Joachim Raffs „Samson“

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Das Alte Testament ist nichts für schwache Nerven: da werden zerteilte Jungfrauen per Kurier verschickt, junge Männer im vermeintlich heiligen Krieg geopfert und hin und wieder ganze Völker eliminiert. Die Episode um den Israeliten Samson bildet in Sachen Mord und Totschlag keine Ausnahme. Samson hat sich in Delilah verliebt, eine Frau aus dem Lager seiner Widersacher – eine eher ungünstige Fügung, die ihn seine Frisur, sein Augenlicht und später alle Beteiligten das Leben kosten wird.

In den 1850er Jahren griff der Komponist Joachim Raff das Thema auf und machte daraus eine Oper mit dem Titel Samson. Anders als der spätere Camille Saint-Saëns schrieb er auch das Libretto. Wenn Raffs Samson auch mindestens so blutig ist wie die Passage aus dem Buch der Richter, so ist sein Samson doch reicher an zahlreichen Szenen mit tiefem und innigem Gefühlsausdruck – weniger ein religiöser Akt (übrigens in dieser Fassung ohne den Mythos des Haarschnitts), mehr ein menschliches Drama. Sieben Jahre lang hat Raff an seinem Samson gearbeitet. Entstanden ist eine groß angelegte Komposition mit abwechslungsreicher Orchestrierung, feiner Linienführung, einigen beeindruckenden Massenszenen und einer immer wieder spürbaren Affinität zum Musikdrama à la Richard Wagner. Trotz der unbestreitbaren Anziehungskraft des Werkes verzögerte sich die Uraufführung: 2022 wurde sie am Nationaltheater in Weimar uraufgeführt.

Das ausführliche Libretto der Ersteinspielung der Oper liefert eine Erklärung für diese verspätete Premiere. Übrigens enthält es auch das Libretto in drei Sprachen – sehr schön! Henrike Leissner

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Selten oder nie gespielte Opern haben ja für Opernfreunde stets ihren Reiz, zumal wenn sie vom Plot her Parallelen aufweisen: Es ist stets spannend zu sehen, wie das die Kollegen gemacht haben. Aber das Bessere ist eben auch leider der Feind des Guten oder des Soliden. Und es gibt da ja auch die Frage, warum ein Werk keinen Erfolg hatte oder warum es nicht zur Aufführung kam. Nicht alle Ausgrabungen lohnen sich, zumindest nicht für einen laufenden Theaterbetrieb, eher für Festivals. Oder die CD, wie nun hier.

In den 1850er Jahren beschäftigte sich der Komponist mit dem Thema des biblischen Samson, bei dem ich als Zuhörer weniger der Verführung sondern eher der Langeweile erliege, denn die neue Aufnahme bei der Schweizer Fonogramm – so verdienstvoll sie sicher ist – kann in keiner Weise mit Saint-Saens´ Bauchtanz-Oper mithalten (diese noch im Titel durch die Dame selbst erweitert). Bei Raff liegt sicher der Akzent auf dem allzumenschlichen Gefühl, auf alemannischer Befindlichkeit, wenngleich es da auch um Mord und Todschlag geht. Und natürlich ist Raff der Komponist des Kraftvollen ebenso wie des Zarten, der intimen Szenen ebenso wie der monumentalen kriegerischen Auseinandersetzungen (wie soll man das inszenieren?), aber im schweizerischen Bern verbleibt alles eher im Händelschen Oratorien-Fahrwasser, bleibt unüberzeugend, akademisch, papiern. Und eben im Gesamteindruck langweilig.

Dem arbeitet die neue Aufnahme nicht entgegen. Sicher, Philippe Bach am Pult des Berner Symphonieorchester, dem Chor der Bühnen Bern (toll!) und der Protagonisten macht einen wirklich guten Job und versucht uns von der Klangfülle der Komposition zu überzeugen – aber da ist mir zu wenig musikalisches Backing, zu wenig Rückhalt für die Protagonisten, die doch angeblich in elementaren Situationen aufeinandertreffen.

