Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Von Kanzonen und Kantilenen

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Mit acht CDs ist das neue Projekt von Opera Rara, DonizettiSongs, groß angelegt. Die ersten beiden Alben (ORR254&255) sind bereits erschienen, jeweils mit Carlo Rizzi, dem Artistic Director des Labels, am Flügel. Den Reigen eröffnet der im Donizetti-Repertoire namhafte Tenor Lawrence Brownlee, der auch bei dieser Auswahl seinen vitalen Gesang, seine gestalterische Emphase und die strahlende Höhe wirkungsvoll einsetzen kann. Im ersten Lied, „L´amante spagnuolo“, einer schwungvollen Tarantella, die vor allem in der Mittellage notiert ist, kann sich tenoraler Glanz in der exponierten Lage freilich noch nicht entfalten. Das ändert sich schon im nächsten Lied „Con le grazie“ und im folgenden. „Il donativo“, einem schwärmerischen Stück, das Brownlee perfekt in der Kehle liegt.

Donizettis Lieder, von denen es an die 200 gibt, können schwärmerische Kanzonen sein oder melancholische Kantilenen. Nicht selten vernimmt man die stürmische Verve einer Cabaletta oder den vehementen Rhythmus einer Stretta. Mehrfach erkennt man aus Donizettis Opern bekannte Motive, wie „Il sogno“, das Edgardos letzte Kavatine aus der Lucia zitiert. Viele Kompositionen entstanden auf Texte unbekannter Dichter, wie das populäre, übermütige „Amor marinaro“, einige Vorlagen stammen aus der Feder des berühmten Pietro Metastasio, wie „Trova un sol, mia bella Clori“, das sogar in zwei Versionen existiert, oder des von Bellini- und Verdi-Opern bekannten Librettisten Felice Romani. Dessen „Ella riposa“ ist mit Rezitativ, Cavatina und Cabaletta wie eine Opernszene angelegt und war dem polnischen Tenor Józef Michal Poniatowski gewidmet. Melodisch reizvoll sind die melancholische  Barcaruole „Sovra il remo“ und die Canzonetta „Or che la notte invita“ mit obligater Klarinette. Der Instrumentalist Jernej Albreht vereint sich hier mit dem Sänger zu einem innigen Duett. In doppelter Version existiert auch „Quando verrà sul colle“, wobei die zweite Fassung in ihrer elegischen, dem Konkurrenten Bellini verwandten Melodie opernnäher scheint, war sie doch dem legendären Tenor Giovanni Battista Rubini gewidmet. Brownlee kann hier seine glanzvollen Spitzentöne demonstrieren, welche dem berühmten Vorbild alle Ehre machen. Im nächsten Stück, „Il sospiro“, ist dagegen die tiefe Lage gefordert und auch hier zeigt sich der Sänger souverän. Die Sammlung der 28 Lieder endet mit der frühen  Komposition „Non giova il sospirar“, welche in ihren Ornamenten noch ganz den Einfluss Rossinis zeigt, aber auch schon Donizettis Energie aufweist, und die Platte heiter enden lässt.

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Giovanni Battista Rubini, Gaetano Donizetti, and Luigi Lablache, from the book The World of fashion and continental feuilletons, 1824. Internet Archive

Die zweite Ausgabe vereint 26 Lieder in der Interpretation des italienischen Baritons Nicola Alaimo, der seine Karriere beim Rossini Festival in Pesaro startete und dort beispielsweise Erfolge als Titelheld in Guillaume Tell feierte. Als Auftakt erklingt das heroische „La partenza del criocato“, dessen erste Zeile „Al campo della gloria“ bereits den Inhalt verrät. Donizetti übernahm die Melodie aus dem Duett Belisario/Alamiro seiner 1836 im Teatro La Fenice uraufgeführten Oper. Alaimo singt hier mit energischer Verve, um im nächsten Stück, „Ov´è la voce magica“, mit lyrischer Kantilene aufzuwarten.

In der Anthologie finden sich auch vier französische Kompositionen und eine deutsche. Letztere, „Auf dem Meere“ auf Worte eines unbekannten Dichters, stammt aus der Sammlung Das singende Deutschland. „J´aime trop pour être heureux“ in schmerzlichem Duktus wird von einer Soloviola (Abigail Fenna) begleitet. Die Stimme des Baritons ist keine noble, klingt eher robust und aufgeraut. Dadurch fehlen Liedern wie „Te dire adieu“ und „“L´amor funesto“ (mit Herry Snell am Cello) lyrische Valeurs und Eleganz. In „O Cloe“ evoziert er mit ganz leichter Tongebung eine Figur aus einer Buffa. Bei „Non v´è nume“ gibt es mit Daniel de Fry an der Harfe noch einen weiteren Instrumentalisten. Die Komposition erweckt die Stimmung von Lucias Auftrittskavatine und Alaimo nimmt sich hier stimmlich sehr zurück, überrascht mit weichen, warmen Tönen. Davon profitiert auch „Le Dernier Chant du Troubadour“. Das energische „Il crociato“ lässt nicht vermuten, dass es der namhaften Sopranistin Laure Cinti-Damoreau gewidmet, eher dass das urige „Il trovatore in caricatura“ dem bekannten Bariton Giorgio Ronconi zugedacht war. Einem anderen Vertreter dieser Stimmgattung, dem Franzosen Paul Barroihet, war „Un baiser pour espoir“ zugeeignet, das zwischen introvertierten und lebhaften Passagen wechselt. Die Platte endet mit „Quando mio ben t´adoro“, das bis vor kurzem als verloren galt und in einem österreichischen Kloster wiedergefunden wurde. Die beiden CDs machen neugierig auf die Fortsetzung des Projektes. Bernd Hoppe

 

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Donizetti-Songs: Roger Parker & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Der namhafte Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist, zudem Herausgeber dieser Sammlung, Roger Parker schreibt in den Beiheften zu den ersten zwei CDs von Opera Rara sehr ausführlich über die Zielsetzung des Projektes. Eines der ehrgeizigsten Projekte in der 50-jährigen Geschichte von Opera Rara ist die Aufnahme aller Sololieder von Gaetano Donizetti. Eine Handvoll dieser Lieder sind seit langem bekannt und werden oft in Konzerten aufgeführt; viele weitere sind in Fachkatalogen aufgeführt, werden aber nur sehr selten oder gar nicht aufgeführt; andere wiederum galten als verloren oder völlig unbekannt. Jüngste Forschungen im Zusammenhang mit diesem Projekt, die vom Autor dieses Artikels in Zusammenarbeit mit Ian Schofield durchgeführt wurden, haben ergeben, dass Donizetti im Laufe  seiner 30-jährigen Karriere insgesamt etwa 200 Sololieder geschrieben hat. Die Erstellung moderner Ausgaben dieses umfangreichen Korpus war eine mühsame Aufgabe:

Die Quellen für die Lieder sind in europäischen Bibliotheken und darüber hinaus verstreut, die Autographen des Komponisten wurden zum Zeitpunkt der Komposition oft versehentlich weitergegeben (in der Regel als Geschenk des Komponisten) an den Widmungsträger). In ihrer Gesamtheit sind diese Kompositionen jedoch ein schlagkräftiges Argument für Donizetti als Schlüsselfigur des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert: jemand, dessen Leistungen auf diesem Gebiet es verdienen, besser bekannt zu sein; ein Werk, das allein schon ein schlagkräftiges Argument für die Bedeutung der italienischen „Schule“ in einem Bereich, der lange Zeit von deutschen und französischen Komponisten dominiert wurde, ein starkes Argument darstellt. Das schiere Ausmaß des ursprünglichen Editionsprojekts war auf den ersten Blick eine extreme Herausforderung. Viele der bisher unbekannten Lieder sind in einer einzigen Manuskriptkopie erhalten, wenn auch oft in der oft hastigen Handschrift des Komponisten und manchmal unvollständig. Die populäreren Lieder – diejenigen, die im 19. Jahrhundert zumindest eine gewisse Verbreitung hatten – werden uns wahrscheinlich in einer Reihe verschiedener und oft widersprüchlicher Quellen überliefert Quellen überliefert: vielleicht (wenn wir Glück haben) in der autographen Partitur des Komponisten; vielleicht in Manuskriptkopien anderer; vielleicht in einer gedruckten Version (oft mit Änderungen und Ergänzungen, die die Zustimmung des Komponisten hatten oder auch nicht); vielleicht als Teil einer größeren veröffentlichten Sammlung; vielleicht übersetzt in eine andere Sprache.

Donizetti-Songs: Recording session (c) Russell Duncan

Buchstäblich Tausende von einzelnen Quellen, eine verwirrende Mischung aus gedrucktem und Manuskriptmaterial, mussten in einem ersten Schritt gesammelt und zusammengestellt werden. Zu unserem großen Glück wurde ein großer Teil dieses Materials kürzlich digitalisiert und ist online verfügbar; dadurch geht das Zusammenstellen viel schneller als noch vor 20 Jahren; in der Tat ist die Tatsache, dass dieses Projekt Jahre statt Jahrzehnte gedauert hat, hauptsächlich auf diese Digitalisierung zurückzuführen. Erleichtert wird die Arbeit auch dadurch, dass sich Donizettis Werke sich vor allem auf drei Sammlungen konzentrieren (die Bibliothèque nationale de France in Paris, die Bibliothek des Conservatorio San Pietro a Majella in Neapel und verschiedene Bestände im Besitz des Komponisten). Heimatstadt Bergamo). Die Art der Liedproduktion – in der Regel häuslich, gelegentlich, feierlich – bedeutet jedoch, dass Donizettis Autogramme oft verschwunden sind und dass anderes Material weit verstreut ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein enorm wichtiger Fundus an Manuskriptmaterial, der etwa 20 Lieder enthält, von denen man bisher annahm, dass sie sich in Privatbesitz befinden und nicht erhältlich sind, tauchte im Musikarchiv des Benediktinerklosters Stift Kremsmünster in einer kleinen österreichischen Stadt zwischen Salzburg und Linz. Es ist leicht zu erraten, warum sich verschiedene unschätzbare antike Relikte in einem 777 n. Chr. gegründeten Kloster befinden; aber die Frage, wie solche Donizetti-Raritäten in seine Mauern gelangten, bleibt ein Rätsel.

Francesco Coghetti: Gaetano Donizetti/Wikipedia

Die Lokalisierung all dieses Materials war natürlich eine notwendige erste Forschungsphase. Die Bearbeitung – das Durchsuchen der Quellen für jedes Lied, um die zuverlässigste Version zu finden, die Ermittlung literarischer Quellen, die Übersetzung der Liedtexte, das Verfassen eines kritischen Kommentars, der auf wichtige Varianten aufmerksam macht und schwierige Textentscheidungen diskutiert – war dann ein fortlaufender Prozess, der am Ende mehr als 1500 Seiten Noten und 500 Seiten beigefügten Kommentar hervorbrachte, die alle mehrere Korrekturphasen durchliefen.

Was in den ersten Monaten des Jahres 2020 als „Lockdown-Projekt“ begann, wurde für eine gewisse Zeit zu einer alles verzehrenden Beschäftigung, an der Bibliothekare von Stockholm bis zur Westküste Amerikas und darüber hinaus beteiligt waren, ganz zu schweigen von der Zusammenarbeit mit Donizetti-Freunden an vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Orten.

Als die Arbeit fortgesetzt wurde und das volle Ausmaß des Korpus zutage trat, begannen eine Reihe von umfassenderen Fragen, die einer kritischen Betrachtung bedurften. Das erste, keineswegs einfache Problem war die Festlegung der Stimmtypen.  Gelegentlich gibt es Lieder im Tenor- oder Bassschlüssel, was bedeutet, dass offensichtlich Männerstimmen gemeint sind. Für den Rest der Lieder mussten jedoch Entscheidungen getroffen werden. In seiner frühen Karriere schrieb Donizetti die Melodielinien meist im sogenannten „Sopranschlüssel“, später verwendete er meist den Violinschlüssel; in beiden Fällen blieb unklar, ob ein bestimmtes Lied für eine Männer- oder Frauenstimme gedacht war. Bei unseren Aufnahmen gehen wir normalerweise davon aus, dass die „musikalische Stimme“ mit der „poetischen Stimme“ übereinstimmen sollte (d. h. mit der vom Dichter angenommenen Persona).

So wird beispielsweise das Klagelied eines Troubadours über seine verlorene Liebe von einer Männerstimme gesungen, während eine junge Frau, die an ihrem Fenster Fäden spinnt, von einer Frauenstimme gesungen wird. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass solche solche Fragen in der heutigen Zeit wahrscheinlich von größerer Bedeutung sind als im 19. Jahrhundert. Zu Donizettis Zeiten war die „Geschlechterverwirrung“ (das Singen von Männerrollen durch Frauen und umgekehrt) ein häufiges Merkmal auf der Opernbühne, und es gibt Belege dafür, dass sich diese Einstellung auf den häuslichen Gesangsbereich ausbreiten konnte, wobei junge Frauen – die häufigsten Darstellerinnen im familiären Umfeld – häufig eine männliche poetische Rolle annahmen, wenn sie für die versammelte Gesellschaft sangen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Stimmlagen wie Wir wissen, dass sie sich heute etwas von denen zu Donizettis Zeiten unterscheiden, wobei die Unterscheidung zwischen „Sopran“ und „Mezzo“ und – insbesondere – zwischen „Tenor“ und „Bariton“ häufig unsicher ist.

Donizetti-Songs: Lawrence Brownlee & Carlo Rizzi (c) Russell Duncan

Unter den gegebenen Umständen haben wir die Lieder in überaus Donizetti-typischer Manier entsprechend den Fähigkeiten unserer einzelnen Sänger aufgeteilt, anstatt irgendwelche abstrakten Prinzipien von Stimmlage und Geschlecht anzuwenden.

