Soundtrack fürs Wunderspiel

.

Die Nonne Megildis, die eben noch Amt und Schlüssel als Sakristanin von ihrer hundertjährigen Vorgängerin empfing, erliegt den Verlockungen eines jungen  Ritters und verlässt mit ihm das Kloster. Ein geheimnisvoller Spielmann, der die schicksalhafte Begegnung herbeigeführt hatte und immer wieder in Erscheinung treten wird, gibt der Flucht fröhlich pfeifendes Geleit. Währenddessen ist die Muttergottes, als Marienstatue das Heiligtum des Klosters, vom Altar herabgestiegen und übernimmt  selbst den Dienst für die Entschwundene in deren Gestalt.

Sehr großzügig zusammengefasst endet damit der erste von zwei Akten der Pantomime Das Mirakel, die Engelbert Humperdinck 1911 zu einer Vorlage von Karl Vollmoeller (1878-1948) komponierte. Capriccio hat – wie auch auf dem Cover vermerkt – die erste komplette Einspielung herausgebracht (C5543). Sinfonische Teile aus dem Mirakel – in deutschsprachigen Ländern auch als Das Wunder bekannt geworden – waren gelegentlich auf Tonträger gelangt – zuletzt in einer von Adolf Lotter (1871-1942), einem tschechischen Zeitgenossen von Humperdinck, der auch in London wirkte, erarbeiteten fünfteiligen Suite bei Naxos (8.574177). Die bietet eine glänzende Einführung in die Stimmung des höchst sonderbaren und mit heutiger Erfahrung schwer nachvollziehbaren Stückes, das unweigerlich Assoziationen mit Filmmusiken der Zeit aufkommen lässt.

.

„Humperdincks Musik soll im Rahmen dieser Erstaufnahme der von Peter P. Pachl und Thomas Hennig neu edierten Originalpartitur … Zeugnis darüber ablegen, inwieweit sie in der Lage ist, ohne Worte und ohne inszenatorisches Brimborium das Mysterium nur mit Hilfe von Tönen glaubhaft zu erzählen“, heißt es im Booklet-Text von Steffen Georgi. Soll! Ob es tatsächlich gelingt, dürften Hörer auf sehr unterschiedliche Weise wahrnehmen. Von Hänsel und Gretel, dem populärsten Werk des Komponisten, ist das Mirakel meilenweit entfernt. Es gibt aber wenigstens eine Gemeinsamkeit, nämlich die dritte Szene des zweiten Bildes, in der Engel auf die Erde niedersteigen und die schlafenden Kinder bewachen. Sie ist in älteren Ausgaben des Librettos als Pantomime überschrieben, was offenkundig dem Original entspricht. Es braucht – und damit rede ich von mir – Geduld und Einfühlungsvermögen, um sich in das mit altbekannten Weihnachtsmelodien garnierte Werk hineinzufinden. Hier herrscht Symbolismus wie er im Buche steht. Autor Georgi versucht sich im Capriccio-Beiheft mit einer einiger Maßen erhellenden Inhaltsangabe. Dennoch ist zusätzlich die Lektüre des originalen Textes von Vollmoeller zu empfehlen, der über eine genaue Schilderung des stimmungsvollen Geschehens weit hinaus geht und ein literarisches Werk für sich bildet, was derzeit nur antiquarisch oder etwas versteckt im Netz zu finden ist, erschienen 1912 bei Bote & Bock in Berlin. Schade, dass der relativ kurze Text von Capriccio nicht übernommen, wenigsten aber verlinkt wurde.

.

