Verdis „Simon Boccanegra“ 1857

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Wie das Label Palazetto Bru Zane sieht auch die englische Opera Rara von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit im Katalog oder andernorts bereits vorhandene Opernaufnahmen zu duplizieren, so auch nun bei Verdis Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1857. Zu der Neuaufnahme eine Würdigung und danach einen Artikel von Roger Parker, dem Repertoireberater von Opera Rara und führendem Musikwissenschaftler auf dem Gebiet des italienischen Novecento, zum Werk selbst. G. H.

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Giuseppe Verdis Simon Boccanegra von 1857 bei Opera Rara: Fast alle späten Opern Giuseppe Verdis sind Klassiker auf den Bühnen der Welt. Manche gibt es in mehreren Versionen. Gespielt wird meistens natürlich die letzte, weil sie immer auch als das letzte Wort des Meisters gilt. Jetzt hat das Label Opera Rara eine Besonderheit auf den Markt gebracht: Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1875. Verdi hat vor allem dann Neufassungen seiner Opern gemacht, wenn es darum ging, ein Werk in einem anderen Land neu vorzustellen. Dazu machte er meist umfangreiche Änderungen. So war Don Carlos ursprünglich für Paris gedacht, für Italien gab es später sehr umfangreiche Änderungen vorgenommen. Macbeth dagegen war eine original italienische Oper und wurde dann für Paris angepasst. Aber wir haben es ganz selten bei ihm, dass er mit einer Opern-Erstkomposition generell so unzufrieden war, dass er sie dann nochmal komplett umgekrempelte. Das gibt es nur dreimal bei ihm: Beim heute völlig vergessenen Aroldo/Stiffelio, bei der Forza del Destino (Lombardi/Jerusalém war eine Bearbeitung durch Verdi nur auf Wunsch der Pariser Opéra und nicht seine Herzensangelegenheit) und bei Simon Boccanegra.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: der junge Verdi/Wikipedia

Verdis Simon Boccanegra stammt von 1857, bis zur zweiten Fassung liegt ein Vierteljahrhundert. 1857 kam die Oper nicht so gut an, weil Verdi eben schon seiner Zeit sehr voraus war, seine Zuhörer mit seinen kompositorischen Neuheiten auch überforderte. Also hat er dann ein Vierteljahrhundert später in den 1880er Jahren das Werk nochmal aufgegriffen und es dann komplett seinem Spätstil angepasst. Otello ist gar nicht so weit weg, und diese neue Fassung gehört natürlich jetzt zum allgemeinen Opern-Kanon. Die erste von 1857 spielt so gut wie niemand.

Warum nun also eine Neuaufnahme?  Einer der wichtigsten Gründe dafür ist vielleicht, dass man hier einen ganz unschätzbaren Einblick in die Werkstatt von Verdi bekommt. Wir lernen wie sich Verdis Denken mit den Jahrzehnten wandelt, was ihm dann später nicht mehr gefällt und was er eben auch noch mag. Es gibt im Boccanegra Passagen, die er überhaupt nicht veränderte. Es ist total faszinierend, dieses vertraute Werk „anders“ zu hören. Verdi hat nicht nur ein paar Stellen verändert, sondern selbst da, wo er ein thematisches Grundgerüst stehen lässt, gibt es oft rhythmische Veränderungen, gelegentlich andere Tonarten und auch andere Instrumentierung. Im Endergebnis klingt dieser „alte“ Boccanegra oft jugendlicher, heller, weniger harsch als der neue und damit natürlich auch für uns eingängiger.

Der Plot ist zwar leicht überarbeitet, aber die Geschichte selbst ändert sich nicht. In beiden Fassungen geht es um die Biografie des Dogen Simone Boccanegra. Die Oper erzählt von seinem Aufstieg, seinem sehr kurzen Glück mit seiner wiedergefundenen Tochter und eben auch seinem traurigen Ende durch Intriganten. Er stirbt dann natürlich, wie so oft bei Verdi. Da wird ja viel gestorben. Es ist vielleicht nicht der beste Plot, aber es gibt richtig große, emotionale und dramatisch packende Momente.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Mark Elder dirigiert die Oper nun zum dritten Male/Foto OR Duncan