Eine weitere Schwierigkeit betrifft die grundlegendere Frage, was ein „Lied“ ausmacht. Für die vorliegende Ausgabe haben wir uns entschieden, Sololieder von Duetten und größeren Ensembles zu trennen. Diese Entscheidung wurde in erster Linie aus praktischen Gründen getroffen (die Aufführungsmöglichkeiten für Sololieder sind heute so viel größer als die für Duette, Trios usw.), und dies trotz der Tatsache, dass eine solche Trennung uns von einigen der wichtigsten veröffentlichten Sammlungen von Donizetti-Liedern aus den 1830er Jahren entfernt, in denen Soli und Duette bewusst in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Es stellen sich jedoch auch größere Fragen: Wie kann in manchen Fällen ein „religiöses Werk“ auch Anspruch auf den Titel „Lied“ erheben (ein Ave Maria, das zur Klavierbegleitung gesungen wird, wäre ein Beispiel dafür)? Oder wie kann eine „Solokantate“ nach einem Manuskript in einem anderen ein ‚Lied‘ sein könnte; oder – vielleicht die größte Schwierigkeit – worin der Unterschied zwischen einem ‚Lied‘ und einer Opernarie besteht, die uns begleitet von einem Klavier überliefert wurde. Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten; es wird immer unscharfe Grenzen der einen oder anderen Art geben. In der vorliegenden Ausgabe haben wir uns weitgehend an die Taxonomie früherer Donizetti-Lieder-Katalogisierern gefolgt, aber wir haben – im Gegensatz zu ihnen – immer versucht, Opernnummern auszuschließen, die ohne die aktive Mitarbeit des Komponisten in nicht-opernhafte Texte eingebaut wurden.

Es gibt auch das Problem der Übersetzung. Lieder können in einer Sprache begonnen haben (entweder Italienisch oder, in Donizettis späteren Jahren zunehmend, Französisch) und dann in eine andere gewandert sein, wo sie vielleicht „Repertoire“-Status erlangte. Manchmal ist es aufgrund der Quellenlage unmöglich zu wissen, in welcher Sprache ein Lied ursprünglich konzipiert wurde. In einem Fall beginnt die Geschichte eines bestimmten Liedes (soweit wir wissen)mit einer gedruckten Quelle in italienischer Sprache (der natürlich eine heute verlorene autographe Partitur vorausgegangen sein muss); dann – zu einem späteren Zeitpunkt – verwendete Donizetti die Musik erneut, um einen französischen Text zu vertonen, wobei er diesmal eine Autograph, das erhalten geblieben ist; und noch später wurde dasselbe Lied in gedruckter Form weit verbreitet, allerdings in einer neuen italienischen Übersetzung des französischen Textes.

Donizetti-Songs: Daniel de Fry & Carlo Rizzi (c)Russell Duncan

Weitere Probleme betreffen die Urheberschaft des literarischen Textes (häufig nicht identifiziert) und die Identität der Widmungsträger (oft sowohl in Autographen als auch in gedruckten Partituren erwähnt), die beide stundenlange Recherchen erfordern können, aber – dank unserer internetgestützten Welt – oft überraschende Zusammenhänge und chronologische Besonderheiten aufdecken, die alle früheren Kommentatoren zwangsläufig außer Acht lassen mussten. Darüber hinaus können, wenn Donizetti vertonte jeden Text, sei es ein Libretto oder ein lyrisches Gedicht, und änderte die Worte routinemäßig, manchmal radikal: Ein Lied hat eine poetische Quelle, die tragisch endet, während seine Donizetti-Vertonung in Hoffnung und Wiedergeburt endet: Wir könnten an Opern erinnert werden, in denen manchmal im letzten Moment oder bei späteren Wiederaufnahmen, ein tragisches Ende in ein „Happy End“ verwandelt wird (oder umgekehrt). In all diesen Fällen folgen wir natürlich der Textversion des Komponisten, obwohl in extremen Fällen in den begleitenden kritischen Anmerkungen die alternative Richtung des Originalgedichts erwähnt wird.

Ein letztes Problem betrifft mehrere Versionen desselben Liedes. Es entspricht ganz dem Geist dieses Repertoires, dass Donizetti, wenn er später in seiner Karriere zu einem Lied zurückkehrte, fast immer eine Überarbeitung der Musik vorlegte, wobei er manchmal das, was er zuvor komponiert hatte, komplett neu schrieb. In vielen Fällen kann man sich vorstellen, dass es einen einfachen, praktischen Grund für diese kreative Verschwendung gab: Wenn er beschloss, ein Lied wiederzubeleben, vielleicht für einen Verleger, vielleicht für einen anderen häuslichen Anlass, war sein „Original“ nicht mehr zur , sodass er gezwungen war, die Worte und die Musik aus dem Gedächtnis neu zu erschaffen. Aber es gibt auch die Tatsache, dass ein solcher Erfindungsreichtum im Mittelpunkt seines Kompositionsprozesses stand: Selbst bei seinen berühmtesten Opern hat man selten das Gefühl, dass er ein bestimmtes Werk als „fertig“ betrachtete; wenn er zu einer Oper oder einem Lied zurückkehrte, brachte die Erfahrung fast immer neue Ideen, inspiriert von neuen Darstellern. In den meisten Fällen haben die vorliegenden Aufnahmen wurde aus Platz- und Zeitgründen eine Version gegenüber anderen bevorzugt; bei einigen Liedern waren die Alternativen jedoch so unterschiedlich, dass beide Versionen aufgenommen wurden.

Donizettis Grabmal in Bergamo/Wikipedia

Wie aus dieser ersten Aufnahme mit Liedern aus allen Lebensabschnitten des Komponisten hervorgeht, ist Donizettis kreatives Spektrum in diesem Repertoire bemerkenswert. In seiner frühen Karriere (bis ca. 1823) gibt es einige sehr einfache Erfindungen, oft „Canzonette“ genannt, die auf das 18. Jahrhundert zurückzugehen scheinen; und die stärker von der

Oper beeinflussten Nummern aus dieser Zeit ähneln in ihrer Verwendung von Vokalverzierungen unweigerlich Rossini.

In den späteren 1820er Jahren tauchen jedoch Lieder auf, die, obwohl ihre Poesie oft auf ein früheres Zeitalter zurückgeht, in ihrer Gestaltung und Ausführung offen experimentell sind, vielleicht auf konventionelle Weise beginnen, sich dann aber in unvorhersehbare melodische und harmonische Richtungen bewegen, oft als Reaktion auf Details im verbalen Text. In den 1830er Jahren, der Zeit von Donizettis größten italienischsprachigen Opern, lag sein Schwerpunkt auf Liedern für die Veröffentlichung, aufwendigeren Stücken, die für professionelle oder nahezu professionelle Darsteller und mit besonderem Schwerpunkt auf exotischen Stimmungen: der Troubadour, die Jungfrau im Turm, der liebeskranke Ruderer, der religiöse Einsiedler, der Kreuzritter, der leidenschaftliche romantische Außenseiter.

Und dann, in einer erstaunlichen späten Blütezeit, sah man in den 1840er Jahren Donizetti, der nun in Paris und Wien lebte, sich als „internationaler“ Komponist neu zu erfinden, indem er französische Gedichte in einem modernen Stil vertonte und sich in einer völlig anderen lyrischen Tradition fließend ausdrückte. Bei all diesen Stilen und Manieren bleibt ein Aspekt konstant: Wenn wir Donizetti und seine musikalische Sprache durch seine Opernwerke kennen, werden uns die Lieder weiterhin überraschen. Obwohl sie uns gelegentlich an die Manieren der Oper erinnern, beschreiten diese Kompositionen meistens einen anderen Weg: einen, bei dem die musikalische Reise in der Regel viel kürzer ist, bei dem eine Gefühlswelt in Momenten eingefangen werden muss und bei dem die raffinierte musikalische Sensibilität des Komponisten, seine Fähigkeit, poetische Stimmungen und Affekte einzufangen, auf jeder Seite offensichtlich ist.

Donizettis „Esule di Roma“, London 2023/Nicola Alaima und Albina Shagimuratova/Foto Russel Duncan/Opera Rara

Wie bereits zu Beginn dieses Essays erwähnt, sind die Lieder, die Donizetti während seiner Komponistenkarriere komponierte zu Unrecht vernachlässigt wurden. Diese Aufnahmen zielen in der Tradition von Opera Rara darauf ab, ihre Wiederbelebung bestmöglich zu fördern. Das Projekt hat aber auch ein größeres Ziel: Es soll ein neues Licht auf die gesamte italienische Tradition des häuslichen Musizierens im 19. Jahrhundert geworfen werden, eine Tradition, die sich über die gesamte Halbinsel ausbreitete und einen enorm reichen Musikkörper hervorbrachte, der es verdient, einen Platz im internationalen Liedrepertoire einzunehmen. © 2024 Roger Parker/DeepL

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ROGER PARKER (operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter wegen seiner klugen Artikel zu einzelnen Belcanto-Opern bei uns)  ist der Repertoireberater von Opera Rara. Er ist zudem emeritierter Professor für Musik am King’s College London und unterrichtete zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Generaleditor der kritischen Donizetti-Ausgabe,  die bei Ricordi veröffentlicht wird. Seine neuesten Bücher sind Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last 400 Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Musik im London der 1830er Jahre. Von 2013 bis 2018 war er als Direktor des vom ERC finanzierten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College tätig. (Quelle Opera Rara/DeepL)

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Dank an Opera Rara und vor allem Roger Parker für seinen Text zur Ausgabe, den wir mit großem Dank in unserer Übersetzung/DeepL übernahmen. G. H.

Höhenflug mit tausend Gefühlen

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Mille affetti heißt das neue Album von Bruno de Sá bei seiner Stammfirma Erato (50544197995422). Der Titel lässt an die Worte „mille affani“ in einer Arie aus Luigi Carusos Oper Il fanatico per la musica denken, die sich in der Anthologie auch findet und zu deren sechs Weltersteinspielungen zählt – eine tour de force der sich fast überschlagenden Koloraturen und Spitzentöne.

Der Sopranist überrascht bei seinen CDs und Recitals immer wieder mit origineller Programmkonzeption und dem Spürsinn für Raritäten. Schon der Auftakt, „La gran vendetta ancora“ aus Luigi Cherubinis Mesenzio, re  d´Etruria ist eine solche und bestens geeignet, die stimmliche Bravour des Sopranisten in helles Licht zu rücken. Furiose Koloraturkaskaden, abenteuerliche Sprünge von der Tiefe in die Höhe und stratosphärische Extremtöne werden hier scheinbar mühelos bewältigt. Der nächste Titel, Sifares Arie „Lungi da te“ aus Mozarts Mitridate, findet sich dagegen öfter in Einspielungen, wie auch seine Motette „Exultate, jubilate“, die hier allerdings in der zweiten, der Salzburger Version erklingt. Bei Sifares Arie  kann der Sänger seine klangvolle Mittellage und das perfekte legato ausstellen. Bei der Motette imponieren das mit großer Innigkeit vorgetragene „Tu verginum corona“ und  der Jubel im finalen „Alleluja!“. Seltener zu hören ist das getragene Solo des Engels „Betracht dies Herz“ aus der Grabmusik des Salzburgers. Zu den Instrumentalstücken, welche das Programm ergänzen, gehören auch Mozarts Fuge in g-Moll in der Interpretation von Marcin Szelest sowie die Ouverture zu Franz Ignaz Becks L´isle déserte und die stürmische  Introduzione zu Josef Mysliveceks Il Tobia. Das Wroclaw Baroque Orchestra, das den Sänger unter Leitung von Jaroslaw Thiel aufmerksam begleitet, wartet hier mit musikantischer Frische und großem Farbenreichtum auf.

Zu den CD-Premieren zählen auch Selims Arie „Girate quel guardo“ in extremer Lage aus Franz Seydelmanns Il turco in Italia und Perseos Rondo „Deh! soccorri“ aus Johann Friedrich Reichardts Andromeda, das sich im Gesang von de Sá in schönstem Ebenmaß verströmt. Ebenfalls erstmals auf Tonträgern zu hören ist die fünfteilige Motette „Salve Regina“ von Niccolò Antonio Zingarelli. Hier wirkt der  NFM Choir mit und findet mit dem Solisten zu gemeinsamen vokalen Glücksmomenten. Mehrere Male vertont wurde Metastasios Libretto Alessandro nell´ Indie, aber hier gibt es  mit der Komposition von Felice Alessandri eine Wiederentdeckung. De Sà singt Poros Arie „Se possono tanto due luci vezzose“ und setzt damit einen bravourösen Schlusspunkt unter sein anspruchsvolles und spannendes  Programm. Die Platte, welche  im August des vergangenen Jahres in Warschau entstand, hat alle Chancen für einen Preis in der Gattung Vokal-Recitals. Bernd Hoppe

Sicher verdienstvoll

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Hätte er doch lieber auf die Einwände seiner Gattin gegenüber dem Libretto für seine letzte Oper Die Eifersüchtigen gehört, der Schweizer Komponist Joachim Raff hätte vielleicht die erfolgreiche Uraufführung seiner letzten Oper noch erleben und dieselbe eine lange Bühnenlaufbahn durchschreiten können. So aber erleidet man als Hörer, was zwar auf vier umfangreichen Spalten Text im Booklet mit wenig Handlung und vorwiegend Erzählungen, Meinungsäußerungen, Spekulationen, Pläneschmieden und Beklagen des eigenen und fremder Schicksale, mit Rückblicken und Spekulationen über die Zukunft fast den gesamten Raum der Inhaltsangabe einnimmt, aber fast jeglicher Handlung, geschweige denn Spannung auf das Kommende entbehrt. Lediglich ein kurzer Gefängnisaufenthalt für den Tenor bringt etwas Abwechslung in die Langatmigkeit. Es geht um zwei Hohe Paare samt altem Onkel und ein Dienerpaar, die erst falsch, d.h. mit dem vom Hausherrn gewählten Partner, vermählt werden sollen, um am Schluss doch den Richtigen in die Arme schließen zu dürfen. Die Musik dazu will das Booklet im italienischen Belcanto und in den Mozart-Opern auf Da-Ponte-Libretti verorten, man könnte sie aber auch in der Nähe von Lortzing, eher biedermeierlich  als romantisch,  ansiedeln, die Musik für das Dienerpaar unterscheidet sich von der für die Adligen, für den Tenor gibt es genau in der Mitte des Werks eine schöne Arie, deren Melodie mehrfach unverändert wiederholt wird, eine Besonderheit, die das Booklet als die Absicht des Komponisten deutet, die Unbeirrbarkeit der Gefühle des Helden zu verdeutlichen.