Und eben diese sind das Defizit der Aufnahme, denn einen so stentoralen Samson hat man seit Jon Vickers nicht mehr erlebt (und seiner kam aus Frankreich): Magnus Virgilius und Michael Weinius als Samson und Micha lassen mich jede Minute zum Lautstärkeregler greifen, um einer Kündigung meiner Wohnung vorzubeugen. Das ist einfach zu forciert, zu sehr unter Druck, zu unschön im Ton, Altes Testament oder nicht. Und es wird in der Dynamik schlicht zu monochrom. Auch Bariton Robin Adams als Abimelech muss sich den Vorwurf einer recht grauen, unscharfen Stimmführung gefallen lassen (meine Meinung sag ich mal gleich prophylaktisch). Das ist alles nicht spannend, nicht ereignisreich.

Der Dirigent Philippe Bach/ Wikipedia

Die Dame selbst, Olena Tokar, verwechselt Sinnlichkeit mit Kraft. Jeder Samson würde aus seiner Trance erwachen und ihr die Schere aus der Hand schlagen. Das ist mir zu viel Vibrato, zu robust der Ton, wenngleich sie von den Dreien zumindest um Zärtlichkeit und bewegende Momente bemüht ist. Auch ihr Schluss macht was her, in der Tat, selbst wenn man bei den hohen Noten etwas in Deckung geht.

Die übrigen sind funktional im großen Ganzen, das mich ab CD2 mehrere Teepausen einlegen ließ. Bei aller Wertschätzung der ganz sicher kostspieligen, mit Schweiß und Ausdauer verbundenen Bemühungen diese seltene Oper eines wenig bekannten Komponisten ans Tageslicht zu bringen und eben diesem Komponisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Mehr als akademisches Interesse kann ich der neuen Aufnahme nicht entgegenbringen. Pardon. Stefan Lauter

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Dazu auch ein Text zum Komponisten und Werk von Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, anlässlich der Uraufführung in Weimar 2022: Mit der Uraufführung des Lohengrin unter dem Taktstock von Franz Liszt am 28. August 1850 im Weimarer Hoftheater begann der Siegeszug der Wagnerschen Bühnenwerke im deutsch-sprachigen Raum und bald auch darüber hinaus. Der Komponist des bahnbrechenden Werkes war zum Zeitpunkt der Entstehung jedoch schon einige Schritte weiter: In seinen theoretischen Schriften, die der Exilant von seinem neuen Wohnort Zürich aus in die Welt entließ, entwirft er das «Musikdrama», das sich kategorisch von der zu überwindenden, kommerziellen Oper unterscheiden soll. «Wie hast du’s mit Wagner?» wurde bald zur musikästhetischen Gretchenfrage der Zeit. Zu den gründlichsten Kennern von Wagners Werk und Theorie in dieser Sattelzeit der Geschichte des Musiktheaters gehört der damals knapp 30-jährige Lehrer und autodidaktische Komponist Joachim Raff, der von 1850 bis 1856 in Weimar als Assistent von Franz Liszt wirkte. Ermuntert durch den Erfolg der Weimarer Uraufführung seiner grossen historischen Oper König Alfred am 9. März 1851 machte sich Raff sogleich an sein zweites Bühnenwerk, Samson. In einem Brief an seine Stuttgarter Freundin Kunigunde Heinrich charakterisiert Raff das Werk folgendermassen: «Was nun meine neue dramatische Arbeit anlangt, so verlasse ich darin den Boden der Oper, auf dem der ‹König Alfred› noch steht, gänzlich, und stelle mich aufs Gebiet des von Wagner angebahnten Musikdrama’s; auf welchem ich übrigens in einer von jenem Componisten und Dichter verschiedenen Weise zu arbeiten gedenke oder vielmehr im Begriffe bin.»