Zu Humperdincks „Mirakel“: Karl Vollmöllers Vorlage „Das Wunder“/Cover/Wikipedia

Wer kennt Karl Vollmoeller? Dem ins Vergessen geratene Dichter begegnet man im Internet häufiger als anderswo. Einmal mehr bewährt sich dieses Medium, das ohne Bücherregale auskommt, als unerschöpfliche Informationsquelle. Der Algorithmus spült ständig Nachschub hervor. Einem umfänglichen Wikipedia-Artikel zufolge war Vollmoeller auch Archäologe, Philologe, Übersetzer, Rennfahrer, Flugzeugkonstrukteur, Unternehmer und Reformer des deutschen, europäischen und amerikanischen Theaters und zeitweise sogar Politiker. Als Pionier des Stumm- und Tonfilms wirkte er am Drehbuch des Blauen Engels nach dem Roman von Heinrich Mann mit, der Marlene Dietrich schlagartig bekannt machte. Er stammte aus Stuttgart und starb in Los Angeles. Im Berlin der 1920er Jahre erwarb er sich den Ruf eines stadtbekannten Dandys. Anwerbungsversuchen der Nationalsozialisten entzog er sich durch Emigration. „Vor seiner Auswanderung aus Europa lebte Karl Vollmoeller bis 1938 im Palazzo Vendramin in Venedig, jenem Anwesen, in dem Richard Wagner am 13. Februar 1883 seine Lebensbahn beendet hatte“, ist ergänzend im Booklet-Text zu lesen. Fotos seines fürstlichen Appartements (Gettyimages) lassen an die weitläufigen Zimmerfluchten eines Palastes denken. Wie Wagner schrieb auch Vollmoeller seinen Parsifal (Parcival) – allerdings in Gedichtform, der den Ruhm des jungen Dichters begründete.

.

Zu Humperdincks „Mirakel“: Der Textdichter Karl Vollmoeller 1942 in Los Angeles / Wikipedia

Das Mirakel-Motiv durchzieht zyklisch mehrere seiner Werke und erfährt durch Humperdinck eine wirkungsvolle musikalische Illustration. Da haben sich beide Zeitgenossen gesucht und gefunden.

Am ehesten lässt sich das als Pantomime angelegte Mysterienspiel noch dem Ballett vergleichen. Das Geschehen wird weder sprechend noch singend dargestellt. Vielmehr gibt es nur das „detailreiche Libretto mit zahlreichen pantomimischen Szenenanweisungen“, ist im Booklet zu lesen, wo sich lediglich die Texte finden, die tatsächlich gesungen werden, doch nicht eigentlich zur Handlung beitragen. Vollmoeller selbst hat sie der Buchausgabe unter der Überschrift „Gesänge“ separat als Anhang angefügt. In der Capriccio-Aufnahme übernehmen zwei Solistinnen – die Sopranistin Sophie Klußmann und die aus dem Chor tretende Mezzosopranistin Josette Micheler – die vornehmlich betrachtenden und kommentierenden Aufgaben, nicht selten gemeinsam mit dem Rundfunkchor Berlin und dem Kinderchor des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums Berlin. Beide Chöre sind – wenn man so will – die eigentlichen vokalen Hauptakteure. Sie werfen sich mit einer Ernsthaftigkeit und Professionalität auf das gewiss auch ihnen bislang völlig unbekannte Stück, was großen Eindruck hinterlässt. Dass die Produktion insgesamt so stimmig wirkt, geht auch auf das Zusammenspiel mit dem glänzend aufgelegten Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Steffen Tast zurück. Dieser Dirigent hat für den spätromantischen Wohlklang die richtige Hand und reduziert ihn nicht, wo er sich ausladend in immer neuen Steigerungen gefällt. Tast bringt Humperdinck-Erfahrung mit. Bei Capriccio hatte er bereits die Schauspielmusik zum Weihnachtsmärchen Der blaue Vogel eingespielt und auch an einer neuen Textfassung mitgearbeitet. Mögen noch mehr Projekte folgen.

.

Zu Humperdincks „Mirakel“: Engelbert Humperdinck wurde als Katholik getauft, trat aber 1914 aus der Kirche aus. Die Gründe sind nicht bekannt. /Wikipedia