Obwohl Raff zu seinen Lebzeiten ein vielgespielter, mit berühmten Komponisten in engem Kontakt stehender Komponist war, wurden seine Opern, die bekannteste Dame Kobold nach Calderon de la Barca,  und seine zahlreichen Orchesterwerke nach seinem Tode nicht mehr gespielt und Die Eifersüchtigen erlebten so durch das Opernkollektiv Zürich erst im September 2021 zum zweihundertsten Geburtstag des Komponisten bei Zürich ihre Uraufführung, die beiden CDs entstanden ein Jahr später.

Interessant ist über weite Strecken hinweg die Instrumentierung, die für die Arien manchmal mehr erwarten lässt, als der überwiegende Parlandostil schließlich einhalten kann. Geschickt konstruiert sind die Finali, die mit mancher Länger innerhalb der Akte wieder versöhnen und mit Dialogen à la „Da bist du ja“, „Da bin ich nun.“  Dirigent Joonas Pitkänen und das Orchestra of Europe  bemühen sich mit Erfolg um Zügigkeit und Elan.

Viel Freude bereiten die jungen Stimmen, so der schöne lyrische Tenor von Benjamin Popson als Don Claudio, der durch Klarheit und Empfindsamkeit besticht. Balduin Schneeberger als Don Giulio gibt seinen vermeidlichen Rivalen mit feinem Kavaliersbariton für sein Arioso. Etwas derber, aber auch noch präsenter ist Matthias Bein, der die Handlungsfänden in der Hand haltende Diener Peppino mit eines Leporello würdiger vokaler Präsenz. Als Spielbass stellt sich polternd,  aber textverständlich und Temperament ins Geschehen bringend der Don Geronimo von Martin Roth dar. Zart und zierlich und in der Höhe aufblühend gibt Serafina Giannoni die Donna Rosa, während Raisa Ierone als Donna Bianca mehr Mezzofarbe vertragen könnte, Mirjam Fässler als Ninetta da schon reicher und vollmundiger klingt. Insgesamt ein zwar spätes, aber verdientes und Respekt verdienendes Geburtstagsgeschenk (Naxos 8.660561-62). Ingrid Wanja

Buntes Markttreiben

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Wenn’s der Sache dient. Heißt, wenn es dazu führt, dass Mussorgskys komische Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy häufiger aufgeführt wird. Neben den herrlichen Volksszenen auf dem Jahrmarkt und den deftigen, prallen, komischen und kauzigen Figuren, die wie eine Weichzeichnung ähnlicher Szenen im Boris klingen, besitzen die zweieinhalb Akte eine unverwechselbare groteske Komik.  Mussorgsky arbeite zwischen 1874 und 1881 an der komischen Oper, die einen Gegenpol zu den beiden Volksdramen bilden sollte, zum 1874 fertiggestellten Boris und der 1872 begonnenen Chowanschtschina. Bei seinem Tod war der Jahrmarkt unvollendet.

Mehrere Versuche der Komplettierung wurden unternommen, u.a. von César Cui und Nicolai Tscherepnin. Durchgesetzt bzw. am häufigsten gespielt wurde die 1931 in St. Petersburg erstmals gespielte Fassung von Wissarion Schebalin und Pawel Lamm, die Riccardo Chailly anlässlich des 100. Todestag Mussorgskys 1981 an der Mailänder Scala dirigierte und die 1983 auch am Gärtnerplatztheater gespielt wurde. Mit den Fassungen wollen wir uns nicht befassen, schließlich haben wir jetzt eine neue von Fabrice Bollon, der sich an Mussorgskys Szenarium orientiert und wichtiger noch ausschließlich Mussorgskys Musik verwendet. Fabrice Bollon hatte bereits im Vorjahr eine Covid-19-Fassung des Schlauen Füchsleins (2 CD 8.660526-27) für zwölf Instrumente vorgestellt und jetzt bei Mussorgsky ebenso mustergültige Arbeit geleistet. Zumindest erweckt die im September 2023 in Baden-Badener SWR-Studio entstanden Aufnahme nie den Eindruck, dass es sich bei dieser Fassung um einen Notbehelf handelt.

Die Sänger mögen weniger individuell und leichter als in alten russischen Aufnahmen klingen, doch die armenische Mezzosopranistin Greta Bagiyan ist ausgezeichnet als ebenso zänkische wie verliebte und lockende Chiwrja, der schmale Charaktertenor Jumbum Lee singt das Objekt ihrer Begierde, den Popensohn Afanasil, mit entsprechend verklemmtem Tenor, Carina Schmieger und Nutthaporn Thmmanthi geben ein hübsch klingendes junges Paar mit sehr ansprechenden Arien im 3. Akt ab, die tiefen Stimmen von Tair Tazhi und Hans Gröning klingen nicht ausgesprochen charakteristisch. Wie bei seiner Aufnahme des Schlauen Füchsleins haben sich um Fabrice Bollon wieder die Musiker von The Lily‘s Project versammelt, die zusammen mit dem Cantus Juvenum Karlsruhe und Mitgliedern des Freiburger Opernchors die skurrile und kauzige Dorf- und Märchenwelt beschwören, vielleicht nicht ganz den knorrig knurrigen und knarzig rauen Duktus von Mussorgsky einfangen, aber ausreichend schwungvoll. Das ist eine elegante Salonfassung für junge Sänger.

Ein wenig kompliziert ist auch die Handlung, zu der Mussorgsky selbst den Text auf der Basis von Nikolai Gogols Erzählung Der Sorotschinsker Jahrmarkt (1831) aus dem ersten Teil seiner Sammlung Abende auf dem Weiler bei Dikanka. Auf dem Mark des ukrainischen Dorfes Sorotschinzy begegnen sich der Bauernbursche Gritzko und Parasja, die mit ihrem Vater Tscherewik gekommen ist. Sie verlieben sich in einander. Tscherewik gibt seinen Widerstand gegen die Heirat auf, als er erfährt, dass Gritzko der Sohn seines Freundes ist. Währenddessen warnt der Zigeuner die Leute vor dem „roten Kittel“ und Schweinerüsseln. Als Tscherewik abends trunken die Kneipe verlässt und seiner Frau Chiwrja von dem Schwiegersohn berichtet, ist diese entsetzt, da Gritzko sie nachmittags beleidigte. Dem traurigen Gritzko verspricht der Zigeuner seine Hilfe. Am nächsten Tag hat sich Chiwrja mit ihrem Geliebten Afanasil, dem Sohn des Popen verabredet. Sie bereitet ihm ein üppiges Mahl, das von Tscherewik, Kum, Gritzko und einen Nachbarn gestört wird, die von der Erzählung des Zigeuners berichten. Tatsächlich öffnet sich plötzlich die Erde und ein Teufel erscheint. Alle sind angesichts der satanischen Messe im höchsten Maß verängstigt, nur Gritzko glaubt zu träumen. Es folgt im dritten Akt die Hochzeit des jungen Paares, die mit einem Hopak gefeiert wird.

Ebenfalls unvollendet blieb Mussorgskys erst in den 1980er Jahren komplettierter und uraufgeführter Opernerstling Salammbo nach Flauberts quasi noch druckfrischem Roman. In der von ihm erstellten fünfteiligen Suite hat Bollon 2021 sehr geschickt zentrale Momente der Oper mit u.a. den Chören der Libyer, Karthager und der Priesterinnen der Salammbo sinfonisch verarbeitet, die einen schönen Eindruck von der Exotik der Handlung und Mussorgskys frühem Zugriff vermitteln.   Rolf Fath

Gottfried Pilz

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Gottfried Pilz (* 21. September 1944 in Salzburg; † 3. Oktober 2024 in Berlin) studierte an der Kunstakademie in Wien, war 4 Jahre Assistent an der Wiener Staats­­op er. Seine erste Bühnenbildassistenz führt ihn zu Wieland Wagner. Seit 1969 assi­stierte mehrere Jahre bei Rudolf Heinrich Filippo Sanjust. Zeitweise war er auch als Illustrator tätig. Seine Bühnenbild-Debüts waren in Amsterdam und Berlin. Festanstellungen verbanden in mit Bielefeld, Augsburg und Kiel. Von 1980 bis 1990 arbeitete er erfolgreich mit dem Regisseur John Dew zusammen und war maßgeblich am „Bielefelder Opernwunder“ mit seinen bemerkenswerten Ausgrabungen vergessener Werke beteiligt. Daneben war er europa-, ja weltweit freier Bühnenbilder für diverse Produktionen in Oper und Schauspiel mit auch eige­nen Insze­nierungen.

Jetzt ist im Verlag Theater der Zeit ein opulentes Buch erschienen, das seinem Werk ein würdiges Denkmal setzt „Gottfried Pilz. Bühne. Kostüm. Regie“ Herausgegeben wurde es von der Bielefelder Grafikerin Kerstin Schröder, die Gottfried Pilz seit seinen Bielefelder Jahren (1982-1992) kennt.

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Gottfried Pilz hat Wagners „Ring“ insgesamt vier Mal inszeniert. Zu Wagner hatte er denn auch eine besondere Beziehung. In einem Gespräch, das ich vor Jahren einmal mit ihm führte, sagte er mir: „Faszinierend bei Wagner ist nicht nur dass er Siegmund Freud eigentlich antizipiert hat, sondern dass er noch über Strindberg weit über unsre zeit hinausgeht, bis hin zu Bergmanns ‚Szenen einer Ehe‘.“ Die Äußerung ist typisch für Gottfried Pilz, denn der psychoanalytische Weg ist für ihn eigentlich in fast allen Opern aller Epochen der entscheidende Zugang.

Dekorationen ist seine Sache nicht. „Mir geht es eher um die Sichtbarmachung dessen, was hinter einer Wand steht, was auf der Bühne steht, was jenseits der Grenzen liegt. Grenz­überschreitungen sind mein Thema“ hat er einmal unmissverständlich erklärt. Theater ist für ihn immer ein „Umsetzen ins Heute!“ Fern allerdings von allem unverantwortlich bearbeitenden, selbstverliebt egomanischen, kommentierenden oder gar destruierenden … Regietheater.

Zur Erinnerung liest man: „1980 begann eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Regisseur John Dew. Pilz gelang in den 1990er-Jahren eine innovative Weiterentwicklung des Bühnen- und Kostümbildes. Er schuf faszinierende Bilder, die die Musik visuell übersetzen und in die Operngeschichte eingegangen sind. Zu seinen Ausstattungen gehörten Welturaufführungen wie Alexander von Zemlinskys ‚Der König Kandaules‘ in Hamburg 1996 sowie die Wiederentdeckung selten gespielter oder in Vergessenheit geratener Werke wie Giacomo Meyerbeers Die Hugenotten‘, Berlin 1987 und Jacques Fromental Halévys ‚Die Jüdin‘, Bielefeld 1989. Neben seiner internationalen Karriere arbeitete Gottfried Pilz immer wieder mit Regisseur Gotz Friedrich an der Deutschen Oper Berlin zusammen. Dem legendaren ‚Rosenkavalier‘-Auftakt in Berlin 1993 folgten 15 gemeinsame Projekte einschließlich der ersten Gesamtaufführung ‚Der Ring des Nibelungen‘ in Helsinki 2000.“

Das jetzt erschienene Buch verblüfft vor allem mit seinen Fotografien. Es zeigt einen Ausschnitt aus dem umfangreichen Schaffen von Gottfried Pilz. „15 von rund 250 Arbeiten werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt“ nach dem Motto „Last Bilder sprechen.

Man liest darin das Bekenntnis: „Für das Theater zu Arbeiten heißt reflektiertes Umsetzen eines Textes, der Musik oder beider zusammen in einem Aktionsraum, der die Darstellung von zwischenmenschlichen Beziehungen ermöglicht oder umfasst.“

Peter Brook hat sehr faszinierendes Buch mit dem Ti­tel „Der leere Raum“ geschrieben. Pilz kennt es natürlich, denn auch er zeigt oft leere Räume. „Es ist aber die Frage, wie leer ist der Raum wirklich oder wie verschieden kann leerer Raum sein?“

Als beispielhaft darf die Leipziger Inszenierung (der deutschen Erstaufführung) von Olivier Messiaens „Saint Francois D’Assise“ aus dem Jahre 1998 gelten, die in dem Buch in beeindruckenden Fotos dokumentiert ist.

Ein staub- und qualmvernebelter, verwüsteter Kirchenraum, in dem nur noch nackte Stühle übriggeblieben sind, nach dem Einsturz der Franziskuskirche in Assisi, der bei einem Erdbeben 1997, was von einem Amateurfilmer auf Video gebannt und vor Beginn der eigentlichen Inszenierung gezeigt wurde. Im Hintergrund klafft ein großes Loch, das Fragen evoziert und Durchblicke auf Uneindeutiges gestattet. In diesem qualmgeschwängerten Raum, der von immer neuen Lichtstrahlen, Lichtreflexen und -Stimmungen durchdrungen wird, entwickelte Gottfried Pilz die Geschichte des Glaubensreformators, die er kondensiert hat zur Allegorie der Menschwerdung an sich. Wenn man so will eine durch Nietzsches Atheismus gefilterte Heiligenlegende als humane Entwicklungsgeschichte des Individuums. Statt Soutanen und Mönchsgewänder sieht man schlichte Anzüge. Statt Kirchenplunders wird mit wenigen Kreuzprojektionen und einer simplen, aber einsichtigen Kleidermetapher das Aufbauen und Zerstören von Glauben, Illusionen und Hoffnungen angedeutet. Kleiderhaufen liegen auf dem Boden des zerstörten Gotteshauses. Die Mönche falten sie nach und nach, schichten sie auf zu wackligen Türmen, die wieder zusammenfallen. Am Ende ist der Boden dieses säkularisierten Glaubensraumes leergefegt und steril, die Phalanx der Mönche tritt dem erleuch­teten, erlöschenden Außenseiter Franziskus proper und adrett in Mantel und Hut entgegen. Diese Versinnbildlichung hat Methode, sie ist konsequent, sie vermeidet jede Art von Peinlichkeit und Unbehagen, und sie lenkt nicht ab von der unglaublich beredten und gesti­schen Musik, die ihrerseits so viel zu erzählen und zu kommentieren hat.