Was mich jetzt besonders interessiert, ist, dass es in diesem frühen Boccanegra auch Musik gibt, die wir eigentlich so gar nicht kennen, die also komplett anders klingt als in der gängigen Fassung. Da ist ein ganz anderes erstes Finale. Später hat er sich entschieden, dies völlig neu zu komponieren. Außerdem wird man in der Erstfassung auch Passagen entdecken, die er später gestrichen hat. Es gibt eine sehr schöne Cabaletta für Amelia, die weibliche Hauptfigur. Und man hört hier eben auch schon deutlich den mittleren Verdi, der Spaß an großen Chören hatte, also den Verdi des Trovatore, der große Tableaus auffahren lässt. Es ist schade, dass Verdi so etwas später mied.

Simon Boccanegra von 1857 ist vielleicht die ungewöhnlichste Alternativfassung einer Verdi-Oper überhaupt, was verwunderlich ist, weil sie auch die Fassung mit den meisten Abweichungen vom Original darstellt.

Und gerade weil diese Fassung weniger düster daherkommt, mit sehr großen, ausschwingenden Melodien, stärker noch im Belcanto verhaftet, hat das Ganze einen besonderen schwärmerischen Appeal, den die späte Fassung dann nicht mehr besitzt. Dieser Appeal geht bei dem grimmigen alten Verdi verloren. Und ich finde auch manche Lösungen wirklich überraschend, in der Urfassung interessanter als in der späten. Also zum Beispiel ist mir das absolut wunderbare Vorspiel aufgefallen, das Verdi später gestrichen hat. Und es gibt auch noch eine richtige Leitmotivik. Ich kann mir vorstellen, dass Verdi sowas später nicht mehr gemocht hat, weil dann ja die Wagnerianer kamen und er sich dem Vorwurf, dazu zu gehören, nicht aussetzen wollte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: auf dem Roman von Antonio GGarcia Gutierrez beruhte die Handlung/Madrid Museo Arqueologico

Übrigens gibt es die Erstversion ebenfalls bei Opera Rara: eine BBC-Übernahme unter dem Dirigenten John Matheson (Bruscantini, Ligi). Aber diese neue ist die erste unter den Voraussetzungen der kritischen Verdi-Ricordi-Ausgabe eingespielte. Der Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus und das Hallé-Orchester unter Mark Elder bestreiten diese Neuaufnahme der Erstfassung.  Sicher sind Besetzungen mit Kiri Te Kanawa oder Mirella Freni eleganter, Eri Nakamuras Maria ist da im Vergleich in den Höhen vielleicht etwas grell, in den Einsätzen nicht immer ganz sicher. Aber insgesamt ist diese Aufnahme frappierend gut besetzt. Frappiert auch deshalb, weil Opera Rara sonst zwar oft hochinteressante Projekte macht, aber eben oft zweitrangige Besetzung bietet, gelegentlich recht enttäuschend. Deswegen muss man zu ihrer Verteidigung sagen, dass nicht so viele Weltstars bei OR singen, weil das englische Label sich von Spendengelder und den Verkauf finanziert und nicht durchweg große Namen auffahren kann. Und manchmal klingt das auch recht insular…

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Leone Giraldoni war der erste Titelsänger/Ipernity

Aber hier hat man eben sehr frische Stimmen, unbekannte, relativ unbekannte Sänger versammelt. Und man erlebt, was ein begeistertes Team leisten kann, das sich exzellent in Verdis frühen Stil eingearbeitet hat. Das zeigt diese Aufnahme. Germán Enrique Alcántarain in der Titelrolle hat mir super gefallen. Dies ist wirklich ein Boccanegra, der auch in der späteren Fassung Ehre einlegen würde, umso mehr in dieser raren Urfassung. Und eine große Überraschung war für mich Iván Ayón-Rivas, der Tenorheld, der schon vorher bei der Firma mitgesungen hat und der sich hier sich so richtig entfaltet. Hier hört man absolut großen Verdi. Dazu kommen William Thomas (ein sonorer Jacopo Fiesco), Sergio Vitale (ein etwas blasser Paolo Albiani) und  David Shipley (Pietro).  M. K./G. H.

