Vielbeiniges

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The Christopher Wheeldon Collection bei Opus Arte. Einen Schuber mit drei Blu-ray Discs veröffentlicht OPUS ARTE, welche einen Einblick in das Schaffen des britischen Choreografen Christopher Wheeldon, Artistic Associate des Royal Ballet, ermöglichen (OABD73198D). Drei seiner bekanntesten Ballette werden vorgestellt, deren ältestes (und bekanntestes) Alice´s Adventures in Wonderland von 2011 ist. Seit seiner umjubelten Uraufführung wird es weltweit gespielt, auch das Bayerische Staatsballett München hat die Choreografie in seinem Repertoire. Hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahre 2017 zu sehen, die viele Principals der Londoner Compagnie vereint, angeführt von der bezaubernden Lauren Cuthbertson in der Titelrolle und Federico Bonelli als ihrem Freund Jack und später verwandeltem Herzbuben. Eine Glanzrolle in diesem Stück ist die exzentrische Herzkönigin, der Laura Morera einen gebührend extravaganten Umriss gibt. Auch die Doppelrolle des Zauberers und verrückten Hutmachers ist ein Fest für einen Tänzer von Ausnahmeformat – einfach wie geschaffen für den unvergleichlichen Steven McRae. Neben der tänzerischen Pracht sorgt auch die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley für optische Freuden und nicht zuletzt trägt Joby Talbots schwungvolle Musik zum stimmigen Gesamteindruck bei.

Ähnlich erfolgreich ist das im April 2014 herausgekommene Shakespeare-Ballett The Winter´s Tale, das hier in einer Aufzeichnung aus der Uraufführungsserie zu sehen ist. Wieder waren Wheeldons regelmäßige Mitarbeiter – der Komponist Joby Talbot und der Designer Bob Crowley – mit am Werk. Erzählt wird die Geschichte des eifersüchtigen Königs Leontes (Edward Watson in psychopathischer Intensität bis zum Wahnsinn), der seine schwangere Gattin Hermione (Lauren Cuthbertson mit viel Liebreiz und tiefer Empfindung) des Ehebruchs mit seinem Freund Polixenes (Federico Bonelli mit sinnlicher Aura) bezichtigt. 17 Jahre später spielt der 2. Akt in Böhmen, wohin die Tochter des Paares Perdida (Sarah Lamb von bezaubernder Anmut) mit ihrem Geliebten Florizel (Steven McRae mit hinreißender Vitalität und starker Ausstrahlung) fliehen konnte. Zurück nach Sizilien führt der 3. Akt, welcher die Versöhnung von Leontes und Hermione schildert. Zum Erfolg der Produktion, die inzwischen auch beim Hamburg Ballett gezeigt wurde, tragen auch das Orchestra of the Royal Opera House und der Dirigent David Briskin bei.

Das dritte (und aktuellste) Ballett trägt den Titel Like Water for Chocolate und ist eine Koproduktion mit dem American Ballet Theatre. Sie wurde im Juni 2022 im Royal Opera House London uraufgeführt, wovon auch der DVD-Mitschnitt stammt. Wieder ist das Trio Christopher Wheeldon (Choreografie), Joby Talbot (Musik) und Bob Crowley (Ausstattung) künstlerisch verantwortlich. Das Ballett wurde durch den mexikanischen Roman „Bittersüße Schokolade“ von Laura Esquivel inspiriert – eine Familiensaga von magischem Realismus in Mexiko um 1910. Die zentrale Figur ist Tita, verliebt in den Nachbarn Pedro, den sie jedoch nicht heiraten darf gemäß einer Familientradition, sich um die alte Mutter, Mama Elena, sorgen zu müssen. Statt ihrer ist Pedro die Hand Ihrer Schwester Rosaura versprochen. Dieser hofft, durch die Heirat näher bei seiner einzigen Liebe Tita zu sein. Ein Jahr ist vergangen und Rosaura hat Probleme, ihr neu geborenes Baby zu stillen. Wie durch ein Wunder kann Tita dieses Amt übernehmen, was Pedros Liebe zu ihr noch verstärkt. Ein nächtliches Treffen mit Tita wird gestört von Elena und Rosaura – Pedro muss mit seiner Frau und dem Baby die Farm verlassen. Die Magd Chenca übermittelt die Nachricht vom Tod des Kindes, Tita beschuldigt ihre Mutter als die Verursacherin des Unglücks. Ihren emotionalen Kollaps will Doktor John Brown in seinem Haus in Texas heilen. Er liebt Tita und will sie heiraten. Sie willigt ein trotz ihrer fehlenden Gefühle für diesen Mann, bei dem sie sich aber Frieden und Sicherheit verspricht. Die inzwischen verstorbene Mutter wird aufgebahrt, unter den Trauernden sind Pedro und Rosaura mit ihrer neuen Tochter Esperanza. In einer Kassette entdeckt Rosaura ein Tagebuch ihrer Mutter, welches ihre Liebe zu einem Mann namens José enthüllt, doch bestimmten die Eltern eine Heirat mit Juan de la Garza, Titas Vater. Die Liebenden wollten fliehen, doch Juan wird von Elenas Brüdern getötet. Dr. John gibt seine Verlobung mit Tita bekannt, aber Pedro erklärt ihr seine unverbrüchliche Liebe. Beider leidenschaftliche Verbindung endet in einer schrecklichen Vision – dem Erscheinen von Elenas Geist. Tita offenbart Dr. John ihre anhaltende Liebe zu Pedro und gibt ihm den Ring zurück.