Die Räume von Gottfried Pilz sind – nicht nur in „Saint Francois D’Assise“ – von magischer und suggestiver Wirkung, es sind stets feinfühlige und doch starke Licht- und Farbräusche, optische Stimmungen, traumhafte Welten. Zurecht werden sie als „Freiräume für die eigene Fantasie“ bezeichnet.

Die Fotografin Karen Stuke, die seit den 1980er Jahren Gottfried Pilz begleitet und viele seiner faszinierenden Produktionen fotografierte, hat insbesondere mit ihren Camera-obscura-Aufnahmen seine Inszenierungen in besonderer Weise eingefangen. Sie gesteht, diese Form der Fotografie sei „keine dokumentarische, sondern eher verfremdende.“ Gottfried Pilz hat sie in ihrem fotografischen Verfahren, das in besonderer Weise seine Bühnenbilder hervorhebt, bestärkt. Sie belichtete das jeweils gesamte Theaterstück auf einem einzigen Bild mit einer Lochkamera. Die Belichtungszeit des Negativs entspricht exakt der Dauer der Inszenierung. Es sind traumhaft verschleierte Fotografien, die etwas von der suggestiven Wirkung der Pilzschen Bühnenereignisse vermitteln, Davon kann der Leser sich überzeugen, denn Karen Stuke liefert den Großteil des Bildmaterials.

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Mit dem Bonmot „Pilzblau mit einem Schuss Neonrot“ bringt die Herausgeberin des Buches, das einen repräsentativen Ausschnitt der Vorlasses (Fotografien, Plakate, Zeichnungen und Entwürfe) zeigt, den Gottfried Pilz der Theatersammlung des Stadtmuseums Berlin 2011 übergab, dessen Ästhetik auf den Punkt.

Für die Anfangsphase seiner bühnenbildnerischen Laufbahn, die noch sehr konkret und gegenständlich verspielt, nicht selten ironisch gebrochen  war, ist in dieser schön ausgestatteten Publikationen leider kein Platz. Sie ist ein Buch über den reifen Gottfried Pilz. Er „hat von 1970 bis 2021 als Bühnen- und Kostümbildner größtenteils für das Musiktheater gearbeitet. Seine im Laufe der Jahre zunehmend abstrakte und minimalistische Bildsprache entwickelte er durch das intensive Studium von Libretto und Partitur konstant weiter. Während er die Musik hörte, und die Texte las, kamen die Ideen. Es sind Bühnenbilder und Entwürfe von 1985-2003, die zu sehen sind. Allerdings ist eine Liste sämtlicher seiner Inszenierungen (mit präzisen Orts- und Theaterangaben) sowie ein Werkverzeichnis beigefügt, die den enormen Wirkungsradius des Ausstatters und Regisseurs) dokumentieren, er formulierte es so: ‚Es muss aus der Hand herauskommen und nicht aus dem Kopf‘.“

Handwerkliche Präzision zeichnen denn auch seine Figurinen und skizzenhafte Entwurfszeichnungen ebenso aus, wie die sinnliche Wirkung der phantasievollen Bühnen-Realisierungen des großen Theaterzauberers.

Der mittlerweile achtzigjährige Gottfried Pilz, der zu den weltweit renommiertesten Bühnenbildnern zählt, hat sich in den letzten Jahren aus gesundheitlichen Gründen vom Theater zurückgezogen. Am 3. Oktober ist er nun verstorben. Er hat zweifellos ein Stück Theater- und Inszenierungsgeschichte „der letzten Jahrzehnte des 20 Jahrhunderts und desbeginnenden 21.Jahrhunderts“ geschrieben, wie Bärbel Reißmann vom Stadtmuseum Berlin schreibt. Das Buch, aber auch das Museum will „Gedächtnis für die Theatermacher und das Publikum“ sein.  „Ein nützliches Register, ein Verzeichnis aller Pilz-Inszenierungen und eine biografische Zeittafel ergänzen das äußerst verdienstvolle Buch (Foto Deutsche Oper Berlin Archiv). Dieter David Scholz

Halber Kunstgenuss

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Wer seine erste Bekanntschaft mit Leoš Janáček durch seine Oper Katja Kabanova machte, der vermeinte im Aufrauschen des Orchesters den gewaltigen russischen Strom Wolga, in dem sich die unglückliche Titelheldin ertränkt, seine Bahn ziehen zu vernehmen, aber ganz ähnlich hört sich der Beginn von Die Ausflüge des Herrn Brouček an, ein ganz anderes Thema und dazu eine Geschichte mit nicht  tragischem, sondern heiterem Ausgang. Auch ein aus der Ferne  tönender, geisterhafter Chor stellt eine Verbindung zwischen beiden Werken her. Es geht um den geizigen, übellaunigen Hausbesitzer gleichen Namens, dem der Schriftsteller Svatopluk Čech zwei Romane widmete, deren erster den Titelhelden auf den Mond entführte, während der zweite ihn nicht räumlich, sondern zeitlich versetzt in das 15. Jahrhundert, als in Böhmen Hussiten und Kaiserliche einander bekämpften.  Ausgangspunkt des Geschehens ist eine Prager Kneipe, in der Herr Brouček so fleißig dem Bier zuspricht, dass seine Phantasie beflügelt und die jeweilige abenteuerliche Reise erst möglich gemacht wird. Verflochten in das vielseitige Geschehen ist ein junges Liebespaar, dem Broucek zu Beginn die Wohnung kündigt, die er ihm, wohl durch seine Abenteuer geläutert, am Schluss doch wieder überlässt. Natürlich wird die einer Aufführung des Prager Nationaltheaters entnommene Aufzeichnung in tschechischer Sprache dem dieses Idioms unkundigen Hörer nicht gerade leicht zugänglich gemacht, denn es gibt lediglich einen digitalen Zugang zum Libretto in tschechischer und in englischer Sprache. So nützt die gute Diktion, der sich alle Mitwirkenden befleißigen, nicht wirklich etwas, eher schon die ausführlichen Inhaltsangaben in tschechischer und englischer Sprache im Booklet, die aber nicht wirklich eine Textverständlichkeit gerade auch bei einem so sehr dem einem ausgeprägten Parlandostil zuneigenden Werk ersetzen können. Lediglich dem Liebespaar, das nicht nur in der Rahmenhandlung, sondern auch auf dem Mond wie im Prag der Hussiten handlungstreibend präsent ist, werden lyrische Ergüsse gestattet. Die Titelfigur hat natürlich ihre großen Auftritte, ansonsten  ist jeder der Mitwirkenden mit der Darstellung jeweils dreier  Personen betraut, jeweils einer aus der Rahmenhandlung und zweier aus den Traum- oder besser Rauschhandlungen

Die Titelfigur wird von Jaroslav Březina mit durchdringendem Charaktertenor facettenreich und komiksprühend gesungen. Malinka und die entsprechenden Figuren Etherea auf dem Mond und Kunka im mittelalterlichen Prag finden in Alžbĕta Poláčková eine muntere Vertreterin mit warmem, geschmeidigem und ausgesprochen frisch wirkendem Sopran. Ihr Liebhaber ist als Mazal, Azurean und Petrik, der Sieger der von den Hussiten gewonnenen historischen Schlacht, mit herbem Tenor Aleš Briscein. Ein weiterer, hellerer und leichterer  Sopran wird mit dem von Doubravka Součková für drei jugendliche Herren eingesetzt. Das dunkle, schwere Fach vertritt František Zabradniček, auch Jiři Brückler (u.a. Svatopluk Cech) legt mit diesem viel Ehre ein, aber den meisten Gewinn zieht der nicht der Librettosprache  mächtige Zuhörer aus dem Wirken des Orchesters unter Jaroslav Kyslink, das die Musik, insbesondere auch in den Interludi  atmen, aufblühen und den Hörer verzaubern lässt.

Auf jeden Fall Appetit gemacht auf die bevorstehende Produktion der Staatsoper Berlin in dieser Saison unter Simon Rattle hat die Aufnahme dieser Oper, die mehr als die meisten anderen des Komponisten zum vollkommenen Kunstgenuss auch ihrer optischen Seite bedarf (Supraphon SU 4339-2). Ingrid Wanja      

Erfreulich

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Neu auf dem großen CD-Markt gibt es bei MDG (Musikproduktion Dabringhaus und Grimm) eine Silberscheibe aus diesem Jahr mit Gustav-Mahler-Liedern aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“. Katharina Kammerloher und Arttu Kataja, begleitet von Eric Schneider, haben zwanzig teils kürzere, teils längere Lieder und Gesänge zusammengestellt, die grob in vier Gruppen aufgeteilt sind und abwechselnd von beiden Künstlern mit Klavierbegleitung vorgetragen werden. Dazu geben instruktive Texte im gelungenen Beiheft interessante Einblicke in die Lieder. Mit immenser Technik und intensiver Gestaltung weiß die Mezzosopranistin von Beginn an zu überzeugen: Humorvoll kommt das Lob des hohen Verstands rüber, hoffnungsfroh Ablösung im Sommer. Die köstliche Fischpredigt deutet der finnische Bariton differenziert aus. Nach dieser ersten Gruppe „Fabeln und Parabeln“ folgen in der zweiten Gruppe „scheinbare Kinderlieder“: Katharina Kammerloher gefällt mit schlanker Stimmführung in Um schlimme Kinder artig zu machen und im heiteren Koloraturlied Wer hat dies Liedlein erdacht?. In Verlorne Müh’ gibt der harte Bursche dem zarten Begehren des Mädchens entsprechen robust herrlich kontra; Katajas Selbstgefühl kommt passend ironisch daher. In der dritten Gruppe dreht sich alles um „unverschuldete Krisen in Beziehungen“: Da bietet der Bariton ein fein differenziertes Scheiden und Meiden, die Sängerin ein gefühlvolles Rheinlegendchen. Stark gestalten die Beiden Aus! Aus! und Trost im Unglück. Schon bei dieser Gruppe wie auch bei der folgenden der „Kriegs- und Soldatenlieder“ vermisst man jedoch den farbigen Orchesterklang der Begleitung. Da werden vom Pianisten Höchstleistungen gefordert, die Eric Schneider mit größter Fingerfertigkeit und Musikalität sowie Eingehen auf die Solisten wirklich sehr gut einlöst. Da überzeugt Kataja mit bestens herausgearbeiteten Stimmungen und mit endlosen Rufen in Der Schildwache Nachtlied sowie weichen Melodiebögen in Zu Straßburg auf der Schanz. Eindrucksvoll wiedergegeben wird die Ballade eines jungen Knaben Nicht Wiedersehen! von Katharina Kammerloher wie auch intensiv Wie die schönen Trompeten blasen. Gelungen ist der Dialog der beiden Künstler im Lied des Verfolgten im Turm mit von Kataja opulent ausgesungener Schlussphrase „die Gedanken sind frei“. Beim ruhig ausmusizierten Gang zum Galgen des Tambourg’sell und dem eindrüciklichen Antikriegslied Revelge zieht Arttu Kataja zu Eric Schneiders aufbrausendem Klavierpart noch einmal alle Register seiner farbenreichen Stimme. Die albtraumartige Liedparabel bedrohter Existenz Das irdische Leben und die auch in der Auferstehungssinfonie von Mahler verwendete schlichte Melodie des Urlichts finden in Kammerlohers Interpretation eine ausdrucksstarke Wiedergabe (MDG 908 2322-6). Marion Eckels

You’ll Never Walk Alone

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Das waren noch andere Zeiten, als Cowboys breitbeinig durch die Prairie tanzten, Cowboyhüte zu den smartesten Kopfbedeckungen gehörten, pausbäckige Mädchen vor endlosen Horizonten Rundtänze vollführten und das Jungvolk gemeinsam Heuballen auftürmte. Es war die goldene Zeit des amerikanischen Musicals, zu deren herausragendsten Vertretern Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II gehörten, die sich mit Oklahoma unsterblich machten. Gemeinsam mit dem keineswegs unbekannteren Lorenz Hart hatte der 1902 in New York geborene Richard Rodgers bereits ab den 1920er Jahren die Broadway-Bühnen beliefert, doch der überragende Erfolg stellte sich erst durch die Zusammenarbeit mit Oscar Hammerstein II. ein. Oklahoma bildete 1943 den Auftakt zu einer kleinen Reihe von Erfolgsmusicals, zu denen bis Ende der 1950er Jahre u.a. Carousel, South Pacific, The King and I und The Sound of Music hinzukamen, die allesamt in Deutschland nie Fuß fassten. Auch nicht Carousel, das immerhin auf einem Stoff des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár basiert, nämlich der „Vorstadtlegende“ Liliom, die sich seit 1912 auch in Deutschland bleibender Beliebtheit erfreute. Puccini hatte übrigens vergeblich versucht, von Molnár die Rechte für eine Oper zu erhalten. Carousel (1945) reichte mit knapp 900 Aufführungen nicht ganz an den immensen Oklahoma Erfolg heran – die deutsche Erstaufführung in der Übersetzung des unermüdlichen Robert Gilbert folgte erst 1972 in Wien – doch die Hymne You’ll Never Walk Alone sichert Carousel Unsterblichkeit.

Die auf dem Rummelplatz im Budapester Stadtwäldchen vor dem Ersten Weltkrieg spielende Handlung ist bittersüß und schön. Benjamin Glazer verlegte sie an die Küste Neuenglands, wo der Karussellarbeiter Billy seinen Job verliert, einen Raub begeht und sich vor seiner Verhaftung umbringt. Seine Freundin Julie bleibt mit Tochter Louise allein zurück. 15 Jahre später darf Billy für einen Tag auf die Erde zurück. Als Geschenk für Louise lässt er einen Stern mitgehen. Louise will den Stern nicht annehmen, worauf ihr Billy einen Schlag versetzt. Louise berichtet der Mutter von der eigentümlichen Begegnung mit dem Fremden. Julie erkennt die Zusammenhänge und weiß, dass ihrer Tochter immer ein Stern leuchten wird.