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Verfügbares: Wie so oft gilt auch hier, dass man selten etwas zum ersten male hört. Die im eigenen Katalog geführte ältere BBC-Aufnahme des originalen Simon Boccanegra ist ein Mitschnitt des Konzertes in der Londoner Golder´s Green Hall von 1975 mit dem sehr packenden Sesto Bruscantini und Josella Ligi unter John Mathesons wie stets genialer Leitung. André Turp bleibt als Gabriele Adorno etwas blass (ehemals UORC, Ponto und andere; recording of a BBC concert performance of the 1857 version before an invited audience in the Golders Green Hippodrome on 2 August 1975 and broadcast on 1 January 1976).

1989 spielte man erstmals auf dem europäischen Festland im italienischen Martina Franca (wirklich eine Pionier-Location) die Fassung unter Renato Palumbo mit Warren Mok als Gabriele (trocken)und Vittorio Vitelli als Doge (sehr ordentlich), dazu kamen Francesco Ellero D´Artegna als Fiesco (stets sonor) und Annalisa Raspagliosi (Maria) – sehr verdienstvoll, nicht unrecht, aber wirklich nicht aufregend und einem frühen Verdi nicht gerecht bei stumpfer Open-air-Akustik aus dem Innenhof des Palazzo Ducale, damals (fälschlicherweise) als moderne Erstaufnahme bei Dynamic etikettiert (den BBC-Mitschnitt gab es nur auf grauen Platten und erst recht spät bei Opera Rara im Zuge der Matheson-Erstversionen wie Don Carlos oder Forza del Destino).

Aber in neuerer Zeit gab´s den originalen Boccanegra doch einige Male, so zuletzt beim tapferen Verdi-Festival in Parma 2002 mit Vladimir Stoyanov, Riccardo Zanellato, Piero Pretti und Roberta Mantegna unter Riccardo Frizzas sehr schwerer Hand bei der RAI. Auch hier akustisch nicht wirklich aufregend und im Ganzen eher solide Mittelklasse.

Im Konzert machte Covent Garden den frühen Boccanegra 1995 mit Jose Cura als Adorno, Anthony Michaels Moore in der Titelrolle sowie mit Alistair Miles und Amanda Roocroft unter Mark Elder, radioübertragen.

Ebenfalls radio-dokumentiert hörte man am selben Haus 1997 hochbesetzt Placido Domingo (Adorno, später erschreckte er mit der Titelrolle selbst), Sergei Leiferkus (Simon Boccanegra), Jaako Ryhanen (Fiesco), Kallen Esperian (Maria), am Pult erneut Mark Elder, auch hier sehr kompakt und wenig Trovatore nah. Das gilt für mich für alle seine Boccanegra-Dokumente (auch auf der neuen Aufnahme bei Opera Rara), und ich finde, dass für den früheren Verdi nicht transparent genug, nicht federnd genug, nicht kongenial  dirigiert. Da braucht es andere, jüngere vielleicht auch.

Opera Rara torpediert gerade den eigenen Verkauf etwas, indem sie die Neuaufnahme bei youtube im eigenen Kanal ins netz stellt. Youtube hat zudem einiges an Ausschnitten aus der Erstfassung, so Elizabeth Woods im Konzert mit Amelias Arie 2009 () sowie das Vorspiel zum 1. Akt unter Chailly von seiner Decca-CD. G. H.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Nun also Roger Parker: Mit neuen Ohren hören – der „neue“ Simon Boccanegra. Versuchen wir einmal ein Gedankenexperiment. Was würden wir heute von Verdis ursprünglichem Simon Boccanegra halten, der 1857 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt wurde, hätte er sich nicht entschlossen, die Oper mehr als 20 Jahre später zu überarbeiten? Die ursprüngliche Fassung war das Herzstück eines Trios von außerordentlich vielfältigen Werken aus den späten 1850er Jahren. Zuerst entstand Les Vêpres siciliennes („Die sizilianische Vesper“, 1855), geschrieben für Paris als expliziter Versuch, die von Meyerbeer berühmt gemachte Operngroßartigkeit nachzuahmen und diese zu übertreffen. Dann folgte Boccanegra, der zur italienischen Tradition zurückkehrt, aber nur wenige offensichtliche Vorbilder bei Verdi oder anderen hat und am besten als strenger Versuch beschrieben werden kann , eine schlanke, italienisch anmutende Avantgarde zu schaffen. Und schließlich kam Un ballo in maschera („Ein Maskenball“, 1859), das den radikalen neuen italienischen Stil von Boccanegra weitgehend aufgibt und auch eine Rückkehr zu französischen Vorbildern zeigt, diesmal jedoch eher zur Sprache der opéra comique als zu der Meyerbeerschen. Von diesen drei Werken hatte nur Un ballo in maschera eine gewisse Dauerhaftigkeit im damals entstehenden internationalen Repertoire. Insbesondere Boccanegra verschwand bald aus dem Blickfeld und wäre ohne Verdis Überarbeitung von 1881 (die heute meist zu hörende Fassung) sicherlich für viele Jahrzehnte unaufgeführt geblieben.