Rosauras gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr, verursacht durch ihre Eifersucht. Ihre Tochter Esperanza, die mit Johns Sohn Alex scherzt, ruft sie gebieterisch zu sich und wiederholt damit das Verhalten ihrer Mutter. Bald hält Pedro seine tote Frau im Arm. 20 Jahre wird eine weitere Hochzeit gefeiert – die von Esperanza und Alex. Endlich sind die Familien in Liebe vereint.

Für diese vielschichtige Saga erdachte Christopher Wheeldon eine facettenreiche Tanzsprache, die ihre starke Wirkung ebenso aus den intimen Momenten der Protagonisten bezieht wie aus mitreißenden Gruppenszenen. Tita und Pedro tanzen am Ende einen neoklassischen Pas de deux von ekstatischer Hingabe als apotheotisches Bekenntnis zur Macht der Liebe.

Führende Solisten der Compagnie verzeichnet die Besetzungsliste. An ihrer Spitze zwei Principals: Francesca Hayward als Tita und Marcelino Sambé als Pedro. Die in Kenia geborene Britin und der Portugiese sind längst das neue Traumpaar in London. Beider Tanzduos sind aufgeladen von überschäumendem Temperament und erotischer Leidenschaft. Sambé ist ein Ausbund an Vitalität und jugendlichem Übermut, hinreißend in den fulminanten Sprüngen und virtuosen Hebefiguren. Hayward ist bezaubernd und anmutig, aber sie vermag auch den. Schmerz und die Trauer zu vermitteln, beginnend bei Pedros Hochzeit mit Rosaura, später beim Tod der Mutter und beim leidenschaftlichen Wiedersehen mit Pedro.

Laura Morera ist faszinierend als strenge, hartherzige Mama Elena – fanatisch, unnachgiebig und grausam. Rasant und hocherotisch ist sie in einer Rückblende mit ihrem Geliebten José  (Joseph Sissens von animalischer Sinnlichkeit), grotesk und fast eine Nachfolgerin der Herzkönigin als ihre eigene Geistererscheinung. Matthew Ball als fürsorglicher und großherzig liebender Dr John Brown ist ein Sympathieträger. Wheeldon hat für ihn und Tita zu Beginn des 2. Aktes ein inniges Duett erdacht, das beider Gefühle anschaulich schildert.

Bob Crowleys Ausstattung ist inspiriert von mexikanischer Kunst und Folklore, besitzt Strenge und Abstraktion, aber auch Naivität. Joby Talbots Musik lässt gleichfalls die Einflüsse mexikanischer Musiktradition hören, ist sehr rhythmisch betont und mit viel Schlagwerk instrumentiert. Am Ende rauscht sie hymnisch auf und bezieht auch noch die Gesangssolistin Sian Griffith ein. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt unter Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra mit südländischem Schwung und Temperament. Bernd Hoppe

Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Harold Woetzel ist auch der Autor des Films Marcia Haydée – The Seduction to Danse. Man nennt die 1937 in Niterói geborene und in Rio de Janeiro aufgewachsene Brasilianerin auch „die Maria Callas des Tanzes“. Nach ihrem Studium in London engagierte John Cranko die damals noch unbekannte Tänzerin 1961 nach Stuttgart (trotz des Einspruchs von Generalintendant Walter Erich Schäfer), wo er für sie fast alle großen Rollen seiner Ballette kreierte. Sie wurde zu seiner Muse und Assoluta und später auch seine Nachfolgerin als Intendantin der Compagnie.

Auch andere berühmte Choreografen inspirierte sie mit ihrer Kunst und Persönlichkeit, vor allem John Neumeier, der für sie seine Kameliendame kreierte, die sie 1978 zum triumphalen Erfolg führte, oder Maurice Béjart, der für sie seine Isadora schuf.

Unter den Ballettausschnitten ist gleich der erste eine Rarität – 1985 tanzte Haydée Béjarts Bolero in der deutschen Erstaufführung dieser legendären Choreografie. Es gibt natürlich auch Szenen aus Crankos Klassikern, The Taming of the Shrew oder  Romeo and Juliet, und man sieht zudem einen Ausschnitt aus Dornröschen, ihrer erfolgreichsten eigenen Choreografie. Bei den beliebten Stuttgarter Veranstaltungen Ballett im Park gehört diese Produktion zu den Höhepunkten. Zu Wort kommen Reid Anderson, Egon Madsen, Tamas Detrich, Friedemann Vogel und Alicia Amatriain – also Partner und Weggefährten aus ihren 35 Stuttgarter Jahren.

Auch Einblicke in Haydées Privatleben werden gewährt – ihre 16jährige Beziehung mit Richard Cragun, dem Partner auf der Bühne in vielen Stücken, der sie wegen einer neuen Liebe verließ und dessen Aids-Tod sie zutiefst erschütterte, oder die mit ihrem Ehemann, dem Yoga-Lehrer Günther Schöberl, die schon seit fast 30 Jahren glücklich verläuft. Der gleichfalls vom SWR Fernsehen initiierte Film stammt von 2017 und ist eine willkommene Würdigung der großen Tanzlegende.

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Mit dem dritten Film, Friedemann Vogel – Incarnation of Danse, findet sich ein Beitrag aus der aktuellen Stuttgarter Tanzszene. Er stammt von Katja Trautwein und entstand als Koproduktion des SWR mit der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit der Saison 1998/99 ist Vogel Mitglied der Stuttgarter Compagnie, wo er 2002 zum Ersten Solisten und 2015 auch zum Kammertänzer ernannt wurde. Der Untertitel dieses Streifens lautet „Internationaler Ballett-Superstar“, was sich auf die ausgedehnte Gastspieltätigkeit des Tänzers bezieht, der seit Jahren regelmäßig in den größten Ballettzentren der Welt – Moskau, St. Petersburg, London, Paris, Tokyo – auftritt.

