereits erschienen sind in dieser Ausgabe Charles Gounod, Paul Dukas, Gustave Charpentier, Camille Saint-Saens, Claude Debussy. Mit der Edition No. 4 und No. 5 machen wir auf den heute kaum noch bekannten Max D´Ollone und auf den jungen Georges Bizet aufmerksam, dessen Jugendwerke so gut wie vergessen sind. Rolf Fath wirft einen Blick darauf. Anschließend haben wir Bizets Erinnerungen an seine Zeit beim Prix de Rome ausgeraben. G. H.

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Was auf den ersten Blick wie die Resteverwertung aus vielen Aufnahmesitzungen oder ein willkürliches Sammelsurium aussieht, hat dennoch Sinn und Verstand, wie der künstlerische Leiter Alexandre Dratwicki ausführt, „the Palazzetto Bru Zane presents nearly five hours of unknown or rearly performed music by Bizet, spanning his entire career. All the genres to which he contributed are to be found here: the opera, the cantata, the chorus, the mélodie, orchestrale and piano music. Yes, it is still possible, in 2024, to unveil so impressive an array of unpublished or rare works by so famous an artist“. Alles hat Sinn und Verstand, was Palazzetto Bru Zane veröffentlicht, die 4-CD-Ausgabe Bizet aus der Serie der Portraits und die 2 CDs zu Max d’Ollone aus der, wie die Portraits-Serie auf sechs Nummern angewachsenen Collection Prix de Rome, mit der das Label seinen weitaus umfangreicheren Katalog französischer Opern aus den Jahren 1780 bis 1920 ergänzt. Beide exquisite Buchformate mit den entsprechenden CDs in den Laschen der vorderen und hinteren Innenseiten sehen imposant aus, die Max d’Ollone-Ausgabe ziert sogar eine Goldprägung, auf dass der Band seinen Platz im Wohnzimmerschrank neben dem Meyer-Lexikon finde. Dazu kommen jeweils mehrere schöne Texte (franz./ engl), viele von Dratwicki, die Gesangstexte, Auflistungen und Abbildungen der Mitwirkenden. Ganz hinten, wo man schon nicht mehr zu hoffen wagt, dann endlich die Tracklist mit den ziemlich klein gedruckten jeweiligen Interpreten, was den Eindruck unterstreichen könnte, dass neben der wissenschaftlichen Fleißarbeit der sinnlich-musikalische Aspekt nebensächlich ist.

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Der junge Georges Bizet/Gemälde von Félix Henri Giacomotti/Detail/Wikipedia

Das Bizet-Portrait kommt nicht ohne Bekanntes aus, denn eine der vier CDs nimmt seine 1872 an der Opera-Comique uraufgeführte Djamileh ein. Das geht insofern in Ordnung, da es nicht allzu viele Einspielungen des Einakters für drei Sänger, Chor und Orchester gibt, und schon gar keine Einspielung mit historischen Instrumenten wie Les Siècles unter François-Xavier Roth, die wie bei einem alten Gemälde den originalen Firnis freilegen. Denn wie ein Gemälde mutet Alfred de Mussets Namouna–Dichtung an, nach der Louis Gallet seine schlichte und undramatische Handlung um Djamileh entworfen hat, die sich in Haroun verliebt. Regelmäßig tauscht dieser aber seine Gespielinnen aus, doch mit Hilfe des Dieners Splendiano kommt Djamileh heimlich noch einmal des Nachts verschleiert zu ihm. Haroun verliebt sich natürlich in sie. Die Aufnahme wirkt frisch und direkt, hier weht allerdings weniger der Duft des Orients als die pragmatische Hemdsärmeligkeit der Spieloper, Sahy Ratia ist ein leichtgewichtig tenorzärtlicher Haroun, Isabella Druet eine lodernde Djamileh und Philippe-Nicolas Martin der noble Bariton-Diener.

Zu Bizets „Paul et Virginie“/Illustration von Paul Massé/BNF Gallica

Doch ein Hauptaugenmerk dieser Ausgabe liegt auf Werken, die Georges Bizet am Konservatorium erstellte, in das er kurz vor seinem zehnten Geburtstag 1848 aufgenommen und ab 1853 hauptsächlich von Fromenthal Halévy unterrichtet wurde. Sein Ziel, wie das aller Kommilitonen, war der Prix de Rome, der nicht nur Prestige und Anerkennung versprach, sondern auch einen mehrjährigen Aufenthalt in der Villa Medici in Rom. Als Gegenleistung für den kostenfreien Rom-Aufenthalt hatten die Stipendiaten der Académie jährlich ein Werk einzureichen. Für den Prix de Rome kamen in der entscheidenden zweiten Runde des Wettbewerbs ausschließlich Kantaten-Kompositionen für drei Solisten und Orchester auf einen vorgegebenen Text in Frage. In diesem Zusammenhang erklingt auf der dritten CD als Novität und Ersteinspielung die bislang nie aufgeführte Kantate Le Retour de Virginie, die Bizet um 1855 auf einen Text komponierte, der für den Prix de Rome-Wettbewerb des Jahres 1852 vorgegeben war, den Léonce Cohen gewann. Der Text von Auguste Rollet konzentriert den 1787 erschienen Roman Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre auf wenige zentrale Szenen, in denen Bizet durch instrumentale Delikatesse bildhaft die Szenerie auf Mauritius ausmalte. Die späte Uraufführung erfolgte im Mai 2024 im Auditorium de Lyon. Ben Glassberg leitete das Orchestre national de Lyon, es singen Marie-Andrée Bouchard-Lesieur, Cyrille Dubois und Patrick Bolleire, die sich im zentralen Gebet „O roi des cieux“ wirkungsvoll verbinden. Dubois triumphiert in der ausgesprochen umfangreichen und in unbequemer Lage angesiedelten Partie des Paul, das meckernde Vibrato muss man in Kauf nehmen.

Zu Bizets „Clovis et Clotilde“: „Le baptême de Clovis“ von Jean Alaux 1835/Wikipedia

Mit Clovis et Clotilde auf einen Text von Amédée Burion setzte sich Bizet 1857 gegen den von der Musiksektion der Académie favorisierten Charles Colin durch und gewann endlich mit den Stimmen der gesamten Académie des Beaux-Arts den Prix de Rome, was ihm zum erhofften Rom-Aufenthalt verhalf. Auch Clovis et Clotilde geriet völlig in Vergessenheit und wurde erst 1986 durch Jean-Claude Casadesus wiederentdeckt. Den Übertritt des Merowingerkönigs Chlodwig bzw. Clovis zum Christentum gestalten Karina Gauvin als Clotilde, Julien Dran als Clovis und Huw Montague Rendall als auf der vierten CD auf überaus effektvolle und packende Weise; Julien Chauvin dirigierte bei der Aufführung im März 2022 in Soisson. Bizet belebte das steife religiöse Thema durch die bildhafte Darstellung lärmender Schlachten und inniger Gebete und eine sensible Orchestrierung, wie sie Clotildes Romance „Il est si beau, mon doux Sicambre“ umkleidet. Das anschließende Duett „Vers toi monte notre prière“ verwendete Bizet neuerlich in Les pêcheurs de perles.

Hingewiesen werden soll auf einige Männerchöre, die Bizet zwischen 1854-57 und 1869 („La Mort s’avance“) schrieb. David Reiland führte diese im Juli 2023 in Metz mit dem Flemish Radio Choir und dem Orchestre national de Metz Grand Est auf; Mélissa Petit und Cyrill Dubois sangen die Soli. Die gleichen Musiker präsentieren (CD 2) auch die nach dem Vorbild von Félicien Davids Le Désert und Christophe Colomb zwischen weltlichem Oratorium und Oper angesiedelte sehr interessante Ode symphonique Vasco da Gama für Solisten, Chor und Orchester und Erzähler. Es war eines der zahlreichen Werke, die Bizet in den vier Jahren in Rom u.a. neben der Buffa Don Procopio und dem Te Deum schrieb. Von den drei Akten, zu denen ihm Louis-Michel-James Lacour-Delâtre den Text verfasste, stellte er nach dem mediokren Erfolg bei der ersten Aufführung in Paris 1863 nur den ersten Akt mit Vasco da Gama, dem Leutnant Alvar und dem Seemann Leonard fertig. Letzterer ist eine Hosenrolle für einen Koloratursopran, dem der virtuose, später in Ivan IV. wieder verwendete Bolero „La marguerite a fermé sa corolle“ zufällt. Mélissa Petit singt den Léonard, Thomas Dolié spricht den Vasco da Gama, Dubois singt den Bruder Alvar.

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Genau 40 Jahre nach Bizet errang Max d‘Ollone den Prix de Rome. Keiner kennt den 1875 in Besançon geborenen und 1959 in Paris gestorbenen Komponisten. Vielleicht ist in Frankreich sein Enkel, der Komponist Patrice (*1947), eher bekannt, der 1990-2002 als künstlerischer Leiter des Orchestre National de France (ONF) fungierte, Musikwissenschaft an der Sorbonne lehrte und die Festivals in Menton, Béziers und in der Abtei von Valmagne leitete. Großvater Max war, wie Patrice d’Ollone in der schönen Ausgabe schreibt, vor allem ein Komponist von Bühnenwerken und Verfasser von zehn Bühnenwerken, von denen fünf in den 1920er und 30er Jahren an der Opéra bzw. an der Opéra-Comique uraufgeführt wurden. Er sei durch die Bühnenwerke von Wagner und Saint-Saens beeinflusst, er bewunderte Massenet, in dessen Kompositionsklasse er 1894 eintrat. Später unterrichtete Max d’Ollone selbst am Conservatoire, war 1941-44 Direktor der Opéra-Comique sowie Mitglied der Groupe Collaboration, was vielleicht erklärt, weshalb er nahezu in Vergessenheit geriet. Palazzetto Bru Zane beleuchtet das Schaffen von d’Ollone anhand seiner Kantaten und Chorwerke, die im Zusammenhang mit dem Prix de Rome entstanden, seien es die Essais, die Versuche, L’Èté auf den Text von Victor Hugo von 1894, Hymne nach Jean Racine von 1895, Pendant la tempête nach Théophile Gautier von 1896, Sous-bois auf den Text von Philippe Gille von 1897, die Kantate Clarisse Harlowe mit dem auf dem berühmten Richardson-Roman Clarissa (1748) basierenden Text von Edouard Noël, mit der er 1895 den zweiten Preis errang, und die Kantate Mélusine nach Fernand Beissler, die 1896 nicht prämiert wurde. Die lebhaften Auseinandersetzungen, welche die Findungen begleiteten, werden im Buch ausführlich beschrieben. Umsichtig und fleißig haben Hervé Niquet und der Flemish Radio Choir und die Brussels Philharmonic diese Werke zusammengetragen und bereits im März und Juni 2012 in Brüssel aufgenommen.

Der junge Max D´Ollone/Fotografie von Nadar/Palazzetto Bru Zane

Das zentrale Werk, wenngleich nicht das umfangreichste, ist die 1897 mit dem Prix de Rome ausgezeichnete Frédégonde. Im vierten Anlauf errang Max d’Ollone endlich den Preis, der ihn im Winter 1897/98 nach Rom führte, wo er bald von Cavalleria rusticana, La Bohème, Manon Lescaut und Norma schwärmt und alle Italien-Impressionen einen lebenslangen Einfluss auf sein Schaffen haben werden. Im Zusammenhang mit der Siegerkantate denkt man an die 2022 in Dortmund als deutsche Erstaufführung präsentierte Frédégonde von Guiraud, die sein Freund Saint-Saens für die Pariser Uraufführung 1895 vervollständigt hatte. Wie bei Bizets Clovis et Clotilde handelt es sich um einen Stoff aus der Merowingerzeit, den Charles Morel in Rezitative, eine Arie, ein Duett und ein Terzett packte, wobei d’Ollone die beiden Konkurrentinnen, die hochdramatische wütende Frédégonde und die lieblichere Galswintha, scharf charakterisierte. Auf der Aufnahme werden sie von Jennifer Borghi und Chantal Santon übernommen, die sich im melodisch leidenschaftlichen Terzett mit Julien Drans drahtigem Tenor (Chilpéric) verbinden. Rolf Fath

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Und nun Georges Bizets Erinnerungen an den Prix de Rome: 1856 bewarb ich mich um den renommierten Prix de Rome, allerdings ohne Erfolg. In diesem Jahr wurde der Musikpreis an niemanden vergeben, der am Wettbewerb teilgenommen hatte. Stattdessen nahm ich an einem Opernwettbewerb teil, der von Jacques Offenbach organisiert wurde und mit einem Preisgeld von 1.200 Francs dotiert war. Ich gewann zusammen mit Charles Lecocq, der später die schockierende Behauptung aufstellte, ich hätte nur gewonnen, weil Halévy einer der Juroren gewesen sei.

Obwohl diese Behauptungen unnötig waren, wurde ich durch den Gewinn des Wettbewerbs zu einem regelmäßigen Gast bei Offenbachs Dinnerpartys am Freitagabend, wo ich eine Reihe von Musikern mit unterschiedlichem Erfolg traf. Mein Lieblingsbegegnung war jedoch die mit Gioachino Rossini, der mir ein signiertes Foto schenkte. „Rossini ist der Größte von allen, denn wie Mozart hat er alle Tugenden.“

Mit neunzehn Jahren nahm ich 1857 erneut am Prix de Rome teil. Mit Gounods Zustimmung reichte ich die Kantate Clovis at Clotilde von Amédée Burion ein. Ich gewann den ersten Preis und erhielt ein Stipendium für fünf Jahre. Gemäß den Bedingungen des Preises sollte ich zwei Jahre in Rom, ein drittes in Deutschland und die letzten beiden in Paris verbringen. Während dieser Zeit sollte ich jedes Jahr ein Originalwerk bei der Académie einreichen. Vor meiner Abreise wurde meine preisgekrönte Kantate an der Académie mit großem Erfolg aufgeführt.

