Enchantement doublé

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Desmarests Circé zum Zweiten: Höchst ungewöhnlich ist die Veröffentlichung von Henry Desmarests Circé bei cpo (555 594-2, 3 CDs), hatte doch das Label Château de VERSAILLES diese Tragédie en musique etwa ein halbes Jahr zuvor herausgebracht (die Rezension s. nachstehend). Eine zweite Aufnahme bei einer solchen Rarität ist ohnehin ein Wagnis. Die Einspielung entstand im August 2022 in Bremen als Koproduktion des Boston Early Music Festival und radiobremen. Wenn sie auch nicht das Siegel der Erstveröffentlichung tragen kann, so doch das der ersten kompletten Aufnahme, ist sie immerhin etwa 45 Minuten länger als die Vorgängerin bei VERSAILLES unter Sébastien d´ Hérin. Auf diesen Seiten wurde sie bereits besprochen, so dass wir jetzt auf eine Inhaltsangabe verzichten können.

Das Boston Early Music Festival Orchestra wird geleitet von Paul O´Dette und Stephen Stubbs, die durch die Wiedereinfügung mehrerer Tänze (Menuet, Gigue, Bourrée, Gavotte, Canarie, Sarabande, Rondeau, Ritournelle, Loure, Passe-pied, Rigaudon) die Balance zwischen orchestralen und vokalen Teilen wiederherstellen. Das Orchester musiziert sehr kultiviert mit eher moderaten Tempi und originellen instrumentalen Effekten. Der Boston Early Music Festival Chorus nimmt seine vielfältigen Aufgaben (besonders im Prologue als Götter und Nymphen) mit hörbarem Einsatz und hoher Gesangskultur wahr.

Die Besetzung wird dominiert von der Mezzosopranistin Lucile Richardot in der Titelpartie. Sie ist eine singende Darstellerin mit sehr persönlich timbrierter, eigenwilliger Stimme und reizt die Emotionen der Figur bis zum Äußersten aus. Besonders reizvoll ist ihre Färbung in der tiefen Lage, welche bis in die Contralto-Dimension reicht und ihrem Vortrag einen sinnlich-androgynen Hauch verleiht. Ihre Szene zu Beginn des 4. Aktes „Sombres Marais du Styx“, von der Windmaschine aufregend untermalt, deklamiert sie furios, was sich mehr und mehr zu wilden Ausbrüchen steigert. Die Stimme nimmt zuweilen einen hysterischen oder heulenden Ton an, der doch stets als Ausdrucksmittel eingesetzt ist. Ihre Interpretation gipfelt im 5. Akt mit einer veristischen Hasstirade („O Rage/ô douleur mortelle!“) und in der ausgedehnten Schluss-Szene („Ah! quelle rigueur extrême“), in der sie bei aller Raserei auch eine tragische Dimension erreicht.

Ihre Gefährtin Astérie gibt Teresa Wakim mit lieblichem Sopran. Sie liebt Polite (Douglas Williams mit resonantem Bassbariton), einer der Griechen, die von Circé in wilde Tiere verwandelt wurden. Beide können im 5. Akt endlich ihr Glück besingen („Enfin le juste Ciel a comblé nos désirs“). Der Bariton Jesse Blumberg ist ein markanter Elphénor, den Circé nicht verzaubert hat, da er ihr die geplante Flucht der Griechen verraten hatte. Da seine Liebe zu Astérie unerfüllt bleibt, scheidet er aus dem Leben. Diese seine Todesszene am Ende des 3. Aktes gestaltet er mit packender Intensität.

Circés Liebe gehört Ulisse (der Tenor Aaron Sheehan mit weicher, ausgewogener Stimme), doch hat sie eine Rivalin in Èolie (Amanda Forsythe mit delikatem Sopran), die am Ende mit dem Helden vereint auf einem Schiff die Insel verlässt („Ne nous quittons jamais“). Gewaltiger Donner begleitet diese Szene und führt das Werk zu einem grandiosen Finale. Bernd Hoppe

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Und das Ganze bei Chateau de Versailles: Der Tod von Lully 1687 öffnete seinen Rivalen endlich die Türen der Pariser Opéra – neben Charpentier auch Henry Desmarest und seinen Werken, darunter die Tragédie en musique Circé. Das Libretto dieser 1694 in Paris uraufgeführter Oper stammt von Louise-Geneviève Gillot de Saintonge, einer Frau also, was höchst ungewöhnlich ist. Aber es gab in dieser Zeit auch eine Komponistin, Elizabeth Jacquet de la Guerre mit ihrer Oper Céphale et Procris, die gleichfalls 1694 ihre Premiere erlebte und vom starken Einfluss französischer Künstlerinnen in dieser Epoche zeugt.Zur Renaissance der französischen Barockoper trägt auch diese Neuveröffentlichung der Circé auf zwei CDs von Chateaux de Versailles bei, die im Januar 2022 in Versailles aufgenommen wurde (CVS085). Die Oper in einem Prologue und fünf Akten sowie Divertissements gemäß der französischen Tradition schildert die schicksalshafte Begegnung von Ulysse mit der Zauberin Circé  Diese ist gleich der Medea eine mythische Figur – eine leidenschaftliche, von Rache erfüllte Frau, die am Ende der Oper spektakulär ihre Insel zerstört, welche in den Fluten versinkt.