Als erster Ausschnitt wurde Béjarts Bolero gewählt – ein cavallo di battaglia für jeden Superstar der Ballettwelt. Bei einem Gastspiel beim Royal Swedish Ballet  Stockholm, zu dem ihn dessen neuer Ballettdirektor Nicolas Le Riche eingeladen hatte, zeigt er Marcia Haydées Dornröschen-Version. In Tokyo tanzt er mit Alicia Amatriain einen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame im Rahmen des World Ballet Festivals, bei dem er schon Dauergast ist. Auf Einladung von Polina Semionova tritt er beim Berliner Staatsballett in der Gala Polina and Friends auf und tanzt mit der Starballerina einen Pas de deux aus Kenneth MacMillans Manon. Ähnlich berühmt ist Olga Smirnova (die ihr Heimatland inzwischen verlassen hat), mit der Vogel am Bolshoi Ballett einen Pas de deux aus Crankos Onegin interpretiert. Als eine exzentrische Filmchoreografie ist die Arbeit Cadavre Exquis von Guillaume Côté vom Kanadischen Staatsballett Toronto zu sehen. Seit einigen Jahren posiert der Tänzer, ähnlich wie der italienische Star Roberto Bolle, auch für die Modebranche. Für Arbeiten seines Lebensgefährten in der Branche Tanzfotografie steht er Modell und hat mittlerweile sogar Kontakte zur Filmbranche geknüpft. Erhellend ist ein Gespräch mit dem Regisseur Volker Schlöndorff.

In vielen Posen, zum Teil verfremdet als grafische Puzzles oder als slow motion-Aufnahmen, wird die Schönheit seines Körpers herausgestellt, in vielen Figuren seine exquisite Technik. Befremdlich wirken die vielen Tanzszenen auf Straßen, Plätzen, Treppen und Dächern, an Seen und in Gärten sowie vor internationalen Sehenswürdigkeiten vom Eiffelturm bis zum Brandenburger Tor. Bernd Hoppe

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Aus dem Jahre 2012 stammt ein Schuber mit zwei DVDs aus dem Royal Opera House London, den OPUS ARTE jetzt neu aufgelegt hat. An Evening with The Royal Ballet and The Royal Opera ist die Ausgabe betitelt, dürfte also für Liebhaber beider Gattungen von Interesse sein (OA 1261 BD).

Die Ballett-DVD präsentiert Höhepunkte aus dem Repertoire des Royal Ballet, beginnend mit der Ballszene aus Prokofjevs Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan. Carlos Acosta und Tamara Rojo sind die Protagonisten, die später noch die Balkonszene aus dieser Produktion zeigen. Carlos Acosta brilliert, gemeinsam mit seiner Partnerin Leanne Benjamin, auch im Pas de deux Voices of Spring auf Musik von Johann Strauß II – ein virtuoses Glanzstück von Frederick Ashton, welches das Paar sprungstark und tempobetont absolviert.  Und der gefeierte Principal der Compagnie glänzt auch als Colas  in La Fille mal gardée im Pas de deux mit Marianela Nuñez und als Franz in Coppélia – beides Zeugnisse seiner enormen Vielseitigkeit. Nicht fehlen im Programm darf Alina Cojocaru – eine Assoluta, die noch heute aktiv ist und oft beim Hamburg Ballett auftritt. Hier ist sie in ihren Glanzrollen als Prinzessin Aurora mit dem fordernden Rosen-Adagio in The Sleeping Beauty und als ätherische Giselle mit Johan Kobburg als Albrecht im Pas de deux des 2. Aktes zu sehen – Beispiele von singulärer Tanzkunst. Eine gleichfalls bedeutende Ballerina war Darcey Bussell, die heute als charmanter und sachkundiger Host in TV-Übertragungen des Royal Ballet tätig ist. Sie zelebriert in aristokratischer Manier gemeinsam mit dem Startänzer Roberto Bolle einen Pas de deux aus Sylvia in der Choreografie von Frederick Ashton. Zwei Tschaikowsky-Klassiker in den Choreografien von Lev Ivanov bilden den Ausklang des Programms: der Pas de deux Zuckerfee/Prinz aus The Nutcracker mit Miyako Yoshida und Steven McRae sowie die Schluss-Szene aus Swan Lake mit Marianela Nuñez, Thiago Soares und Christopher Saunders. Beide Szenen demonstrieren eindrücklich das hohe Niveau des Ensembles mit seinen überragenden Solisten. Bernd Hoppe

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In der internationalen Tanzszene hat der Name Jean-Christophe Maillot einen ganz besonderen Klang, zählt seine Compagnie Les Ballets de Monte-Carlo, welche er seit 1993 leitet, doch weltweit zu den renommiertesten und innovativsten Ensembles. Jetzt legt die UNITEL EDITION seine Choreografie von Léo Delibes’ Ballett Coppelia auf Blu-ray Disc vor (808804). Die Aufzeichnung erfolgte 2022 im Grimaldi Forum – Salle des Princes von Monte-Carlo.