Allerdings wäre Boccanegra in seiner ursprünglichen Fassung von 1857 dann sicherlich wiederaufgenommen im 20. Jahrhundert worden – wie so viele vergessene Opern Verdis, da seine düstere Intensität zweifellos starken Widerhall in den sich wandelnden Zeiten dieses Jahrhunderts gefunden hätte. Doch diese Rehabilitierung blieb aus: Die Präsenz von Verdis Überarbeitung von 1881 hat dies wirksam verhindert.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

So überwältigend war unser Glaube an die Idee des Fortschritts in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts – eben an die Idee, dass das Genre, insbesondere in Verdis Händen, im Laufe des Jahrhunderts dramatisch gereift, ernster und respektabler geworden sei –, dass die ursprüngliche Boccanegra fast vollständig zugunsten seines  späteren, moderneren Bruders ignoriert wurde. Es gab zwar gelegentliche Wiederaufführungen, aber sie konnten sich nie ganz aus dem Schatten der späteren Gedanken des Komponisten befreien. Schließlich hat Verdi, so heißt es, die Partitur überarbeitet, weil er mit dem Original unzufrieden war; welches Recht haben wir, eine so ehrwürdige und maßgebliche Entscheidung in Frage zu stellen? Schon ein kurzer Blick auf den Kontext der Überarbeitung, ja sogar auf Verdis Überarbeitungen im Allgemeinen, lässt vermuten, dass die Sache nicht ganz so einfach ist.

Zum einen wurden alle größeren Überarbeitungen von Verdis italienischsprachigen Opern (Macbeth, Stiffelio und Simon Boccanegra) in erster Linie aus praktischen Gründen vorgenommen. Jede der fraglichen Opern war aus dem Repertoire gefallen, und Verdi, ermutigt durch seinen Verleger Ricordi, nutzte die Überarbeitung als Gelegenheit, sie zu aktualisieren, wobei er teilweise radikale Anpassungen an ihrer musikalischen Sprache vornahm, um sie einem Publikum mit unvermeidlich veränderten Erwartungen neu zu präsentieren.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Eine solche Haltung ist aus seiner Sicht verständlich. Er arbeitete in einer Welt, in der die Idee der „Repertoireoper“ noch in den Kinderschuhen steckte und neue Werke nach wie vor das prestigeträchtigste Element der Opernszene waren. In einem solchen kulturellen Umfeld bedeutete die Einstufung als veraltet, (oft) als erfolglos. Was war also wahrscheinlicher, als dass Verdis Aufgabe bei seinen Überarbeitungen darin bestand, die rückständigsten eines Werkes gewaltsam auf den neuesten Stand zu bringen? Vor allem aus diesem Grund schien es ihm bei seinen Überarbeitungen wenig wichtig zu sein, stilistische Unstimmigkeiten zu vermeiden, und er blieb weitgehend gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass seine Überarbeitungen oft seltsame anachronistische Dissonanzen hervorbrachten.

