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Bizets Opern-Hit erklang am 25. 3. 2024 in der Elbphilharmonie Hamburg (und en tour danach in anderen Städten) in einer ganz besonderen Version: in der Fassung, wie der französische Komponist sie 1874 ursprünglich vorgesehen hatte, bevor ihn der Intendant der Opéra-Comique zu weitreichenden Änderungen drängte. Die Originalmanuskripte dieser Ur-Fassung wurden nun von Paul Prévost (für Bärenreiter) und René Jacob ausgewertet und auf dieser Grundlage eine »Carmen« rekonstruiert, wie man sie bisher noch nie gehört hat. Gaëlle Arquez als erfahrene Carmen-Darstellerin und Sabine Devieilhe als Konkurrentin Micaëla bildeten dabei eine funkelnde weibliche Doppelspitze. Der Tenor François Rougier betrat als von Carmen besessener Don José das Podium, Bariton Thomas Dolié als sein Widersacher Escamillo. Und René Jacobs dirigierte faszinierend und schmissig. Und bei youtube gibt’s die immer noch akustisch nachzuerleben, dringend angeraten!
Dies war das erste Mal überhaupt, dass diese Fassung erklang (Bizet hat sie nie so erlebt, aber ersehnt), und sie bietet soviel mehr und anderes als die bekannten zwei Versionen (Dialog- und Rezitativ-Fassung). Es war, als hörte man Carmen zum ersten Mal. Diese ungeheuer moderne Oper hat plötzlich ganz andere Dimensionen, andere Wirkung. Und da wir im Bizet-Jahr 2025 sind gibt es bei uns einen Artikel zu dieser „unbekannten“ Carmen. Dazu nachstehend ein Artikel von Paul Prevost (Bärenbreiter/takte-online) und von René Jacobs Gedanken zu dem von ihm dirigierten Ereignis. Und zum Schluss schreibt Paul Dogan etwas über die Vorgänge um die originale Titelsängerin Célestine Gallie-Marié als Carmen. G. H.
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Bizet „Carmen 1874“: René Jacobs & Crew in Hamburgs Elbphilharmonie 2024/Foto Daniel Dittus
Auf der Suche nach der echten „Carmen“. Die Neuausgabe von Bizets „Carmen“ aus dem Bärenreiter-Verlag verfolgt den Ansatz, dass nicht die Wissenschaft darüber zu entscheiden hat, welche Fassung die richtige oder die wahre sei – und legt eine Edition aller überlieferten originalen Fassungen der Opéra-comique vor. René Jacobs, der die ersten Aufführungen unter Verwendung der Neuedition dirigierte, äußert sich im Anschluss an den Artikel von Paul Prévost über ihre Vorzüge.
Seitdem 1964 Fritz Oesers „Carmen“-Ausgabe bei Bärenreiter/Alkor erschienen war, wuchs in Wissenschaft und musikalischer Praxis das Interesse an den Quellen der berühmten Opéra-comique. Es entstand der Mythos einer „echten“ „Carmen“, wie Bizet sie gewollt habe, und es verbreitete sich die Vorstellung, dass der Zustand, in dem der Komponist das Werk zuletzt hinterlassen hat, die vollendete Form seines Meisterwerkes darstelle. Und während die eine Seite hartnäckig diese puristische Auffassung vertrat, erschienen andererseits Editionen der „Carmen“ in mehr oder weniger glücklichen Mischungen verschiedener Versionen, die philologisch teilweise nur schwer zu rechtfertigen sind.

Bizet „Carmen 1874“: René Jacobs & Crew in Hamburgs Elbphilharmonie 2024/Foto Daniel Dittus
Allerdings wäre es wohl vermessen, Bizets Gedanken ergründen zu können, der sich bereits bei den Proben seines Werks an der Opéra Comique in Paris, vor der Uraufführung, allerlei Schwierigkeiten sowie dem Druck ausgesetzt sah, Änderungen vornehmen zu müssen. Sein früher Tod machte es ihm dann unmöglich, sich selbst weiter zu äußern. Die nun erscheinende Neuausgabe von Carmen beschränkt sich auf die Fassungen als Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen, also vor Ernest Guirauds Interventionen für die Veröffentlichung als gedruckte Orchesterpartitur 1877 (Ergänzung von Rezitativen, Kürzungen und Retuschen in der Instrumentierung).
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Fassung 1874. Bizet notiert die Musik zu „Carmen“ in Reinschrift in Form einer großen Orchesterpartitur. Diese vorläufige Fassung (1. Version) ist in der Neuausgabe anhand der kritischen Anmerkungen rekonstruierbar. Noch bevor Bizet dieses Manuskript der Opéra Comique zur Anfertigung einer Kopie übergibt, nimmt er Korrekturen vor, die möglicherweise auf die ersten Proben mit den Solisten (ohne Orchester) zurückgehen. So werden zum Beispiel am Beginn einiger Nummern einleitende Takte hinzugefügt, oder er überarbeitet hier und da den Gesangstext. Diese Änderungen von Bizets Hand sind gering an Zahl und letztlich oberflächlich. Diese Version erhält die Kopistenabteilung der Opéra Comique für die Abschrift der Dirigierpartitur und des Orchestermaterials.