Das Stück basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und erlebte seine Weltpremiere 1870 in Paris in der Choreographie von Saint-Léon. Weitere bekannte Deutungen stammen von Marius Petipa, der seine Fassung   an mehreren Bühnen herausbrachte, Ninette De Valois (für das Royal Ballet London) und George Balanchine (für das NYC Ballet). Die Besonderheit von Maillots Version, betitelt Coppél-I.A., liegt in ihrer futuristischen Anlage. Coppelia ist bei ihm keine mechanische Puppe, sondern ein außerirdisches Weltraumwesen. Bertrand Maillot, der Bruder des Choreografen, arrangierte die Musik unter Verwendung synthetischer Klänge, was ihr einen zeitgenössischen Anstrich verlieh. Ausstatterin Aimée Moreni hat der Titelfigur ein Ganzkörpertrikot mit einzelnen Lederriemen und Metallelementen verordnet. Der Prologue zeigt ihre Geburt mit ihrem Schöpfer Coppélius, den Matèj Urban als Outlaw zeichnet. Seine Kleidung ist zerschlissen und trägt die Spuren des Straßenlebens. Dem von ihm erschaffenen Wesen ist er gänzlich verfallen, betet es in trancehafter Steigerung an und ist untröstlich über dessen mangelndes Interesse. Phänomenal setzt Lou Beyne die vom Choreografen erdachten abgehackten, zuckenden und schüttelnden Bewegungen für die künstliche Frau um. Das abstrakte Einheitsbühnenbild, von Maillot und Samuel Thery lediglich in unterschiedliche Lichtstimmungen getaucht, könnte die Linse eines Fotoapparates darstellen.

Die Eingangsszene des 1. Aktes spielt am Hochzeitstag von Swanilda und Franz, ganz in Weiß gekleidet, inmitten ihrer Freunde, die mit ungemein rasanten, temporeichen Tänzen aufwarten. Anna Blackwell und Simone Tribuna geben das junge Paar in jugendlich-vitaler Ausgelassenheit mit wirbelnden Drehungen und bravourösen Sprüngen. Coppélius führt sein Geschöpf in spektakulärer Glitzerrobe und Strahlenkranz beim Fest ein, womit er Franz’ reges Interesse an der schönen Unbekannten erweckt. Er wird später Coppélius bis in dessen Werkstatt folgen und seine Hochzeit mit Swanilda absagen, so sehr ist er Coppél-I.A. verfallen. In der Werkstatt finden sich mehrere Androiden, die von Coppélius’ gescheiterten Versuchen, eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, künden. Swanilda erscheint mit ihren Freunden in der Werkstatt und tauscht ihr Kleid gegen das von Coppél-I.A. aus. In dieser Verkleidung täuscht sie nicht nur Coppélius, der ein furioses Solo hat, welches dem des Rotbart in Schwanensee nicht nachsteht, sondern auch Franz. Am Ende aber ist zwischen den jungen Leuten alles wieder im Lot und es wird doch geheiratet. Bernd Hoppe

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NAXOS setzt seine verdienstvolle Reihe mit Ballettmusiken fort. Neu erschienen ist eine Platte mit dem Titel Dances and Ballet Music von Camille Saint-Saëns (8.574463), die Jun Märkl mit dem Residentie Orkest The Hague im März/April 2022 im niederländischen Den Haag aufgenommen hat.  Eine Naxos-CD vereint eine Sammlung von Gelegenheitsarbeiten des Komponisten Saint-Saens und zwei Ausschnitten aus seinem Hauptwerk Samson et Dalila. Das Programm eröffnet das sechsteilige Ballett des 3. Aktes aus Ètienne Marcel. Die 1879 in Lyon uraufgeführte Oper (als vierte von insgesamt 13) war ein Versuch, die französische Grand opéra wieder zu beleben. Einer lebhaften Introduktion schließt sich die wiegende Musette guerrière an, der eine sanfte Pavane folgt. Eine elegante Valse und der rhythmisch betonte Entrée des  Bohémiens et Bohémiennes beschließen die Suite. Schon hier zeigt sich die Vielfalt der Musik, welcher Dirigent und Orchester mit großem Einfühlungsvermögen und einem an Esprit reichen Spiel gerecht werden.

Auch der 1883 an der Pariser Opéra erstmals gezeigte Henry VIII diente zur Etablierung des Genres der Grand opéra. Daraus gibt es mehrere Ausschnitte – zum einen aus dem 2. bis 4. Akt in origineller melodischer Erfindung und sehr reizvoller Instrumentierung und danach das Divertissement „Fete populaire“. Abwechslungsreiche Szenen, wie eine Idylle écossaise, die Fête du houblon, eine Danse de la gipsy und eine irische Gigue garantieren ein hohes Maß an Unterhaltung. Zwischen diesen beiden Abschnitten gibt es mit den vier Airs de ballet aus Parysatis eine veritable Rarität. Mit ihren kontrastierenden Tempo-Bezeichnungen bieten sie dem Orchester Gelegenheit für ein an Farben und Stimmungen vielfältiges Spiel.

Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt der Anthologie sind die zwei Szenen aus der 1877 uraufgeführten Oper Samson et Dalila – die Danse des prêtresses de Dagon und der Bacchanale. Letzterer zählt zu den unvergänglichen Hits des Komponisten und wird hier mit opulenter Klangpracht und orientalischer Sinnlichkeit geboten.

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Schon im August 2018 entstand für NAXOS in Malmö die Aufnahme des 3. Aktes von Camille Saint-Saëns’ Ascanio, ergänzt um Ouvertures und Vorspiele. Hier spielt, wieder unter Leitung von Jun Märkl, das Malmö Symphony Orchestra (8.574033).