Es gibt berühmte Beispiele aus verschiedenen Phasen seiner Karriere, eines der offensichtlichsten ist Lady Macbeths Arie „La luce langue“, die 1865 für die Pariser Überarbeitung von Macbeth hinzugefügt wurde, fast 20 Jahre nach der Uraufführung des Werks in Florenz. „La luce“ versucht nicht, sich an die musikalische Atmosphäre der späten 1840er Jahre anzupassen, sondern ist vielmehr eines der radikalsten Stücke – orchestral und harmonisch –, die Verdi selbst Mitte der 1860er Jahre geschrieben hatte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Das Gleiche gilt für die Überarbeitungen von Boccanegra aus dem Jahr 1881, in denen praktisch alle neuen Ergänzungen stilistisch eher auf die letzten Opern, Otello und Falstaff, als auf die Welt der damals fernen 1850er Jahre verweisen. Beispiele dafür finden sich in fast jeder Nummer der Oper, insbesondere im Prolog und im ersten Akt. In die karge, schlanke Orchestrierung und die strenge Deklamation der Fassung von 1857, die oft an Il trovatore in seiner strengsten Form erinnert, fügte Verdi 1881 Passagen mit überraschenden Instrumentalfarben und flüchtigen lyrischen Ausbrüchen ein, die sehr stark in die Richtung gingen, die einige Jahre später mit Otello zum Markenzeichen seines Spätstils werden sollte.

Der größte Unterschied zwischen den beiden Boccanegras, im Finale des ersten Aktes, ist die klassische Illustration. Aus der Perspektive der frühen 1880er Jahre erklärte Verdi in Briefen, dass sein Finale von 1857 „Erleichterung, Abwechslung und mehr Leben“ brauche; und er ersetzte es durch die berühmte Ratsszenen mit ihren leidenschaftlichen Appellen an die Einheit Italiens. Natürlich ist sein Finale von 1881 großartig.

Aber es sei daran erinnert, dass es nicht nur eine durchweg „späte“ Musiksprache aufweist, sondern auch auf akut zeitgenössische Themen, insbesondere auf die zerrissene Politik und die extravaganten Ambitionen des neu gegründeten italienischen Staates hindeutet. In seinem musikalischen Stil und seiner politischen Resonanz ist es mit anderen Worten sehr stark von seiner Zeit geprägt.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Karikatur von Francesco Maria Piave/Ricordi archivio storico

In diesem Zusammenhang könnte man dem Finale von 1857 eine ganz andere Stimmung unterstellen: Es handelt sich nicht um einen minderwertigen ersten Entwurf, sondern um einen höchst originellen Versuch, das zentrale italienische Finale der frühen 1850er Jahre neu zu konzipieren, in dem die Vielfalt der Ausdrucksformen vergleichsweise wenig Platz hat und in dem die Ökonomie der Komposition und die Düsternis des Tons extrem ausgeprägt sind. Und auch diese Stimmung könnte man als zeitgemäß betrachten, in diesem Fall als passend zur düsteren, konterrevolutionären Atmosphäre der späten 1850er Jahre, in der die Hoffnung auf ein neues Italien auf einem Tiefpunkt stand.

Mit anderen Worten: Es ist leicht zu verstehen, warum Verdi – der mit zunehmendem Alter und zunehmendem Ruhm sich der politischen Resonanz seiner Opern immer bewusster wurde – das Bedürfnis verspürte, 1881 eine so radikale Änderung vorzunehmen. Aber aus unserer Sicht, anderthalb Jahrhunderte später, wo beide Stimmungen nur noch historische Spuren sind, kann man eine automatische Präferenz für eine Version gegenüber der anderen nur dadurch ermöglich, dass man sowohl die musikalische als auch die historische Entwicklung Verdis ignoriert.

Solche Argumente lassen sich auch für die anderen wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Fassungen von Boccanegra anführen, in denen die Version von 1857 stets zu kräftigeren Farben, einer größeren Ökonomie der Ausdrucksweise und vor allem zu einer größeren Zielstrebigkeit neigt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ist Verdi 20 Jahre später immer und zwangsläufig besser? Ist Aida besser als Il trovatore? Ist Otello besser als Don Carlos?