Bizet „Carmen 1874“: Natürlich gibt es keine Abbildungen zur Urfassungs von Paul Prevost, daher ein paar historische Postkarten späterer Aufführungen/Gallica BNF
Die Neuausgabe führt diese 2. Version unter der Bezeichnung „Version 1874“. Zu diesem Zeitpunkt enthält der erste Akt immer noch die Eingangsmelodie – und nicht die Habanera – sowie die Nummern mit derselben Motivik. Es gibt noch keine Kürzungen, und das Werk enthält Melodramen. Diese vollständig fixierte Version ist das Ergebnis von Bizets kompositorischer Arbeit, bevor Eingriffe von außen, die Bewährung bei den Proben und die Bühnenproduktion seine Arbeit verändern. Wir sprechen ihr daher volle Gültigkeit zu (nicht mehr und nicht weniger als den späteren Versionen). Die Neuausgabe bietet diese Version von 1874 als einzige Edition in ihrer Gesamtheit an, inklusive Carmens vollständiger originaler Eingangsarie.
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Fassung 1874–1875: Die Opéra Comique lässt die Orchesterpartitur und die Stimmen kopieren. Es schließt sich eine schier endlose Reihe von Umgestaltungen im weiteren Verlauf der Proben an, deren detaillierte Chronologie es zu erstellen gilt. Die Überarbeitungen sind von dreierlei Art: Änderungen im Detail (der Melodie, des Textes, der Prosodie); Kürzungen, zunächst nur einiger Takte, dann mehr; Hinzufügungen oder Ersetzungen von Nummern bzw. Änderungen in der Abfolge von Nummern oder Teilen von Nummern.
Diese Version bildet naturgemäß kein zusammenhängendes Ganzes, und es gibt keine Belege dafür, ob z. B. eine Nummer der Fassung 1874–1875 zugleich mit einer anderen Nummer derselben Fassung existiert; es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Umgestaltungen in der kurzen Zeit zwischen Probenbeginn und Uraufführung vorgenommen werden. Im am stärksten überarbeiteten ersten Akt erscheint es angemessen, diese „Version 1874–1875“ als Hauptteil der Edition darzustellen. Die Interpreten können somit – falls vorhanden – diese Fassung einer Nummer statt derjenigen von 1874 oder 1875 wählen.
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Fassung 1875: Diese Fassung folgt der Lesart des bei Choudens erschienenen Klavierauszugs, der ersten Ausgabe des Werkes, die der Komponist selbst vorbereitet und revidiert hat. Zu Bizets Lebzeiten erscheint diese Fassung nicht mehr als Orchesterpartitur. Sie ist deutlich vereinfacht, die Melodramen sind komplett verschwunden.
Aus der oberflächlichen Betrachtung dieser Chronologie ließe sich ableiten, die Fassung 1875 sei der Version 1874 vorzuziehen, da sie ausgereifter sei und der Komponist selbst sie korrigiert bzw. stärker in Form gebracht hat. Es ist auch zu lesen, die Fassung 1875 sei szenisch effektiver als diejenige der „zu langen“ von 1874, die Fassung 1875 verkörpere die „echte“ „Carmen“, wie ihr Komponist sie vollendet habe, besser. Doch ist dies fragwürdig.
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Die Fassung 1874 ist das Ergebnis von Bizets Inspiration, bevor Interpreten, Regisseur, Publikum oder Kritik von außen eingriffen. Es gilt zu berücksichtigen, dass der Komponist am Theater kein Neuling ist. Zudem zeugt diese Fassung von einem derart großen musikalischen Reichtum – wie er von der Opéra Comique 1875 offenbar schwer zu akzeptieren war. Orchester und Chöre forderten immer wieder Vereinfachungen. Die „Carmen“ betrat die Bühne nicht an einem gewöhnlichen Stadttheater, sondern an der Institution, die ihre Traditionen und ihr Publikum hatte – weshalb sich der Komponist massivem Druck ausgesetzt sah. Die Zweifel am Wert der Oper wuchsen nach der Uraufführung sogar noch, wohl hauptsächlich wegen des Sujets. Zudem verlangte es die Vorsicht des Verlegers, dass im Klavierauszug von 1875 ein Maximum an Kürzungen und Vereinfachungen berücksichtigt wurde. Hierfür korrigierte bzw. präzisierte Bizet die Tempi; er (oder Choudens?) schrieb die Bühnenanweisungen um. Natürlich fügte er die Habanera ein, die die Dramatik am Ende des ersten Aktes auslöst, ebenso die Couplets des Moralès.
Was aber ist von all den Kürzungen zu halten, von der Streichung aller Melodramen (die schwierig umzusetzen waren)? Was von den zahlreichen harmonischen Vereinfachungen in den Chören, die unisono umgeschrieben wurden, da ihre Polyphonie zu komplex war? War Bizet mit diesem Ergebnis wirklich zufrieden? Ist die Fassung des Klavierauszugs, die quasi das Minimalwerk darstellt, wirklich glaubwürdig? Wenn je ein Werk seinem Komponisten entglitt, dann wohl Bizet seine „Carmen“. Die bei den ersten Aufführungen erklingende Musik war schließlich das Verhandlungsergebnis zwischen den verschiedenen Protagonisten – der Darstellerin der Titelrolle Célestine Galli-Marié, der Direktion, dem Chor und sogar den Kritikern; Guiraud und der Verleger Choudens überarbeiteten die Oper dann noch einmal.