.Rom: Georges Bizets Inspirationen und Misserfolge. Am 27. Januar 1858 kam ich in der Villa Medici an. Es war ein Paradies, in dem die französische Académie in Rom untergebracht war, und der perfekte Ort für mich und die anderen Preisträger, um unseren künstlerischen Ambitionen nachzugehen. Das Problem war, dass ich mich zu sehr in mein neu gefundenes gesellschaftliches Leben verstrickte, sodass das einzige Stück, das ich in den ersten sechs Monaten meines Aufenthalts in Rom komponierte, ein religiöses Stück namens Te Deum war.  Te Deum beeindruckte die Juroren nicht, und ich war so entmutigt, dass ich mir schwor, nie wieder religiöse Musik zu schreiben. Te Deum blieb bis 1971 unveröffentlicht.

Rom: Georges Bizets Inspirationen und Misserfolge. Im Winter 1858/59 arbeitete ich an meinem ersten Gesuch für die Académie. Es sollte eine Messe nach Carlo Cambiaggios Libretto Don Procopio werden, aber nach meinem Schwur beschloss ich, einen anderen Weg zu gehen und die Regeln zu umgehen. Am Ende reichte ich etwas anderes ein, und zu meiner Überraschung gefiel es der Académie. Sie sagten, ich hätte eine „leichte und brillante Note“ und einen „jugendlichen und kühnen Stil“.

Für meinen zweiten Envoi hatte ich beschlossen, ein halbreligiöses Stück einzureichen, um die Toleranz der Académie nicht zu überstrapazieren. Es hieß Carmen Saeculare, eine weltliche Messe auf einen Text von Horaz, und war als ein Lied an Apollo und Diana gedacht.

Leider existiert dieses Stück nicht. Ich habe nie damit angefangen. Während meiner Zeit in Rom wurde es zu einem Teil meines Lebens, ehrgeizige Projekte aufzugeben. Ich habe mindestens fünf Opern verworfen, zwei Versuche einer Symphonie und eine symphonische Ode zum Thema Odysseus und Circe. Ich habe es geschafft, in Rom nur ein Stück fertigzustellen, eine symphonische Dichtung namens Vasco da Gama, die Carmen Saeculare als mein zweites Werk ersetzte. Vasco da Gama wurde von der Académie gut aufgenommen, geriet aber schnell wieder in Vergessenheit.

Georges Bizet Entdecken Italiens. In den wärmeren Monaten des Jahres 1859 begannen meine Begleiter und ich, Orte in der Umgebung von Rom wie Frosinone zu besuchen. Es waren inspirierende Orte, reich an Geschichte. Im August wagte ich mich nach Neapel und Pompeji, wo mich Letzteres so sehr inspirierte, dass ich begann, eine Symphonie zu entwerfen. Daraus sollte später „Roma“ werden, aber zu diesem Zeitpunkt kam ich nur sehr langsam voran und vollendete sie erst 1868.

Nach meiner Reise nach Pompeji kehrte ich nach Rom zurück und erhielt auf meinen Antrag hin die Zusage für ein drittes Jahr in Italien, anstatt nach Deutschland zu gehen. So konnte ich „ein wichtiges Werk vollenden“, das ich, wie ich glaube, nie fertiggestellt habe.

Leider erhielt ich während eines Besuchs in Venedig mit Ernest Guiraud die Nachricht, dass meine Mutter schwer erkrankt war, und kehrte sofort nach Paris zurück. (Leading Musicians)/DeepL/ Foto oben Villa Medici/VillaMedici.it)

Barbara Krieger

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Die Sopranistin Barbara Krieger hat mit einer neuen Studio-Aufnahme von Richard Strauss´ Oper Elektra in ihrer Karriere einen neuen Meilenstein erreicht, wie Kollege Michael Stange schreibt. Er war davon so begeistert, dass wir im Folgenden sein Interview mit der Sängerin von der Klassik-Platform Ioco mit Dank übernehmen.

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Die Aufnahme wird beim Label Solo Musica, physisch am 01.04.2025, und digital voraussichtlich im März auf den gängigen Streaming Diensten und in der Naxos Music Library veröffentlicht werden.
Mit umjubelten Aufführungen der Oper in Brandenburg hat sich Barbara Krieger im vergangenen Jahr als eine neue Interpretin dieser Partie präsentiert.
Die Corona-Pause hat sie optimal genutzt, um diese wohl schwerste Sopranrolle vertieft zu erarbeiten uns zu verinnerlichen, So konnte sie sich mit den tiefen Abgründen der Rolle und deren  Fallstricken vertraut machen.  Barbara Krieger ist es gelungen, die Rolle sowohl live als auch im Studio mit zutiefst dramatischem, individuellem, anrührendem und eindringlichem Gesang auszufüllen.
Nach der ersten Öffnung der Theater während der Pandemie sang im August 2020 die Leonore in Fidelio in Graz bei den wieder aus der Taufe gehobenen Festspiele auf dem Schlossberg.  Die einstudierte Isolde konnte sie pandemiebedingt zunächst nur in einer konzertanten Aufführung des 2. Aktes in Bukarest interpretieren.
Barbara Krieger ist unbeschadet ihrer dramatischen Ausflüge weiter im Belcanto-Fach verankert. Ihr vielfältiges Können und umfangreiches Opernrepertoire hat sie im vergangenen Sommer im 8. Classic Open Air Dresden mit Arien und Duetten aus Werken von Puccini, Wagner und Verdi präsentiert. Weitere CD-Veröffentlichungen beinhalten auch Lieder des im 1. Weltkrieg gefallenen Komponisten Cecil Coles.
Gesanglich überzeugte sie durchweg mit lyrischem Klang, inniger Interpretation und einer immensen Klang- und Farbvielfalt der Stimme. Fulminante Attacke verbindet sie mit innwendigem Ton, so dass neben der Elektra weitere dramatische Rollen in Reichweite liegen. Unbeschadet dessen ist stets auch nach ihren dramatischen Ausflügen selbstverständlich in das Konzertrepertoire zurückgekehrt. So sang sie zuletzt im Berliner Dom im November 2024 ein begeistert aufgenommenes Verdi Requiem.

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Was waren ihre ersten Berührungspunkte mit Musik in der Kindheit und welche musikalischen Erfahrungen haben Sie als Jugendliche gesammelt? Mein Vater stammt aus einer sehr musikalischen Familie. Obwohl er kein Berufsmusiker ist, spielt er fünf Instrumente. Als kleines Kind hat er gemeinsam mit mir häufig die Zauberflöte für Kinder unter Karl Böhm gehört. Als ich bei meinem ersten Opernbesuch in der Zauberflöte in Wiesbaden die Arie der Königin der Nacht hörte, bin ich dann peinlicherweise aufgesprungen und habe mitgesungen (ein frühes, peinliches Rollendebüt). In der 5. Klasse haben wir die Meistersinger von Nürnberg durchgenommen mit allen Themen und Motiven. Gekrönt wurde das mit einem Opernbesuch und seitdem war mir klar, dass ich Sängerin werden will.

Barbara Krieger beim Classic Opern Air Dresden/Foto

 Vor dem Gesangsstudium haben Sie Germanistik, Anglistik und Musikwissenschaften studiert. Welchen Einfluss hatte das für Sie, wie haben Sie das Studium und erste Schritte in den Beruf erlebt und was war für sie besonders wichtig? Natürlich sagen alle Eltern erst einmal, man müsse etwas vernünftiges Lernen. Das habe ich dann auch gemacht. Mir war aber immer klar, dass ich danach Sängerin werden wollte. Nach meinem ersten Studium fühlte ich mich mit meinen 22 Jahren steinalt, so dass ich mich entschied, nach Salzburg zu gehen. Grund war, dass ich davon ausging, dass dort um 7 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt würden und ich mich dadurch auf das Studium konzentrieren könne und nicht von einer Stadt mit ihren mannigfaltigen Angeboten abgelenkt würde. Wichtig für die Vorbereitung auf die Praxis waren die stimmliche Ausbildung und die übrigen Komponenten wie Darstellung. Ein wichtiger Faktor, der zu kurz kam, war der musiktheoretische Teil. Das Wissen um die Struktur und die Musiktheorie erleichtern Vorbereitung und Rollenstudium ungemein. Die Kenntnis von Liederzyklen wie Schöne Müllerin oder der Winterreise und den theoretischen Aufbau finde ich nicht nur musikalisch, sondern auch sprachgeschichtlich eminent wichtig. Wenn man als Kind diesen Zugang zu den Wurzeln der klassischen Literatur und Musik nicht bekommt, dann wird es schwierig, sich später mit der sogenannten ernsten Musik zu identifizieren und hineinzufinden. Konzerthörer, die wissen, dass beispielsweise in der Exposition das thematische Material vorgestellt wird, können das Wechselspiel der Haupt- und Seitenthemen viel besser verfolgen. Die Konzerterfahrungen können so anhand bekannter Muster besser miterlebt und intensiver genossen werden. Diese Grundlagen kommen mir heute zu kurz.

Barbara Krieger beim Classic Open Air Dresden/Foto

Ich glaube auch, dass stimmliche Sicherheit und eine intensive Beschäftigung mit und Vorbereitung auf das Werk Grundlage für eine inwendige Gestaltung sind. Zudem bin ich dadurch weitgehend von Lampenfieber verschont, weil ich vor Auftritten durch die Vertrautheit mit der Rolle nicht unsicher bin.

Heute ist eine extrem gute Vorbereitung für die Karriere noch wichtiger. Wegen des knappen Budgets viel weniger Proben möglich, so dass Sänger und Orchester extrem perfekt vorbereitet sein müssen.

Mir kommt das entgegen, da ich bei Proben häufig ungeduldig bin aber gerade für junge Kolleginnen und Kollegen wäre eine Unterstützung bei Rollenstudium während der Probenzeiten sehr hilfreich für ihre Entwicklung.

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Sowohl im letzten Berliner Konzert mit Verdis Requiem im Herbst des letzten Jahres als auch im Classic Open Air in Dresden im Sommer wurden Sie für Ihr silbernes, jugendliches Timbre, ihre solide Tiefe, die runde Mittellage und Ihre sicheren Höhen gelobt. Sie verfügen über eine sehr runde ausgeglichene und in allen Registern ansprechende Stimme, die in ihrer technischen Beherrschung an große Sängerinnen der Vergangenheit erinnert. Wie haben Sie das erreicht? Ein ganz wichtiger Punkt ist der Gesangscoach! Als etwas erfahrenerer Sänger weiß man sofort, welcher Coach passt und welcher eher nicht. Und das sowohl bei Gesangslehrern als auch bei Korrepetitoren. Ich habe lange mit dem leider 2023 verstorbenen Reiner Goldberg gearbeitet. Nach seiner großen Tenorkarriere war er ein begnadeter und liebevoller Pädagoge. Seine technischen Tipps und das Auflockern und Entspannen der Stimme selbst in den kleinsten Pausen und seine übrigen Hinweise haben meine Entwicklung weiter beflügelt. Ich bin lieber übervorbereitet, als etwas dem Zufall zu überlassen und auf der Bühne die Nerven zu verlieren.

Vor einigen Jahren kam eine Anfrage für eine Isolde in Venezuela. Daraufhin habe ich mich sofort an das Rollenstudium gemacht und mir die Partie in fünf Monaten erarbeitet. Die unglaubliche Vielfalt und Tiefe der Musik hat sich mir beim Rollenstudium noch mehr offenbart und dadurch konnte ich die Rolle in mir fließen lassen. Ich habe mich jeden Tag 2 Stunden gelernt und mit meinem Korrepetitor studiert. Zur Isolde in Venezuela ist es dann aufgrund politischer Umstände nicht gekommen. So war ich sehr froh über das Angebot aus Bukarest.

Ein grundsätzlicher Ansatz im Leben und nicht nur beim Singen ist auch, dass man, wenn es mal nicht so gut läuft, sich selbst am Schopf packen und dem eigenen Spiegelbild zuzulächeln muss. Schwierigkeiten sollte man optimistisch angehen und mit positiver Energie meistern. In meinem Freundeskreis habe ich Menschen, die trotz schwerster Schicksalsschläge eine sprühende Energie und Lebensfreude versprühen, die mich staunen macht und die für mich vorbildlich ist.

Diese Paarung von Disziplin, Konzentration, seriösem Studium, Lebensfreude und das Meistern von Lebenskrisen sind für mich sowohl wichtige Komponenten für das Leben als auch für eine erfüllte Gesangslaufbahn.

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Barbara Krieger beim Classic Open Air Dresden/Foto Christian Fritsch

Nach der Konzertaufführungen von Beethovens Missa Solemnis an der Sie Anfang März 2020 in Berlin mitgewirkte haben, fanden infolge der Pandemie bis August 2020 keine Konzerte statt. Sie haben das im August des gleichen Jahres mit der Grazer Leonore durchbrochen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Für mich wie für alle anderen Musiker war die Zeit schrecklich, alleine schon deshalb, weil man nicht miteinander singen konnte, musizieren konnte und man nicht einmal miteinander lernen konnte. Jetzt bin ich aber auch nicht der Typ Mensch, der den Kopf schnell in den Sand steckt, und jammert, ich gehe Dinge lieber proaktiv an und habe mich deshalb entschlossen, die Pandemie zu nutzen, um Dinge zu lernen die Zeit brauchen. Ich hatte dann das große Glück mit Fidelio in Graz in den Kasematten, deren Dach man öffnen, kann der Pandemie schneller ein Ende zu setzen.

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Sie sind ja eine Frau, die durch die Vielfältigkeit der Ausbildung, den Reichtum des Gesangsrepertoires und die Intensität der Gestaltung heraussticht. Zudem verfügen sie über viele andere Begabungen aus denen das Talent zur Organisation von Festspielen wie den Dresdner Sommerkonzerten aber auch die Fähigkeit des Fliegens eines Hubschraubers hervorstechen. All dies macht ja einen Menschen aus. Welchen Blick haben Sie als im hier und jetzt lebender Mensch aber auch als Künstlerin auf eine Rolle wie die Leonore im Fidelio? Ist sie neben der tief Liebenden Frau auch eine Managerin oder eine Pilotin, die auf dem Dach der Feinde landet? In welcher Weise ist sie heute Vorbild für uns? Für mich ist die Fidelio Leonore in erster Linie eine Frau, die gegen Ungerechtigkeiten ankämpft und zwar mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln. Es fängt schon damit an, dass sie sich im ersten Akt sowohl gesanglich als auch gestalterisch zunächst im Hintergrund halten muss, um ihre Fäden zu ziehen. Für mich ist sie damit weniger Managerin oder Pilotin als vielmehr eine Frau, die all ihre Sinne beieinander hat und auch zurückstehen kann, um am Ende das zu erreichen, was sie möchte.