Ihre im Juli 2022 begonnene Oklahoma Erfolgsgeschichte setzten auch John Wilson, die Sinfonia London und Chandos im April 2023 wieder im Sainsbury Theatre der Royal Academy of Music in London mit der Musical Comedy Carousel fort (2 CDs CHSA 5342/2). Rodgers und Hammerstein, die zwischenzeitlich mit anderen Projekten ihre dramatischen Fähigkeiten zugespitzt hatten, gelang eine bis dahin für das Genre unübliche Dichte und Dringlichkeit, die Text und Musik, Drama und Lieder quasi zu opernhaft durchkomponierten Passagen zusammenfassten, die weit über den von Sinatra über Garland bis zu Presley interpretierten You’ll Never Walk AloneHit, der durch Gerry and the Pacemakers seit 60 Jahren die Hymne von Liverpool FC ist, hinausreicht. Beispielsweise Billy und Julies 11minütige Szene oder Billys sehr lange „Soliloquy“, eine ausdruckvolle Selbstreflektion, in der Nathaniel Hackmann mit einem leichten Bariton wie aus geschliffenem Ebenholz eine komplexe Figur gestaltet. Er gehört quasi zum Stammensemble, das wirklich ein Ensemble in dem Sinn ist, dass man kaum individuelle Leistungen herausheben kann, darunter Mikaela Bennett als Julie, Julian Ovenden als Enoch Snow, vor allem Francesca Chiejina als Nettie Fowler. Timing, Rhythmus, Drive gibt Dirigent John Wilson vor, der schwärmt, „Carousel is Rodger‘s and Hammstein’s greatest achievement. In it Rodgers menages to create a score with operatic aspirations and dimensions. … The drama is amplified by what’s happening in the music“. Durchgehend ist das riesige Vergnügen an dieser dichten Musik zu spüren. Und „we hear everthing that was written rather than highlights.“, also a world premiere complete recording. Rolf Fath 

 

Trüber Stand der Dinge

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Offensichtlich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, welche Art Publikum den Freischütz in Bregenz auf der Seebühne besuchen würde, hat Regisseur Philipp Stölzl, weder an den Urlauber, der einen schönen Tag auf angenehme Art beschließen, die Familie, die die Kinder zum ersten Mal in die Oper ausführen möchte,  nicht an den Selten-, Zum-ersten-Mal – ,aber nun sicher Nie-Wieder-Gänger, gedacht, die er allesamt mit einer Inszenierung verschreckt und vielleicht für immer verscheucht haben dürfte, die das Stück lediglich zum Anlass genommen hatte, sein ironisierendes Mütchen daran zu kühlen. Das happy end scheint ihm generell ein Gräuel zu sein, wie zuletzt die Turandot in Berlin bewies, dem Freischütz wird ein Schluss vorangestellt, der ausmalt, welche Tragödie sich ohne göttliches Einwirken abgespielt hätte: Agathe wird zu Grabe getragen und Max erst erhängt und dann noch ersäuft. Insgesamt kommt aber weit mehr als der Freischütz der Teufel oder vielmehr Samiel zum Einsatz mit Texten, die Jan Dvorak dem Libretto, das wesentlich verändert wurde, noch hinzugefügt hat, aus der fast stummen Figur wird ein Gustaf Gründgens nachahmender Mephisto mit mal altertümelndem, mal gossensprachenhaftem Text, der auch mal in Agathes große Arie eingreift, aus Ännchen, der man  die zweite Arie gestrichen hat, eine gern angetrunkene lesbische Feministin, der Agathe nur widerstehen kann, weil sie einen Vater für ihr ungeborenes Kind braucht, Max ist ein Schreiber und Ottokar eine Witzfigur von Ludwig II.. Alle Mitwirkenden konnten froh über den überheißen Sommer sein, denn pausenlos geht es vom Land ins Wasser und wieder zurück, und das betrifft nicht nur das kitschige Wasserballett à la Esther Williams anstelle des Brautjungferntanzes. War es des Regisseurs erklärte Absicht, den Freischütz „mit Eisenbesen“ von Unerwünschtem zu befreien, ihn ordentlich „durchzulüften“, dann ist das auf fatale Weise gelungen. Dabei hat er sich, auch als Bühnenbildner tätig, durchaus eine romantische Kulisse geschaffen, ein noch die Kriegsschäden zeigendes Dorf, zwar im Winter, was  zu Jagd und Volksfest nicht passt, aber seinen ganz eigenen Reiz entfaltend. Dieser Eindruck wird aber immer wieder zunichte gemacht, sei es durch den überdimensionierten Eremiten à la Rauschgoldengel, den teilweise obszönen Dialog, die grellen Farben oder die lächerlichen Erscheinungen in der Wolfsschlucht.

Alles Akustische, abgesehen von den hinzugefügten Dialogen, hätte eigentlich etwas besseres Optisches verdient, denn Enrique Mazzola beweist mit den Bregenz-erprobten Wiener Symphonikern, dass er nicht nur italienische Oper kann. Die beiden Chöre, Bregenzer Festspielchor und Prague Philharmonic Choir  geben ihr Bestes, auch wenn die Regie alles daran gesetzt hat, den Jägerchor zu sabotieren.  Mauro Peter hat einen für das deutsche Zwischenfach bestens geeigneten Tenor, Franz Hawlata imponiert einmal mehr mit hochpräsentem Bassbariton als Kuno, ebenfalls prachtvoll ist die vokale Leistung von Maximilian Krummen als Kilian, der hier Agathe an die Wäsche geht (Oder ist er vielleicht sogar der Kindsvater?). Christof Fischesser lässt Bassesschwärze wie gewandte Koloraturen hören. Etwas blass bleibt Liviu Holender als Ottokar. Einen hellen, schlanken Sopran setzt Nikola Hillebrand für die Agathe ein, deren Sopran man sich eigentlich auch wärmer und runder denken kann. Katharina Ruckgaber hat die notwendige vokale Entschlossenheit für das Ännchen. Vorzüglich ist der Schauspieler Moritz von Treuenfels als Samiel, aber in dieser Produktion leider ein Ärgernis (C Major768404). Ingrid Wanja   

Nicht nur noble Rebellen

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In Mode zu kommen scheint es, und das wäre auch gut so, keine reinen Arien-CDs, beginnend mit Nessun dorma und endend mit E lucevan le stelle mehr aufzunehmen, sondern längere, wenn auch  nicht so prominente Szenen, die dem Hörer nicht bereits bis zum Überdruss bekannt sind. So verfuhr unlängst Jonas Kaufmann mit seiner Puccini-CD, und so auch Charles Castronovo, der noch einen Schritt weitergeht, indem er sich auf seiner Verdi-CD mit weniger bekannten Opern wie Luisa Miller befasst oder sogar mit solchen, die so gut wie nie auf der Bühne zu sehen sind wie Il Cosaro. Das Booklet der von Delos herausgegebenen CD beweist, dass der amerikanische Tenor mit italienischen und südamerikanischen Wurzeln auch optisch den Vorstellungen von einem Verdi-Helden entspricht.

Castronovos Karriere begann vor fast einem Vierteljahrhundert mit Mozart- und Belcantopartien, inzwischen hat er eine Verdi angemessene Stimme, die dem französischen Don Carlos in der einleitenden Fontainebleau-Szene ebenso gerecht wird wie dem Gaston aus der französischen Fassung des Kreuzfahrer-Dramas Jérusalem, aus dem auch eine solche aus den italienischen Lombardi sulla prima crociata  vertreten ist. Nichts lässt mehr daran denken, dass seine erste Verdi-Partie der Gastone in Traviata war. Es überzeugen ein dunkles, melancholisches Timbre, eine perfekte Diktion, eine elegante messa di voce und eine schlanke Stimmführung, die dem Tenor nichts an Farbe nimmt, in einem herzzerreißenden „Ah! laissez moi mourir!“ mündet. Aus den Lombardi singt Catsronovo das gern als Zugabe genutzte La mia letizia infondere , begnügt sich aber nicht nur damit, sondern führt die Szene unter Einsatz einer sehr hellen, sehr leichten Mutter Sofia über das „Come poteva un angelo“ hinaus.

Auch dem unseligen Jacopo Foscari werden Rezitativ, Arie und Cabaletta zuteil, erfreuen mit  ausgeprägter Legatokultur, mit großzügiger Phrasierung und nicht nachlassender Spannung. Lediglich einen siegreichen Squillo vermisst man in dieser Szene etwas. Einen höchst angenehmen Eindruck hinterlassen bei Macduffs Klage der wunderschöne Schmerzenston und die gut gedeckten Höhen. Des Ballo-Riccardos große Arie aus dem letzten Akt überzeugt bei Castronovo durch Eleganz, kaum wahrnehmbare, nur angedeutete colpi di glottide und ein tatsächlich sehr intim sehr verinnerlicht klingendes „Nell‘ intimo del cor“.

Es folgt fast ein ganzer Akt Luisa Miller mit Rezitativ, Arie und Cabaletta des Rodolfo, bei dem sich sonst mit Quando le sere als placido begnügt wird, während auf dieser CD auch mit Contadino, Wurm und Walter nicht gespart wird. So können tatsächlich ein Charakter, eine Situation, der vielfache Stimmungswechsel perfekt nachvollzogen werden mit einem bis zum „estatico“ innigem Beginn und sogar einer Wiederholung der Cabaletta und einem Bass wohl aus dem Ensemble des Theaters von Kaunas für beide Intrigantenpartien, mit Tadas Girninkas, während das Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian die zuverlässige Begleitung liefert.

Den Abschluss bildet die große Tenorszene aus IL Corsaro, tatsächlich einem Noble Renegade, welches Attribut die CD für alle Tenorrollen beansprucht, und  die mit einem so kompetenten Tenor Lust darauf macht, das arg vernachlässigte Werk auch einmal in seiner Gänze zu erleben, wozu man allerdings Partner wie die auf Gesamtaufnahmen mit Renato Bruson, Katia Ricciarelli oder die mit  Caballé und Norman –tempi passati (Delos 3605). Ingrid Wanja

Hoch die Becher

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Il Bel Canto Ritrovato Festival im Teatro Sperimentale, Pesaro 2023: Luigi Riccis komische Oper Il birraio di Preston (Der Bierbrauer von Preston). 1997 veröffentlichte Andrea Camilleri, der sizilianische Schriftsteller und Autor der äußerst beliebten Krimireihe um Inspektor Montalbano, einen Roman mit dem Titel Il birraio di Preston, in dessen Mittelpunkt ein Ereignis in Camilleris fiktivem Vigàta in den 1870er Jahren nach der Einigung Italiens steht. Die Bevölkerung ist verärgert, weil die neue nationale Regierung einen Präfekten, Eugenio Bortuzzi, einen Florentiner, in die Stadt entsandt hat. Bortuzzi hat ein neues Opernhaus errichten lassen und zur Einweihung eine Oper, Il birraio di Preston von Luigi Ricci, ausgewählt, die 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Die konservative Bevölkerung ist wütend darüber, dass ein „Ausländer“, ein Florentiner, den Sizilianern florentinische Musik aufzwingt, buht die Darsteller aus und brennt das Haus während der Aufführung nieder. Der Vorfall ereignete sich tatsächlich in der sizilianischen Stadt Caltanisetta und bildet den Dreh- und Angelpunkt von Camilleris faszinierendem, komisch-sardonischem Roman.

Dabei erfahren wir viel über die Oper im Italien der 1870er Jahre, einschließlich der Kontroverse zwischen Wagners Musik und der einheimischen italienischen Oper. Luigi Riccis Oper wird zum Symbol für alles, was die Sizilianer an der neuen nationalen Regierung, die sich ihren Traditionen aufzwingt, nicht mochten. Die Tatsache, dass der Roman Riccis Titel aufgreift, scheint Teil der Ironie zu sein, die in Camilleri allgegenwärtig ist, da es in dem Roman nicht wirklich um Il birraio di Preston geht, sondern um die sizilianische Haltung und den Unmut gegenüber einer fernen, zentralisierten Regierung. Es gibt keinen Grund, warum die Sizilianer Riccis Oper verschmähen sollten, auch wenn sie in Florenz uraufgeführt wurde, denn Luigi Ricci war wie sein Bruder Federico ein gebürtiger Neapolitaner, der aus demselben Königreich der beiden Sizilien stammte, das über den größten Teil Süditaliens, einschließlich Siziliens, geherrscht hatte, und Riccis Musik strotzt nur so vor neapolitanischen Melodien.

Bis zum Sommer 2023 schien es, als ob wir Opernliebhaber nie erfahren würden, ob Luigi Riccis Oper so „mittelmäßig“ war, wie die Beschreibung auf dem Romanumschlag behauptet. Obwohl die Brüder Ricci einzeln und zusammen etwa sechzig Opern geschrieben haben und viele von ihnen einst sehr populär waren, ist es heute schwierig, eine Aufführung zu finden. Es war also ein echter Glücksfall, dass das neue nationale Festival Il Bel Canto Ritrovato beschloss, Il birraio di Preston bei seiner zweiten Auflage im August 2023 in Pesaro und Umgebung aufzuführen. War es „mittelmäßig“? Nun, die Handlung war ein wenig abgenutzt, aber die Oper strotzte nur so vor wunderbaren Melodien, lebhaften Rhythmen und geschickter Orchestrierung. Es handelt sich nicht um eine komplexe und „ernste“ Komödie wie Verdis Falstaff oder sogar Camilleris Roman, aber es war ein durch und durch vergnüglicher Abend mit viel Spaß und der Entdeckung wertvoller verlorener Werke, die das Festival verspricht.

Die Handlung von Il birraio di Preston (die Oper) dreht sich um eineiige Zwillinge und die Verwirrung, die entsteht, als sie miteinander verwechselt werden.  Das Libretto von Francesco Guidi, das auf der Oper Le brasseur de Preston von Adolphe Adam aus dem Jahr 1838 basiert, ist ziemlich vorhersehbar, aber unterhaltsam, mit cleveren Situationen für komische Duette, Trios und Ensembles – und sogar einigen Arien.