Eine „echte“ „Carmen“ gibt es also nicht. Vielmehr gibt es echte „Carmen(s)“. Die Fassungen von 1874 und von 1875 sind nicht weniger original oder richtiger als die andere; und auch Guirauds Fassung ist gültig, in dieser Form fand das Werk in aller Welt Verbreitung und wurde zum Inbegriff der französischen Oper überhaupt. Dem zu früh verstorbenen Bizet mag „Carmen“ entglitten sein, doch schulden wir ihm heute die Rehabilitierung seines Meisterwerks in der Form, in der seine schöpferische Fantasie die Oper zuerst erdachte. In Anerkennung der Aufführungsgeschichte gilt es auch, die Fassung von 1875 darzustellen. Und es wird auch darum gehen, Guirauds Opernversion zu edieren, denn Guiraud hatte Bizet lediglich ersetzt, der vor seinem Tod eine durchgesungene Fassung mit Rezitativen plante; diese „Opernfassung“ wird (später) separat erscheinen. Paul Prévost/ (Übersetzung: Annette Thein/takte-online
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Bizet „Carmen 1874“: Brand der zweiten Salle Favart am 25. Mai 1887/Wikipedia
Dazu René Jacobs: I. Die allererste Ausgabe von Carmen von Paul Prévost präsentiert Bizets Meisterwerk in seiner ursprünglichen Form als Opéra comique, einem typisch französischen Genre, das die Deutschen unter dem Namen Singspiel übernommen haben. Zur Entstehungszeit von Carmen war der Salle Favart in Paris der offizielle Sitz der Opéra-Comique, während der Palais Garnier die große Oper beherbergte, ein Genre, das zu Unrecht als prestigeträchtiger angesehen wurde. In Garnier gab es edle Themen, gesungene Dialoge in Form von Rezitativen, ernste Figuren, einen schwerfälligen Stil und tragische Enden: ein eher prätentiöses Genre. Im Nationaltheater der Opéra-Comique gab es hybride Themen, gesprochene Dialoge, eine Mischung aus komischen und ernsten Figuren, einen leicht verdaulichen Stil und glückliche Ausgänge: ein bescheidenes Genre. Zu diesem gehört Carmen, trotz des tragischen Endes der Oper, das die Codes des Genres durcheinanderbringt und zur großen Unzufriedenheit des Publikums bei der Uraufführung führte.
Es sind die Versionen mit gesprochenen Dialogen, die den tragikomischen Charakter von Carmen voll zur Geltung bringen. Das Duo Frasquita (bodenständig) und Mercédès (sentimental), die beiden Freundinnen der Protagonistin, das Duo Dancaïre (grandioser Macho) und Remendado (feiger Weichling), die beiden Schmuggler – das Paar erinnert an Laurel und Hardy – sowie Zuniga (vulgärer Schläger) sind offen komische Figuren, deren Komik verloren geht, wenn ihre spritzigen Dialoge unterbrochen werden, wodurch der für die Komödie typische Kontrast zwischen komischen und ernsten Szenen verloren geht. Bizet versteht es, für einen Engel (Micaëla) wie Gounod und für einen Dämon (Carmen in den Augen von Don José) wie Berlioz zu komponieren. Wie Mozart ist er ein absoluter Meister der stilistischen Konfrontationen zwischen verletzlichen Figuren und anderen, die harmlos (Micaëla gegenüber Moralès), frivol (Carmen gegenüber Frasquita und Mercédès im Kartentrio) oder gewalttätig (Carmen und Don José gegenüber dem unsichtbaren, tobenden Publikum der Corrida) sind. Das sind große Momente, Szenen, in denen die „Tragikomödie von Carmen” ihren Höhepunkt findet.
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Bizet „Carmen 1874“: Célestine Galli-Marie war die erste Carmen/Foto Atelier Nadar/Wikipedia
Paul Prévost unterscheidet drei Versionen von Carmen in ihrer Form als Opéra comique:
- Erste Fassung, bekannt als „Fassung von 1874”: „Das Ergebnis von Bizets Kompositionsarbeit, bevor äußere Einflüsse und die Proben und Inszenierungen sein Werk und sein Denken veränderten.”
- Zweite Fassung, die sogenannte „Fassung 1874-1875”: „Der Zustand der Partitur nach einer langen Reihe von Überarbeitungen und den ersten Aufführungen. ”
- Dritte Fassung, bekannt als „Fassung 1875”: „Die von Choudens veröffentlichte Reduktion für Gesang und Klavier, die der Komponist kurz vor seinem unerwarteten Tod am 3. Juni, dem Tag der 33. Aufführung, konzipiert hatte.”
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Von diesen drei Fassungen hebt sich die erste als die in ihrer musikalischen Dramaturgie kohärenteste von den beiden anderen ab. Obwohl die berühmte Habanera der Carmen darin nicht vorkommt (siehe unten), entdeckt der Zuhörer in dieser ersten Fassung, die gegen Ende des Sommers 1874 (lange vor Beginn der Proben) fertiggestellt wurde, die meisten musikalischen und sogar theatralischen Überraschungen. Zwar fehlen in dieser Fassung drei der getanzten Zwischenspiele: Sie wurden auf Wunsch des Intendanten als Zugeständnis an den französischen Geschmack für exotische Ballette hinzugefügt. Aber der theatralische Schwung der ersten Fassung ist lebhafter als der der beiden anderen Fassungen, die diese Zwischenspiele mit ihrer wunderschönen, sehr spanisch anmutenden, aber überflüssigen Musik enthalten.