„Elektra“ am Theater Brandenburg/Szene mit Barbara Krieger und Yvonne Elisabeth Frey/ Foto Detlef Kurth

Fidelio, wie auch viele andere Klassiker haben für mich ihre Bedeutung in jeder Zeit. Wobei ich es sehr schätze, wenn ein Fidelio, ohne die doch sehr überholten Dialoge aufgeführt wird. Ich habe die Fidelio Leonore mit vielen unterschiedlichen Orchestern und Besetzungen gesungen und bin zunehmend hingerissen von der stärke dieser Frau. Natürlich. Wenn man das Libretto eins zu eins liest, weist es einiges auf, was sehr antiquiert wirkt aber das Universe dieser Klassiker liegt ja nicht im antiquierten Deutsch. Was diese Oper vielmehr so zeitlos macht ist, dass geplantes, kluges Handeln und abwarten können viel zielführender ist als das blosse Wollen. Um Roccos Vertrauen zu erlangen,in dessen Gefängnis ihr Gatte Florestan inhaftiert ist  arbeitet sie zu Beginn der Oper bereits  mehrere Wochen als dessen Gehilfe. Auch beim Erscheinen ihres und ihres Mannes Erzfeind Pizarro bleibt sie zumindest nach außen hin gefasst und zielgerichtet. Nur in ihrer großen Arie „Abscheulicher, wo eilst Du hin“, die sie allerdings völlig alleine auf der Bühne singt, brechen ihre Gefühle kurz hervor. Um ihr Ziel, ihren Mann zu befreien zu erreichen findet sie sich aber sofort wieder in ihre Rolle als Gehilfe und erreicht einen Spaziergang der Gefangenen an einem sonnigen Tag. Den ganzen ersten Akt hindurch muss sich diese sehr starke Frau im Hintergrund halten, um die Pläne zur Befreiung ihres Gatten voranzutreiben.  Das spiegelt sich auch in der Komposition wider. Abgesehen von der Arie singt Leonore immer „unauffällige“ Mittelstimmen. Erst mit der Durchsetzung ihres Plans und der letztendlichen Befreiung Florestans setzt sie sich auch stimmlich an die Spitze. All das ist für mich zeitlos mutig. Heute müsste man sicherlich andere Mittel und Wege finden, aber der Mut, für die Erreichung seiner Ziele große Gefahren in Kauf zu nehmen, bleibt der gleiche.

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„Elektra“ am Theater Brandenburg/Szene mit Barbara Krieger und/ Foto Detlef Kurth

Manche Pläne wie die vollständige Isolde auf der Bühne mussten durch die Pandemie zurückgestellt werden, aber vermutlich tragen sie die Rolle immer noch im Herzen. Eine gewisse Parallele zwischen Leonore und Isolde besteht ja darin, dass beiden Protagonistinnen der geliebte Mann entrissen wurde und die Heldinnen ihn zurücksehnen und sich für ihn aufopfern. Für Isolde hat das Schicksal aber den Zaubertrank bereitgehalten, so dass sie der Hochzeit mit dem ungeliebten König Marke entrinnt und an das Sterbebett Tristans eilt? Was verbinden sie mit diesem Werk und der Rolle? Isolde ist für mich von der Schönheit der Musik her kaum zu überbieten. Sollte ich dir Frauenfiguren, Isolde und Leonore vergleichen, fiele mir das schwer. Isolde lebt in einem Umfeld, in dem Wunder möglich sind und auch Zaubertränke. Leonore, in der harten Realität eines Kerkers. nichts, desto weniger vereint die beiden natürlich die stärke ihres Willens und auch die Kompromisslosigkeit in der Wahl der Mittel, um ihr Ziel zu erreichen.

Auch im Privaten musste ich natürlich schon früh erkennen, dass man im Leben nicht geholfen bekommt, dass es, um vorwärts zu kommen besser ist, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. In der Entstehungszeit der drei Opern war das Abwerfen des Rollenklischees starker Mann- zu beschützende Frau sicher revolutionärer als heute. Abe rauch heutzutage trifft man dieses Klischee noch häufig an, das in meinem Leben gar keine Rolle spielt. Nicht zuletzt deshalb mag ich diese drei Rollen außerordentlich.

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Blickt man auf Elektra kann man sich gesanglich auf den Gedanken verfallen, dass die Rolle der Isolde im ersten und zweiten Akt in zeitlich komprimierter Form in die Elektra gegossen wurde. Daher haben wenige Soprane beide Rollen lange erfolgreich gesungen. Wie ist bei Ihnen der Entschluss gereift, das Werk zu studieren und die Rolle auf die Bühne zu bringen? Elektra war mein Corona Projekt. Schon seit vielen Jahren haben diverse Dirigenten den Wunsch geäußert, mit mir Elektra zu machen. Da ich aber wusste, dass diese Partie eine sehr lange und sehr intensive Vorbereitungszeit braucht, die ich meist nicht hatte, habe ich immer abgelehnt. In der Corona Zeit hatte ich dann Zeit im Überfluss. Deshalb reite ihn mir auf der Gedanke, Elektra nicht nur herkömmlich zu lernen, sondern das ganze Werk ohne Striche. dabei ist mir aufgefallen, dass, wenn man das Werk ohne Striche aufführt, die Logik des Handelns, der Elektra endlich vollständig logisch ist. In der normalerweise aufgeführten Strich Fassung fehlt mir der emotionale Unterbau, um das Handeln der Protagonisten begreiflich zu machen.

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Barbara Krieger in „Elektra“ mit Sotiris als Orest Charalampous am Theater Brandenburg“/Foto Detlev Kurth

Mein Eindruck war, dass Sie die Rolle der Elektra schon in der Premiere dramatisch tief ausgelotet haben. Dabei haben Sie ungemein differenziert und wenn man das in dieser Rolle sagen darf, mit „Italianità“ aber auch immensem dramatischen Aplomb gesungen. Was waren ihre gesangstechnischen Leitlinien? Was waren die größten Fallsticke und was waren die wichtigsten Lehren für künftige Auftritte? Erst einmal vielen Dank. Bei Elektra war es für mich von allergrößter Relevanz, die Partie technisch und rhythmisch so genau zu lernen, dass sie mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Denn im Gegensatz zu Isolde , die von der Musik getragen wird, ist dies bei Elektra gar nicht der Fall, sondern die rhythmische Komplexität untermauert nur die Zerrissenheit dieser Figur.

Ich hatte zwar gerade mit Elektra mein Rollendebüt, hatte aber vorher die Möglichkeit und gleichzeitig auch die Herausforderung, die gesamte Rolle auf CD einzusingen. Für mich war es wichtig, immer eine technische Distanz zu der sehr dramatisch aufspielenden Figur zu behalten. Einen besonderen Fokus habe ich daraufgelegt, nie die Gesangslinie zu verlassen, auch wenn es an einigen Stellen der Oper quasi danach schreit. Selten habe ich bei der Verkörperung einer Figur eine solche Entkopplung zwischen Schauspiel und Gesang erreichen können. Für mich war von allerhöchster Wichtigkeit, mich nie hinreißen zu lassen, um eines Effektes willen die gesangliche Struktur zu zerstören. Auch habe ich bereits beim Lernen der Rolle mit schon peinlicher Genauigkeit darauf geachtet, welche Töne ich im Brustregister singen werde und wo der Übergang liegt. Und an dieses Gelernte habe ich mich gehalten. Überhaupt ist es bei Partien wie beispielsweise Elektra von größter Wichtigkeit sie in Ruhe zu lernen. Ich habe die Corona Zeit genutzt und hatte dadurch alle Zeit der Welt. Und trotz meines großen Respekt es vor dieser Rolle, Bekam ich gerade am Wochenende das Kompliment, dass die Elektra meine Stimme hat reifen und schöner werden lassen. Also genau das Gegenteil von kaputt singen dass man häufig mit dieser Rolle verbindet.

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„Elektra“ am Theater Brandenburg/Szene mit Barbara Krieger und/ Foto Detlef Kurth

Was bedeutet Elektra für Sie persönlich? Elektra ist für mich persönlich von unschätzbarem Wert, weil ich während der Corona-Pandemie die Gelegenheit hatte, mich tief in diese Oper zu versenken. Diese Zeit war für uns alle eine Phase der Unsicherheit und der inneren Zerrüttung, die mich besonders empfänglich für den komplexen und zerstörten Charakter der Elektra gemacht hat. Ich habe die gesamte Oper in ihrer ungekürzten Form studiert, weil ich der Meinung bin, dass die üblichen Striche den Zuhörern die Möglichkeit nehmen, die Handlung in ihrer vollen emotionalen und dramaturgischen Tiefe zu erfassen. Elektras innere Zerrissenheit und ihr unstillbarer Drang nach Rache spiegeln die chaotischen Gefühle wider, die viele von uns in der Pandemie erlebt haben – eine Zeit, in der auch unsere inneren Kämpfe und Konflikte deutlicher zutage traten. Darüber hinaus bietet die mythologische Tiefe der Elektra-Gestalt eine besondere Resonanz für mich. Die griechische Mythologie ist nicht nur eine Sammlung alter Geschichten; sie ist ein Spiegel der menschlichen Seele, gefüllt mit archetypischen Bildern und Szenarien, die existenzielle Bedeutungen transportieren. Elektras Leiden unter dem gewaltsamen Tod ihres Vaters Agamemnon und ihr unnachgiebiger Rachedurst sind nicht nur persönliche Tragödien, sondern auch Ausdruck eines tief verwurzelten Menschseins, das seit Jahrtausenden Bestand hat. Die griechischen Dichter wie Sophokles haben es verstanden, diese uralten Mythen in eine Form zu gießen, die auch heute noch in uns nachhallt. Die Figur der Elektra fasziniert mich, weil sie inmitten dieser archaischen Welt eine der ersten ist, die nicht nur als Spielball der Götter agiert, sondern deren Innenleben selbst an Bedeutung gewinnt. Elektra kämpft nicht nur gegen äußere Umstände, sondern auch gegen ihre eigenen Dämonen, und in diesem Ringen erkenne ich viel von dem wieder, was uns Menschen seit jeher ausmacht: der Kampf mit uns selbst, mit unseren Verlusten, unserer Wut und unserer Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Elektra ist nicht nur ein Charakter, sie ist ein Spiegel für die Abgründe und die Kraft, die in uns allen schlummern. Und genau deshalb ist sie für mich persönlich so bedeutsam. Michael Stange

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Richard Strauss: Elektra mit Barbara Krieger/Elektra, Astrid Weber/Chrysothemis, Sanja Anastasia/Klytämnestra, Jochen Kupfer/Orest, Sotiris Charalampous/Aeigisth, Jasmin von Brünken, Ilja Martin, Lana Hartmann, Denise Seyhan, Frederike Harmsen, Anna Werle, Nataliia Ulasevych, Natalia Baldus und Oleksandra Diachenko/Aufseherin/Mägde, Orchestre Experience, Dirigent Julien Salemkour; 2 CD Solo Musica SM 484

Von Kanzonen und Kantilenen

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Mit acht CDs ist das neue Projekt von Opera Rara, DonizettiSongs, groß angelegt. Die ersten beiden Alben (ORR254&255) sind bereits erschienen, jeweils mit Carlo Rizzi, dem Artistic Director des Labels, am Flügel. Den Reigen eröffnete der im Donizetti-Repertoire namhafte Tenor Lawrence Brownlee, der auch bei dieser Auswahl seinen vitalen Gesang, seine gestalterische Emphase und die strahlende Höhe wirkungsvoll einsetzen kann. Im ersten Lied, „L´amante spagnuolo“, einer schwungvollen Tarantella, die vor allem in der Mittellage notiert ist, kann sich tenoraler Glanz in der exponierten Lage freilich noch nicht entfalten. Das ändert sich schon im nächsten Lied „Con le grazie“ und im folgenden. „Il donativo“, einem schwärmerischen Stück, das Brownlee perfekt in der Kehle liegt.

Donizettis Lieder, von denen es an die 200 gibt, können schwärmerische Kanzonen sein oder melancholische Kantilenen. Nicht selten vernimmt man die stürmische Verve einer Cabaletta oder den vehementen Rhythmus einer Stretta. Mehrfach erkennt man aus Donizettis Opern bekannte Motive, wie „Il sogno“, das Edgardos letzte Kavatine aus der Lucia zitiert. Viele Kompositionen entstanden auf Texte unbekannter Dichter, wie das populäre, übermütige „Amor marinaro“, einige Vorlagen stammen aus der Feder des berühmten Pietro Metastasio, wie „Trova un sol, mia bella Clori“, das sogar in zwei Versionen existiert, oder des von Bellini- und Verdi-Opern bekannten Librettisten Felice Romani. Dessen „Ella riposa“ ist mit Rezitativ, Cavatina und Cabaletta wie eine Opernszene angelegt und war dem polnischen Tenor Józef Michal Poniatowski gewidmet. Melodisch reizvoll sind die melancholische  Barcaruole „Sovra il remo“ und die Canzonetta „Or che la notte invita“ mit obligater Klarinette. Der Instrumentalist Jernej Albreht vereint sich hier mit dem Sänger zu einem innigen Duett. In doppelter Version existiert auch „Quando verrà sul colle“, wobei die zweite Fassung in ihrer elegischen, dem Konkurrenten Bellini verwandten Melodie opernnäher scheint, war sie doch dem legendären Tenor Giovanni Battista Rubini gewidmet. Brownlee kann hier seine glanzvollen Spitzentöne demonstrieren, welche dem berühmten Vorbild alle Ehre machen. Im nächsten Stück, „Il sospiro“, ist dagegen die tiefe Lage gefordert und auch hier zeigt sich der Sänger souverän. Die Sammlung der 28 Lieder endet mit der frühen  Komposition „Non giova il sospirar“, welche in ihren Ornamenten noch ganz den Einfluss Rossinis zeigt, aber auch schon Donizettis Energie aufweist, und die Platte heiter enden lässt.