Eine Verwechslungskomödie mit eineiigen Zwillingen muss für Luigi Ricci, der den größten Teil seiner zwanzig Jahre mit Zwillingsschwestern zusammenlebte, besonders bedeutsam gewesen sein. Ricci lernte die siebzehnjährigen Stolz-Schwestern Franziska und Ludmilla kennen, als sie seine Gesangsschülerinnen waren. Sie lebten offen in Triest zusammen, bis ein Skandal Ricci dazu zwang, eine Stelle in Odessa anzunehmen, um dort die italienische Oper zu verwalten. Die Schwestern kamen mit, und Ricci schrieb eine Oper (La solitaria delle Asturie) für sie. Zurück in Triest heiratete Luigi Ludmila, trennte sich aber nicht von Franziska, die er Fanny nannte. Um einen Skandal zu vermeiden, zogen sie in ein Haus, das jede Schwester zur Hälfte bewohnte. Aber laut dem scharfsinnigen Chronisten der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, Bellinis Freund Francisco Florimo, ließ Luigi hinter einem Schrank eine Geheimtür einbauen, die es ihnen – und ihm – ermöglichte, sich problemlos hin und her zu bewegen. Es funktionierte, bis eines Tages eine Primadonna mit ihrem Mann Luigi besuchte. Fanny, die eine unbekannte Frauenstimme hörte, brach in einem Anfall von Eifersucht durch den Schrank und schockierte damit alle. Ludmilla schenkte Luigi bald eine Tochter namens Adelaide, die Sängerin wurde, und ein Jahr später schenkte Fanny ihm einen Sohn, Luigino, der wie sein Vater Komponist wurde.

Opernliebhaber wissen heute vielleicht nicht viel über die Brüder Ricci, aber sie kennen wahrscheinlich die berühmte Tarantella aus Luigis La festa di Piedigrotta, auch wenn sie nicht wissen, dass sie aus einer Ricci-Oper stammt. Diese allgegenwärtige Melodie, die so sehr ein Synonym für italienische (und insbesondere neapolitanische) Musik ist, ist typisch für Luigis Fähigkeit, Musik mit Ohrwurmcharakter zu kreieren. Die Musik von Il birraio ist in diesem Sinne – unermüdlich melodisch, eine Kaskade italienischer Melodien. Im 1. Akt sticht Effys Eingangsarie „La vecchia Magge“ hervor. Die alte Maggie hat der hübschen jungen Effy beigebracht, wie man sich Männern nähert und einen Ehemann findet. Letzteres ist ihr nicht besonders gut gelungen, bis Daniele auftauchte, aber er ist reich, hat einen guten Job und ein gutes Herz, auch wenn er ein bisschen langweilig ist. Die beste Musik gibt es im 2. Akt, mit einer eingängigen Cavatina für Oliviero, einen Tenor, komplett mit ausgelassener Cabaletta („Al furor d’un cor ardente“); Tobias ungewöhnliche Brindisi, „Era Tom un dragone valente“, über einen Soldaten, der „wisky“ für Bier aufgibt; das wunderbare Trio („Or conviene d’un soldato“) zwischen Daniele, Tobia und Effy, als sie beide Daniele „lehren“, wie man ein richtiger Soldat ist; und ein grandioses Finale mit einem wunderbaren, langen pezzo concertato, „Per secondar l’intrepido“, das zahlreiche melodische Themen durchläuft, eines besser als das andere. Ich für meinen Teil wollte nicht, dass es aufhört. Im 3. Akt gibt es auch einen „pezzo concertato“ und ein komisches Duett („La vederemo…la vedremo“), in dem Effy und Anna sich gegenseitig als potenzielle Bräute von Daniele/Giorgio einschätzen, die sie für ein und dieselbe Person halten. Effy hat am Ende eine große Arie in halb-ernster Manier („Deh! ch’ei non sia la vittima“), gefolgt von ihrer köstlichen Walzer-Final-Cabaletta.  Mit anderen Worten: Jede Nummer ist ein Genuss.

Donizettis wohlwollender Geist schwebt über der Partitur von Ricci, insbesondere über dem Donizetti von La fille du règiment (1840) und vielleicht Betly (1836). La fille du règiment ist das Paradebeispiel für die in den Opern dieser Zeit vorherrschende Mode, dass eine Frau in einem Soldatenkostüm zu martialischer Musik herummarschiert. Effy, die mutiger ist als der schüchterne Daniele, zieht sich einen Soldatenmantel über ihr Kleid, und im zweiten Akt bringt Tobia ihr bei, wie man marschiert, ein Schwert hält und auch sonst „soldatisch“ auftritt – und sie bringt es Daniele bei, und das alles im köstlichen Trio „In un momento“, das mit „Rataplans“ gespickt ist, wie sie Marie in La fille du règiment singt. Verdi benutzte die Trope noch 1862 in La forza del destino, als Preziosilla zwei martialische Stücke mit ihren eigenen „rataplans“ hat.

Die komisch-martialische Atmosphäre der Geschichte verleiht der Trompete neben dem Schlagzeug eine herausragende Rolle in der Orchestrierung. Es gibt zwei Trompetenstimmen, und die Trompeter sind fast immer im Einsatz, um Melodien zu unterstreichen, einen kleinen Kontrapunkt zu setzen oder Trompetenrufe auszuführen. Im Gegensatz zu früheren Opern von Rossini und Donizetti gibt es keine klangvollen obligaten Stimmen für Flöte, Klarinette oder Oboe, die dem Sänger Gegenmelodien bieten. Nicht einmal ein Waldhorn. All dies verleiht der Orchestrierung eine bandartige Qualität und macht die Partitur zu einer Art Brücke zwischen komischer Oper und Operette. Der Sprung von Ricci zu von Suppé oder gar Johann Strauss ist nicht groß.

Luigi und Federico Ricci setzten den von Donizetti begonnenen Trend fort, der Opera buffa wie Nemorinos „Una furtiva lagrima“ ein sentimentales Element zu verleihen. Wie Will Crutchfield feststellte, hielt der Walzer nach etwa 1845 als wichtiges Element Einzug in die italienische Oper, und die Brüder Ricci nutzten diesen neuen Tanz mit Sicherheit aus.  Il birraio di Preston (1847) enthält mehrere Walzer, darunter die Schlussarie. Obwohl er in Wien als Tanz erfunden wurde, hielt der Walzer laut Crutchfield erstmals in italienischen Werken der Jahrhundertmitte Einzug in die Oper, bevor er die Alpen wieder überquerte und zum dominierenden Element der Wiener Operette wurde.

Il Bel Canto Ritrovato findet unter den Sängern der mit dem ROF verbundenen Rossini-Akademie eine hervorragende junge Besetzung.  Inés Lorans als Effy zeigt leichte Koloraturen, ein angenehmes Sopran-Timbre, und sie agiert mit perfektem komischen Timing. Gianni Giuga als Daniele wirkt angemessen schüchtern und rollengerecht ein wenig dümmlich, aber seine Bassstimme ist groß und ansprechend. Der Bariton Francesco Samuel Venturi singt den Tobia, und er sticht in verschiedenen Ensemblenummern hervor. Der Tenor Antonio Garés ist der empörte Sir Oliviero Jenkins. Er bekommt eine formale Arie mit Cabaletta zu Beginn des 2. Aktes („Anna si stempra in lacrime“), wo er etwas gestresst wirkt und Probleme mit den hohen Tönen hat, aber für den Rest der Oper beruhigt er sich und singt gut in einem Duett mit Daniele und in Ensembles. Aloisa Aisemberg ist ein keckes Fräulein Anna – eine gute Komödiantin mit einer schönen Stimme. Alessandro Abis, Nicola Di Filippo und Simone Nicoletto runden die Besetzung ab. Daniele Agiman dirigiert das Orchestra Sinfonica G. Rossini und den Chor des Teatro della Fortuna mit Schwung und Verve und scheinbarer Liebe zur Musik. (…) Charles Jernigan/ Übersetzung DeepL/Red. G. H.

Die Ausstattung bei Bongiovanni (GB 2611/12 – 2)  enthält wie stets ein schönes Booklet mit einem Artikel Claudio Toscani und das Libretto in Italienisch und Englisch, dazu ein Grußwort vom Intendanten des „Belcanto ritrovato“, Rudolf Colm. G. H.

Verismo-Szenen

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Die 2023 von der San Francisco Classical Recording Company produzierte und jetzt veröffentlichte CD enthält unter dem Titel SAIOA – IL VERISMO D‘ORO eher unbekannte Arien und Szenen des Verismo, interpretiert von Saioa Hernández. Unterstützt wird sie dabei in wenigen Stücken von Mercedes Arcuri (Sopran) und Francesco Pio Galasso (Tenor) sowie vom Coro de la Comunidad de Madrid, einstudiert von Josep Vila I Casanas. Das Orquesta Titular del Teatro Real unter Leitung von Carlo Montanaro gibt sicheren musikalischen Halt. Die spanische Sopranistin Saioa Hernández hat sich erfreulicherweise intensiv mit Unbekanntem aus dem Verismo auseinandergesetzt und eine kluge Auswahl getroffen. Im Fokus steht für sie Pietro Mascagni als Begründer der Musikrichtung durch seine Cavalleria rusticana, die noch heute allerorten höchst erfolgreich aufgeführt wird. So rahmt Hernández ihr Programm mit seinen Kompositionen ein: Mit Questo mio bianco manto aus Isabeau und Ah! Il suo nome… Flammen perdonami! aus Lodoletta setzt sie gleich deutliche Akzente mit üppiger Stimme, in der Höhe mit herausgeschleuderten Spitzen und satter Mittellage. Francesco Cilea ist mit Esser madre è un inferno aus L’Arlesiana vertreten, in der sie die Leiden der Mutterschaft eindringlich gestaltet; aus Adriana Lecouvreur überzeugt das intensiv vorgetragene Poveri fiori. Etwas Besonderes sind die beiden Beiträge von Franco Alfano: Mit Giunge il treno… Dio pietoso… aus Risurrzione nach Tolstois „Auferstehung“ gelingt der Sängerin eine erschütternde Gestaltung der verzweifelten Katyuscha; in der großen Szene O nuvola, nuvola leggera aus La Leggenda di Sakùntala greift auch der Chor mit prächtigem Klang ins Geschehen ein. Von Giacomo Puccini (nicht eigentlich ein Verist) präsentiert Hernández als Giorgetta gemeinsam mit Francesco Pio Galasso als Luigi È ben altro il mio sogno aus Il Tabarro, eindrucksvoll im Duett endend. Mit Umberto Giordanos È finita aus Marcella – ebenfalls eine nur ca. einstündige Oper wie Il Tabarro – und Ed ecco il suo ritratto aus Fedora zeigt Hernández, dass sie Piano-Passagen gut beherrscht und dynamisch abstufen kann, wenn mir auch insgesamt ihr häufiges Von-unten-Anschleifen der Töne nicht gefällt. Mit dem herzzerreißenden Nè mai dunque avrò pace? aus La Wally ist Alfredo Catalani vertreten. In der Szene O Biancofiore aus Francesca da Rimini von Riccardo Zandonai ergänzt Mercedes Arcuri das Duett sehr gut mit lyrischen Einwürfen ihres feinen Soprans. Die Schlussszene Ancora il triste sogno paurosa des 3.Aktes aus Mascagnis Iris bildet mit der Zusammenführung aller Protagonisten den gelungenen Abschluss der CD (EuroArts Music International 2011100)Marion Eckels

Roberto Alagna und eine CD zum 60.

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Roberto Alagna (* 7. Juni 1963), gestehe ich unumwunden, gehört zu den Heroen meines Opernlebens. Ich bin ihm als – als begeistert-voreingenommener – Fan in seinen frühen  Jahren nachgereist, nachdem er nach seinem Scala-Debüt 1990 als Alfredo Karriere machte, habe ihn mehrfach in Montpellier gesehen (u. a. als Roberto Devereux neben Daniela Longhi), habe seinen ersten Radames in Kopenhagen erlebt, seinen Amico Fritz in Monte-Carlo bewundert und frenetisch beklatscht, natürlich seinen Donizetti-Edgardo und andere in Berlin, London (ah, sein Romeo neben der entzückenden Leontina Vaduva ebendort), Paris bestaunt, den ersten CD-Aufnahmen bei der EMI beigewohnt, seinen Werther in Turin aufgewühlt durchlebt und ihn überhaupt vor allem im angestammten französischen Repertoire bewundert, von dem er leider zu wenig auf der Bühne gesungen, aber doch einiges eingespielt hat. Immerhin gibt’s die französische Lucie de Lammermoor und den Werther mit ihm auf DVD und CD, Lalos Fiesque, Massenets Jongleur de Notre-Dame,  Vladimir Cosmas Marius et Fanny und von seinem Bruders David Alagna dessen Le dernier jour d’un condamné, von Bizets Carmen auf DVD und CD ganz abgesehen.

Zu meinen tiefen musikalischen Erlebnissen zähle ich seinen Berlioz-Enée in Marseille und Berlin, ebendort auch seinen grandiosen Vasco da Gama Meyerbeers.  Nicht vergessend seinen Rodrigue/Le Cid in Marseille und Paris. Vieles, wie seinen bizarren Orphée aus Bologna (in der Fassung und Produktion seiner Brüder), gibt es als Radio- und natürlich Privat-Mitschnitte. Zu seinen späteren, bemerkenswerten Partien zähle ich auch seinen hochidiomatischen Lohengrin in Berlin, nachdem aus seinem Bayreuth-Auftritt neben Anna Netrebko nichts wurde.

Ich habe einige Interviews mit ihm gemacht und ihn als außerordentlich charmanten, liebenswürdigen und gebildeten Mann erlebt, mit dem ich wunderbar über Musik und alte Sänger, über Gesangstechnik und -Stil fachsimpeln konnte. Rundherum ein wirklich bezaubernder Mensch.

Nun hat er sich bei Aparté eine CD zu seinem 60. Geburtstag (bereits 2023) gegönnt – ein sehr breites Repertoire von Pergolesi über Flotow, Wagner bis zu Drigo und Alagna (-Bruder), dazu ein paar Russen und Polen, ganz bemerkenswert  und vielseitig (Arien & Lieder von Giuseppe Verdi, Charles Gounod, Adolphe Adam, Friedrich von Flotow, Richard Wagner, Stanislaw Moniuszko, Peter Tschaikowsky, Nikolai Rimsky-Korssakoff, Ambroise Thomas, Giacomo Meyerbeer, Giovanni Battista Pergolesi, Riccardo Drigo, Ruggero Leoncavallo, Vincenzo di Chiara, David Alagna, Nikolaus Brodszky, Roberto Alagna; Giorgio Croci leitet das Morphing Chamber Orchestra; Aparté AP 351).