Ascanio wurde 1890 in der Pariser Opéra uraufgeführt, dann noch einmal 1921 am selben Ort anlässlich des Todes seines Schöpfers gezeigt und ist seither der Vergessenheit anheim gefallen. Im 3. Akt der Oper entfaltet sich ein großes Divertissement in den Gärten von Fontainebleau, welches der Komponist Reynaldo Hahn als „Triumph von Geschmack und Eleganz“ pries. Die elf Teile bedienen mythologische Themen. Unter den Göttern und Göttinnen finden sich Venus, Juno und Pallas Athene. Den Auftritt der Diana begleiten Dryaden und Najaden. Bacchus ist umgeben von Bacchanten. Nicht fehlen dürfen Amor und Psyche, dem Liebesgott ist sogar eine eigene Variation gewidmet, deren flirrende Bläser-Töne eine reizvolle Stimmung einbringen. Am Ende des Programms gibt es dieses Stück sogar in einer Alternativ-Version.

Pompös entfaltet sich zu Beginn „L’Entrée du Maître des Jeux“, während die folgende Danse ancienne mit Vénus, Junon und Pallas einen heiter beschwingten Duktus hat. Auch die Gavotte mit Diane ist spielerisch. Das Bacchanale beginnt in stampfendem Rhythmus und geht dann in einen wilden orientalischen Taumel über. In seiner Ekstase ähnelt es dem berühmten Tanz aus dem Samson. Einen lyrischen Kontrast bringt das träumerische „L’Amour fait apparaître Psyché“ ein. Das schwelgerische Finale ist ein beschwingter Kehraus. Mit feinen Valeurs und einer reichen Palette von Stimmungen malt das Orchester die unterschiedlichen Sätze eindrucksvoll aus.

Die Ouvertures aus verschiedenen Werken (Les Barbares, La Jota aragonese, Andromaque, La Princesse jaune) bieten neben ihren klanglichen Idiomen auch Gelegenheit, Bekanntschaft mit unbekannten französischen Werken zu machen. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: The Dante Project aus London. OPUS ARTE erweitert ihre bedeutende Reihe von Produktionen des Royal Ballet London um das neue Stück des Resident Choreographer Wayne McGregor. Es trägt den Titel The Dante Project und entstand im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Uraufführung im Oktober 2021 in einer Koproduktion mit dem Ballett der Pariser Oper erschien nun als Blue-ray Disc (OABD7278D).

Die Bedeutsamkeit des Werkes resultiert auch aus dem Beitrag des Komponisten Thomas Adès, der dafür eine spannungsreiche, vielfältige Musik schuf. Sie tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch und französisch inspiriertem Esprit. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean, die vorwiegend abstrakt arbeitet, lieferte für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer zeigt. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Lichtstimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die einzelnen Szenen sind sogar schwierig zu dechiffrieren und den einzelnen Kapiteln der Divina Commèdia zuzuordnen. Wie aber Musik und Tanz eine Einheit bilden und sich einander bedingen, ist von enormer Faszination. Die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der seit 27 Jahren der Company angehört und schon lange mit dem Choreografen zusammen arbeitet. Als Principal hat er den Mayerling von Kenneth MacMillan und den Leontes in Christopher Wheeldons The Winter’s Tale getanzt. Die Rolle des Dante betrachtet er als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere und gleichzeitig als Abschluss seines Wirkens beim Royal Ballet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt der junge Marcelino Sambé, ein neuer Star des Ensembles, als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Bemerkenswert ist, dass viele Mitglieder der Gruppe neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen haben und dabei glänzende Figur machen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Sie gehört zu den führenden Mitgliedern der Company. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sah man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Hommage bei Unitel: 2023 jährt sich John Crankos Todestag zum 50. Mal. Der in Südafrika geborene Choreograf wurde 1961 zum Stuttgarter Ballettdirektor berufen und führte die Compagnie in kürzester Zeit zur Weltspitze. Der Durchbruch gelang 1962 mit Romeo und Julia – von Unitel in einer Aufführung von 2017 veröffentlicht und auch auf diesen Seiten besprochen. Danach folgten weitere große Handlungsballette, wie Onegin (den Unitel unlängst in einer Aufführung ebenfalls von 2017 herausbrachte und der gleichfalls hier rezensiert wurde) sowie Der Widerspenstigen Zähmung. Jetzt erscheint die Ballettkomödie nach Shakespeares berühmten Stück unter dem Originaltitel The Taming of the Shrew als Blu-ray Disc (808204) bei derselben Firma. Die Aufführungen für die Veröffentlichung wurden im Mai 2022 in Stuttgart aufgezeichnet. Sie ist für alle Ballettfreunde, insbesondere Cranko-Verehrer, eine willkommene Bereicherung des auf Bilddokumenten verfügbaren Oeuvres des Choreografen. Denn bislang existierte nur ein Fernsehmitschnitt von 1971 (in bescheidener technischer Qualität) mit der legendären Besetzung der Uraufführung – Marcia Haydée als Katherina, Richard Cragun als Petruchio und Birgit Keil als Bianca.