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Giovanni Battista Rubini, Gaetano Donizetti, and Luigi Lablache, from the book The World of fashion and continental feuilletons, 1824. Internet Archive

Die zweite Ausgabe vereint 26 Lieder in der Interpretation des italienischen Baritons Nicola Alaimo, der seine Karriere beim Rossini Festival in Pesaro startete und dort beispielsweise Erfolge als Titelheld in Guillaume Tell feierte. Als Auftakt erklingt das heroische „La partenza del criocato“, dessen erste Zeile „Al campo della gloria“ bereits den Inhalt verrät. Donizetti übernahm die Melodie aus dem Duett Belisario/Alamiro seiner 1836 im Teatro La Fenice uraufgeführten Oper. Alaimo singt hier mit energischer Verve, um im nächsten Stück, „Ov´è la voce magica“, mit lyrischer Kantilene aufzuwarten.

In der Anthologie finden sich auch vier französische Kompositionen und eine deutsche. Letztere, „Auf dem Meere“ auf Worte eines unbekannten Dichters, stammt aus der Sammlung Das singende Deutschland. „J´aime trop pour être heureux“ in schmerzlichem Duktus wird von einer Soloviola (Abigail Fenna) begleitet. Die Stimme des Baritons ist keine noble, klingt eher robust und aufgeraut. Dadurch fehlen Liedern wie „Te dire adieu“ und „“L´amor funesto“ (mit Herry Snell am Cello) lyrische Valeurs und Eleganz. In „O Cloe“ evoziert er mit ganz leichter Tongebung eine Figur aus einer Buffa. Bei „Non v´è nume“ gibt es mit Daniel de Fry an der Harfe noch einen weiteren Instrumentalisten. Die Komposition erweckt die Stimmung von Lucias Auftrittskavatine und Alaimo nimmt sich hier stimmlich sehr zurück, überrascht mit weichen, warmen Tönen. Davon profitiert auch „Le Dernier Chant du Troubadour“. Das energische „Il crociato“ lässt nicht vermuten, dass es der namhaften Sopranistin Laure Cinti-Damoreau gewidmet, eher dass das urige „Il trovatore in caricatura“ dem bekannten Bariton Giorgio Ronconi zugedacht war. Einem anderen Vertreter dieser Stimmgattung, dem Franzosen Paul Barroihet, war „Un baiser pour espoir“ zugeeignet, das zwischen introvertierten und lebhaften Passagen wechselt. Die Platte endet mit „Quando mio ben t´adoro“, das bis vor kurzem als verloren galt und in einem österreichischen Kloster wiedergefunden wurde. Die beiden CDs machen neugierig auf die Fortsetzung des Projektes. 

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Opera Rara setzt ihre auf acht CDs konzipierte Ausgabe der Donizetti-Songs mit Volume 3 und 4 fort. Zwei prominente Sänger sind angetreten, um dem Liedschaffen des Komponisten aus Bergamo zu größerer Bekanntheit zu verhelfen. Vor allem Michael Spyres in Vol. 3 (ORR256) dürfte dazu beitragen, zählt er doch zu den gegenwärtig populärsten und kompetentesten Tenören im Belcanto-Fach und französischen Repertoire. Bei Opera Rara hat er bereits in mehreren Rossini- und Donizetti-Aufnahmen erfolgreich mitgewirkt. Der mittlerweile sogar im heldischen Wagner-Fach tätige Sänger überzeugt auch in diesem lyrischen Repertoire mit Phrasierungseleganz und feinen  legato-Bögen, mit reichem Farbspektrum und brillanten Spitzentönen, subtilen Text-Nuancen und messa di voce-Raffinement.

Zu hören sind 18 Kompositionen, fast alle in Französisch bis auf die überraschende Ausnahme in Track 8, wo ein Berglied in deutscher Sprache erklingt („Rings ruht die grüne Alpenhut“). Die Stücke stammen aus den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts während eines Paris-Aufenthaltes des Komponisten, sind somit seiner späten Schaffensphase zuzuordnen. Den Auftakt der Anthologie bildet Le Retour au désert, ein Lied voller Energie und Virtuosität. Die Begleitung des Klaviers im Bolero-Rhythmus imitiert galoppierende Hufe. Das nächste Lied, „Morte! et pourtant hier“, schildert als Trauer-Ode den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen und verklärt diesen zu einem Engel. Das ausgedehnte Rondo „Ah! si tu voulais, toi que j´ aime“ existiert auch als italienische Version („Ah! se d´ amore un palpito), da sein Charakter aber eher einem französischen Salonstück nahe steht, entschied man sich für die französische Fassung. An Schuberts „Erlkönig“ erinnert La Dernière Nuit d´un Novice in ihrem Dialog zwischen Gott und Teufel. Donizetti schrieb das Stück für die Tenor-Legende Adolphe Nourrit. Ein seltenes Beispiel für die Verbindung von Oper und Lied ergibt sich mit Un Rêve de bonheur, dessen Klavierbegleitung unvollständig überliefert war und rekonstruiert werden konnte, da der Komponist das Motiv später im Eingangschor zum 2. Akt der Adelia wiederholte. Auch das elegische „Je ne me plaignis pas“ lässt an ein anderes Stück denken – Maries „Il faut partir“ aus der Fille du régiment, für die es die Vorlage bildete. In der letzten Liedgruppe finden sich einige bemerkenswerte Titel, zum einen solche, wo zum Klavier noch ein weiteres Instrument kommt, wie Le Violon de Crémone mit der Geigerin Eloisa-Fleur Thom und Le Petit Joueur de harpe mit der Harfenistin Sally Pryce oder die inbrünstige Kantilene „Si tu m´as fait à ton image“ auf den Text von Nourrit vor seinem Suizid. Spyres gelingt erine bewegende Interpretation mit schmerzlichen, verschatteten Klängen.                                                            Wieder ist Carlo Rizzi, Artistic Director des Labels, der umsichtige und inspirierende Begleiter am Flügel.

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Bei Vol. 4 (ORR257) mit der franco-kanadische Mezzosopranistin Marie-Nicole Lemieux gibt es dagegen einen Wechsel am Instrument. Hier kommt der italienische Pianist Giulio Zappa zum Einsatz, der damit sein Debüt bei Opera Rara gibt. Er ist spezialisiert auf das Belcanto-Repertoire und hat viele Jahre bei den Festivals in Pesaro und Bergamo gearbeitet. Die 21 Lieder, welche die Sängerin präsentiert, sind in italienischer und französischer Sprache komponiert. beginnend mit „Bei labbri che Amore formò“. Das ist eine Canzone von keckem Duktus, die  Mozarts Dorabella suggeriert und sie zeigt eine bedeutende Ausdrucksfacette der Sängerin, die diese noch in vielen anderen Kompositionen einbringen kann. Das folgende „Occhio nero incendiator“ zählt zu Donizettis populärsten Liedern und wurde von ihm später auch zu einer französischen Variante umgearbeitet.

Die Stimme der Solistin ist von schöner Fülle und seltenem dunklem Klang, von reizvoll herbem Timbre, das aber auch zu strengen Tönen in der Höhe mit bohrendem Klang ausufern kann.

Die Canzonetta „Del colle in sul pendio“ ist ein Beispiel für die frühe Periode des Komponisten (etwa 1821), das muntere „Sospiri, aneliti“ eines für die vielen verloren geglaubten Stücke aus seiner Feder. Es befand sich im Besitz einer Contessa von Medici in Rom, die es einem Kloster nahe Linz übergab. Mit La Folle de S. Hélène ergibt sich eine Verbindung zum Album mit Spyres, denn der Text stammt von Nourrit. Die berühmte Mezzosopranistin Rosina Stoltz sang das ausgedehnte, energische Stück 1838 in Neapel. Lemieux klingt hier streng vibrierend. Für das zärtliche „Ti sento, sospiri“ schrieb Metastasio die Verse, wie auch für das kantable „Se tu non vedi“. Von Rossinis Ornamentik beeinflusst sind „Quel nome se ascolto“ und „Ah! rammenta, o bella Irene“, zeigen aber auch das Bemühen Donizettis, sich gegen den großen Konkurrenten zu behaupten. Sehr delikat singt Lemieux La trovatella, die aus Donizettis letzten Schaffensjahren stammt. Einer engen Mailänder Freundin, Giuseppina Appiani, in deren Salon auch der junge Verdi verkehrte, ist „Che cangi tempra“ gewidmet. 

Auch in diesem Album findet sich eine Komposition, in der neben dem Klavier ein weiteres begleitendes Instrument vorgeschrieben ist: La Novice mit Edward Batting am Harmonium. Die dramatische Szene, an einen Auftritt in der Oper erinnernd, fordert der Interpretin großen Einsatz ab, was nicht ohne Schärfen in der Höhe abgeht. Das charmante „Sull´ onda cheta e bruna“, das an venezianische Gondoliere denken lässt, ist dann wieder ein vokales Fest mit feinen Nuancen und reichen Zwischentönen. Fast an Couplets von Offenbach erinnern La Prière à S. Catherine und Les Lendemains, was Lemieux mit Koketterie und Humor vorträgt. Auch der letzte Titel, Pas d´autre amour que toi, ist von heiterem Duktus und lässt die Anthologie beschwingt ausklingen. Bernd Hoppe                                                                                             .

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Donizetti-Songs: Roger Parker & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Der namhafte Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist, zudem Herausgeber dieser Sammlung, Roger Parker schreibt in den Beiheften zu den ersten zwei CDs von Opera Rara sehr ausführlich über die Zielsetzung des Projektes. Eines der ehrgeizigsten Projekte in der 50-jährigen Geschichte von Opera Rara ist die Aufnahme aller Sololieder von Gaetano Donizetti. Eine Handvoll dieser Lieder sind seit langem bekannt und werden oft in Konzerten aufgeführt; viele weitere sind in Fachkatalogen aufgeführt, werden aber nur sehr selten oder gar nicht aufgeführt; andere wiederum galten als verloren oder völlig unbekannt. Jüngste Forschungen im Zusammenhang mit diesem Projekt, die vom Autor dieses Artikels in Zusammenarbeit mit Ian Schofield durchgeführt wurden, haben ergeben, dass Donizetti im Laufe  seiner 30-jährigen Karriere insgesamt etwa 200 Sololieder geschrieben hat. Die Erstellung moderner Ausgaben dieses umfangreichen Korpus war eine mühsame Aufgabe:

Die Quellen für die Lieder sind in europäischen Bibliotheken und darüber hinaus verstreut, die Autographen des Komponisten wurden zum Zeitpunkt der Komposition oft versehentlich weitergegeben (in der Regel als Geschenk des Komponisten) an den Widmungsträger). In ihrer Gesamtheit sind diese Kompositionen jedoch ein schlagkräftiges Argument für Donizetti als Schlüsselfigur des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert: jemand, dessen Leistungen auf diesem Gebiet es verdienen, besser bekannt zu sein; ein Werk, das allein schon ein schlagkräftiges Argument für die Bedeutung der italienischen „Schule“ in einem Bereich, der lange Zeit von deutschen und französischen Komponisten dominiert wurde, ein starkes Argument darstellt. Das schiere Ausmaß des ursprünglichen Editionsprojekts war auf den ersten Blick eine extreme Herausforderung. Viele der bisher unbekannten Lieder sind in einer einzigen Manuskriptkopie erhalten, wenn auch oft in der oft hastigen Handschrift des Komponisten und manchmal unvollständig. Die populäreren Lieder – diejenigen, die im 19. Jahrhundert zumindest eine gewisse Verbreitung hatten – werden uns wahrscheinlich in einer Reihe verschiedener und oft widersprüchlicher Quellen überliefert Quellen überliefert: vielleicht (wenn wir Glück haben) in der autographen Partitur des Komponisten; vielleicht in Manuskriptkopien anderer; vielleicht in einer gedruckten Version (oft mit Änderungen und Ergänzungen, die die Zustimmung des Komponisten hatten oder auch nicht); vielleicht als Teil einer größeren veröffentlichten Sammlung; vielleicht übersetzt in eine andere Sprache.

Donizetti-Songs: Recording session (c) Russell Duncan

Buchstäblich Tausende von einzelnen Quellen, eine verwirrende Mischung aus gedrucktem und Manuskriptmaterial, mussten in einem ersten Schritt gesammelt und zusammengestellt werden. Zu unserem großen Glück wurde ein großer Teil dieses Materials kürzlich digitalisiert und ist online verfügbar; dadurch geht das Zusammenstellen viel schneller als noch vor 20 Jahren; in der Tat ist die Tatsache, dass dieses Projekt Jahre statt Jahrzehnte gedauert hat, hauptsächlich auf diese Digitalisierung zurückzuführen. Erleichtert wird die Arbeit auch dadurch, dass sich Donizettis Werke sich vor allem auf drei Sammlungen konzentrieren (die Bibliothèque nationale de France in Paris, die Bibliothek des Conservatorio San Pietro a Majella in Neapel und verschiedene Bestände im Besitz des Komponisten). Heimatstadt Bergamo). Die Art der Liedproduktion – in der Regel häuslich, gelegentlich, feierlich – bedeutet jedoch, dass Donizettis Autogramme oft verschwunden sind und dass anderes Material weit verstreut ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein enorm wichtiger Fundus an Manuskriptmaterial, der etwa 20 Lieder enthält, von denen man bisher annahm, dass sie sich in Privatbesitz befinden und nicht erhältlich sind, tauchte im Musikarchiv des Benediktinerklosters Stift Kremsmünster in einer kleinen österreichischen Stadt zwischen Salzburg und Linz. Es ist leicht zu erraten, warum sich verschiedene unschätzbare antike Relikte in einem 777 n. Chr. gegründeten Kloster befinden; aber die Frage, wie solche Donizetti-Raritäten in seine Mauern gelangten, bleibt ein Rätsel.

