Eindrucksvoller Erstling

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Im Mai 1884 wurde im Teatro dal Verme die erste Fassung von Giacomo Puccinis Erstlingswerk Le Villi uraufgeführt, sechs Jahre später nahm sich in Hamburg wahrscheinlich Gustav Mahler persönlich des Werks an, und am 2. Juni 2024 führte die Berliner Operngruppe  das Werk im Berliner Konzerthaus auf. Von noch früheren Berliner Vorstellungen weiß das schlaue Wikipedia jedenfalls nichts zu berichten, ist ansonsten sehr genau mit der Nennung einer Interpretation durch das Sängerpaar Mietta Sighele und Veriano Lucchetti 1972,  der Erwähnung einer Bonner Inszenierung mit Katia Ricciarelli im Jahre 1992, dazu 2001 in Lecce, wo der italienische Superstar Pippo Baudo, ihr damaliger Gatte,  den Erzähler gab, mit der im entdeckungsfreudigen Martina Franca, wo Bruno Aprea den Dirigentenstab für den jungen José Cura schwang, und schließlich die bei Dynamic als Blu-ray erschienene Produktion aus Florenz.

Mit Le Villi dürften die Möglichkeiten , was das Entdecken unbekannterer Puccini-Opern betrifft, allerdings fast bereits erschöpft sein, denn die einzige weitere Oper vor der sofort und dauerhaft zur Erfolgsoper werdenden Manon Lescaut, der düster-leidenschaftliche Edgar und höchstens noch die operettennahe Rondine erfreuen sich weniger Aufmerksamkeit als eine Tosca oder Butterfly.

Von Le Villi gibt es vier unterschiedliche Fassungen. Der Musikverleger Eduardo Sonzogno hatte 1884 einen Wettbewerb für einen Operneinakter ausgeschrieben, zu dessen Teilnahme der junge Puccini von Amilcare Ponchielli ermuntert wurde. Das Werk erlangte zwar keinen Preis, wohl aber die Möglichkeit zu einer Aufführung in Mailand, wo der junge Mascagni im Orchestergraben am Kontrabass gesessen haben soll, der sechs Jahre später Sonzogno mit seiner Cavalleria Rusticana eine noch größere Freude bereiten sollte als Puccini mit seinen Villi. Die durch die Wettbewerbsregeln aufgezwungene Einaktigkeit erwies sich schnell als Erfolgshemmung, es gab noch drei Überarbeitungen, empfohlen auch durch den Konkurrenten Sonzognos, Ricordi, wobei der Komponist des Mefistofele , Arrigo Boito, die Aufführung der zweiten Fassung in Turin durch eine Subskription ermöglichte. In der ersten Fassung noch nicht vorhanden gewesen waren die Arie der Anna, der Frauenchor und die Arie des Roberto, das populärste Stück des Werks. Die dritte Fassung wurde wieder in Mailand, aber an der Scala, aufgeführt, immerhin Roberto Faccio stand am Dirigentenpult.

Dem Ballettfreund mögen Le Villi sehr vertraut erscheinen, ist doch das Ballett Giselle von Adolphe Adam  ähnlichen Inhalts. Es geht um von ihrem Geliebten oder Bräutigam noch vor der Hochzeit aus Gram über das Verlassenwordensein verstorbene Mädchen, die sich gemeinsam mit vom gleichen Schicksal betroffenen Gefährtinnen am Ungetreuen rächen, indem sie ihn zu einem tödlich endenden Tanz zwingen. Das Ballett Giselle beruht auf der Fassung, die Heinrich Heine dem Stoff angedeihen ließ, Le Villi hingegen auf Alphonse Karrs Les Willis.   

In der konzertanten Aufführung in München im Oktober 2024 durch das Münchner Rundfunkorchester unter Ivan Repušiċ zeigt sich die frühe Meisterschaft des Komponisten, der in der Arie des Roberto „Torna ai felici dì“ bereits einen schmachtenden Rodolfo oder Cavaradossi hörbar werden lässt, Qualitäten, die der Chinese Kang Wang mit zärtlichen Piani, mit einem frischen, jugendlich klingenden Tenor beglaubigt. Auch die Anna von Anita Hartig setzt einen in zärtlicher Melancholie erklingenden Sopran ein, der sich in der Höhe schön entfalten kann. Beide Stimmen passen sehr gut zueinander. Dem unglücklichen Brautvater Guglielmo verleiht Boris Pinkhasovich mit sonorem Bass Würde und vokalen Anstand. Auch bei den rachsüchtigen Villi mitsingen dürfen die männlichen Mitglieder des Chors des Bayerischen Rundfunks. Ivan Repušiċ ist mit langjähriger Erfahrung im italienischen Fach natürlich der angemessene Sachwalter Puccinis am Dirigentenpult. Man wünscht sich das Werk in Kombination mit einem anderen, ebenfalls rund einstündigen Zwilling öfter als bisher auch abendfüllend auf der Bühne (BR Klassik 900359). Ingrid Wanja