Bizet „Carmen 1874“: Paul L´hérie war der erste Don José 1875/BNF Gallica
Ihr Fehlen in der ersten Fassung wird durch zahlreiche Melodramen (gesprochene Dialoge vor orchestralem Hintergrund: siehe unten) ausgeglichen. In ihrer ursprünglichen Fassung war Carmen definitiv nicht als Katalog spanischer Klischees für die Arena von Verona konzipiert; die einzige Massenszene ist die Quadrille kurz vor der Schlussszene der Oper!
Zu Recht berücksichtigt die neue Ausgabe nicht die Eingriffe von Ernest Guiraud bei der Veröffentlichung der Orchesterpartitur, die zwei Jahre nach Bizets Tod gedruckt wurde. Guiraud ersetzte die gesprochenen Dialoge durch Rezitative, um die Opéra comique in eine Grand Opéra zu verwandeln. Leider ist es heute diese Fassung (und zu allem Übel) mit brutalen Kürzungen und Änderungen der ursprünglichen Orchestrierung, die noch immer am häufigsten in den großen Opernhäusern der Welt gespielt wird. Warum?
Sind die Verantwortlichen für die Besetzung nicht zu sehr von Vorurteilen beeinflusst? In der Guiraud-Fassung beispielsweise ist die Rolle des Escamillo, der sich eher die Lunge aus dem Leib schreien soll, weil er ein „echter Macho” ist – was er aber nicht ist: Er ist zwar eitel, aber auch rührend (man muss nur das Libretto lesen!), für einen Baritono di grazia!
Die Eingangsarie des „singenden Matadors” verlangt vom Sänger ein perfektes messa di voce und die nötige Stimmleichtigkeit, um die kleinen, anmutigen Noten singen zu können, die Bizet ihm als Verführungskunststücke zugedacht hat. Was Don José betrifft, muss er wirklich von einem heroischen Tenor gesungen werden? Ist der baskische Brigadier nicht der Inbegriff des romantischen Antihelden, des Versagers, der in seinen Aggressionsausbrüchen seine Stimme ebenso sehr zwingt wie sein Ich?

Bizet „Carmen 1874“: Jacques Bouhy sang 1875 den ersten Escamillo/BNF Gallica
Das Proben von gesprochenen Dialogen mit Opernsängern wird oft als frustrierend empfunden. Man hält es daher für besser, ihnen die Rezitative von Guiraud zu geben. Die Qualität ihrer Aussprache der französischen Sprache wird dann zweitrangig, was den weiteren Vorteil hat, dass die Besetzung aus den schönsten und größten internationalen Stimmen der Gegenwart ausgewählt werden kann. Diese Argumentation geht jedoch davon aus, dass ein Rezitativ, auch wenn er vom Orchester begleitet wird, nicht gesungen, sondern deklamiert wird. Wenn man sich die Mühe macht, die gesprochenen Dialoge wirklich zu arbeiten – was nur mit französischsprachigen Sängern (oder solchen, die die französische Sprache perfekt beherrschen) möglich ist –, erhält man den für dieses Genre gewünschten natürlichen Sprachfluss. Wir wissen, dass die Sänger-Schauspieler der damaligen Zeit keine Scheu hatten, den gedruckten Text der Dialoge zu ändern oder zu paraphrasieren, um die Spontaneität einer freien Unterhaltung zu erreichen: ein bewusster Kontrast zum „Korsett” der Musik, die dem Dialog folgte, so schön sie auch sein mochte. In diesem Sinne wurden die Dialoge von 1875 (gedrucktes Libretto) für unsere Aufnahme überarbeitet.
Der erste Vorzug der Fassung von 1874 besteht darin, dass sie vom Librettisten-Team (Henri Meilhac für die gesprochenen Dialoge und Ludovic Halévy für die gesungenen Texte) und von Bizet selbst konzipiert wurde, um sich eng an die Handlung zu halten und nicht den eitlen Ansprüchen dieses oder jenes Sängers oder dieser oder jener Sängerin.
Nehmen wir den ersten Akt. 1874 gab es noch keine Spur von den Couplets von Moralès, einer überflüssigen Szene, die 1875 nach der ersten Musiknummer der Oper auf Wunsch des Sängers, der seine Rolle für zu klein hielt, in letzter Minute hinzugefügt wurde.
Der Zusatz ist katastrophal, da er die Darstellung des Dramas unnötig verlangsamt.

Bizet „Carmen 1874“: Alice Ducasse war die erste Micaëla/BNF Gallica
Die ursprünglich von Bizet 1874 komponierte Eingangsarie von Carmen ist ein sehr leichtes Lied im Stil der französischen Opéra comique, ein echtes Porträt der Carmen als launische Kokotte, die mit großem Stolz ihr Ideal der freien Liebe verkündet (L’amour est enfant de bohème). Im Laufe der Proben wurde sie durch die berühmte Habanera ersetzt, die zum Hit der Oper werden sollte („L’amour est un oiseau rebelle ”). All dies geschah auf Wunsch von Mme Célestine Galli-Marié, der Darstellerin der Titelrolle, die lieber eine Tanzarie singen wollte, in der sie, wie sie sagte, „ihre Hüften schwingen” konnte! Aber Bizet und seine Librettisten wollten das Publikum zu Beginn der Oper täuschen, um dann nach und nach den wahren Charakter der Zigeunerin zu enthüllen. Gegen Ende des ersten Aktes singt oder eher summt sie ihr zweites Lied zu einem Text, der keiner ist („Tra-la-la…“, etc.). Denn die wahre Natur Carmens muss unklar und geheimnisvoll bleiben. Im Jahr 1874 war es dieses Lied, das Don José und das Publikum zum ersten Mal in der Oper mit seiner spanisch anmutenden, also exotischen und rätselhaften Musik verzaubern sollte, und nicht die „Habanera” – eine Bearbeitung eines bestehenden Liedes des spanischen Komponisten Sebastián Iradier durch Bizet! In der endlich veröffentlichten Original-Eingangsaie von Carmen ist mehr Bizet zu hören als in der Habanera. Trotz des Fehlens des Opernhits kommt die dramatische Konzeption von Bizet und seinen Librettisten hier besser zur Geltung.