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ratssaal im Palazzo degIi Abati, 1. Akt, 2. Szene, Bühnenbild von Girolamo Magnani/Ricordi archvio storico

Solange wir nicht weiterhin passiv die alte Vorstellung von der allmählichen Reifung der italienischen Oper unterstützen, kann es keine eindeutigen Antworten geben. Die meisten Liebhaber des Komponisten würden sicherlich argumentieren, dass solche Wertfragen zumindest stark von der Qualität der Aufführung und vielleicht ebenso sehr von der Beschaffenheit des Publikums abhängt – davon, wer es ist, wo es sich befindet und von der (politischen oder allgemein kulturellen) Stimmung, die es umgibt. Insbesondere wenn die ursprüngliche Fassung von Boccanegra mit Engagement und einem Bewusstsein für ihre stilistischen Besonderheiten aufgeführt wird, kann uns die Aufführung vor wichtige Fragen stellen, die sich sogar auf den gesamten Komplex ausweiten könnten, ob Verdis Überarbeitungen nicht nur Neukonzeptionen, sondern sogar Verbesserungen sind. Verdi  selbst sah sie zwar nur als solche, aber die Zeiten ändern sich, und mit ihnen ändern sich auch die Bedeutungen, die wir Kunstwerken entnehmen können. In diesem Zusammenhang könnte der „alte“ Boccanegra ganz plötzlich frisch und „neu“ werden, genauso dringend an unsere Zeit angepasst wie sein Nachfolger.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ankündigung der Uraufführung/Ricordi archvio satorico

Hintergrund: Dies ist nicht der Ort für eine detaillierte Darstellung der Entstehungsgeschichte von Simon Boccanegra. Kurz gesagt beschloss Verdi, eine Oper für die Karnevalssaison 1856/57 zu schreiben, zögerte jedoch, sich auf ein Theater oder ein bestimmtes Thema festzulegen, wahrscheinlich weil er noch über die Möglichkeit, eine Version von König Lear zu schaffen. Schließlich entschied er sich jedoch, zu dem Autor zurückzukehren, der ihn zu Il trovatore inspiriert hatte, dem spanischen Dramatiker Antonio García Gutiérrez, und vertonte dessen Drama Simón Bocanegra von 1843. Sein Librettist war wie üblich der langmütige Francesco Maria Piave (Librettist von Macbeth, Rigoletto, La traviata und einem halben Dutzend weiterer Verdi-Opern), wenn auch mit etwas Unterstützung in letzter Minute von Giuseppe Montanelli, einem toskanischen Dichter und politischen Exilanten. Die Uraufführung fand am 12. März 1857 im Teatro La Fenice in Venedig statt, mit einer Besetzung mit Leone Giraldoni (Boccanegra), Giuseppe Echeverria (Fiesco), Luigia Bendazzi (Amelia) und Carlo Negrini (Gabriele). Die Oper war bekanntlich kein Erfolg. Verdi berichtete mehreren Korrespondenten sofort in etwa mit den gleichen Worten.  Ein Brief an den Impresario Vincenzo Torelli in Neapel hat mehr als nur einen Hauch von theatralischer Übertreibung: „Der Karneval in Venedig war schön, die Theatersaison bisher gut, aber gestern Abend begannen die Schwierigkeiten: Es war die Premiere von Boccanegra, und es war ein Fiasko, fast so groß wie das von La traviata. Ich dachte, ich hätte etwas Passables geschaffen, aber anscheinend habe ich mich getäuscht.§

Wie üblich zeigten die Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften ein sehr breites Spektrum an Meinungen. Was jedoch kaum Zweifel hinterlässt, ist, dass die Hauptsänger applaudiert wurden und dass die „stumpfe Reaktion“ des Publikums vor allem durch die insgesamt düstere Farbgebung des Dramas und durch seine unkonventionelle Gesangsführung hervorgerufen wurde, wobei ein Großteil der Partitur die Traditionen des Belcanto ablehnte und stattdessen eine deklamatorische Vortragsweise einsetzte, nicht zuletzt in der Komposition für den Protagonisten der Oper.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Coronation of the Doge on the Scala dei Giganti Giambattista Brustolo/V&A Museum

Vielleicht auch wegen dieser gleichgültigen Aufnahme überwachte Verdi persönlich eine frühe Wiederaufnahme der Oper bei der Einweihung des Teatro Municipale in Reggio Emilia am 10. Juni 1857, nur drei Monate nach der Premiere in Venedig. Er nahm sich die Mühe, an den Proben teilzunehmen, verbrachte den größten Teil eines Monats vor Ort und nahm dabei einige Änderungen an seiner Partitur vor, sowohl musikalische als auch szenische. Bis Anfang der 1870er Jahre fanden noch eine Reihe weiterer Wiederaufnahmen statt, insgesamt vielleicht 40. Obwohl es gelegentliche Erfolge gab, nicht zuletzt in Reggio Emilia, war die Resonanz an vielen bedeutenden Orten (insbesondere an der Mailänder Scala im Januar 1859) bestenfalls lauwarm.