Und wie geht nun die Geschichte vom Wunder weiter? In einem dramatischen Zwischenspiel, das zahlreiche Akteure auf wechselnden Schauplätzen bevölkern, werden die junge Nonne und ihr Ritter ein Paar. Doch eine Schar wilder Jäger überwältigt den Ritter und zwingt Megildis, um das Leben des Geliebten zu tanzen. Immer neuen Prüfungen wird sie ausgesetzt. In Person eines trotzigen Raubgrafes taucht plötzlich der „Herr des Waldes“ mit seinen Jägern auf, die den Ritter niederstrecken und die Nonne als Beute verschleppen. In ihrer Burg angelangt, ergötzt sich die trunkene Gesellschaft an Tänzen, zu denen sie abermals gezwungen wird. Der Königssohn, der beim Grafen um Unterkunft nachgesucht hatte, ist von Megildis ebenfalls hingerissen und beansprucht sie für sich. Streit entbrennt, der durch ein Wettspiel entschieden wird, bei dem der räuberische Graf alles verliert, zuletzt auch sein Leben. Noch bevor der Prinz mit dem Mädchen das väterliche Schloss erreicht, ist der undurchsichtige Spielmann, der – wie es bei Vollmoeller in verdrehter Anspielung auf Goethes Mephistos heißt – „stets das Gute will und das Böse schafft“, schon vor Ort. Geschäftig berichtet er dem alten König von den Streichen des übermütigen Sohnes. Der greift entschlossen ein indem er sich schützend vor die unglückliche Megildis stellt. Der Sohn aber will von dem Mädchen nicht lassen und richtet maskiert aus der Gruppe seiner Gefährten heraus den Dolch gegen den Vater. Im letzten Moment ist der Spielmann zur Stelle, bringt die Waffe an sich und drückt sie dem König in der Hand. Die Maske fällt, der alte König erkennt in dem Getöteten den eigenen Sohn und vesinkt in Wahnsinn. Megildis wird öffentlich vor Gericht gestellt. Doch ein Richter nach dem anderen weigert sich, den Stab über sie zu brechen. Auch das auf dem Markplatz versammelte Volk wird von der Schönheit und Anmut der Angeklagten ergriffen. Selbst der irre König sinkt betend vor ihr in die Knie.

Abermals schlägt die Stimmung um. Zur Melodie der Leidenschaft, die der Spielmann auf seiner Pfeife anstimmt, taumeln die Massen orgiastisch (bei Vollmoeller heißt es „wilder Orgasmus“) durcheinander und bedrängen Megildis. Landsknechte bemächtigen sich ihrer und führen sie unter schimpfenden Gebärden fort. Ein neugeborenes Kind im Arm bricht sie im Schnee auf dem nahen Elfenhügel zusammen. Von Ferne ertönen eine Klosterglocke und ein Kinderlied: „O König der Ehren, Herrscher der Heerscharen, du ruhst in der Krippen im Erdental.“ Megildis richtet sich empor. In der Maske des Todes führt der langsam schreitende der Spielmann den schattenhaftem Zug ihre Liebhaber an – den Ritter, den Graf, den Königsohn, den König und alle anderen Namenlosen, die sie besaßen. Ganz nah und deutlich sind nun Glocken, singenden Kinder und Nonnen zu hören. Ein warmer Schein wie aus einer hellen Weihnachtskirche fällt auf den Schnee. Mit ihrem Kind eilt Megildis dem Licht entgegen. Damit schließt das an Ereignissen und Wendungen reiche Zwischenspiel.

Zu Humperdincks „Mirakel“: Probenfoto zur Uraufführung am 23. Dezember 1911 im Londoner Olympia-Theater / Wikipedia

Im Innern der Klosterkirche spielt der finale zweite Akt. Noch steht der Altar leer. Weihnachten ist gekommen, die Kinder eilen singend herbei und werden reich beschenkt. Die Nonnen flehen die Mutter Gottes an, in dieser Nacht zurückzukehren – nichtsahnend, dass sie in Gestalt der entflohenen Sakristanin die ganze Zeit unerkannt unter ihnen weilte. Nachdem sich die Schwestern zurückgezogen haben, ist die Heilige im Begriffe, ihren angestammten Platz wieder einzunehmen als sich das Portal von selbst auftut. Auf der Schwelle liegt die im Schneegestöber hingesunkene Megildis, ihr totes Kind in den Armen. Noch einmal belebt sich das Gnadenbild der Madonna und hebt das tote Kind zu sich empor. Alle Glocken beginnen feierlich zu läuten. Aufgeschreckt eilen die Nonnen herbei, finden ihre Sakristanin auf dem Boden liegend und das Wunderbild wieder an seinem Platz. In diesem feierlichen Augenblick wird von draußen dreimal an das Tor geklopft. Mit höhnischem Gelächter lässt sich der Spielmann vernehmen. Megildis will entfliehen, wirft sich aber endlich vor dem Altar mit der Madonnenfigur nieder. In das dämonische Lachen mischen sich himmlische Gesänge. Eine einzelne Stimme verkündet die Gnade. Rote Rosen fallen herab und bedecken Schwestern und die ganze Kirche. Das Mysterienspiel ist zu Ende.

.