Francesco Coghetti: Gaetano Donizetti/Wikipedia

Die Lokalisierung all dieses Materials war natürlich eine notwendige erste Forschungsphase. Die Bearbeitung – das Durchsuchen der Quellen für jedes Lied, um die zuverlässigste Version zu finden, die Ermittlung literarischer Quellen, die Übersetzung der Liedtexte, das Verfassen eines kritischen Kommentars, der auf wichtige Varianten aufmerksam macht und schwierige Textentscheidungen diskutiert – war dann ein fortlaufender Prozess, der am Ende mehr als 1500 Seiten Noten und 500 Seiten beigefügten Kommentar hervorbrachte, die alle mehrere Korrekturphasen durchliefen.

Was in den ersten Monaten des Jahres 2020 als „Lockdown-Projekt“ begann, wurde für eine gewisse Zeit zu einer alles verzehrenden Beschäftigung, an der Bibliothekare von Stockholm bis zur Westküste Amerikas und darüber hinaus beteiligt waren, ganz zu schweigen von der Zusammenarbeit mit Donizetti-Freunden an vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Orten.

Als die Arbeit fortgesetzt wurde und das volle Ausmaß des Korpus zutage trat, begannen eine Reihe von umfassenderen Fragen, die einer kritischen Betrachtung bedurften. Das erste, keineswegs einfache Problem war die Festlegung der Stimmtypen.  Gelegentlich gibt es Lieder im Tenor- oder Bassschlüssel, was bedeutet, dass offensichtlich Männerstimmen gemeint sind. Für den Rest der Lieder mussten jedoch Entscheidungen getroffen werden. In seiner frühen Karriere schrieb Donizetti die Melodielinien meist im sogenannten „Sopranschlüssel“, später verwendete er meist den Violinschlüssel; in beiden Fällen blieb unklar, ob ein bestimmtes Lied für eine Männer- oder Frauenstimme gedacht war. Bei unseren Aufnahmen gehen wir normalerweise davon aus, dass die „musikalische Stimme“ mit der „poetischen Stimme“ übereinstimmen sollte (d. h. mit der vom Dichter angenommenen Persona).

So wird beispielsweise das Klagelied eines Troubadours über seine verlorene Liebe von einer Männerstimme gesungen, während eine junge Frau, die an ihrem Fenster Fäden spinnt, von einer Frauenstimme gesungen wird. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass solche solche Fragen in der heutigen Zeit wahrscheinlich von größerer Bedeutung sind als im 19. Jahrhundert. Zu Donizettis Zeiten war die „Geschlechterverwirrung“ (das Singen von Männerrollen durch Frauen und umgekehrt) ein häufiges Merkmal auf der Opernbühne, und es gibt Belege dafür, dass sich diese Einstellung auf den häuslichen Gesangsbereich ausbreiten konnte, wobei junge Frauen – die häufigsten Darstellerinnen im familiären Umfeld – häufig eine männliche poetische Rolle annahmen, wenn sie für die versammelte Gesellschaft sangen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Stimmlagen wie Wir wissen, dass sie sich heute etwas von denen zu Donizettis Zeiten unterscheiden, wobei die Unterscheidung zwischen „Sopran“ und „Mezzo“ und – insbesondere – zwischen „Tenor“ und „Bariton“ häufig unsicher ist.

Donizetti-Songs: Lawrence Brownlee & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Unter den gegebenen Umständen haben wir die Lieder in überaus Donizetti-typischer Manier entsprechend den Fähigkeiten unserer einzelnen Sänger aufgeteilt, anstatt irgendwelche abstrakten Prinzipien von Stimmlage und Geschlecht anzuwenden.

Eine weitere Schwierigkeit betrifft die grundlegendere Frage, was ein „Lied“ ausmacht. Für die vorliegende Ausgabe haben wir uns entschieden, Sololieder von Duetten und größeren Ensembles zu trennen. Diese Entscheidung wurde in erster Linie aus praktischen Gründen getroffen (die Aufführungsmöglichkeiten für Sololieder sind heute so viel größer als die für Duette, Trios usw.), und dies trotz der Tatsache, dass eine solche Trennung uns von einigen der wichtigsten veröffentlichten Sammlungen von Donizetti-Liedern aus den 1830er Jahren entfernt, in denen Soli und Duette bewusst in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Es stellen sich jedoch auch größere Fragen: Wie kann in manchen Fällen ein „religiöses Werk“ auch Anspruch auf den Titel „Lied“ erheben (ein Ave Maria, das zur Klavierbegleitung gesungen wird, wäre ein Beispiel dafür)? Oder wie kann eine „Solokantate“ nach einem Manuskript in einem anderen ein ‚Lied‘ sein könnte; oder – vielleicht die größte Schwierigkeit – worin der Unterschied zwischen einem ‚Lied‘ und einer Opernarie besteht, die uns begleitet von einem Klavier überliefert wurde. Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten; es wird immer unscharfe Grenzen der einen oder anderen Art geben. In der vorliegenden Ausgabe haben wir uns weitgehend an die Taxonomie früherer Donizetti-Lieder-Katalogisierern gefolgt, aber wir haben – im Gegensatz zu ihnen – immer versucht, Opernnummern auszuschließen, die ohne die aktive Mitarbeit des Komponisten in nicht-opernhafte Texte eingebaut wurden.

Es gibt auch das Problem der Übersetzung. Lieder können in einer Sprache begonnen haben (entweder Italienisch oder, in Donizettis späteren Jahren zunehmend, Französisch) und dann in eine andere gewandert sein, wo sie vielleicht „Repertoire“-Status erlangte. Manchmal ist es aufgrund der Quellenlage unmöglich zu wissen, in welcher Sprache ein Lied ursprünglich konzipiert wurde. In einem Fall beginnt die Geschichte eines bestimmten Liedes (soweit wir wissen)mit einer gedruckten Quelle in italienischer Sprache (der natürlich eine heute verlorene autographe Partitur vorausgegangen sein muss); dann – zu einem späteren Zeitpunkt – verwendete Donizetti die Musik erneut, um einen französischen Text zu vertonen, wobei er diesmal eine Autograph, das erhalten geblieben ist; und noch später wurde dasselbe Lied in gedruckter Form weit verbreitet, allerdings in einer neuen italienischen Übersetzung des französischen Textes.

Donizetti-Songs: Daniel de Fry & Carlo Rizzi (c)Russell Duncan

Weitere Probleme betreffen die Urheberschaft des literarischen Textes (häufig nicht identifiziert) und die Identität der Widmungsträger (oft sowohl in Autographen als auch in gedruckten Partituren erwähnt), die beide stundenlange Recherchen erfordern können, aber – dank unserer internetgestützten Welt – oft überraschende Zusammenhänge und chronologische Besonderheiten aufdecken, die alle früheren Kommentatoren zwangsläufig außer Acht lassen mussten. Darüber hinaus können, wenn Donizetti vertonte jeden Text, sei es ein Libretto oder ein lyrisches Gedicht, und änderte die Worte routinemäßig, manchmal radikal: Ein Lied hat eine poetische Quelle, die tragisch endet, während seine Donizetti-Vertonung in Hoffnung und Wiedergeburt endet: Wir könnten an Opern erinnert werden, in denen manchmal im letzten Moment oder bei späteren Wiederaufnahmen, ein tragisches Ende in ein „Happy End“ verwandelt wird (oder umgekehrt). In all diesen Fällen folgen wir natürlich der Textversion des Komponisten, obwohl in extremen Fällen in den begleitenden kritischen Anmerkungen die alternative Richtung des Originalgedichts erwähnt wird.

Ein letztes Problem betrifft mehrere Versionen desselben Liedes. Es entspricht ganz dem Geist dieses Repertoires, dass Donizetti, wenn er später in seiner Karriere zu einem Lied zurückkehrte, fast immer eine Überarbeitung der Musik vorlegte, wobei er manchmal das, was er zuvor komponiert hatte, komplett neu schrieb. In vielen Fällen kann man sich vorstellen, dass es einen einfachen, praktischen Grund für diese kreative Verschwendung gab: Wenn er beschloss, ein Lied wiederzubeleben, vielleicht für einen Verleger, vielleicht für einen anderen häuslichen Anlass, war sein „Original“ nicht mehr zur , sodass er gezwungen war, die Worte und die Musik aus dem Gedächtnis neu zu erschaffen. Aber es gibt auch die Tatsache, dass ein solcher Erfindungsreichtum im Mittelpunkt seines Kompositionsprozesses stand: Selbst bei seinen berühmtesten Opern hat man selten das Gefühl, dass er ein bestimmtes Werk als „fertig“ betrachtete; wenn er zu einer Oper oder einem Lied zurückkehrte, brachte die Erfahrung fast immer neue Ideen, inspiriert von neuen Darstellern. In den meisten Fällen haben die vorliegenden Aufnahmen wurde aus Platz- und Zeitgründen eine Version gegenüber anderen bevorzugt; bei einigen Liedern waren die Alternativen jedoch so unterschiedlich, dass beide Versionen aufgenommen wurden.

Donizettis Grabmal in Bergamo/Wikipedia

Wie aus dieser ersten Aufnahme mit Liedern aus allen Lebensabschnitten des Komponisten hervorgeht, ist Donizettis kreatives Spektrum in diesem Repertoire bemerkenswert. In seiner frühen Karriere (bis ca. 1823) gibt es einige sehr einfache Erfindungen, oft „Canzonette“ genannt, die auf das 18. Jahrhundert zurückzugehen scheinen; und die stärker von der

Oper beeinflussten Nummern aus dieser Zeit ähneln in ihrer Verwendung von Vokalverzierungen unweigerlich Rossini.

In den späteren 1820er Jahren tauchen jedoch Lieder auf, die, obwohl ihre Poesie oft auf ein früheres Zeitalter zurückgeht, in ihrer Gestaltung und Ausführung offen experimentell sind, vielleicht auf konventionelle Weise beginnen, sich dann aber in unvorhersehbare melodische und harmonische Richtungen bewegen, oft als Reaktion auf Details im verbalen Text. In den 1830er Jahren, der Zeit von Donizettis größten italienischsprachigen Opern, lag sein Schwerpunkt auf Liedern für die Veröffentlichung, aufwendigeren Stücken, die für professionelle oder nahezu professionelle Darsteller und mit besonderem Schwerpunkt auf exotischen Stimmungen: der Troubadour, die Jungfrau im Turm, der liebeskranke Ruderer, der religiöse Einsiedler, der Kreuzritter, der leidenschaftliche romantische Außenseiter.

Und dann, in einer erstaunlichen späten Blütezeit, sah man in den 1840er Jahren Donizetti, der nun in Paris und Wien lebte, sich als „internationaler“ Komponist neu zu erfinden, indem er französische Gedichte in einem modernen Stil vertonte und sich in einer völlig anderen lyrischen Tradition fließend ausdrückte. Bei all diesen Stilen und Manieren bleibt ein Aspekt konstant: Wenn wir Donizetti und seine musikalische Sprache durch seine Opernwerke kennen, werden uns die Lieder weiterhin überraschen. Obwohl sie uns gelegentlich an die Manieren der Oper erinnern, beschreiten diese Kompositionen meistens einen anderen Weg: einen, bei dem die musikalische Reise in der Regel viel kürzer ist, bei dem eine Gefühlswelt in Momenten eingefangen werden muss und bei dem die raffinierte musikalische Sensibilität des Komponisten, seine Fähigkeit, poetische Stimmungen und Affekte einzufangen, auf jeder Seite offensichtlich ist.

Donizettis „Esule di Roma“, London 2023/Nicola Alaima und Albina Shagimuratova/Foto Russel Duncan/Opera Rara

Wie bereits zu Beginn dieses Essays erwähnt, sind die Lieder, die Donizetti während seiner Komponistenkarriere komponierte zu Unrecht vernachlässigt wurden. Diese Aufnahmen zielen in der Tradition von Opera Rara darauf ab, ihre Wiederbelebung bestmöglich zu fördern. Das Projekt hat aber auch ein größeres Ziel: Es soll ein neues Licht auf die gesamte italienische Tradition des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert geworfen werden, eine Tradition, die sich über die gesamte Halbinsel ausbreitete und einen enorm reichen Musikkörper hervorbrachte, der es verdient, einen Platz im internationalen Liedrepertoire einzunehmen. © 2024 Roger Parker/DeepL

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ROGER PARKER (operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter wegen seiner klugen Artikel zu einzelnen Belcanto-Opern bei uns)  ist der Repertoireberater von Opera Rara. Er ist zudem emeritierter Professor für Musik am King’s College London und unterrichtete zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Generaleditor der kritischen Donizetti-Ausgabe,  die bei Ricordi veröffentlicht wird. Seine neuesten Bücher sind Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last 400 Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Musik im London der 1830er Jahre. Von 2013 bis 2018 war er als Direktor des vom ERC finanzierten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College tätig. (Quelle Opera Rara/DeepL)

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Dank an Opera Rara und vor allem Roger Parker für seinen Text zur Ausgabe, den wir mit großem Dank in unserer Übersetzung/DeepL übernahmen. G. H.

Jan Stefanis „Krakauer und Hochländer“

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Hauptstädter und Bewohner anderer Regionen sind sich häufig nicht grün. Von solchen Animositäten erzählt Jan Stefanis Oper Das vermeintliche Wunder oder Krakauer und Hochländer, welche das Verhalten der Polen vor zwei hundert Jahren offenbar so genau einfing, dass sie noch heute gespielt wird. Das mehr als 200-Seiten dicke Beiheft der wie stets ausgesprochen wertig im kleinen Buch-Hardcover verpackten Aufnahme, mit der das Warschauer Chopin Institut die 2017 entstandene Aufnahme eines Singspiels präsentiert, das den Anfang einer polnischen Oper markiert, weiß erstaunlich wenig über Jan Stefani zu berichten.