Für die vorliegende Einspielung war es ein Glücksfall, die renommierte französische Sopranistin Véronique Gens für die Titelrolle verpflichten zu können. Beim Auftritt im 1. Akt zeigt sie sich in wehmütiger Stimmung über die Freuden und Schmerzen der Liebe („Ah! que l’amour aurait des charmes“) und Gens gibt dieser Szene berührend melancholischen Anstrich. Spätestens im 4. Akt ändert sich der Tonfall, wenn Circé erkennen muss, dass sie Ulysse an ihre Rivalin verloren hat. „Bei „Sombres marais du Styx“ färbt Gens die Stimme dunkel und düster, die Diktion wird kantiger, aggressiver. Ihre großen Szenen am Ende des  letzten Aktes („Ô rage! Ô douleur  mortelle!“/„Ah! quelle rigueur extrème“) verdeutlichen Circés Ausnahmezustand mit einer Deklamation, welche in ihrer Heftigkeit und Wucht ihresgleichen sucht.

Nach dem Prologue, der wie üblich eine Huldigung an den französischen König darstellt, offenbart Circé ihrer Gefährtin Astérie (Caroline Mutel mit lieblichem, doch etwas unausgeglichenem Sopran) Zweifel an der Aufrichtigkeit von Ulysses Zuneigung, da sie von Elphénor (Nicolas Courjal mit resonantem, gelegentlich stark vibrierendem Bariton) vernommen hat, dass dieser die Insel verlassen will. Die Zauberin verwandelt Ulysses Gefährten in Monster und die Insel in einen Garten, in welchem sie ein Fest geben will. Ulysses Bitte, seine Gefährten zu befreien, will Circé als Zeichen ihrer Macht erfüllen. Ihre Rivalin in der Gunst Ulysses ist Éolie (Cécile Achille mit feinem, kultiviertem Sopran), der Ulysse bei einer Begegnung im Wald erneut Liebe schwört („Quand on aime tendrement“), was Elphénor belauscht und Circe verrät. Als Belohnung verspricht ihm die Zauberin die Hand von Astérie. Als diese sich weigert, begeht Elphénor Selbstmord. An seinem Grab will Circé den Namen ihrer Rivalin erfahren, doch wird ihr diese Auskunft von Elphénors Schatten verweigert. Rasend ruft sie die Geschöpfe der Unterwelt herbei und lässt Ulysse von Eumeniden verfolgen. Ihm und seiner Éolie übergibt Mercure eine Blume, welche die Gabe besitzt, Verzauberungen aufzuheben. Das rettet beide vor Circés letztem verzweifeltem Versuch, die Liebenden zu vernichten.

Neben Gens singt ein weiterer angesehener französischer Interpret – der Tenor Mathias Vidal als Ulysse. Er ist ein versierter Stilist im Repertoire des französischen Barock und überzeugt auch hier mit markanter Deklamation,  prononciertem Gesang und starker Emphase.

Das Ensemble Les Nouveaux Caractères leitet Sebastien d’Hérin, der das auf historischen Instrumenten musizierende Orchester 2006 gegründet hatte. Spezialisiert auf seltene Werke des Barock, lebt seine Einspielung von großer musikantischer Frische und künstlerischer Freiheit. Im Prologue zeugen die majestätische Ouverture, das Air pour les Jeux et les Plaisirs sowie Tänze wie Menuet, Gigue, Bourrées und Gavotte vom festlichen Anlass der Aufführung. Am Ende unterstreicht d’Herin mit orchestralem Aufruhr die dramatischen Vorgänge der Handlung mit dem Untergang der Insel. Den Esprit des französischen Barock trifft der Dirigent mit seinem Orchester in bewundernswerter Vollkommenheit (03.06.23). Bernd Hoppe

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.Foto oben: Still aus dem Film „Die Irrfahrten des Odysseus“ mit Kirk Douglas und Silvana Mangano, Italien 1954, Regie Mario Camerini/Die Nacht der lebenden Texte/Wordpress