Zu Humperdincks „Mirakel“:  Die italienische Schauspielerin Maria Carmi als Madonna in der Uraufführung. Sie war Karl Vollmoeller verheiratet und spielte die Rolle auch im gleichnamigen Stummfilm von Max Reinhardt. / Wikipedia

Uraufgeführt wurde Das Mirakel am 23. Dezember 1911 in der Londoner Olympia Hall, die damals einer der weltweit größten Spielstätten war und rund  zehntausend Besucher fasste. Die Inszenierung besorgte Max Reinhardt. Der aus Österreich stammende Theaterregisseur hatte bereits in Berlin seine Neigungen zu spektakulären Ausstattungen erfolgreich ausgelebt. Dass die Wahl auf London fiel, dürfte auch dem Impresario Charles B. Cochran geschuldet gewesen sein, wie aus der faktenreichen Vollmoeller-Monographie von Frederik D. Tunnat hervorgeht, die 2011 in der Edition Vendramin erschien (ISBN 978-1-46377-572-8). Cochran verfügte über weitreichende Verbindungen und gilt als einer der Erfinder von großen Revuen. Mit seinen Erfahrungen stand er für den finanziellen Erfolg, der sich laut Tunnat auch üppig einstellte. Mehrere Quellen sprechen übereinstimmend von zweitausend Darstellern, Sängern, Tänzern und Statisten, hundertfünfzig Chorsängern und zweihundert Musikern im Orchester, welches teils auch vom Humperdinck selbst geleitet wurde. Auf eine Million Dollar sollen sich die Produktionskosten belaufen haben. Wie im Booklet zu lesen ist, machten Deutschland- und europaweite Tourneen in den Jahren 1912 bis 1914 das Werk immer bekannter „sogar noch während des Ersten Weltkriegs im neutralen Ausland (Schweden, Schweiz). 1924 hatte eine Neubearbeitung (ohne die Mitwirkung des 1921 verstorbenen Humperdinck) in New York Premiere, das Stück lief das ganze Jahr lang am Broadway, wurde von 1925 bis 1931 noch viele Male in Nordamerika, in Salzburg, Deutschland, Hollywood und noch einmal in London gezeigt“.  Bereits 1912 hatte Reinhardt den Stoff auch verfilmt. Bei youtube kann dieser Stummfilm fast vollständig angeschaut werden. Trotz der technisch sehr bescheidenen bewegten Bilder kann man sich eine musikalische Untermalung mit Humperdincks Musik vorstellen (der Tonfilm setzte sich erst zehn Jahre nach seinem Tod durch).

.

Zu Humperdincks „Mirakel“: Theatermann Max Reinhardt (hier bei den Aufnahmen zum „Sommernachtstraum“/Berliner Stadtmuseum

Mit dem Mirakel hatte Humperdinck die Form der herkömmlichen Schauspielmusik verlassen und war – freilich ungewollt – in die Welt der Filmmusik vorgestoßen. Von einem „Wegbereiter der Filmmusik“ spricht denn auch Matthias Corvin in seinem 2021 bei Schott erschienen einen Buch „Märchenerzähler und Visionär“ (ISBN 978-3-95983-619-7), in dem auch Das Mirakel gebührend abgehandelt wird. Bei der Uraufführung war dem Stück kein ungeteilter Erfolg beschieden, wie sich im Buch von Tunnat nachlesen lässt. Der Premierenabend sei nicht ausverkauft gewesen.

Während sich englische und amerikanische Kritiker vorwiegend begeistert zeigten, konnten deutsche Pressebeobachter mit „der neuartigen Form der Inszenierung“ nicht viel anfangen. Zitiert wird Rudolf Kommer („Deutsche Montags-Zeitung“ vom 8. Januar 1912) auch mit Seitenhieben gegen den Regisseur Reinhardt, der sich „auf dem Mückentanz von der Kunst zum Geschäft“ befinde. Es sei aber „groß“, wie dieser Mann „zweitausend Leibern alle Nuancen seines Willen aufzwingt. Und doch war es eine Kolportagepantomime“. Emil Ludwig („Schaubühne“, aus der die „Weltbühne“ hervorging), vermerkt lakonisch, dass „Professor Humperdinck“ die Musik „gemacht“ hat. „Als die Kinder alte deutsche Weihnachtslieder a capella sangen, wurde man dem Komponisten dankbar.“ Rüdiger Winter