Jetzt nehmen aktuelle Stars des Ensembles diese Rollen wahr. Elisa Badenes, die schon als empfindsame Julia bezaubert hatte, zeigt nun als Katherina eine ganz andere Facette ihrer Persönlichkeit. Fulminant ihr Auftritt, wenn sie wie ein Wirbelwind aggressiv, furios in den Pirouetten und Sprüngen, hereinstampft. Auch ihre erste Begegnung mit Petruchio geht klar zu ihren Gunsten aus. Für den Petruchio hätte es keine bessere Besetzung geben können als Jason Reilly, der nach seinem noblen Gremin im Onegin nun gleichfalls einen vollkommen konträren Charakter zu porträtieren hat. In einer Taverne imponiert er bei seinem Entrée mit übermütig prahlerischem Macho-Gehabe, natürlich garniert mit bravouröser Technik. Der erste Pas de deux mit Katherina, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, ist geradezu eine Kampfszene zwischen beiden. Leise Momente der Annäherung unterbricht sie stets mit spöttischen Reaktionen und höhnischer Verachtung. Vor der Heirat hat er ein Solo als betrunkener Bräutigam, wo er gleichermaßen als Komödiant wie als virtuoser Ballerino gefordert ist.

Katherinas liebenswerte Schwester Bianca, die von dem Gecken Hortensio (skurril: Fabio Adoriso), dem Studenten Lucentio (jungmännlich-verliebt, doch leicht effeminiert: Martì Fernández Paixà) und dem alten Gremio (urkomisch: Alessandro Giaquinto) angebetet  wird, ist in der Verkörperung von Veronika Verterich ein anmutiges Geschöpf – zierlich, leichtfüßig und bezaubernd. Köstlich ist das Aufeinandertreffen mit ihrer Schwester, wenn Katherina wie eine Furie hereinstürmt und ihr eine Blume entwendet.

Das Corps de ballet kann vor allem in der turbulenten Hochzeitsszene am Ende des 1. Aktes sowie in den belebten Karnevalsbildern und bei Biancas Hochzeit im 2. Akt brillieren. Dieser beginnt mit der Reise des jung vermählten Paares in Petruchios Haus, wo er Katherina durch seine Diener ärgern und sie zudem hungern und frieren lässt. Hier sieht man den zweiten Pas de deux des Paares, nun in schon stärkerer Zuwendung, denn sie überzeugt sich mittlerweile von seinem liebenswerten Naturell. Schwierige Hebe- und Schleuderfiguren belegen den Ausnahmestatus des Balletts, das in seinen technischen Anforderungen sogar noch den Onegin übertrifft. Katherina und Petruchio haben sogar noch einen Pas de deux mehr zu zeigen als Tatjana und Onegin, der bei Biancas Hochzeit platziert und nicht weniger anspruchsvoll ist. Im mitreißenden Finale hat jeder der beiden Protagonisten noch ein bravouröses Solo zu absolvieren, denen die Jubelstürme des Publikums folgen.

Die Ausstattung von Elisabeth Dalton in rostroter Renaissance-Architektur mit einer Empore (was an Crankos Romeo erinnert) ist werkdienlich und elegant. Die Kostüme sind bis auf die des Protagonistenpaares nahe der Karikatur, charakterisieren die Personen aber liebevoll und mit Witz.

Die Musik von Kurt-Heinz Stolze, der Sonaten für Cembalo von Domenico Scarlatti arrangiert hatte, ist bei Wolfgang Heinz am Pult des Württembergischen Staatsorchesters in den besten Händen. Denn unter seiner Leitung hat sie Esprit, Dynamik und Tempo. Der Dirigent scheut weder harsche Akkorde noch das Gefühl, was wichtig ist für die Tanzduette zwischen Katherina und Petruchio.

Der Bonus hält eine Konversation zwischen den Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Dietrich und Reid Anderson sowie dem Stellvertretenden Musikdirektor Wolfgang Heinz über dieses Ballett fest – seine Entstehung im Probensaal, die Anforderungen an die Protagonisten, die triumphale Aufnahme beim Publikum (in Stuttgart und beim Gastspiel in New York). Per Video wird Marcia Haydée aus Berlin eingespielt, die gerade mit dem Staatsballett ihr Dornröschen einstudiert und nun lebhaft über die Kreation ihrer Katherina berichtet.

Mit dieser Veröffentlichung, mit der nun die drei großen Handlungsballette von John Cranko auf DVD vorliegen, hat Unitel (in Kooperation mit arte, dem SWR und NHK) eine Großtat vollbracht. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Muntagirov at his best. Von Zeit zu Zeit würdigt OPUS ARTE herausragende Tänzer mit der Veröffentlichung eines Schubers von mehreren DVDs. Jüngstes Beispiel ist Vadim Muntagirov, Principal Dancer beim Royal Ballet London seit 2014, wo er viele der klassischen Ballerino-Rollen interpretiert hat und dabei Partner der gefeierten Startänzerinnen der Compagnie war. Mit zahlreichen Preisen geehrt, auch dem prestigereichen Benois de la Danse, ist der Russe eine Ausnahmeerscheinung in der aktuellen Tanzwelt, vor allem wegen seiner exzellenten Technik, die derzeit kaum Vergleiche hat.

Der Schuber „ The Art of Vadim Muntagirov“ mit vier DVDs (OA13598D) hält vier Auftritte des Tänzers zwischen 2016 und 19 fest, beginnend mit dem Albrecht in Adolphe Adams Giselle in der Choreographie von Marius Petipa/Jean Coralli/Jules Perrot. Die Produktion ist ein Juwel im Repertoire des Royal Ballet London. Peter Wrights Produktion (mit eigenen Zusätzen) wurde nach ihrer Erstaufführung 1985 bereits mehrfach auf DVD veröffentlicht. Die erste Ausgabe stammt aus dem Jahre 2006, in der Marianela Nuñez noch die Myrtha tanzte – in der Wiederaufnahme am 5. April 2016 wurde ihr nun die Titelpartie  anvertraut. Die argentinische Ausnahmetänzerin präsentiert sich damit in einer weiteren Paraderolle. Im Auftritt lebhaft und kokett, bravourös auf Spitze in der Diagonalen und in den wirbelnden Pirouetten, zeigt sich bei Giselles Erkennen von Albrechts Betrug und in der Wahnsinnsszene die erfahrene Tänzerin mit ihrer mimischen und gestischen Ausdruckskraft. Mirakulös das Erwachen im nächtlichen Waldbild, die wie in slow motion zelebrierten Figuren, die fliehenden Arabesquen, die überirdische Schwerelosigkeit. Vadim Muntagirov fehlt vielleicht die aristokratische Aura für den Herzog, aber tänzerisch ist er erstklassig mit stupenden battements und weiten grand jetés. Im 2. Akt gewinnt er in seinem Schmerz an romantischer Aura und ist tänzerisch wiederum über jede Kritik erhaben.