Nachstehend leihen wir uns von der Firma Aparté mit Dank aus der CD-Beilage den Artikel von Bradley Bamberger und das kurze Interview mit Alagna, in dem er auf seine langte und schöne Karriere zurückblickt aber auch nach vorne schaut. 60 Jahre sind kein Alter für meinen Tenorschwarm. Alles Gute und herzlichen, späten Glückwunsch zum  61. Geerd Heinsen

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Wie jeder Sänger mit einer so langen Karriere hat Roberto Alagna einen berauschenden, Star-machenden Erfolg und die damit einhergehende Anerkennung von Publikum und Kritikern genossen (ganz zu schweigen von den Dramen, die er hinter den Kulissen durchgestanden hat). In mehr als vier Jahrzehnten hat der franko-sizilianische Tenor nicht nur sein Durchhaltevermögen in der Oper unter Beweis gestellt, sondern auch eine immer noch jung gebliebene Leidenschaft für Musik gezeigt, indem er seine künstlerische Entwicklung mit einer ansteckenden Freude am Singen in Einklang gebracht hat. Dieses Album, dessen Titel 60 wie ein stolzes Banner verkündet, erinnert an Alagnas 60. Reise um die Sonne, und das mit Begeisterung. Das Programm ist breit gefächert und umfasst Arien und Lieder in einer außergewöhnlichen Vielfalt an Sprachen und Stilen, wobei die meisten Stücke zum ersten Mal von Alagna aufgenommen wurden.

Alagna, der in der Nähe von Paris in eine Familie sizilianischer Einwanderer hineingeboren wurde, begann als Teenager in den Kabaretts der Stadt zu singen, beeinflusst durch die Filme von Mario Lanza. Obwohl er sich das Singen größtenteils selbst beigebracht hat, gewann Alagna 1988 den Internationalen Gesangswettbewerb Luciano Pavarotti. Innerhalb von ein paar Jahren nahm er

Einladungen von der Mailänder Scala, dem Londoner Covent Garden und der New Yorker Metropolitan Opera an und sang Verdi, Puccini und Gounod. Ein erster Plattenvertrag mit EMI unterstreicht seinen aufstrebenden Status. Der Kritiker der New York Times, Anthony Tommasini, befand 2020, dass Alagna nach Manhattan zurückkehrte, um den Rodolfo zu singen, die Rolle, in der der Tenor 24 Spielzeiten zuvor sein Met-Debüt gegeben hatte.

„Im Laufe der Jahre hat Alagna sein Repertoire absichtlich von lyrischen Tenorrollen wie Rodolfo, für die er ideal geeignet schien, auf stimmlich gewichtigere und riskantere Rollen wie Verdis Radames in Aida und die männliche Hauptrolle in Saint-Saens‘ Samson et Dalila verlagert“, schrieb Tommasini. „Er hat es geschafft, insgesamt ein großer Tenor zu bleiben… Und er ging in den nächsten zwei Jahrzehnten frech seinen eigenen Weg, indem er schwerere Rollen übernahm, die Kraft und Ausdauer erfordern… es brauchte also einigen Mut, um zum Rodolfo zurückzukehren. Würde Alagna noch über die lyrische Eleganz und den jugendlichen Überschwang verfügen, die die Rolle verlangt?“ Tommasini verwies auf „die immensen Gaben und das Charisma“, die Alagna in den 1990er Jahren auf die Bühne brachte, und wies darauf hin, dass sein In seiner jüngsten Aufführung als Rodolfo hat er „die Qualitäten beibehalten, für die er anfangs gefeiert wurde: stimmlicher Reichtum, stilvolle Phrasierung, leidenschaftlicher Vortrag.“

Um die anhaltende künstlerische Vitalität zu unterstreichen, reicht das Programm für Alagnas 60. Geburtstag von Pergolesi, Verdi, Leoncavallo und Riccardo Drigo bis zu Gounod, Meyerbeer, Flotow, Adolphe Adam und Ambroise Thomas sowie – vielleicht überraschend – Wagner, Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow und einer polnischen Rarität aus dem19. Es gibt auch leichtere Lieder in spanischer, italienischer, englischer und französischer Sprache (darunter ein Stück, das von Alagnas Brüdern David und Frederico komponiert wurde, mit denen er oft zusammenarbeitet). Dieses anspruchsvolle Tenor-Recital endet mit „Sognare“, einem vom Sänger selbst geschriebenen Lied in italienischer Sprache.

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Das folgende Gespräch fand während Alagnas Proben für die Rolle des Calaf in Puccinis Turandot statt, die im April 2024 an der Met aufgeführt werden soll – und nur wenige Wochen nach den Aufnahmen zu diesem Album in Wien.

Was haben Sie als Jugendlicher in den Pariser Clubs gelernt, an das Sie sich jedes Mal erinnern, wenn Sie singen, sei es vor einem Studiomikrofon oder auf der Bühne?

Ich habe damals eine Menge gelernt! Es war eine Herausforderung, weil man jeden Abend improvisieren musste. Das Repertoire, das man sang, hing vom Publikum ab, und wir hatten viele verschiedene Nationalitäten im Publikum, weil es oft viele Touristen gab. Man musste praktisch in jeder Sprache ein Lied kennen – mein Repertoire umfasste 70 Lieder, damit ich für jede Situation das Richtige parat hatte. In verschiedenen Sprachen zu arbeiten, ein großes Repertoire zu kennen – das ist für einen Sänger unerlässlich. Etwas anderes, das man so früh lernen musste, war die Kommunikation mit dem Publikum. In den Clubs waren die Zuhörer sehr nah dran. Während man sang, musste man versuchen, ‚gut aussehend‘ zu bleiben, das Gesicht zu entspannen, ohne zu forcieren. Es war wichtig, sein Charisma zu bewahren, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, damit die Leute – die vielleicht während des Auftritts gegessen und getrunken hatten – einem wirklich zuhörten. Um den Zuhörer zu fesseln, war das ein sehr gutes Training für mich. Ich musste auch Durchhaltevermögen entwickeln, weil ich oft jede Nacht von Mitternacht bis sechs Uhr morgens auftrat – und dann sang ich vielleicht an einem Sonntag bei einer Gala für wohltätige Zwecke.

Heute kann ich diese frühen Erfahrungen auf meine Arbeit in der Oper übertragen. Natürlich ist es sehr wichtig, die Stile von Puccini, Verdi usw. zu respektieren. Aber ich finde, man muss auch jeden Abend etwas Neues schaffen. Man kann nicht bei jeder Aufführung dieselbe Phrasierung, dieselbe Dynamik verwenden. Wie Verdi zu sagen pflegte, muss die Interpretation im Moment geboren werden. Das ist etwas, woran ich immer versucht habe, mich zu erinnern: die Spontaneität in meinen Aufführungen zu bewahren, im Moment zu atmen, die Emotionen zu verändern, die Nuancen zu variieren. Man kann nicht alles an einer Musikhochschule lernen. Jeden Abend vor Publikum zu singen, seine Reaktionen auf das, was man tut, zu spüren und darauf zu reagieren – das ist die ultimative Schule. Und ich behalte die Lektionen auch nach all den Jahren noch im Kopf.

Sie haben als Sänger viele Helden, von Mario Lanza über Pavarotti bis hin zu Luis Mariano, Caruso… Wen bewundern Sie als Tenor, der die 60 überschritten hat?

Da gibt es mehrere. Nicolai Gedda und Alfredo Kraus hatten besonders lange Karrieren, große Karrieren natürlich, aber auch Pavarotti – Luciano war tatsächlich bis fast 70 in guter Tenorstimme. Und Gigli, Beniamino, sang bis weit in seine 60er Jahre hinein und „starb mit seiner Stimme“, da er bis zum Schluss sowohl das leichte als auch das schwere Tenorrepertoire singen konnte. Aber

Ich bewundere nicht nur die Großen, sondern auch alle meine Kollegen, denn es gibt eine natürliche Auslese – nicht viele der Milliarden Menschen auf der Erde sind in der Lage, auf hohem Niveau auf der Bühne vor Publikum zu singen. Es ist ein Segen, und ich respektiere alle Opernsänger, die in der Lage sind, so viel gute Arbeit zu leisten und daraus eine lange Karriere zu machen. Es ist eine seltene Disziplin, dass man so arbeiten muss wie diejenigen, die das vor hundert, zweihundert Jahren getan haben, ohne Mikrofone, ohne Verstärkung usw. Das ist nicht leicht!

Was ich an den großen Tenören in jedem Alter liebe, ist dieser Glanz in der Stimme, das leichte, natürliche Schweben der Linie, die Morbidezza. Ich mag keine ‚Tricks‘ beim Singen. Ich bevorzuge Spontaneität und Aufrichtigkeit in der Stimme, und wenn man nicht an die Technik denkt, sondern nur an das Gefühl in der Musik. Caruso pflegte zu sagen, dass die beste Technik vor dem Publikum verborgen ist – es ist die Kunst, die Kunst zu verbergen. Der Gesang von Caruso, Gigli, Pavarotti, Franco Corelli und Mario Del Monaco ist so natürlich, dass man, wenn man ihnen zuhört, nur denken kann, dass diese Leute einfach dazu geboren wurden, dies zu tun. Aber natürlich haben sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet und viele Opfer gebracht, um diese Qualität zu erreichen. Das ist wirklich etwas, was man anstreben sollte, egal wie alt man ist. (Quelle Aparté/ Bradley Bamberger/DeepL)

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Die Kollegen von Klassik Heute hatten zu Alagna 60. Geburtstag 2023 eine umfassende Vita von ihm erstellt, die wir mit Dank „ausleihen“: Der französische lyrische Tenor Roberto Alagna wurde als Sohn sizilianischer Eltern am 7. Juni 1963 in einem Vorort von Paris geboren. Mir 18 Jahren erhielt er die französische Staatsbürgerschaft, konnte gleichzeitig aber auch die italienische beibehalten. Als Jugendlicher betätigte er sich in Paris als Straßenmusikant und sang Popsongs gegen Trinkgeld. Die Filme von Mario Lanza und Schallplatteneinspielungen von berühmten Tenören brachten ihn zum Operngesang. Seine Gesangsausbildung war weitgehend autodidaktisch. Gabriel Dussurget, der Mitbegründer des Festivals Aix-en-Provence, wurde auf ihn aufmerksam und förderte ihn. 1988 gewann Alagna den Internationalen Gesangswettbewerb Luciano Pavarotti und erhielt sein erstes Opernengagement in Modena. Mit der Glyndebourne touring company startete er als Alfredo Germont in Verdis La traviata schließlich seine Profikarriere. Es ergaben sich daraus zahlreiche Auftritte zunächst an kleineren Bühnen in Italien und Frankreich. Insgesamt hat Alagna diese Rolle wohl mehr als 150 mal verkörpert.

Schließlich wurden auch die großen Opernhäuser auf den jungen Tenor aufmerksam. 1990 feierte Alagna sein Debüt an der Mailänder Scala, 1992 im Covent Garden und 1996 gelang ihm mit seinem Debüt an der New Yorker Metropolitan Opera endgültig der internationale Durchbruch. 2007 kam es an der Scala zu einem Eklat, als Alagna als Radames in Verdis Aida von den oberen Rängen ausgebuht wurde und daraufhin die Bühne verließ. Antonello Palombi musste in Straßenkleidung einspringen, um die Vorstellung zu retten. Als Pinkerton in Madama Butterfly an der Met engagiert, sprang Alagna im selben Jahr (2007) als Romeo in Roméo et Juliette ebenfalls dort für den erkrankten Rolando Villazón an der Seite von Anna Netrebko ein. Und ebenfalls 2007 erntete Alagna standing ovations, als er in der Aufführung der Aida am 16. Oktober in der Met für den indisponierten Marco Berti einsprang. Die Aufführung von Roméo et Juliette am 15. Dezember mit ihm an der Seite von Anna Netrebko wurde von der Met in 447 Opernhäuser weltweit in HD übertragen und von schätzungsweise 97000 Zuschauern live verfolgt. Am 25. Juli 2018 hätte Alagnas Debüt bei den Bayreuther Festspielen als Lohengrin erfolgen sollen, wegen Überlastung musste er sein Debüt aber am 29. Juni absagen. Nachdem Alagnas erste Frau Florence Lancien 1994 an einem Gehirntumor gestorben war, war er von 1996 bis 2013 mit der rumänischen Sopranistin Angela Gheorghiu verheiratet. 2015 heiratete er die polnische Sopranistin Aleksandra Kurzak. Im Laufe seiner Karriere hat Roberto Alagna ca. 40 verschiedene Opernrollen verkörpert und kann auf eine stattliche Anzahl an Einspielungen und CD-Veröffentlichungen zurückblicken. Im Jahr 2008 wurde er von der französischen Regierung zum Ritter der Ehrenlegion erhoben. Quelle: Klassik Heute (Farbfotos Florian Bonfay; Aufnahmefotos Ana Fedisz/alle Aparté)