Das fängt schon beim Geburtsdatum an. Die Aufnahme (NIFCCD 80-81) nennt als Geburtsdatum des Komponisten 1750. Wikipedia und andere Quellen berichten, dass er bereits 1746 geboren wurde. Das Datum seines Todes scheint mit dem 23. Februar 1829 festzustehen. Im betreffenden Text heißt es, Stefani sei ein böhmischer Geiger und Komponist aus Prag gewesen zu sei, der in Warschau als Orchesterleiter am Nationaltheater und an der Kathedrale wirkte und überhaupt sein gesamtes Leben in Polen verbrachte und sich tief in Kultur und Traditionen einlebten. Das ist insofern wichtig, da seine Oper Das vermeintliche Wunder oder Die Krakauer und die Hochländer noch vor Moniuszkos Werken bewusst nationale Tänze und Traditionen einband und der lokalen Vielfalt huldigt. Bereits im frühen 17. Jahrhundert wurden in Polen italienische Opern am Hof in Krakau aufgeführt, worauf zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Warschau die Eröffnung eines öffentlichen Opernhauses folgte und es unter Stanislaus II. neben der Förderung der italienischen Oper bereits zur die Propagierung einer landessprachlichen Oper kam, für die Maciej Kamienskis Glück im Elend (1778) steht. Einflussreicher war Stefanis am 1. März 1794 uraufgeführte Oper, die wie Kamienskis Werk gesprochene Dialoge enthält und bis heute aufgeführt wird, gerne auch von kleinen und Amateurtruppen.

Wojciech Boguslawski, Dichter und Librettist für Jan Stefanis „Krakowiacy i górale“/Wikipedia

Wichtiger als der Komponist ist in Polen der Dichter Wojciech Boguslawski (1757-1829), Begründer einer Theaterdynastie, der den Ort der Handlung aus eigenem Erleben kannte: Mühle und Gasthaus neben einem Kloster im heute zu Krakau gehörenden Dorf Mogila. Alles entspricht eigenem Erleben, ist lebendigt, schildert die Figuren lebhaft und porträtiert die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Eine Inhaltangabe gibt es nicht, aber ein polnisch-englisches Libretto. Der alte Müller Bartlomiej hat eine junge Frau, Dorota. Dorota ist in Stach verliebt, den Sohn des Fuhrmanns Wawrzyniec. Stach ist seinerseits in Basia, Bartlomiejs Tochter aus seiner ersten Ehe, verliebt ist und wird von dieser ebenfalls geliebt. Aus purer Niedertracht versucht Dorota, die vor langer Zeit geplante Hochzeit Basias mit dem Hochländer Bryndas voranzutreiben, der just mit seinen Leuten vorbeischaut, um die alten Absprachen einzufordern. Dem Studenten Bardos gelingt es, den wegen der Absage der Hochzeit wütenden Bryndas und seine ebenso aufgebrachten Hochländer-Freunde zu besänftigen, Stach und Basia zusammenzubringen und die Beziehung Dorotas zu Bartlomiej zu kitten.

Eine Szene aus dem Stück „Krakowiacy i górale“, Nationaltheater in Warschau, Regie und Inszenierung von Leon Schiller, 1950, Foto von Edward Hartwig/National Digital Archives NAC

Die Aufnahme darf sich damit rühmen, das Werk erstmals mit period instruments zu präsentieren. Die Musik wurde im Juli 2017 in Prag aufgenommen, die Sprechtexte im Februar des folgenden Jahres in Warschau. Der Aufnahme unter Václav Luks merkt man den Umstand kaum an. Sie wirkt so springmunter und animiert, wie man es von dieser Abfolge von kurzen Szenen, kleinen Arien, Duetten und Ensembles, Polonaise, Krakowiak, Polka, Mazurka und Marsch der Hochländer erwarten darf, womit – wie es der polnische Originaltitel sagt Krakowiacy i Góraledie Gruppe der Goralen gemeint ist. Eine Schlüsselfunktion kommt dem desillusionierten Studenten Bardos zu, dessen erste Kavatine der Bariton Tomás Král so zart wie ein Erstsemester singt, „Eine harte Welt, eine verdrehte Welt. Alles ist verkehrt. Wertlose Männer, die in Gold schwimmen, ehrliche Männer, die arm und kalt sind“. Jan Martiník trumpft als Hochländer Bryndas mit kraftvoller kerniger Bassfülle auf, Natalia Rubis und der Tenor Krystian Adam geben die jungen Amorosi, zupackender und harscher ist Lenka Cafourková als Dorota, die im ersten Akt eine reizende Polacca hat. Nach dem schlichten Vaudeville-Rundgesang verkünden alle die Essenz von Boguslawskis und Stefanis Spiel im moralisierenden Schlussgesang, in dem es u.a. heißt: „Ehrlichkeit, Treue, Liebe und Einverständnis, mögen sie lange in diesen sanften, bescheidenen Gefilden regieren … Möge die Welt lernen, dass dort, wo das Leben einfach ist, die Tugend immer das reinste Symbol ist.“

Václav Luks, das Collegium Vocale 1704 und Collegium 1704, die Sänger und die hingebungsvoll agierenden Schauspieler lassen uns für einen Moment daran glauben. Rolf Fath

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Jan Stefani: „Krakowiacy i Gorale“/Teatre Wielki Warschau 2024

Dazu auch die Musik-Wissenschschaftlerin Wojciech Boguslawski:  „Cud mniemany; czyli Krakowiacy i Gorale“ [Das vermeintliche Wunder oder Krakauer und Hochländer], das aus den Bedingungen des Augenblicks entstand und fest im dynamischen soziopolitischen Kontext verwurzelt ist, ist seit mehr als zweihundert Jahren eines der beliebtesten polnischen Opernwerke. Auch heute, weit im 21. Jahrhundert, wollen wir dieses Singspiel, das einst den Aufruhr entfachte, noch immer sehen; wir wollen es hören; wir wollen in die Welt eines Dorfes in der Nähe von Krakau eintauchen, wo sich eines Nachmittags unglaubliche und höchst lehrreiche Dinge ereigneten. Sentimentalität? Eine Schwäche für rustikale Folklore? Oder vielleicht ganz einfach und vor allem die Sehnsucht nach den Grundwerten, für die Boguslawski ein kompromissloser Verfechter war. Noch heute, ganze Epochen von der Welt seiner Uraufführung entfernt, ist „Das vermeintliche Wunder“, das aus seinem revolutionären Kontext „extrahiert“ wurde, eine brillante Geschichte – bemerkenswert intelligent in ihrer Einfachheit – über die Werte eines ethischen Lebens, gegenseitigen Respekt und Toleranz, den Vorrang der Tradition sowie den familiären und sozialen Zusammenhalt – und sie ist auch heute noch überraschend aktuell.

Wojciech Boguslawski war zweifellos eine der führenden Persö Wojciech Boguslawski war zweifellos eine der führenden Persönlichkeiten in der Geschichte des polnischen Theaters; man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, dass er den ersten Platz unter dieser Elite einnimmt. Um die Jahrhundertwende gab er viele Jahre lang den Ton für das kulturelle Leben der polnischen Nation an, sowohl als ihr Heimatland existierte als auch als sie dieses Landes beraubt wurde. Als Schauspieler, Übersetzer, Dramatiker, Librettist, Regisseur und Impresario war er ein äußerst talentierter Künstler, ein intelligenter Manager und ein gebildeter Mann, der schnell zu einer Autorität wurde, die auf natürliche Weise die gesellschaftliche Meinung prägte, während er gleichzeitig die Gedanken und Gefühle der Gesellschaft in die Sprache der Kunst übersetzte.

Der Komponist Jan Stefani/Wikipedia

Jan Stefani, ein böhmischer Geiger und Komponist aus Prag, war langjähriger Leiter des Orchesters des Nationaltheaters (Teatr Narodowy) in Warschau (das später seinen nationalen Status verlor) und auch Kapellmeister der St.-Johannes-Kathedrale. Er beschränkte sich nicht darauf, wie so oft, ein Bürger eines anderen Landes zu sein, hier in Polen (höchst ehrenwerte!) Arbeit zu finden, eine Familie zu gründen und bis zu seinem Tod im Land zu bleiben. Nein: Er lernte die polnische Kultur und Musik lieben, und es muss eine kluge, tiefgründige und leidenschaftliche Liebe gewesen sein, denn „Cracovians and Highlanders“ ist ein lebendiges, schillerndes musikalisches Porträt Polens und seiner Traditionen. „An Sonn- und Feiertagen reiste er aufs Land, um den Liedern zu lauschen und den Tänzen unseres fröhlichen einfachen Volkes zuzusehen. Er kehrte in die Sta Sonn- und Feiertagen reiste er aufs Land, um den Liedern zu lauschen und den Tänzen unseres fröhlichen einfachen Volkes zuzusehen. Er kehrte in die Stadt zurück und setzte sich, noch mit einer der ländlichen Melodien im Kopf, hin und vertonte sie nach Boguslawskis Libretto“ (Kazimierz W. Wojcicki, Cmentarz Powqzkowski [Powozki-Friedhof], Band I). Aus Krakowiaks, Mazurs und Highland Dances, die auf Originaltänzen und -liedern basieren, webte Stefani ein edles Gewebe, das in der Volkskultur verwurzelt ist und aus dem auch die Hochkultur hervorgeht; mit leichter und raffinierter Hand konstruierte er ein klassisches Singspiel, das diesem Kulturkreis eigen ist und mit den besten Werken dieses Genres konkurriert, das zu dieser Zeit in Europa populär war.

Jan Stefani: „Krakowiacy Cud mniemany czyli Krakowiacy i Gorale“/ Film 1947/ Wikiwand

So kommen zwei herausragende Persönlichkeiten für ein Werk von besonderer Bedeutung zusammen, das in Bezug auf Propaganda von entscheidender Bedeutung ist und zu Recht als eines der wichtigsten Instrumente der sozialen Agitation am Vorabend des Kosciuszko-Aufstands angesehen wird – zwei Männer, für die das Polentum ein Medium der höchsten Werte war. Die zweite Teilung Polens im Jahr 1773 wird als düsterer Vorbote der bevorstehenden Nöte und Unsicherheiten angesehen. Die letzte, dramatische Hoffnung wird in einen Aufstand gesetzt, eine Massenbewegung, an der auch die unteren sozialen Schichten teilnehmen. Die Premiere von „Die Krakauer“ am 1. März 1774 beweist, dass die Hoffnungen der einen und die Verdächtigungen der anderen hinsichtlich des starken sozialen Einflusses des Werkes völlig gerechtfertigt waren. Das Publikum war begeistert, forderte Zugaben bestimmter Szenen und reagierte euphorisch auf aufeinanderfolgende Anspielungen, die im Text und in der Musik verschlüsselt waren. Das angebliche Wunder erwies sich als zu gefährlich, und nach der dritten Aufführung verbot die Zensur jede weitere. Es war zu spät. Das Werk hatte seine politische Funktion bereits erfüllt; die Botschaft hatte sich wie ein Lauffeuer im Gebiet der alten Republik verbreitet.

Am Teatre Wielki Warschau: 1950 – nagroda państwowa I stopnia dla Władysława Daszewskiego za całokształt twórczości, a w szczególności za plastyczne opracowanie sztuk Teatru Narodowego w Warszawie Jegor Bułyczow i inni Maksyma Gorkiego w reżyserii Władysława Krasnowieckiego oraz Krakowiacy i Górale Wojciecha Bogusławskiego w reżyserii Leona Schillera

Doch es war noch viel mehr geschehen: Ein Singspiel über kulturelle Konflikte, über eine mit einem Happy End gesegnete Liebe und über das Gefühl, in Frieden zusammenzuleben, fand einen festen Platz in den Herzen der Polen und erlangte in den Jahren der Versklavung, als das Wort „Vaterland“ nur eine sehnsüchtige Vorstellung war, eine besondere Bedeutung. Es scheint, dass die Gedanken von Boguslawski und Stefani weit über unmittelbare politische Ziele hinausgingen. Ahnte Boguslawski, ein Intellektueller, der eine wichtige Persönlichkeit in Freimaurerkreisen war, die Unausweichlichkeit des historischen Verlaufs der Ereignisse und schrieb er angesichts der Aussicht auf das, was viele Menschen befürchteten, aber nur schwer glauben konnten – die Auslöschung Polens von der Landkarte Europas – nicht eine kraftvolle, leidenschaftliche Botschaft für seine Nation? Einem solchen Eindruck ist schwer zu widerstehen.

Wie bereits erwähnt, hat „Das vermeintliche Wunder“ die Struktur einer klassischen Parabel – einer Parabel auf vielen Ebenen. Boguslawski, ein Meister der Bühne, plante das Drama nach allen Grundregeln des Theaters und verwebte verschiedene Handlungsstränge auf virtuose Weise miteinander. Es gibt mehrere Konfliktsituationen, die sich gegenseitig bedingen. In einem Dorf in der Nähe von Krakau ist Stach (auf Gegenseitigkeit beruhend) in Basia verliebt; Dorota liebt (unerwidert) Stach; Dorota ist die junge Frau des alten Bartlomiej, Basias Vater, und somit auch Basias Stiefmutter. Aus Eifersucht und teilweise aus purer Boshaftigkeit versucht sie, die lang geplante Hochzeit zwischen Basia und Bryndas, einem Hochländer, der gerade mit einer ganzen Gruppe von Hochlandjungen und -mädchen angekommen ist, durchzusetzen, um Anspruch auf das Mädchen zu erheben, das sich ihm versprochen hatte. Er denkt nicht daran, sie aufzugeben: Versprechen müssen gehalten werden, und das schöne Mädchen hat ihn sehr in Versuchung geführt. Hilfe für Basia und Stach kommt unerwartet von Bardos, einem Studenten, der wegen seiner Schlauheit und seiner scharfen Zunge der Universität verwiesen wurde. Bardos ist vom Leben desillusioniert.