Als Myrtha sieht man die strenge, in ihrer Eiseskälte geradezu erstarrte Itziar Mendizabel, Bennet Gartside als männlich-reifen Hilarion sowie die beiden ätherischen Solo-Wilis Olivia Cowley und Beatriz Stix-Brunell. John MacFarlanes stimmige Ausstattung mit ihren wunderbaren Sepia- und Rosttönen sowie den aquarellierten Prospekten ist eine Augenweide. Barry Wordsworth dirigiert das Orchestra of the Royal Opera House und verhilft der Aufführung auch musikalisch zum Erfolg.

Ein Jahr später, am 28. 2. 2017, zeichnete OPUS ARTE eine Aufführung von Tschaikowskys The Sleeping Beauty auf. Die Choreografie von Marius Petipa mit Zusätzen von Frederick Ashton, Anthony Dowell und Christopher Wheeldon hatte 2006 ihre Premiere, auch nach mehr als zehn Jahren hat sie nichts von ihrem Zauber eingebüßt, was auch ein Verdienst von Oliver Messels atmosphärischer Ausstattung (mit Ergänzungen von Peter Farmer) ist.

Wieder ist das Traumpaar aus Giselle in den zentralen Rollen zu erleben. Marianela Nuñez ist eine bezaubernde Aurora, von jugendlicher Anmut und Eleganz. Die schwierigen Balancen im Rosen-Adagio meistert sie souverän, ebenso die anspruchsvollen Variationen. Mit Vadim Muntagirov als Prinz Florimund, der einen bestechenden Auftritt bei seinem Solo im Jagdbild hat, führt sie den Grand pas de deux im Hochzeitsbild in aristokratischer Manier zum Höhepunkt der Aufführung. Zum Tanzfest beim Divertissement im letzten Akt tragen vor allem Akane Takade als Princess Florine und Alexander Campbell als The Bluebird bei. Mit der festlichen  Apothéose beendet Koen Kessels mit dem Orchestra of the Royal Opera House eine glanzvolle Aufführung.

Kenneth MacMillans Manon zählt zu den wichtigsten im 20. Jahrhundert geschaffenen Handlungsballetten. Die Uraufführung fand 1974 beim Royal Ballet London statt. Von dieser Inszenierung in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis existieren bereits zwei Aufführungen auf DVD – 2018 kam eine weitere Aufzeichnung, was den Stellenwert dieses Werkes beim Royal Ballet unterstreicht. Sie erfolgte vor allem deshalb, um Vadim Muntagirovs Interpretation des Des Grieux festzuhalten. Seine Manon ist die junge Sarah Lamb, der man die mondäne Kurtiane weniger zutraut, eher das jugendliche Mädchen, das ins Kloster geschickt wird. Und sie ist in der Tat bezaubernd und anmutig in ihrem ersten Auftritt, schwebend leicht im Tanz mit ihrem Bruder Lescaut (viril: Ryoichi Hirano) und entzückend in der Begegnung mit Des Grieux. Muntagirov beginnt mit einem anspruchsvollen Solo von fließender Eleganz und dann folgt der erste von den vier großen Pas de deux der Choreografie, die deren singuläre Bedeutung ausmachen. Lamb und Muntagirov sind ein ideales Paar – jede Figur, ob Drehung oder Hebung, funktioniert perfekt. Die Vollkommenheit im Zusammenspiel ist besonders wichtig beim zweiten Tanzduo, dem Bedroom’ pas de deux, im Liebesnest des Paares, wo sie ihm die Schreibfeder aus der Hand nimmt und zu einem verführerischern Tanz animiert, der in seiner Sinnlichkeit ohne Vergleich ist. Beim Erscheinen auf der Abendgesellschaft in Madames Hotel particulier überrascht Lamb mit einer mondänen Aura, die man von ihr nicht erwartet hätte. Ihr Solo ist aufreizend und ganz für Des Grieux bestimmt. Muntagirov zeichnet ihn, der Manon nach der Trennung erstmals wieder sieht, verzweifelt und sehnsuchtsvoll. Sein Solo, in dem er Manon um Rückkehr zu ihm  bittet, ist ein existentieller Hilfeschrei – technisch in Vollendung ausgeführt. Wieder vereint in der Wohnung von Des Grieux, findet sich das Paar in einem innigen Pas de deux, der beider neu erwachte Liebe anschaulich zeigt. Aber kokett weist sie auf ihre Juwelen – ihr gespaltenes Ich zwischen Glück und Reichtum führt in die Katastrophe. Deportiert in die Sümpfe von Louisiana, hat Manon vor ihrem Tod einen letzten Pas de deux mit ihrem Geliebten, der zu den anspruchsvollsten der gesamten Ballettliteratur zählt. In seinem geradezu artistischen physischen Anspruch mit spektakulären Hebungen und Würfen sowie der existentiellen Ausdrucksdimension hat er kaum einen Vergleich. Lamb und Muntagirov krönen ihre Interpretation mit diesem Atem beraubenden Finale. Der russische Tänzer findet hier zu einer ungeahnten Dramatik und Leidenschaft.