Der Autor: Severin Kolb, MA und Leiter der schweizerischen Joachim Raff-Gesellschaft/ Facebook

Raff zeigt sich in seinem Schaffen als Komponist, der stets versucht, die Positionen seiner Vorgänger zu einer Synthese zu amalgamieren. So ist auch Samson ein Versuch, Wagners Schaffen mit der Grand Opéra, insbesondere mit Giacomo Meyerbeers überaus erfolgreichen Werken, zu versöhnen, wie schon auf den ersten Blick auf die Einteilung des Werks in drei Abteilungen und die fünf Akte der französischen Tragödie sichtbar wird. Bei der Lektüre von Raffs parallel zum Samson entstandener Schrift Die Wagnerfrage, der ersten Wagner-Monographie überhaupt, kristallisiert sich heraus, in welchen Belangen Raff an Wagners Theorie und an Lohengrin (in Ermangelung an bereits existenten Musikdramen) anknüpfte, und in welchen er andere Wege ging.

Die Musik soll auch für Raff im Dienst des Dramas stehen, dessen Sujet er zwar der Bibel entnimmt, aber realistisch wie einen säkularen historischen Stoff behandelt: Parallel zur Ent-stehung des Werks wollte sich Raff mit einer Doktorarbeit über den Samson-Stoff an der Universität Jena «in der Gelehrtenwelt hinlänglich accreditieren». Der Plan scheiterte. Doch die Arbeit war nicht vergebens, denn Raff legte höchsten Wert auf eine historisch fundierte, re-alistische und enorm detailgetreue Umsetzung von Bühnenbild und Kostümen. Die Gestaltung des Titelhelden ist zeittypisch: Samson erscheint in Raffs eigenhändig verfasstem Libretto wie Wagners Rienzi oder Raoul de Nangis aus Meyerbeers Les Huguenots als Spielball des Schicksals, nicht als dessen Schmied. Zwischen den einzelnen Akten vergeht einige Zeit, so dass die Anlage des Werks Züge eines Stationendramas trägt, zumal Raff mehrfach an die biblische Passionsgeschichte anspielt.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/ Foto Candy Welz

Wie in der Grand Opéra üblich (auch Wagner geht im Lohengrin keine anderen Wege), kombiniert Raff eindrückliche Massenszenen und eine intime Privathandlung, die an den widrigen Umständen letzten Endes scheitert und zum Untergang der beiden Hauptprotagonisten führt. Der dramatischen Anlage des Werks entsprechend stehen sich in der Partitur grossbesetzte Szenen (sowohl der erste Akt mit dem eingängigen Bittgesang der Philister im Zentrum oder der finale Akt mit dem umfangreichen Ballett, das ebenfalls auf die Grand Opéra verweist, sind gross angelegte Massenszenen) und psychologisch subtil gestaltete Solonummern und Duette gegenüber. In Bezug auf die Dramaturgie folgt Raff Wagners Forderung zur Auflösung von Einzelnummern in ein größeres Gefüge, ohne jedoch selbst die Unterschiede zwischen Rezitativ und Arie zu nivellieren. Die arienartigen Gebilde sind zumeist kurz, verzichten auf viel Textwiederholung und bieten wenig Gelegenheit zur Demonstration von vokaler Virtuosität – obwohl die Partitur hohe Ansprüche an die Interpretierenden stellt. Wäh-rend sich die beiden Soloszenen von Abimelech (2. Akt) und Samson (3. Akt) an der traditionellen, aus zwei kontrastierenden Teilen bestehenden Scena orientieren, lösen sich die Duette in kleingliedrigere Einzelteile auf. In dieser Hinsicht ragt das Duett des 4. Akts hervor, der Kerkerszene mit der Wiederbegegnung von Samson und Delilah, in der die Liebenden im-mer wieder neue Affekte durchleben. Raffs Tonsprache verbleibt trotz immer wieder kühnen Modulationen, chromatischen Einfärbungen und Ausflügen in ferne tonartliche Regionen weitgehend diatonisch. Er gliedert die Vertonung seiner Verse zudem weitgehend in jene quadratische syntaktische Taktgruppen, die Wagner in seinen Musikdramen auf der Suche nach der «endlosen Melodie» immer mehr aufsprengt. Dies hängt nicht zuletzt mit dem auf traditionelle Weise gereimten Libretto zusammen: Raff schätzte Wagners Dichtung des Lohengrin, verwarf aber dessen vor allem in Oper und Drama angebahnte Emanzipierung des Stabreims, der den Ring des Nibelungen prägt.