Jan Stefani „Krakowiacy“/ Künstlerisches Archiv des Theaters. J. Słowacki Krakau 1928/ Teatre Krakowie

Ehrlichkeit, Treue, Liebe und Einverständnis, mögen sie lange in diesen sanften, bescheidenen Gefilden regieren; möge die Mode unter ehrlichen Männern niemals unsere Köpfe verdrehen oder unsere Herzen verderben … Möge die Welt lernen, dass dort, wo das Leben einfach ist, die Tugend immer das reinste Symbol ist.

Diese Worte enthalten die Essenz der Idee, die dem gesamten Werk zugrunde liegt. Dennoch wäre es ein Fehler, „Das vermeintliche Wunder“ als einfache Lobrede auf Folklore, das Landleben und traditionelle Sitten und Gebräuche zu interpretieren.

Boguslawski verweist auf grundlegende soziale Werte und gibt der Nation, die er in großer Gefahr sieht, einen unschätzbaren Hinweis darauf, wie sie ihre Kultur schützen, ihre Kontinuität sichern und damit – nicht durch Waffen oder gewaltsame Revolten, sondern durch bewusstes und konsequentes Handeln, das möglicherweise Jahrzehnte andauert, ihr Überleben als zusammenhängende Gemeinschaft garantieren kann. Denn es ist die Kultur, die in den besten Traditionen verwurzelt ist, die über das Sein oder Nichtsein der Nation entscheidet; es ist die Kultur, die am wenigsten von politischen, geografischen oder wirtschaftlichen Bedingungen abhängig ist, die das Kostbarste für jede Nation trägt, das, was sie von Generation zu Generation weitergeben kann, was ihre Besonderheit und ihre spirituelle Kraft ausmacht. Die Volkstradition, die den Status eines Eckpfeilers der Kultur erlangt hat, auf dem die Hochkultur aufbaut, wird als reine Form des kreativen Ausdrucks wahrgenommen, als die spezifischste Form der Nation, die Künstler und Gelehrte mit ihrer Einfachheit in ihren Bann zieht – sie wird als unverzichtbares Bindeglied in der kulturellen Kontinuität dargestellt.

Immer und ausnahmslos, insbesondere in Zeiten der Bedrohung und Versklavung, in denen nationale Werte nicht frei gepflegt werden können, ist es die Familie, die den Mittelpunkt für die Bewahrung dieser Werte, der Sprache, der Musik und der Tradition bildet. Der Zusammenhalt und die Stärke der Familie und ihre Unterordnung unter bestimmte Regeln sind vielleicht die einzige Garantie für diese kulturelle Kontinuität, ohne die die Nation ihre Identität verliert.

Jan Stefani „Krakowiacy“/ Ferdynand Trojanowski (Stach), Andrzej Szczepkowski (Bardos). Fot. Edward Hartwig Archiwum Teatru Narodowego Warschau 1950/ Teatre Wielki Warschau

Wenn wir das faszinierende Material dieses weisen und charmanten Singspiels für uns entdecken, fragen wir uns unweigerlich, was Krakauer und Hochländer heute repräsentieren, wenn der Kontext von Unabhängigkeit und Aufstand fast ausschließlich für Historiker und Theoretiker von Interesse ist und die politischen Anspielungen, die für einen Zuhörer des 18. oder 19. Jahrhunderts vom ersten Wort oder musikalischen Satz an verständlich waren, für das heutige Publikum in Polen oft nicht mehr erkennbar sind – ganz zu schweigen vom Publikum in anderen Ländern. Das Singspiel von Boguslawski und Stefani ist außerhalb Polens im Wesentlichen unbekannt. Innerhalb des Landes ist es jedoch nach wie vor sehr beliebt und die aufeinanderfolgenden Produktionen, die meist traditionell inszeniert werden, ziehen ein großes Publikum an. Darüber hinaus scheint die eigentliche Inszenierung – obwohl dies eine heikle Angelegenheit ist – von untergeordneter Bedeutung zu sein: Das Drama (voller Humor) und die Musik sprechen wunderbar für sich selbst: Die klugen, fließenden Verse sind witzig, suggestiv und intelligent; die leichte, anmutige, wunderbare Musik, in perfekter Symbiose mit den Worten, führt die Erzählung auf interessante Weise, fesselt unsere Aufmerksamkeit und unterhält uns. In der Tat ist Cracovians vor allem – und das muss die Absicht von Boguslawski und Stefani gewesen sein – darauf ausgelegt, zu unterhalten, das Ohr (und das Auge) zu erfreuen, die Sinne zu beglücken und uns dabei zum Guten zu bewegen. Es ist als raffinierte Unterhaltung für verschiedene Gruppen gedacht, unabhängig von ihren Bedürfnissen, Erwartungen und Fähigkeiten.

Jan Stefani „Krakowiacy“/Józef Węgrzyn sang die Tenorrolle, hier im Kostüm 1913/ Facebook

Vielleicht sind es gerade diese Farben, dieses klare Wertesystem und diese Einfachheit der Ordnung der Dinge, die Zuschauer und Zuhörer heute besonders ansprechen. In einer Welt, die von Globalisierung und der Hypertechnologisierung im Grunde aller Lebensbereiche durchdrungen ist, in der die Zeit, die man mit seinen Mitmenschen verbringt, um Gedanken und Gefühle auszutauschen, so knapp ist und doch so sehr nachgefragt wird, und in der die Figur der Familie keine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit mehr ist, sehnen wir uns vielleicht am meisten danach, in Frieden und Ruhe (trotz allem) einzutauchen, in die Freuden und Leiden des Lebens im Einklang mit dem ursprünglichen Rhythmus der Natur, der uns geziemt. Genießen wir also diese musikalisch-verbale Erzählung, die aus der Perspektive einer Welt, die sich von der Welt, über die Boguslawski und Stefani sprechen und in der sie lebten, grundlegend unterscheidet, fantastisch aktuell bleibt, nicht weniger unterhaltsam und fesselnd, voller Charme und zeitloser Weisheit. Agnieszka Klopocka/DeepL

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Den Artikel von Agnieszka Klopocka entnahmen wir dem Beiheft zur Aufnahme bei NIFF. Redaktion G. H. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

 

Eindrucksvoller Erstling

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Im Mai 1884 wurde im Teatro dal Verme die erste Fassung von Giacomo Puccinis Erstlingswerk Le Villi uraufgeführt, sechs Jahre später nahm sich in Hamburg wahrscheinlich Gustav Mahler persönlich des Werks an, und am 2. Juni 2024 führte die Berliner Operngruppe  das Werk im Berliner Konzerthaus auf. Von noch früheren Berliner Vorstellungen weiß das schlaue Wikipedia jedenfalls nichts zu berichten, ist ansonsten sehr genau mit der Nennung einer Interpretation durch das Sängerpaar Mietta Sighele und Veriano Lucchetti 1972,  der Erwähnung einer Bonner Inszenierung mit Katia Ricciarelli im Jahre 1992, dazu 2001 in Lecce, wo der italienische Superstar Pippo Baudo, ihr damaliger Gatte,  den Erzähler gab, mit der im entdeckungsfreudigen Martina Franca, wo Bruno Aprea den Dirigentenstab für den jungen José Cura schwang, und schließlich die bei Dynamic als Blu-ray erschienene Produktion aus Florenz.

Mit Le Villi dürften die Möglichkeiten , was das Entdecken unbekannterer Puccini-Opern betrifft, allerdings fast bereits erschöpft sein, denn die einzige weitere Oper vor der sofort und dauerhaft zur Erfolgsoper werdenden Manon Lescaut, der düster-leidenschaftliche Edgar und höchstens noch die operettennahe Rondine erfreuen sich weniger Aufmerksamkeit als eine Tosca oder Butterfly.

Von Le Villi gibt es vier unterschiedliche Fassungen. Der Musikverleger Eduardo Sonzogno hatte 1884 einen Wettbewerb für einen Operneinakter ausgeschrieben, zu dessen Teilnahme der junge Puccini von Amilcare Ponchielli ermuntert wurde. Das Werk erlangte zwar keinen Preis, wohl aber die Möglichkeit zu einer Aufführung in Mailand, wo der junge Mascagni im Orchestergraben am Kontrabass gesessen haben soll, der sechs Jahre später Sonzogno mit seiner Cavalleria Rusticana eine noch größere Freude bereiten sollte als Puccini mit seinen Villi. Die durch die Wettbewerbsregeln aufgezwungene Einaktigkeit erwies sich schnell als Erfolgshemmung, es gab noch drei Überarbeitungen, empfohlen auch durch den Konkurrenten Sonzognos, Ricordi, wobei der Komponist des Mefistofele , Arrigo Boito, die Aufführung der zweiten Fassung in Turin durch eine Subskription ermöglichte. In der ersten Fassung noch nicht vorhanden gewesen waren die Arie der Anna, der Frauenchor und die Arie des Roberto, das populärste Stück des Werks. Die dritte Fassung wurde wieder in Mailand, aber an der Scala, aufgeführt, immerhin Roberto Faccio stand am Dirigentenpult.

Dem Ballettfreund mögen Le Villi sehr vertraut erscheinen, ist doch das Ballett Giselle von Adolphe Adam  ähnlichen Inhalts. Es geht um von ihrem Geliebten oder Bräutigam noch vor der Hochzeit aus Gram über das Verlassenwordensein verstorbene Mädchen, die sich gemeinsam mit vom gleichen Schicksal betroffenen Gefährtinnen am Ungetreuen rächen, indem sie ihn zu einem tödlich endenden Tanz zwingen. Das Ballett Giselle beruht auf der Fassung, die Heinrich Heine dem Stoff angedeihen ließ, Le Villi hingegen auf Alphonse Karrs Les Willis.   

In der konzertanten Aufführung in München im Oktober 2024 durch das Münchner Rundfunkorchester unter Ivan Repušiċ zeigt sich die frühe Meisterschaft des Komponisten, der in der Arie des Roberto „Torna ai felici dì“ bereits einen schmachtenden Rodolfo oder Cavaradossi hörbar werden lässt, Qualitäten, die der Chinese Kang Wang mit zärtlichen Piani, mit einem frischen, jugendlich klingenden Tenor beglaubigt. Auch die Anna von Anita Hartig setzt einen in zärtlicher Melancholie erklingenden Sopran ein, der sich in der Höhe schön entfalten kann. Beide Stimmen passen sehr gut zueinander. Dem unglücklichen Brautvater Guglielmo verleiht Boris Pinkhasovich mit sonorem Bass Würde und vokalen Anstand. Auch bei den rachsüchtigen Villi mitsingen dürfen die männlichen Mitglieder des Chors des Bayerischen Rundfunks. Ivan Repušiċ ist mit langjähriger Erfahrung im italienischen Fach natürlich der angemessene Sachwalter Puccinis am Dirigentenpult. Man wünscht sich das Werk in Kombination mit einem anderen, ebenfalls rund einstündigen Zwilling öfter als bisher auch abendfüllend auf der Bühne (BR Klassik 900359). Ingrid Wanja

Glitter and be Gay Reloaded

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Unglaubliche achtzehn Jahre sind seit der Erstausgabe von Kevin Clarkes Glitter and be Gay-Buch von 2007 vergangen. Es war als das damals „weltweit (!) erste Buch, das sich mit Homosexualität und Operette“ beschäftigte: ein Solitär. Und ist es geblieben. Da aber „seit 2007 so unendlich viel passiert ist, kam die Idee auf, das lange vergriffene Original nicht einfach neu aufzulegen, sondern eine „Reloaded-Version zu gestalten zu der queeren Operettenrevolution, die seither stattgefunden hat“. Für die Reloaded-Ausgabe überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Herausgeber Kevin Clarke das Buch, dessen ursprünglicher Untertitel „Die freche Originaloperette und ihre schwulen Verehrer“ in der Reloaded-Ausgabe zu „Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer“ wurde. Zu der queeren Operettenrevolution zählt Clarke „die zehn Jahre Intendanz von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin“ mit Ausgrabungen in den Inszenierungen Koskys sowie anderer Regisseure, „Die Uraufführung der Der Operette für zwei schwule Tenöre von Florian Ludewig und Johannes Kram, das Sci-Fi-Singspiel „Planet Egalia über trans Identitäten im Weltall, aber auch das queerfeministische Oper*ettenkollektiv tutti d’amore und Produktionen wie Magna Mater, als Mash-up von Franz von Suppés Die schöne Galathée und Paul Linckes Lysistrata“.

Gegliedert ist das Buch mit dem hübschen Bernstein-Titel in Grundsatzartikel und zahlreiche wie Häkeldeckchen unterlegte kurze „Operettenmomente“, in denen Regisseure, Macher und Intendanten von Axel Ranisch (über Dagmar Manzel) bis Josef Köpplinger (über seine Großtante), von Tilmann Krause (über Elisabeth Schwarzkopf) bis zum jüngst verstorbenen Bernd Feuchtner (über Schostakowitschs Moskau, Tscherjomuschki) sich zu „Mein schwulster Operettenmoment“ bekennen. Auch der Leipziger Intendant Tobias Wolff ist dabei, an dessen Musikalischer Komödie das Reloaded-Buch am 28. März im Rahmen der Leipziger Buchmesse präsentiert wird. Das will man haben. Die Abbildungen könnten bei einer Neuausgabe etwas größer, der lilafarbene Untergrund bei den Operettenmomenten muss nicht sein. 

Kevin Clarke/ Foto Sven Serkis

Auf einige ältere Artikel wurde verzichtet, neue kamen dazu. Der Anspruch ist ein wissenschaftlicher, was beim 8-Seiten-und zehn-Zeilen-Aufsatz über das „Operettenpublikum in der deutschen (Nicht-)Besucher*innenforschung“ mehr als vier Seiten an Anmerkungen zur Folge hat. Autor Tillmann Triest stellt die „vage Vermutung“ an, „dass bei Koskys Operettenarbeiten an der Komischen Oper Berlin eher ältere schwule Männer anzutreffen sind und bei den Produktionen des queerfeministischen Oper*ettenkollektivs tutti d’amore in der Freien Szene tendenziell eher junge Personen, die sich als queer identifizieren“. Weitgefächert die Auswahl der Autoren, deren Geburtsjahre sechs Jahrzehnte auseinanderliegen. Die einen verdanken „Erkennen Sie die Melodie“ und dem “Blauen Bock“ glühende Fernseh-Momente und entdeckten Rothenberger & Co als schwule Sehnsuchtsfiguren, die jüngere Generation gesteht, dass den Studenten im Musiktheaterseminar Namen wie Lucille Ball, Zarah Leander und Clivia absolut unbekannt waren. Gut deshalb, dass neben Christoph Domkes Ausführungen zur „Fernsehoperette als Coming-out Hilfe“ auch sein Text über das „Zauberwort Camp“ aus der alten Ausgabe übernommen wurde.