Bereits 1888 versuchte der Musikkritiker Johannes Weber vergeblich, den Fans der Habanera zu erklären, dass in der Originalfassung der Szene auf die Fragen, die Carmens Liebhaber ihr stellen, als sie die Bühne betritt, „nicht provokativ, sondern nur fröhlich und entschlossen” antwortet, und dass die Habanera mit ihren „chromatischen Windungen” und ihrem „besonders manierierten Ton” überhaupt nicht zum Rest der Rolle passt. Die Arie, durch die die Habanera ersetzt wurde, ist hingegen sehr geistreich. Ihre ersten Worte (die in der Habanera unauffällig wiederkehren) sind ein leicht spöttisches Echo der Marseillaise, und ihre Melodie ist eine subtile Parodie (in Moll statt in Dur, allegro moderato im 6/8-Takt) der französischen Nationalhymne – aus dem Mund einer Nomadin! („L’amour est enfant de bohème (Allons, enfants de la Patrie/ Il n’a jamais, jamais connu de loi Le jour de gloire est arrivé !“)

Bizet „Carmen 1874“: Bühnenbild zur ersten Aufführung 1875/Wikipedia
In der Fassung von 1874 ist das Ende der Oper vielleicht noch erschütternder als in späteren Fassungen. Diese Schlussszene konfrontiert zwei schreckliche Perversionen der Moral: einerseits die Perversion des Stierkampfs, der dem Torero das Recht gibt, einen Stier zu quälen und zu töten, weil dieses blutige Ritual Teil der Kultur seines Volkes ist, und andererseits die Perversion des Zigeunergesetzes, das einem verheirateten Mann das Recht gibt, seine Frau zu töten, wenn er sie der Untreue verdächtigt.
Die mutige Entscheidung von Bizet und seinen Librettisten, Carmen mit einem tragischen Ende zu beenden, das für ein Publikum, das an das traditionelle Happy End der komischen Oper gewöhnt ist, ebenso ergreifend wie schockierend ist, bedeutet meiner Meinung nach ihre implizite Verurteilung beider Perversionen, denn beide „toréent l’homme“ ( Henry de Montherlant, Le Chaos et la Nuit, 1963). In der Fassung der Oper von 1874 wird die Unmenschlichkeit der Situation bis zum Äußersten getrieben und “ (Henry de Montherlant, Le Chaos et la Nuit, 1963). In der Fassung der Oper von 1874 wird die Unmenschlichkeit der Situation auf die Spitze getrieben und nicht wie in späteren Fassungen abgeschwächt. Nachdem er die Frau, die er so leidenschaftlich liebt, erstochen hat, wirft sich Don José auf Carmens Leiche. Die Streicher spielen im Einklang eine düstere Melodie, die in krassem Gegensatz zum berühmten Refrain „Toréador, en garde…“ steht, den der Chor im Zirkus singt. Es ist ein weiterer Hit, dessen Text und Melodie das Publikum auswendig kennt. Der Originaltext ist jedoch ganz anders und aufgrund seines brutalen Zynismus sehr schockierend: „Gloire à l’espada, gloire au vainqueur !/ Il (Escamillo) a frappé juste en plein coeur./ Gloire au héros du drame,/ Gloire à la fine lame !/ Vive Escamillo ! Bravo ! Gloire !“ (1874) Gegenüber: „Toréador, en garde, Et songe bien en combattant/ Qu’un oeil noir te regarde/ Et que l’amour t’attend !/ Toréador, l’amour t’attend !“ (1875)
Dieses Ende, das von der Theaterleitung vehement abgelehnt wurde, ist mehr als tragisch, es ist nihilistisch. In gewisser Weise begehen sowohl Carmen als auch Don José Selbstmord. Carmen ist sich sicher, dass Don José sie töten wird, da sie ihr Schicksal in den Karten gelesen hat, und weigert sich zu gehen. Don José ist sich sicher, dass er zum Tode verurteilt wird.
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Bizet „Carmen 1874“: die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halevy/Victrola Book of Opera
Der zweite große Vorteil der Fassung von 1874: Die Psychologie der Figuren ist klarer gezeichnet als in den beiden anderen Fassungen. Meilhac wollte mit seinen Dialogen nicht sparen, nur aus Angst, dass Liebhaber des reinen Belcanto sich während der gesprochenen Texte langweilen könnten. Er ging von der (utopischen?) Idee eines idealen Publikums aus, das in einer Oper in erster Linie ein Theaterstück sieht. Viele seiner Dialoge sind sehr stark von der Novelle Carmen von Prosper Mérimée (1845) inspiriert, der Hauptquelle für das Libretto der gleichnamigen Oper.