Zu Raffs „Samson“: Franz Liszt am Klavier in Weimar/ Postkarte/ Weimar-Lese

Raff nutzt die Möglichkeiten des Komponierens für Orchester auf der Höhe der Zeit: Mehrere Leitmotive setzt er auf subtile Art und Weise ein, jedoch nicht annähernd in dem Ausmaß wie Wagner im Ring des Nibelungen: (Samson-Herausgeber Volker Tosta schreibt dazu: Raff verwendet das gleiche Orchester wie Wagner im „Lohengrin“, also die Kräfte, die er am Hoftheater Weimar erwarten konnte. Er verwendet damit im „Samson“ die größte Orchesterbesetzung aller seiner Werke. Mehr noch als Wagner setzt Raff aber auf ein kammermusikalisches Klangbild mit zahlreichen Instrumentalsoli. Ein volles Orchestertutti und entsprechende Lärmentfaltung ist äußerst selten.) Während das Samson-Motiv, das vielleicht nicht zufällig dem «Siegfried/Schwert»-Motiv gleicht, die Präsenz des Helden sogar noch dann andeuten kann, wenn sich dieser gar nicht auf der Bühne befindet, wird der zweite Akt durch ein ahnungsvolles Motiv geprägt, das mit Abimelechs Intrige verknüpft ist – in der Verwendung nicht unähnlich wie das «Frageverbot»-Motiv aus Lohengrin. Ausgedehnte instrumentale Passagen – zu einem Vorspiel existiert bloß eine Skizze – verwendet Raff in erster Linie, um Szenerien zu charakterisieren, so das mit «Ländliches» überschriebene pastorale Vorspiel zu dritten Akt oder das die Kerkerszene einleitende düstere Fugato des vierten Akts. Ersteres er-scheint im vierten Akt als Erinnerungsmotiv. Steht die Instrumentalmusik der ersten vier Akte weitgehend im Dienst des Dramas, so zeigt sich Raff im die Handlung retardierenden Ballett auch als geschickter Komponist von geschlossenen Marsch- und Tanzformen. In den meisten Szenen dient das Orchester zur traditionellen Begleitung oder der Charakterisierung der Stimmung, doch in Samsons Arie des dritten Akts erweist es sich besonders deutlich als «wissendes Orchester», das durch Molleintrübungen auf Samsons Selbsttäuschung hinweist und dessen Aussagen unterminiert. Da Raff schon als feinsinniger Instrumentator gelobt wurde, ehe er überhaupt die Gelegenheit hatte, eigene Orchesterwerke zu hören, so überrascht es nicht, dass auch Samson zahlreiche faszinierende Einfälle enthält.

