Heimspiel

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Eine willkommene Überraschung ist es für jeden Venedigbesucher, vom Rialto kommend in eine enge Gasse einzubiegen und plötzlich auf einer Piazzetta und vor einem Opernhaus, dem Teatro Malibran, zu stehen. Wenn das Fenice, so nach der letzten Brandstiftung, nicht bespielbar ist, dient es als Ausweichquartier, und in den Neunzigern erlebte man hier mit Marcello Viotti schöne französische Opernabende, so mit Massenets Le Roi de Lahore oder Aubers Le Domino noir. Jetzt ist es als Ableger des großen Opernhauses eine Art Kammeroper, die 2024 eine Aufführung von  Antonio VIvaldis Pasticcio Il Bajazet erlebte.

Die Geschichte um den Macht- und Liebeskampf der orientalischen Herrscher Bajazet, Tamerlano und des Andronico, mehr noch um deren verzwickte Liebesabenteuer, enthält bereits in anderen Werken verwendete Arien, daneben viele neu komponierte und die anderer Komponisten, so auch des Deutschen Hasse.

Eigentlich ist alles klar, wer wen liebt und dementsprechend heiraten soll, doch die Laune des Tyrannen und die Eifersüchteleien der Damen Asteria, Tochter des Bajazet, und der Irene, promessa sposa von Tamerlano, bringt alles ins Wanken und ist Anlass für viele Liebes- und Eifersuchtsszenen, endet mit dem Gifttod der Titelfigur und einer Doppelhochzeit. Unvermählt und auch unvergiftet bleibt nur Idaspe, Vertrauter in Mannesgestalt mit Countersopranstimme, hier aber ein weiblicher Sopran als Vertraute.

Die optische Umsetzung müsste eigentlich Genuss für den konservativen Opernbesucher und ein Gräuel für den Modernisten sein und zugleich umgekehrt, denn Regisseur Fabio Ceresa spielt ungemein souverän auf der Klaviatur des ironischem Traditionalismus wie auf der des ins Absurde getriebenen Neuerungssucht, wenn einmal eine Arie in einem wunderschönen, in Kostbarkeit prunkendem Palast in Kostümen,. die im bis zur Karikatur gesteigerten Modebewusstseins vergangener Zeiten das Stilempfinden ausreizen, gesungen wird, mal in einer schäbigen Einbauküche der Fünfziger der Liebhaber in Unterhose und mit Sockenhaltern ohne jede erotische Ausstrahlung leidenschaftlich singen muss, in Gasherd, am Lampenkabel oder Küchenmesser vergeblich sein Dasein beenden möchte, wenn Dornröschen in sein Gegenteil mit schlafendem Prinzen und wachküssender Prinzessin verkehrt wird, Jack the Ripper im nebelsatten London sein Unwesen treibt oder der My-Fair-Lady-Film mit Audrey Hepburn in Ascot als eine der handelnden Personen verfremdet erscheint. Öffnet sich also der Vorhang immer wieder zu neuen, überraschenden Szenen, so sitzen die sechs gleich stark geforderten Solisten gemeinsam oder einzeln ganz in Schwarz auf der Vorderbühne, liefern von hier aus auch einige ihrer Arien ab- das Stück ist von auch für die damalige Zeit beachtlicher Länge und wird doch nie zu lang, geschweige denn langweilig. Dazu kommt, dass es trotz allen szenischen Übermuts  ernst genommen wird. Die Bühne stammt von Massimo Checchetto, die Kostüme entwarf Giuseppe Palella. Übersprudelnde Heiterkeit schwingt anstelle von verbissener Ideologieverbohrtheit das Zepter.

Ein großes Verdienst kommt dem Orchestra del Teatro La Fenice di Venezia zu, das unter der Leitung von Federico Maria Sardelli so frisch, so heiter, so prickelnd spielt, als wären alle vier Jahreszeiten gleichzeitig ausgebrochen, man meint den Musikern anzumerken, dass sie mit Begeisterung bei der Sache sind.

Für den Bajazet hatte Vivaldi einen Tenor oder Bariton vorgesehen, Renato Dolcini besitzt einen schlanken, dunklen, koloraturgewandten Bassbariton. Den in Asteria verliebten, aber Irene heiraten sollenden, dann aber doch Asteria bekommenden  Andronico singt Raffaele Pe mit  reizvollem Timbre, beherrscht irrsinnige Intervallsprünge und weiß mit „Spesso tra vaghe rose“ zu bezaubern. Sonia Prina hat für den wetterwendigen Tamerlano einen vollmundigen Alt und viel darstellerische Wandlungsfähigkeit. Asteria ist Loriana Castellano, sie singt  mit reichen Farben eines Mezzosoprans ihr „Qual furore, qual affano“. Lucia Cirillo ist Irene, die als sposa disprezzata Sopranglanz und ab und zu auch etwas Schärfe beisteuert. Über einen zauberhaften Fächertanz kann man sich beim Auftritt von Valeria La Grotta als Idaspe freuen und dazu über souveräne Koloraturen.

Die Stärke der Aufnahme liegt in den durchweg guten Solisten und in der liebevoll, augenzwinkernd und pfefferreich optisch wie akustisch souverän gestalteten Aufführung. Dazu handelt es sich um eine Weltpremiere auf Video (Dynamic 38056). Ingrid Wanja