Das Genre der Opéra comique mit seinen teilweise tragischen Themen – nicht zu verwechseln mit der Opéra bouffe – bediente sich oft eines musikalischen Mittels, bei dem bestimmte Passagen des gesprochenen Textes mit einem orchestralen Hintergrund, dem sogenannten Melodram, unterlegt wurden. In der allerersten Fassung von Carmen bediente sich Bizet reichlich und mit großer Erfindungsgabe dieses Kunstgriffs, der es dem Sänger ermöglicht, den Dialog wirklich zu sprechen, sich von seiner Gesangsstimme zu lösen, ohne dass die Musik dabei verstummt! Er kann „in Musik sprechen”, wie Claudio Monteverdi gesagt hätte. Leider wurden während der letzten Proben mehrere dieser „musikalisch untermalten” Dialoge, die zwar dramaturgisch unverzichtbar, aber schwer zu realisieren waren – da das empfindliche Gleichgewicht zwischen gesprochener Stimme und Orchester schwer zu halten war –, gekürzt oder ganz gestrichen. Die neue Ausgabe von Paul Prévost ermöglicht es uns, sie wieder einzufügen.
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Bizet „Carmen 1874“: der Dirigent der Uraufführung 1875, Adolphe Deloffre, hier in einem Quartett anlässlich der Veranstaltung der Union des Musiciens 1846 mitwirkend/v. l. Henri Vieuxtemps, Adolphe Deloffre, der Engländer Hill, Carlo Alfredo Piatti und John Ella/Wikipedia
Die Proben zur Uraufführung von Carmen müssen für Bizet eine wahre Tortur gewesen sein. Der Chor des Hauses zeigte sich zunehmend feindselig gegenüber einer Musik, die er für unsingbar hielt, und drohte mit Streik. Die brutalen Kürzungen in den beiden großen Chören der Zigarrenraucherinnen im ersten Akt, die vom Intendanten Camille du Locle verordnet wurden, müssen für den hypersensiblen Komponisten wie Messerstiche gewesen sein.
Zu allem Übel befand sich der Tenor Paul Lhérie (Don José) in einer stimmlichen Krise. Er hatte peinliche Intonationsprobleme, die besonders in seinem Lied „Halte-là ! Qui va là, dragon d’Alcala ?” (zweiter Akt) zu hören waren, das hinter der Bühne gesungen werden muss, da (laut Libretto) die Stimme von Don José sehr weit entfernt klingen und sich in der zweiten Strophe allmählich nähern soll.
In der allerersten Fassung wird das Lied sehr dezent vom Orchester im Graben begleitet, während Dancaïre, Remendado, Frasquita, Mercédès und Carmen sich unterhalten. Die fünf Sprechstimmen, einen Sänger, der falsch singt, und ein Orchester, das der betreffende Sänger nicht hören kann (!), zu synchronisieren, erwies sich als eine heikle Aufgabe, eine unmögliche Mission! Bizet sah keine andere Lösung, als das Lied neu zu schreiben – ohne Orchester. Dank der neuen Ausgabe ist das köstliche „Chanson d’Alcala” mit seiner witzig minimalistischen Begleitung endlich in seiner Originalfassung zugänglich.
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Bizet „Carmen 1874“: und schließlich die verlässliche Liebig-Fleischextrakt-Dose mit einem „Carmen“-Kärtchen/Deutsche Bibliothek
Die Uraufführung von Carmen war bekanntlich nur mäßig erfolgreich. Bizet’s Depression am Tag nach der Uraufführung lässt sich kaum von den Eingriffen in die Originalfassung seiner Partitur trennen, die der Komponist nur schwer verkraftete. 1880 schrieb Tschaikowski, der Carmen verehrte und im Februar 1876 eine Aufführung der Oper in Paris besucht hatte: „Carmen hat in Paris keinen wirklichen Erfolg gehabt. Bizet starb kurz nach der Uraufführung, noch jung und in der Blüte seiner Kräfte und Gesundheit. Wer weiß, ob nicht gerade dieser Misserfolg ihn so sehr getroffen hat?” Hoffen wir demütig, dass unser Projekt Carmen 1874 einem Genie gerecht werden kann! René Jacobs (Paris, 14. März 2024)/DeepL/G.H.
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Bizet „Carmen 1874“: Zulma Bouffar in Offenbachs „Brigands“/Atelier Nadar/Wikipedia
Dazu auch ein Auszug aus dem Artikel von Paul Dogan/Utah Opera (The writing and rehearsing of Carmen). Nach mehreren Verschiebungen von Carmen durch die Leitung schien eine Premiere Anfang 1874 möglich. Das bedeutete, dass eine Sängerin für die Titelrolle gefunden werden musste. Zulma Bouffar wurde abgelehnt, wahrscheinlich weil sie so sehr mit den Hauptrollen in Jacques Offenbachs satirischen Operetten in Verbindung gebracht wurde, dass niemand sie als tragische Heldin akzeptieren wollte; eine Zeitung verkündete, Meilhac habe sie abgelehnt, „weil es für Zulma undenkbar sei, erstochen zu werden”.
Ernsthafter in Betracht gezogen wurde Marie Roze, eine Sängerin, die beim Londoner Publikum beliebter war als beim Pariser, und beim Pariser Publikum beliebter als bei den Pariser Theaterdirektoren. Am 7. September 1873 schrieb sie Bizet, dass „die Rolle nicht zu mir passen würde, oder, genauer gesagt, … ich nicht für sie geeignet wäre”. Bizet hatte ihr erklärt, dass sie nicht mit der von ihr erhofften „dramatischen Handlung, die die sehr skandalöse Seite dieser Figur abmildern würde“, rechnen könne.