Zu Raffs „Samson“: Wagners Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld/ hier mit Ehefrau Malwina als Isolde auf einem Foto von Albert, sollte die Titelpartie singen/ Wikipedia

Zwar zeigten sich so eminente Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Hans von Bülow und, der erste Sänger von Wagners Tristan, von dem Stück begeistert. Zu einer Aufführung kam es bis heute jedoch nicht. Scheiterte eine Produktion in Darmstadt an «Delilahmangel», so lag es in Weimar zunächst an Engpässen in der Spielplangestaltung. Wegen der sabotierten Aufführung der von Liszt protegierten Oper Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius legte dieser sein Amt als Kapellmeister im Dezember 1858 nieder und begrub dadurch die Hoffnung, den Samson in Weimar zur Aufführung zu bringen, auf längere Zeit. In den frühen 1860er Jahren versprach Raff seinen Freunden Hans von Bülow und Lud-wig Schnorr von Carolsfeld, das Werk wieder in Angriff zu nehmen. Nach Schnorrs unerwartetem Tod im Alter von bloß 29 Jahren gab Raff das Werk 1865 erneut auf. Albert Schäfer, der im Jahre 1888 das erste Verzeichnis der Werke Raffs herausgab, berichtet jedoch, dass der Komponist in seinem Todesjahr noch mehrfach davon gesprochen habe, den Samson zu überarbeiten, um ihn endlich aufgeführt zu sehen. Nach Raffs Tod geriet das Werk, das so früh wie kaum ein zweites auf das im Entstehen begriffene Musikdrama Wagners reagierte, weitgehend in Vergessenheit (…). Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, gab uns 2022 seinen Text anlässlich der Uraufführung der Oper am Nationaltheater Weimar. Mit herzlichem Dank an den Autor.

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Und der Herausgeber der musikalischen Edition des Samson, Volker Tosta, schreibt dazu: Es kommt fast einem Wunder gleich, wenn ein Herausgeber/Verleger es einmal schafft, ein Theater für ein vergessenes Werk zu begeistern. Normalerweise ist man dort gerne autark, auch wenn es darum geht Randrepertoire zu erkunden. Im Falle des Musikdramas in fünf Aufzügen Samson von Joachim Raff (1822-1882) mag geholfen haben, dass der Komponist in diesem Jahr 200 Jahre alt wurde, aber der Enthusiasmus, mit dem die Verantwortlichen des Deutschen Nationaltheaters Weimar den schon 2019 zum ersten Mal herausgegebenen Klavierauszug des Stücks begrüßten, war doch sehr bemerkenswert.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/Foto Candy Welz

Die hohe Meinung von dem Werk, die sich jetzt bei den Proben unter den Beteiligten noch gesteigert hat, lässt die Überzeugung wachsen, dass sich der Funke bei der Premiere am 11. September 2022 auch auf das Publikum in Weimar überträgt. Es ist vielleicht DIE Ausgrabung der vergangenen Jahre. Schon Hans von Bülow, enger Freund Joachim Raffs, schrieb diesem: „Lass den ‚Samson‘ nicht liegen! Dass der einschlägt, ist mir sicher.“ Aber Raff ließ den 1851 begonnen und 1857 fertiggestellten „Samson“ tatsächlich liegen. Da halfen auch die flehentlichen Bitten Ludwig Schnorr von Carolsfeld (dem ersten Tristan) nichts, der das Werk in Dresden herausbringen wollte. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Vermutlich war Raff, der im Parteienstreit zwischen Neudeutschen und Traditionalisten eine neutrale Position einnehmen wollte, dieses Werk doch zu nahe an Wagner, zu modern geraten.