Korrektur des Verkannten

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Der Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen bricht in seiner neusten Publikation allen weitverbreiteten Vorurteilen zum Trotz – schon im Vorfeld seines hundertsten Todestages – eine Lanze für Giacomo Puccini: „Zweifellos zählt Puccini zu den umsatzstärksten und wertbeständigsten Klassikern des internationalen Kulturbetriebs. La Boheme, Tosca, Madama Butterfly und Turandot gehören zum Kanon der abendländischen Kulturgeschichte.“ Puccini sei“ neben William Shakespeare, Giuseppe Verdi und Henrik Ibsen der meistgespielte Tragödienautor des Welttheaters. Dieser Befund unterliegt keinen kurzfristigen Moden und konjunkturellen oder regionalen Schwankungen, sondern ist bereits seit mehr als einem Jahrhundert offenkundig und stabil.“ Die Gründe bekräftigt Jacobshagen in seinem weit ausholenden Buch mit Analysen der musikalischen Dramaturgie sowie einer präzisen Familien-, Werk- und Zeitdarstellung. Puccinis Leben reichte weit ins 20. Jahrhundert, auch wenn man ihn eher in der Nähe des fast 50 Jahre älteren Verdi verortet, als an der Schwelle zur Moderne. Ein Irrtum wie Jacobshagen klarstellt. Puccini war für Jacobshagen „ein Perfektionist singulären Ranges. Er schuf eine Reihe von Werken for die Opernbühne, die sich neben ihren offenkundigen dramaturgischen, melodischen, harmonischen und instrumentationstechnischen Qualitäten vor allem durch die äußerste Präzision sämtlicher musikalischer Strukturen und Details bei konsequentem Verzicht auf Randständiges und Ausuferndes, auf Leerlauf und Redundanz auszeichnen. Puccini war ein Meister des Zuspitzens wie des Maßhaltens – Eigenschaften, die sich übrigens nicht nur in seinen Werken, sondern auch in seiner Persönlichkeit zeigen.“ Es lässt sich nicht abstreiten: Puccinis Musik trifft den Zuhörer ins Herz, aber es lohnt sich, diese Musik zu reflektieren, um zu erkennen, wie raffiniert das vermeintlich Seichte, das vermeintlich Konventionelle bei Puccini ist. In seinem „Trittico, einer „retrospektiven Zeitreise von der Gegenwart zurück bis ins hohe Mittelalter“ gewährt Puccini Einblick in seine Arbeitsweise. Mit „Gianni Schicchi“ legte er nach Verdis „Falstaff“ eine meisterhafte Komödie vor und bewies, dass die italienische Opera buffa, die oft totgesagt wurde, noch erstaunliche Lebenskraft hat. Der humorvolle Höhepunkt des „Trittico“ erzählt eine Posse um einen Erbschaftsstreit. Lauretta und Rinuccio wollen heiraten, aber dies geht nur, wenn sie ein Vermögen erbt. Um ihren Vater zu manipulieren, singt sie völlig unvermittelt in diesem Commedia- dell’arte-Durcheinander die herzzerreißende Arie „O mio babbino caro“, in der sie droht, vom Ponte Vecchio zu springen, falls der Vater sich nicht für sie einsetze. Löst man diese Arietta mit ihrer lyrischen Melodie aus ihrem Kontext, liegt der Kitschverdacht nahe, bettet man sie hingegen richtig ein, ist nicht zu übersehen, dass Puccini sich selbst mit Augenzwinkern ironisierte. So arbeitet er, wenn er berühren und bewegen wollte, was ihm das Wichtigste war, wie er einmal in einem Brief bekannte. Nicht nur bei Laurettas Vater wirkt das süße Gift des Wohlklangs, auch bei den Zuhörern. Das Bemerkenswerte ist jedoch, dass, auch wenn man um die Manipulationsabsicht weiß, es trotzdem wirkt. Ja, es macht sogar noch mehr Freude, sehenden Auges dem Sirenengesang auf den Leim zu gehen. Es ist der Gesang eines Trotzdem. „In gewisser Weise“ so betont Jacobshagen, „präsentiert sich das gesamte Werk als eine einzige gewaltige Ensembleszene der fünfzehn am Stück beteiligten Figuren, von denen alle nahezu ununterbrochen auf der Bühne anwesend bleiben, wie René Leibowitz hervorgehoben hat: ‚Gleichwohl erzeugt diese ständige Präsenz der Figuren keinerlei Immobilität oder Statik, denn es ist die Musik, der es in überwältigender Weise gelingt, die Bewegung und Aktion des Dramas zu konstituieren.‘ Hierin unterscheidet sich das Stück fundamental von den üblichen Gepflogenheiten der Opera buffa, für die der rasche Wechsel von Soloszenen, Duetten und größeren Ensembles konstitutiv ist und in denen gewöhnlich nur in den Finalnummern das gesamte Bühnenpersonal vereinigt ist. Dieser ständige szenische Wechsel fehlt in Gianni Schicchi, und selbst Lorettas berühmte Kurzarie ‚O mio babbino caro‘ steht nicht für sich isoliert, sondern erweist sich als Bestandteil der übergeordneten Ensemblestrukturen. Puccini kompensiert die szenische Uniformität vor allem durch extreme Besetzungsunterschiede und äußerste Flexibilität in der Orchesterbehandlung. Seine motivisch-thematische Arbeit beruht überwiegend auf kurzen melodischen Zellen, die einem kontinuierlichen Repetitions- und Variationsprozess unterworfen werden. …Präsentiert sich Puccini in der virtuosen Durchgestaltung dieser motivisch-thematischen Arbeit gleichsam als Neoklassizist, so beindruckt das suggestive Insistieren auf solchen Elementarstrukturen im Kontext der musikalischen Moderne durch ein erhebliches Innovationspotenzial.“

Puccini, so zeigt Jacobshagen, erweist sich auch und gerade „in seiner einzigen komischen Oper als ein Seismograph der musikalischen Moderne.“ Aber die Trotzdem-Haltung ist allen Opern Puccinis eigen: Zum einen, damit das Denken nicht übergangen wird, denn es verhindert nicht, sondern intensiviert die Gefühle durch Bewusstwerdung. Zum anderen, weil Puccini selbst diesen Umweg macht, in den meisten seiner zwölf Opern. Indem bitterste Wirklichkeiten nicht mit bitterer Musik dupliziert werden, sondern im Wohllaut daherkommen, manifestiert sich der Wunsch nach einer Gegenwelt als einem Trotzdem. Ganz anders Kitsch. Er evoziert falsche Gefühle. Damit hat Puccini nichts zu tun. Trotzdem zu lieben (und zu singen), leidenschaftlich und überschwänglich, davon erzählt Puccini mit seiner Musik. Verismus bedeutet in diesem Sinne, die wahre Radikalität des Gefühls erkennen. Puccinis Werke fordern vom Publikum einen Protest gegen eine Wirklichkeit, die die Wahrhaftigkeit verunmöglichen will. Puccini zu lieben bedeutet, sich zu diesem Trotzdem zu bekennen. – Die Oper erlebte mit Puccini einen Paradigmenwechsel, was schon am Beispiel seiner Geschlechterrollen und Operntitel sichtbar wird. Viele weiblichen Bühnengestalten in den Opern Puccinis sind Frauen, die liebend leiden oder leiden lieben. Die sich selbst opfern oder geopfert werden.  Puccini zeigt in seinen Opern acht Frauen-, aber nur zwei Männernamen Bei den beiden Giganten unter den Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Verdi und Richard Wagner, dominieren noch Männer im Werktitel. Puccini blieb seinen Idealen zu Musik und Theater treu. Er entfernte sich nie von der chromatischen Vielschichtigkeit am Ende der Romantik. Und doch fand sein Werk das Lob zahlreicher Kollegen: Strawinsky, Ravel und Schönberg – für den Puccinis Werk dasjenige Verdis übertraf – brachten ihre Bewunderung zum Ausdruck. Ein deutscher Journalist schrieb nach der Premiere von „Turandot“: „Puccini hat hier sicherlich die raffinierteste Musik seines Lebenswerkes geschrieben – sie reicht von Strauss zu Strawinsky über Mahler und Schönberg. Er kannte alles, wusste alles und konnte ungeheuer viel, besonders in der „Turandot.“ Puccini wird in der Regel als Vertreter des Endes einer Tradition gesehen, aber er hat den Speer weit in die Zukunft geschleudert. Anspielungen auf seinen Stil lassen sich in Werken von Janáček, Korngold, Orff und Berio hören (letzterer veröffentlichte 2001 seine eigene Ergänzung von Turandot). Unzählige Komponisten von Musiktheater- Musical und Filmmusik, von Rodgers und Hammerstein bis zu John Williams haben sich von seinem Werk hörbar beeinflussen lassen, ebenso der Jazzmusiker Al Jolson oder der Musicalkomponist Andrew Lloyd Webber. ‚Ein guter Musiker muss alles können, aber nicht alles geben‘ hat Puccini einmal treffend formuliert. Er hat sich immer aufs Wesentliche beschränkt. Die technologische Präzision seiner Partituren weist ihn als einen der ersten Repräsentanten der europäischen Moderne im Bereich des Musiktheaters aus.“ Das haben nach vielen Jahren der Ignoranz in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die Interpreten (Regisseure und Musiker) seines Musiktheaters erkannt.  „Angesichts dieser Gegebenheiten sollte heute eigentlich Niemand mehr leichtfertig den Fehler begehen, Puccini als Komponisten zu unterschätzen. Zwar war es in gewissen High-Brow-Milieus lange Zeit üblich, Puccini mit Missachtung zu begegnen. Kurt Tucholskys Diktum, Puccini sei der ‚Verdi des kleinen Mannes‘ spiegelt besonders die Ansichten jener Kreise wider, die auch in Verdi bloß den reißerischen ‚Leierkastenmann‘ sehen wollten… Noch immer sind zahllose, darunter sehr namhafte Autoritäten aus allen Bereichen des Musik- und Wissenschaftsbetriebs recht anfällig für solche Fehleinschätzungen.“ Jacobshagen ist nichts hinzuzufügen. Er hat eine Summe der Auseinandersetzung mit Puccini von seiner Zeit bis heute ist gezogen. Eindrucksvolles Fotomaterial, ein Werkverzeichnis, eine informative Bibliographie und verschiedene Register machen das Buch zum neuen Standardwerk (Arnold Jacobshagen: Giacomo Puccini und seine Zeit; 408 Seiten mit 31 Abbildungen und 15 Notenbeispielen. Geb./ Große Komponisten und ihre Zeit 27; ISBN 978-3-89007-807-6). Dieter David Scholz

Aus gegebenem Anlass

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Genau neun Jahre ist es her, dass eine reine Puccini-CD mit Jonas Kaufmann auf dem Markt erschien, nun gibt es eine neue mit dem Titel Puccini : Love Affairs, als könnte es   bei Puccini noch um etwas bemerkenswert Anderes als die Liebe gehen. War 2015 die einzige Partnerin im vorwiegend mit Tenorarien bestückten Album  Kristina Opolais,  so begleiten heute gleich sechs Diven den deutschen Tenor, der nur zweimal mit einer Arie vertreten ist. Sang er zuvor „Recondita armonia“ aus Tosca, so nun “E lucevan le stelle“ mit seinen enormen Anforderungen an die Fähigkeit des Sängers, zwischen einem zum Forte führenden Crescendo und einem ins Pianissimo geleitenden Diminuendo zu wechseln, wobei die alten Stärken, eine hochpräsente, baritonal gefärbte tiefe Lage und eine darstellende Stimme sowie auch die Schwächen, ein Piano, das eigentlich keines, sondern eher ein leises Forte ist, zum Schluss der CD noch einmal Revue passieren. Unmittelbar davor zeigte sich beim Bohéme-Rodolfo und seinem „Che gelida manina“  , dass Kaufmann dieser Partie bereits entwachsen ist, dass er zwar um das für die Rolle Notwendige weiß, ohne es auszuführen, mit schwerer gewordener Stimme zu schwärmerisch beim Mitteilen von Informationen, zu sehr bemüht ist, in einer Phrase extreme Gefühlsregungen gleichzeitig unterzubringen, Gegensätze auszureizen.

Es beginnt mit dem den ersten Akt von Bohéme beschließenden „O soave fanciulla“, in dem der Tenor eine starke, dunkle Mittellage hören lässt, aus der die Stimme nicht bruchlos in eine flacher klingende Höhe klettert, begleitet von dem Sopran Pretty Yendes, der an dolcezza, wie sie einer Mimi gebührt, kaum zu überbieten ist.   Ein wesentlich dramatischeres Kaliber setzt Anna Netrebko für das Duett im zweiten Akt von Manon Lescaut ein, das auch auf der alten Puccini-CD zu hören war, das aber bei den jetzigen Stimmen weit besser aufgehoben ist, die angemessen dunkel, schwer und eine bittere Erfahrung hörbar machend sind. Das reiche Timbre des Soprans passt gut zum stählernen „ Non m’ami più“, zwei Hochdramatische ringen akustisch miteinander, können einander aber auch schmeichelnd anhimmeln im „È fascino d’amor“, und nur wenn es nach oben wie in „Nel occhio tuo profondo“ geht, wird es eng.

Heller, leichter, weicher, aber durchaus eine gestandene Tosca ist im Duett des ersten Akts Sonya Yoncheva, verführerisch im Ausmalen der nächtlichen Freuden,  während der Tenor reich an vokalen Facetten ist, um Belustigung, Ungeduld oder Schwärmerei auszudrücken, letzteres besonders im „Qual’occhio“.  Wie in der Manon erweist es sich als glückliche Entscheidung, längere Szenen vokal aufzuführen, die es dem Hörer ermöglichen, sich wirklich ein akustisches Bild zu malen. Dazu gehört auch der vernehmbar liebevolle Spott, mit dem der Sopran“ l’arte di farti amare“ argumentiert.

Aus dem ersten Akt der Fanciulla stammt das Duett, in dem auch noch die Walzermelodie  nachhallt, Malin Byström ist eine akustisch klare, helle, in der Höhe etwas schrille Minnie, er ein wie weichgespült klingender, sanfter, sehr kommunikativer Dick, der zu einem zärtlich-zarten „Quelle che tacete“ fähig ist, allerdings auch gern innerhalb einer Phrase die Extreme auslotet. Dem Luigi in Il Tabarro verleiht Kaufmann seinen unverwechselbaren Charakter im hochdramatischen Ausbruch, sie ist Asmik Grigorian mit geschmeidigem Sopran voller Sehnsucht. Das letzte Duett ist das aus dem ersten Akt der Butterfly, die Maria Agresta mit rundem, warmem Sopran schönster Pianissimi singt, er lässt alle Gedanken an „la sposa americana“ vergessen mit geradezu orgiastischem Aufblühen der Tenorstimme, selten hörte man den Schluss des ersten Akts derart üppig.

Das Orchestra del Teatro Comunale di Bologna unter Asher Fischer erweist sich als routinierter Begleiter der Creme de la Creme des Soprangesangs in Verein mit dem Ausnahmetenor in guter stimmlicher Verfassung (Sony 19802896702). Ingrid Wanja