Bizet „Carmen 1874“: die zuvor abgelehnte Marie Rose sang die Carmen später/zeitgen. Stich/BNF Gallica
Du Locle bot die Rolle sofort Célestine Gallie-Marié an. Diese wiederum schrieb an ihren Freund, den Tenor Paul L´hérie, über das Angebot, „Carmen zu kreieren“. Was ist das?” Sie kann Mérimées Carmen nicht gekannt haben, schrieb aber im Oktober 1873 an Bizet, sie würde „sehr gerne ein Werk interpretieren … insbesondere eines, das von Ihnen stammt, dessen letzte beiden Partituren ich fast auswendig kenne, sowohl die Gesangsstimmen als auch die Begleitung”. 1862 hatte Gallie-Marié erstmals an der Opéra-Comique debütiert, wo sie beachtliche Erfolge feierte. Zwei Jahre später schlug der Komponist Victor Massé Victorien Sardou (Autor des Theaterstücks La Tosca) vor, die Novelle speziell für Gallie-Marié in ein Libretto umzuwandeln – vermutlich würde er die Musik schreiben: „Ich denke, Mérimées Carmen wäre eine originelle und bemerkenswerte Schöpfung für sie.“ Wie recht er hatte! Und wie dankbar sollten wir sein, dass dieses Projekt nicht zustande kam!
Nachdem Bizet im September 1873 die Musik für Gallie-Marié durchgespielt hatte, entschied er, dass sie perfekt sei. Es folgten monatelange Verhandlungen zwischen der Sängerin und dem Management, bevor sie schließlich am 18. Dezember 1873 einen Vertrag unterzeichnete: Sie würde ab Oktober 1874 für vier Monate zur Verfügung stehen und für eine monatliche Gage zwölfmal im Monat singen; sollte sich das neue Stück als Erfolg erweisen, würde sie bleiben und pro Auftritt bezahlt werden.
Die Proben sollten eigentlich im August beginnen, mussten nun aber auf Gallie-Mariés Ankunft im Oktober verschoben werden. In einem Brief an du Locle Anfang 1874 bat sie ihn, Bizet zu sagen, er solle bei der Komposition der noch nicht fertiggestellten Teile ihrer Rolle die Sopranrolle der Marguerite in Gounods Faust berücksichtigen: Was er bisher geschrieben hatte, verbrachte zu viel Zeit in den tiefen – d. h. Mignon – Bereich ihrer Stimme, den sie als „zu gewöhnlich und eher langweilig“ empfand. (Sie hatte diese Rolle 1866 in Ambroise Thomas‘ Mignon mit großem Erfolg kreirt). In den zwei Monaten dieses Sommers orchestrierte Bizet die gesamte Partitur – 1200 Seiten Manuskript. Aber er blieb mit seiner Hauptdarstellerin in Kontakt: Anscheinend lasen sie einige „Stücke” durch – sie sang sie vom Blatt –, denn im Juli bat sie ihn, sie ihr zu schicken, damit sie daran arbeiten könne, „und Ihnen sagen, wenn mir etwas auffällt”. Einige Wochen später bot er ihr an, ihr die gesamte Rolle zu ihrer Wohnung in Bordeaux zu bringen, und erhielt eine interessante Antwort: Im Moment interessierten sie nur „die wichtigsten Stücke meiner Rolle, die überhaupt nicht wie ein Andante von Mozart sind, damit ich sie ein wenig studieren kann”. Was die gesamte Rolle angeht, „werde ich sie am 1. Oktober, dem Tag, an dem mein Vertrag beginnt, vom Blatt lesen”.
Laut Halévys Tagebuch vom 1. September 1874 „ist Carmen in Proben…” Wir müssen bedauern, dass er in seinem hohen Alter Teile seiner Einträge durchgestrichen oder sogar mit einer Schere herausgeschnitten hat. Begannen die Proben wirklich einen Monat früher? Winton Dean schreibt in der Reihe „The Master Musicians“ der Oxford University Press, dass sie im Oktober begannen, aber Hugh Macdonald, sein Nachfolger in derselben Reihe, schreibt, dass sie „am 1. September 1874 bereits im Gange waren“. Vielleicht bezogen sich Halévy und Macdonald auf den Beginn der musikalischen Vorbereitung des Chores. (…)
Zu Bizets Stress kam zu dieser Zeit noch hinzu, dass seine Hauptdarstellerin andere Rollen am Theater sang, sodass an manchen Tagen keine Proben möglich waren; so wurde beispielsweise im Oktober fast die gesamte Carmen auf Eis gelegt; Halévy vermerkte, dass am 25. Oktober eine „Leseprobe von Carmen stattfand … Nur die Musik wurde geprobt.“ In der zweiten Novemberwoche ging es dann wieder voran, und der Spielplan der Kompanie sah für den Rest des Jahres fast täglich Proben vor. Bizet war fast immer dabei.
Meilhac und Halévy, die Librettisten, waren selten anwesend (…). Henri Meilhac schien sich nicht besonders für Musik zu interessieren: Seine Aufgabe in der Partnerschaft bestand darin, dem Stück eine dramatische Form zu geben und die Dialoge zu schreiben – je witziger, desto besser; Ludovic Halévy war für die Liedtexte verantwortlich. Er mochte zwar unmusikalisch gewesen sein, aber als Meilhac bei einer Probe erschien, war er schockiert über du Locles Haltung gegenüber dem neuen Stück. Man darf nicht vergessen, dass Camille du Locle als Co-Direktor der Opéra-Comique nicht nur 1872 die neue Oper bei Bizet in Auftrag gegeben hatte, sondern auch die Wahl des Themas gegen die Einwände seines Co-Direktors Adolphe de Leuven unterstützt hatte. Als du Locle Bizets Musik hörte, zögerte er nicht, sie als „völlig unverständlich” abzutun. Seine Haltung verstärkte nur die Einwände des Orchesters und des Chors, die behaupteten, die Musik sei unspielbar und unsingbar.