Das Parfum von Massenets Musik lässt Martin Yates, der die Musik auch arrangierte, mit dem Orchestra of the Royal Opera House gebührend duften und schwelgerisch aufrauschen, was die Aufführung auch zu einem sinnlichen Hörerlebnis macht.

Jüngstes Zeugnis ist Léo Delibes’ Coppélia – ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Alina Cojocaru and Vadim Muntagirov in the roles of Medora and Conrad of Le Corsaire produced by the English National Ballet/ Wikipedia

In neuer Besetzung kehrte die Produktion 2019 ins Repertoire zurück und bezog ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei Principals:  Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der Mitschnitt gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel. Der russische Tänzer gibt mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Musik mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung. Bernd Hoppe

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Eine Besonderheit für Ballettomanen. BelAir hat eine (sehr) besondere Blu-ray Disc herausgebracht mit dem Titel Opéra de Paris – une saison (très) particulière (BAC496). Der Film von Priscilla Pizzato beschreibt die Rückkehr der Tänzerinnen und Tänzer in die Probensäle und auf die Bühnen des Palais Garnier und der Opéra Bastille nach monatelanger Abwesenheit im Pandemie-Jahr 2020. Geprobt wird Rudolf Nurejews legendäre Choreografie von La Bayadère von 1992, mit der die Compagnie ihr Comeback feiern will. Gefordert für diese Produktion sind nicht weniger als 90 Tänzer.

Wie alle Theater in Frankreich mussten auch die Opernhäuser in Paris im März 2020 ihre Pforten schließen. Nach einer Proben- und Aufführungspause von drei Monaten konnte das Ballettensemble am 15. Juni in den berühmten Probensaal unter der Coupole (Kuppel) der Opéra Garnier zurückkehren – niemals in seiner traditionsreichen  Geschichte hatte es eine derart lang Pause überstehen müssen. Unter Anleitung mehrerer Ballettmeister und der Directrice de la Danse Aurélie Dupont beginnen die Tänzer mit den Aufwärmübungen (préparations) und dem Technik-Training.

Zu sehen sind der Premier Danseur Paul Marque, die Danseuse Ètoile Amandine Albisson, der Danseur Ètoile Mathieu Ganio und der Danseur Ètoile Germain Louvet, die über die besonderen Herausforderungen der langen Probenpause und die Schwierigkeiten des Wiederbeginns berichten. Am 15. Oktober konnten die Proben für die Wiederaufnahme der Bayadère beginnen. Vor allem der 3. Akt mit dem Schattenreich („Les Ombres“) ist für das Corps de Ballet eine enorme Anforderung, da 32 Tänzerinnen mit unzähligen Arabesquen scheinbar zu einer einzigen Figur verschmelzen müssen. Danach begann die Probenarbeit mit den Solisten: Der Danseur Ètoile Hugo Marchand versucht sich mit Erfolg an der extrem schwierigen Variation des Solor im Schattenreich, Amandine Albisson probt die Nikiya und deren Solo vor dem Biss der Schlange. Am 19. November fand die erste Probe mit dem gesamten Ensemble statt. Hier ist die Danseuse Ètoile Dorothée Gilbert als Nikiya zu sehen, Paul Marque gibt das Goldene Idol. Am 27. November begannen die Proben auf der Bühne der Opéra Bastille. Hier kommen Marchand und die Danseuse Ètoile Ludmila Pagliero zum Einsatz. Am 4. Dezember findet die Generalprobe in Kostümen und mit Orchester statt. Der Danseur Ètoile Mathias Heymann spricht über die psychische Belastung dieses Abends, aber auch die Vorfreude auf die Premiere mit einem gefüllten Saal und dem Applaus des Publikums. Am 11. Dezember, vier Tage vor dem mit Spannung erwarteten Ereignis, erfahren die Tänzer, dass die Theater in Frankreich nicht öffnen dürfen und alle Vorstellungen annulliert sind. Die Aufführung findet ohne Zuschauer statt und wird live übertragen mit einer unterschiedlichen Besetzung der Danseurs Ètoiles pro Akt. Einer davon, Francesco Mura, macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung.

Die Aufführung ohne Publikum hat am Ende noch einen bewegenden Moment, denn Aurélie Dupont ernennt Paul Marque nach seiner Interpretation des Goldenen Idols zum Danseur Ètoile – stets ein Höhepunkt in der Karriere eines Tänzers. Am 10. Juni 2021, nach einer Schließzeit von 18 Monaten, öffnet die Opéra Bastille erneut ihre Pforten – und diesmal mit Publikum für die Wiederaufnahme von Rudolf Nurejews Roméo et Juiette. Hier tanzt Marque den Roméo und damit seine erste Hauptrolle als neuer Etoile. Und am Ende der Vorstellung wiederholt sich der feierliche Moment einer Ernennung zum Star, denn Aurélie Dupont macht die Juliette des Abends, Sae Eun Park, zur neuen Danseuse Ètoile.

Ein Bonus der Ausgabe bringt ein Interview mit Aurélie Dupont sowie Ausschnitte von den Proben zur Bayadère mit Hugo Marchand, Amandine Albisson, Mathias Heymann und der Ballettmeisterin Clotilde Vayer. Bernd Hoppe