Volker Tosta, Herausgeber der Edition Nordstern/ Link

Das DNT schreibt im Flyer zu Produktion: „Die Musik Raffs erinnert an Wagner, ist jedoch kühner in der Harmonik und klassizistischer in ihrer Durchlässigkeit.“ Man kann noch hinzufügen, dass sie kontrapunktischer ist und die traditionellen Formen immer wieder durchscheinen lässt. Raff konzipierte das Werk, zu dem er auch das Libretto selbst verfasste, als Musik gewordene Manifestation seiner umfangreichen Schrift „Die Wagnerfrage“, mit der er 1856 ordentlich Wirbel im Kreise der Neudeutschen entfachte. Die 1850 erfolgte Premiere des „Lohengrin“, bei er selbst tatkräftig Liszt assistierte, waren Raff Anlass zu Lob aber auch Tadel an Wagners Werk. So erscheint der „Samson“ als Melange zwischen deutschem Musikdrama und französischer grand opéra. Dabei ist das reichbesetzte Orchester oft kammermusikalisch reduziert und gibt der vokalen Linie ungeschmälerte Präsenz. Bülow schreibt: „…das (dramatisch)-Gesangliche hat mich fast durchgängig im höchsten Grade überrascht. Reiche, schöne – ‚blühende‘ – Melodik – ungeheuer sangbar – ungeheuer dankbar!“

Zu Raffs „Samson“: Der Dirigent Hans von Bülow/ Wikipedia

Obwohl Raffs Verhältnis zu Liszt durch die Nachwirkungen der „Wagnerfrage“ getrübt war, bemühte sich dieser um eine Uraufführung des „Samson“ in Weimar, verlor dort aber bald seine Stellung und konnte das Projekt nicht weiter verfolgen. Erst 1870 gab es wieder die Premiere einer Raff Oper in Weimar. Das war aber dann die komische Oper „Dame Kobold“, mit der Raff allen neudeutschen Einflüssen abschwor und seine Ambitionen für das ernste Musikdrama für immer einstellte. Es sollten noch drei weitere Opern folgen, alle von heiterem oder lyrischem Charakter. Ausgerechnet in Weimar erfolgte dann 1877 die Premiere eines Konkurrenzwerks über den gleichen Stoff: Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Die Riege der handelnden Personen in beiden Opern ist durch die gemeinsame Vorlage (AT: Buch der Richter) natürlich ähnlich, aber die Entwicklung der Charaktere und ihre Motivation ist deutlich verschieden. Besonders bemerkenswert ist, dass bei Raff Religion und Metaphysik keine Rolle spielen. Alles ist menschlich, politisch und diesseitig. Auch in seiner tiefsten Agonie kommt Raffs Samson der Ausruf „Gott“ nicht über die Lippen. Frappant ist auch die Parallele zwischen dem großen Liebesduett zwischen Samson und Delilah  im dritten Akt und der dramaturgisch ähnlichen gebauten Szene in Wagners „Tristan und Isolde“, die beide durch Eindringlinge von außen jäh beendet werden. Mit Genreszenen hält sich Raff in den ersten vier Aufzügen zurück, um dann aber im fünften Aufzug ein opulentes Fest der Philister mit großem Ballet zu zeigen. Auch hier gibt es Orientalismen, aber nicht so auffällig wie bei Saint-Saëns, der den Vorteil hatte, derartige Musik selbst gehört zu haben. Volker Tosta/ Nordstern

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Die Autoren: Severin Kolb (*1988), ist M. A., Studium der Musikwissenschaft, Religionswissenschaft und Hermeneutik an der Universität Zürich (Abschluss 2016), wo er nach einer Masterarbeit über Raffs Sinfonik über das Verhältnis von Raff zu Richard Wagner dissertiert. Seit 2016 ist er im Vorstand der Joachim-Raff-Gesellschaft und wirkt als wissenschaftlicher Leiter des Joachim-Raff-Archivs. (Quelle arbido)

Der Musikforscherr Volker Tosta von der Edition Nordstern ist der Herausgeber vieler Aufführungspartituren vergessener Opern, so zuletzt der von Meyerbeers Feldlager in Schlesien an der Oper Bonn und so auch des Samson von Raff nun am Nationaltheater Weimar im September 2020, zu dem wir dann eine längere Präsentation planen und die Aufführung auch besprechen werden. Das Vorspiel zum 3. Akt ist in einer Aufnahme unter Roland Kluttig auf youtube zu hören.  G. H.

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Abbildung oben: Samson et Dalilah von José Echenagusia Errazquin/Ausschnit.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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