Bizet „Carmen 1874“: Kostumentwurf für Célestine Galli-Marie 1875/BNF Gallica
Auch ohne Kenntnis des regulären Repertoires der Opéra Comique kann man mit Sicherheit sagen, dass Bizets Partitur dem Orchester mehr abverlangte, als es gewohnt war. (…)
Im Januar 1875 begannen die täglichen Proben, an denen die Librettisten nun frei teilnehmen konnten. An diesem Punkt bekamen sie kalte Füße und versuchten, die Wirkung ihrer Adaption abzuschwächen; sie beanstandeten insbesondere das ihrer Meinung nach „vulgäre und hemmungslose“ Spiel von Galli-Marié. Aber ohne Erfolg. Du Locle wollte das Duett zwischen Carmen und José im zweiten Akt verkürzen und in Abschnitte unterteilen, um Applaus zu ermöglichen; Bizet lehnte dies ab. Dann entschied er, dass das Ende geändert werden müsse, und holte den Direktor der Comédie-Française (der das Stück hasste) hinzu, um Vorschläge zu machen. Diesmal schlossen sich Galli-Marié und Paul Lhérie (José) Bizet in seiner Weigerung an und erklärten, sie würden lieber aus der Produktion aussteigen, als irgendwelche Änderungen zu akzeptieren.
Bizet mag sich zwar hartnäckig geweigert haben, den Änderungsvorschlägen von du Locle nachzugeben, aber er war durchaus bereit, Änderungen vorzunehmen, um seinen Sängern entgegenzukommen. (…) Ernest Guiraud (ein enger Freund des Komponisten und der spätere Verfasser der Rezitative) behauptet, Galli-Marié habe darauf bestanden, dass ihre Eingangsarie dreizehn Mal umgeschrieben werde, wobei die genaue Zahl wohl nie bekannt werden wird! Sie wollte eine Arie, vorzugsweise im Stil einer spanischen Volksweise, die ihre Figur als Zigeunerin sofort etablieren sollte, nicht als Primadonna einer Oper. Sie schlug etwas Spanisches vor, und schließlich (vielleicht aus Verzweiflung) adaptierte Bizet eine Melodie des beliebten spanischen Komponisten Sebastián Iradier und verwarf Halévys Text zugunsten seines eigenen. (In der ersten veröffentlichten Klavierauszugpartitur wurde diese Entlehnung noch erwähnt, verschwand jedoch nach und nach in den verschiedenen Neuauflagen.) Übrigens schrieb er auch den Text für Carmens Solo im „Kartentrio” im 3. Akt um. (…)

Bizet „Carmen 1874“: nach vielem Hin und Her sang Célestine Galli-Marie die erste Carmen/hier im Kostüm, Gemälde von Henri Lucien Doucet 1887/Wikipedia
Hatte Bizet vielleicht begonnen, an der musikalisch-dramatischen Integrität zu zweifeln, für die er so leidenschaftlich gekämpft hatte, und stimmte deshalb diesen Kürzungen zu? Und war es diese Erkenntnis, die zu seiner Depression nach der Aufführung beitrug, die seine Freunde bemerkten (und die vielleicht zu seinem frühen Tod nach der 31. Vorstellung der Carmen beitrug?) Wir werden es nie erfahren. Paul Dogan/ Utah Opera/DeepL/G. H.
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Besetzung Hamburg Elbphilharmonie 25. März 2024: B’Rock Orchestra; Chœur de Chambre de Namur; Kinderchor der Opera Ballet Vlaanderen; Gaëlle Arquez Carmen; François Rougier Don José; Thomas Dolié Escamillo; Sabine Devieilhe Micaëla; Margot Genet Frasquita; Séraphine Cotrez Mercédès; Grégoire Mour Remendado; Emiliano Gonzalez Toro Dancaïre; Yoann Dubruque Moralès; Frédéric Caton Zuniga; Leitung René Jacobs; weitere Konzertante Erstaufführungen nach der Neuausgabe: 12.3.2024 Antwerpen (De Singel), Solisten, Chor und Orchester B’Rock, Leitung: René Jacobs, weitere Aufführungen: 14.3.2024 Paris (Philharmonie), 16.3.2024 Dortmund (Konzerthaus), 17.3.2024 Köln (Philharmonie), 25.3.2024 Hamburg (Elbphilharmonie), 27.3.2024 Madrid (Teatro Real).
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Dank an den Bärenreiter Verlag/ Johannes Mundry/ takte-online für die Übernahme des Textes von Paul Prevost, Dank an René Jacobs für seinen ausgiebigen Artikel zu „seiner“ „Carmen 1874“, den wir dem Programmheft zu der konzertanten Aufführung in Paris 2024 entnommen haben/Übersetzung DeepL/G. H., Dank an das B´Rock Orchestra und Britt Ryckebosch für das obige Foto und Dank an Paul Dogan für seine Einführung zu „Carmen“ an der Utah Opera 2016. Foto oben Britt Ryckebosch / DE SINGEL, Antwerpen