Die bunte Mischung an Themen und Autoren bringt nicht die Dramaturgie der Texte durcheinander, die alles in allem zwar keine Kulturgeschichte der Operette bilden, aber trotz des manchmal etwas verengten Blicks einer solchen recht nahekommen. Etwa durch den Text „Raus aus dem Schrank! Eine Evolutionsgeschichte der Repräsentation“, in dem Clarke durch die lebendige Verbindung von Theater-, Literatur- und Sittengeschichte und die Fülle von Details und Informationen fasziniert und den Bogen von Offenbachs île de Tulipatan, die 1868 das Thema gleichgeschlechtliche Ehe behandelte, bis zu The Beastly Bombing von 2006 über zwei schwule Terroristen schlägt. Und zu dem Schluss kommt, „dass ausgerechnet die vermeintlich altbackene und verstaubte Gattung Operette ein Vorreiter und früher Verfechter der sexuellen Befreiung und Selbstbestimmung im Kern viel moderner ist, als ihr heute gemeinhin zugetraut wird“. Spannend auch Clarkes Ausführungen zu „Deutschlands Greatest Showman“, dem in Breslau geborenen Erich Karl Löwenberg, der sich in Berlin als Erik Charell neu erfand.

Christophe Mirambeau schreibt über die „années folles“ und „männliche und weibliche Homosexualität in den Pariser Operetten der 1920er und 1930er Jahre“, was zum schwulen Operettenstartenor Luis Mariano führt. Richard C. Norton beschreibt in „Mad about the Boys“ Leben und Werk von Noël Coward und Ivor Novello, „beide Briten, beide homosexuell“, beide Operettenkomponisten, wobei Coward dazu noch Schauspieler, Autor und Conférencier war; endlich kann ich einige Titel aus „Joan Sutherland sings Noel Coward“ besser einordnen, darunter die von der Massary kreierten Lieder aus der Operette Operette über einen alternden Wiener Star. Novello schrieb u.a. mit The Dancing Years die einzige Operette, „die jemals explizit und kritisch von Nazis und der Situation jüdischer Komponisten nach dem Anschluss Österreichs handelte“. Brian Valencia untersucht „Internalisierte Homophobie und queere Subtexte“ in Leonard Bernsteins Operette Candide“, aus der Kunegundes sprichwörtlich gewordene Arie „Glitter and be Gay“ stammt. Nahe gehen Texte, die an einzelne Persönlichkeiten erinnern. Etwa den Sänger Paul O’Montis, den Vortragskünstler Wilhelm Bendow, den Librettisten Hans Müller, „die Diva Assoluta der erotisierten Operette“ Fritzi Massary, zu der Klaus Thiel Details zusammengetragen hat, die auch Kennern neu sind, und die suggestive Beschreibung Richard Taubers und seines Gesangs durch John Rigby (Männerschwarm Verlag ISBN 978-3-86300-381-4).  Rolf Fath

Hallenser Festspieldokument

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Prominent besetzt war eine Produktion von Händels Lotario bei den Händel-Festspielen Halle 2023, die NAXOS als  Live-Aufnahme jetzt auf zwei CDs herausgebracht hat (8.660570-71). Das Dramma per musica hatte seine Premiere 1729 am King´s Theatre in London und stellt in einer Handlung aus Rache und Heldentum die römische Königin Adelaide ins Zentrum. Ihr Mann wurde vom  italienischen König Berengario ermordet, der gemeinsam mit seiner Gattin Matilde erwartet, dass die Witwe beider Sohn Idelberto heiratet. Dieser liebt Adelaide tatsächlich, sie aber verweigert sich einer Verbindung mit ihm und fühlt sich dem deutschen König Lotario nahe. Mit ihm gibt es am Ende dann auch ein lieto fine. Die italienische Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli ist eine Spezialistin im Barockfach und regelmäßiger Gast bei internationalen Festivals der Alten Musik. Sie profiliert die Königin, die mit Anna Maria Strada del Pó von einer legendären Sängerin kreiert wurde, eindringlich, auch wenn sie im Auftritt bei „Quel cor che mi donasti“ zu heulenden Tönen neigt. Aber am Ende des 1. Aktes hat sie in „Scherza in mar“ Gelegenheit, ihre Virtuosität mit jagenden Koloraturgirlanden zu zeigen. „Menti eterne“ im 2. Akt lässt  dann wieder ihren Hang zur Larmoyanz hören.

Büste von Bernacchi
(Künstler unbekannt, 19. Jahrhundert,
Museo internazionale e biblioteca della musica von Bologna)/Wikipedia

In der Titelrolle, die bei der Uraufführung von dem renommierten Altkastraten Antonio Maria Bernacchi wahrgenommen wurde, ist mit Carlo Vistoli ein neuer Stern am Counter-Himmel zu hören. Nach seiner Aufnahme in William Christies Ensemble Le Jardin des Voix startete er eine bedeutende Karriere mit Gastspielen in Rom, Madrid, Wien, San Francisco und Monte-Carlo. Unvergesslich ist für mich sein Auftritt als Glucks Orfeo an der Berliner Komischen Oper 2022 in Michielettos streitbarer Inszenierung. Wie damals verströmt er sich auch in Halle mit seiner wunderbaren Stimme voller Kraft, Geschmeidigkeit und sinnlichem Reiz. Davon zeugt sogleich sein Auftritt, „Rammentati, cor mio“, mit schwärmerischem Klang und schmeichelnden Nuancen. Seine zweite Arie, „Già mi sembra al carro avvinto“, ist von energischem Duktus und Vistoli serviert sie mit gebotener Entschlossenheit. Hinreißend die zärtlichen Töne bei „Tiranna, ma bella“ zu Beginn des 2. Aktes, wie auch die träumerischen an dessen Ende bei „Non disperi peregrino“. Ein Paradebeispiel für die Kunst des Sängers ist die Arie „Vedrò più liete“ im 3. Akt, in der Bravour und Ausdruck eine perfekte Einheit bilden. Und mit Adelaide darf er das jubelnde Schlussduett „Sì, bel sembiante“ singen, in welchem sich beide Stimmen gebührend verblenden.

Als Berengario wirkt der polnische Tenor Krstian Adam mit. Mit „Grave è ´fasto di regnar“ und „Non pensi quell´altera“ fallen ihm die beiden ersten Arien des Werkes zu, in denen er seine klangvolle, kultivierte Stimme präsentieren kann. Den 2. Akt eröffnet er mit Regno e grandezza und beweist hier seine Flexibilität. Im 3. Akt hat er mit „Vi sento“ eine ergreifende Szene von schmerzlicher Intensität.

In der Partie seiner Gattin Matilde, die Händel für die auf Hosenrollen spezialisierte Alitstin Antonia Merighi schrieb, ist Anna Bonitatibus zu erleben, die im Jahr der Lotario-Produktion mit dem Händel-Preis der Stadt Halle ausgezeichnet wurde. Die italienische Mezzosopranistin setzt gleich in ihrem munteren Auftritt, „Vanne a colei che adori“, ein Achtungszeichen mit betörend schönem Klang und pointiertem Gesang. Reizvoll ist die Koketterie in „Orgogliosetto va l´augelletto“, stupend das rasante Tempo der Koloraturen in „Arma lo sguardo“.

Als Idelberto ist mit dem Polen Rafal Tomkiewicz ein weiterer Countertenor zu hören. Er beginnt noch vor dem Titelhelden mit weicher, sanfter Stimme, welche die Figur eines Sohnes perfekt imaginieren kann (Per salvarti, idol mio). Im 2. Akt hat er bei „Bella, non mi negar“ Gelegenheit für kosende und feine Spitzen-Töne. Die Besetzung komplettiert der südkoreanische Bass Ki-Hyun Park als Berengarios General Clodomiro. Mit seinen Arien „Se il mar promette calma“ und „Non t´inganni la speranza“ bringt er profunde tiefe Töne ein.

Das Händelfestspielorchester Halle auf historischen Instrumenten musiziert unter seinem Leiter Attilio Cremonesi, der der dramatisch orientierten Musik und ihrer  Virtuosität zu gebotener Wirkung verhilft. Schöne Akzente setzt er in der dreiteiligen Ouverture, der heroischen Sinfonia zu Beginn des 2. Aktes und jener, welche den 3. Akt einleitet.

Interessant ist der Vergleich mit der verfügbaren Aufnahme von 2004 bei der deutschen harmonia mundi unter Alan Curtis, wo keine Countertenöre mitwirken und die Partien des Loltario und Idelberto mit einem Mezzo und einem Alt besetzt sind. Barock-Liebhaber können also wählen, aber jeder der beiden Aufnahmen hat ihre Meriten. Bernd Hoppe

Velluti-Ehrung

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Schon mit seiner CD Arias for Caffarelli erinnerte der Altus  Franco Fagioli 2013 an einen berühmten Kastraten und bei den Salzburger Pfingstfestspielen gab er 2014 einen Arienabend, der dem letzten berühmten Kastraten, Giovanni Battista Velluti, gewidmet war (wobei natürlich heutige Falsettisten nur einen Ersatz für die zu ihrer Zeit hochgepriesenen Kastraten darstellen). Der 1780 geborene Sänger wurde schon mit acht Jahren kastriert und in Bologna ausgebildet. 1800 debütierte er in Florenz, sang danach in mehreren Uraufführungen, so in Werken von Nicolini, Guglielmi, Mayr, Mercadante. Morlacchi, Rossini (Aureliano in Palmira) und Meyerbeer (Il crociato in Egitto). 1825 triumphierte er In London, ging jedoch nach Italien zurück, wo er letztmalig 1853 in Meyerbeers Crociato auftrat und 1861 verstarb. Gerühmt wurden die außergewöhnlich schöne Stimme, auch wegen ihrer Kraft und Beweglichkeit, sowie seine eindrucksvolle Stimmbeherrschung.

Nun veröffentlicht Château de VERSAILLES eine Platte mit Franco Fagioli und eben seiner Konzeption, der Hommage an eine Legende, die 2024 in Versailles entstand (CVS162). In der Arien-Auswahl gibt es freilich Unterschiede zwischen dem Konzert und der CD. In Salzburg sang Fagioli Szenen aus Rossinis Aureliano in Palmira und Meyerbeers Il crociato in Egitto. Auf der Platte ist der Schwan von Pesaro vertreten mit seiner Kantate Il vero omaggio, aus der die Arie „Al conforto inaspettato“ erklingt und den bravourösen Schlusspunkt der Anthologie markiert. Sonst aber findet man in der Sammlung eher unbekanntere Komponisten, einzig Salvatore Mercadante ist noch ein geläufiger Name. Aus seiner Oper Andronico stellt Fagioli zwei Szenen des Titelhelden vor – die Cavatina „Era felice un dí/Sì bel contento in giubilo“ und die Gran Scena „O solinghe dimore/Soave immagine/Non tradirmi“. Erstere ist ein Stück von lyrischer Noblesse mit feinen Verzierungen, welche der Solist mit hoher Kultur umsetzt, die zweite von ähnlich hohem Anspruch und ähnlich souveräner Bewältigung durch den Interpreten.

Giovanni Battista Vellutti sang den Tebaldo in der Venezianischen Uraufführung von Morlacchis „Tebaldo ed Isolina“/ Wikipedia

Die Reihe der unbekannteren Tonsetzer beginnt gleich mit dem Auftakt des Programms, bei dem eine Komposition von Paolo Bonfichi (1769 – 1840) vorgestellt wird – die Scena und Cavatina des Lotario, „Dolenti e care immagini/Vedrai quest´anima“, aus Attila. Fagioli kann hier den beeindruckenden Umfang seiner Stimme und deren aufregende Sinnlichkeit demonstrieren. Danach folgt Giuseppe Nicolini (1762 – 1842) mit sogar drei  Werken. Aus Balduino erklingen Recitativo ed aria des Titelhelden, „Ma i figli miei/Vederla dolente“. Der virtuose Zuschnitt dieser Nummer lässt Fagioli brillieren und verstehen, dass er bereits mit Erfolg den Arsace in Rossinis Semiramide gesungen hat.  Aus Traiano in Dacia ist die Aria des Decebalo, „Ah se mi lasci o cara“ zu hören, auch diese in rossinischer Manier komponiert. Schließlich stellt der Sänger aus Carlo Magno die ausgedehnte Scena e rondo des Vitekindo, „Ecco o numi compiuto/Ah quando cesserà/Lo sdegno io non pavento“, vor. Mit dramatischem Rezitativ, empfindsamer Arie und gestrafftem Schlussteil ist sie ganz im Stil des Belcanto konzipiert und gibt dem Sänger Gelegenheit zur Ausstellung seiner gestalterischen Fähigkeiten. Das Trio der Unbekannten vollendet Francesco Morlacchi (1784 – 1841) mit seiner Oper Tebaldo e Isolina, aus der die Scena e romanza des Tebaldo, „Notte tremenda… Caro suono lusinghier“ ertönt. Fagioli wartet hier mit einer reichen Palette von stimmlichen Farben auf und setzt das Brustregister effektvoll ein.

Der Solist wird begleitet vom Orchestre de l´Opéra Royal unter Stefan Plewniak. Der polnische Dirigent leitet das Orchester seit der Saison 2019/20 und hat für das Label Château de VERSAILLES bereits mehrere bedeutende Alben aufgenommen. Seine Affinität nicht nur zum Barock, sondern auch zum Stil der Grand opéra um Rossini und Meyerbeer ist in jedem Takt spürbar (11.03.25). Bernd Hoppe