Nach dem Debakel an der Scala schrieb Verdi seinem Verleger Tito Ricordi in einer für ihn typische Mischung aus Trotz und Pessimismus: „Ungeachtet dessen, was Freunde und Feinde sagen, steht Boccanegra vielen meiner anderen Opern, die mehr Glück hatten, nicht nach, und das liegt daran, dass das Werk vielleicht eine raffiniertere Aufführung und ein Publikum braucht, das zuhören will; was für eine traurige Sache ist das Theater doch!“

Aber „das Publikum“ blieb unfähig oder zumindest unwillig, die ungewöhnlichen Qualitäten der Oper zu würdigen; im Allgemeinen wurde Boccanegra als „Problemstück“ bekannt und wurde in den renommiertesten Theatern gemieden. Schon bald beschränkten sich die Wiederaufführungen meist auf kleinere Spielstätten, und selbst diese versiegten Anfang der 1870er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt schmiedete die Firma Ricordi, die die Oper unbedingt weiter fördern wollte, Pläne für eine gründlichere Überarbeitung, die schließlich 1881 das Licht der Welt erblickte.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Parma 2022/Szene/Foto Roberto Ricci

Die neue Edition:  Unsere Ausgabe von Simon Boccanegra von 1857, die Ricordi (der noch immer existiert und sich für die Opern des Komponisten einsetzt) beim Verfasser dieses Artikels in Auftrag gegeben hat, ist die erste, die auf Verdis autographischer Partitur dieser Fassung basiert und die erst vor wenigen Jahren für Wissenschaftler zugänglich wurde. Alle früheren Fassungen mussten sich auf die fast zeitgenössische Ricordi-Vokalpartitur und verschiedene Manuskript-Kopien stützen. Diese Quellen sind größtenteils zuverlässig in der Wiedergabe der von Verdi geschriebenen Noten, aber in Bezug auf Dynamik, Phrasierung und andere Aspekte der Artikulation sind selbst die besten von ihnen nur annähernd und lassen häufig wesentliche Details vermissen. Die autographen Materialien stellen somit eine reichhaltige neue Quelle dar, die zeitgenössischen Interpreten erstmals die Möglichkeit bietet, viele von Verdis detailreichen musikalischen Anweisungen zu befolgen. © 2025 Roger Parker/G. H.

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VERDI: SIMON BOCCANEGRA 1857 VERSION (ORC65): The Hallé | Sir Mark Elder, conductor; Germán Enrique Alcántara (Simon Boccanegra); Eri Nakamura (Amelia); William Thomas (Jacopo Fiesco)Iván Ayón-Rivas (Gabriele Adorno); Sergio Vitale (Paolo Albiani); David Shipley (Pietro); Amelia’s Maid (Beth Moxon); Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus

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Der Autor und Musikwissenschaftler Roger Parker/ Foto OR/ Russell Duncan

Dank an Roger Parker, uns seinen Artikel aus dem Booklet zur neuen Aufnahme bei Opera Rara zu überlassen! Roger Parker ist Repertoireberater bei Opera Rara. Er ist emeritierter Professor für Musik am King’s College London und lehrte zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Herausgeber der kritischen Ausgabe von Donizetti, die bei Ricordi erschienen ist. Seine jüngsten Bücher sind „Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio“ (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last Four Hundred Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die Musik in London in den 1830er Jahren und an einer kritischen Ausgabe von Donizettis Solo-Liedern. Von 2013 bis 2018 war er Direktor des vom ERC geförderten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College. (Abbildung oben: Venedigs Doge Leonardo Loredano von Giovanni Bellini/Wikipedia)