Du bist wie eine menschliche Blume

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Seit seiner Uraufführung 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet dürfte  das „Mystère en cinq mansions composé en rhythme français“, dessen Aufführung selbst gekürzt etwa viereinhalb Stunden dauerte, nicht eben häufig aufgeführt worden sein. Ich erinnere mich nur an eine von Maurice Béjart verwaltete, ratlos lassende Aufführung 1986 an der Mailänder Scala mit Eric Vu-An als Sébastien. Dirigiert wurde die Aufführung von Sylvain Cambreling, der sich eine Neigung für das Stück bewahrte und es als Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, wo er 1999 die Nachfolge von Michael Gielen angetreten hatte, im Januar 2005 in Freiburger Konzerthaus aufführte. Die Aufnahme erscheint nun neuerlich; diesmal beim hauseigenen Label (SWR19149CD).

Das ehrgeizige Unternehmen des Dichters, Dandys und Ästheten Gabriele D’Annunzio brauchte Attraktionen. Die Figur des Heiligen Sebastian schrieb er für die Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, die in der Folge Aufträge an bedeutende Komponisten vergab, darunter Igor Strawinsky, der sich nicht scheute, sie als eine der dämlichsten Frauen der Kunstwelt zu bezeichnen. Der Choreograph Michel Fokine und der Ausstatter Léon Bakst, zwei Exponenten des Ballets Russes, waren Rubinstein durch ihre Petersburger Jahre vertraut. Punkten konnte D’Annunzio vor allem mit der Wahl der Musik, für die er Claude Debussy gewinnen konnte. Debussy stellte die Musik innerhalb kürzester Zeit, von Januar bis April, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten André Caplet her, insgesamt 17 Nummern von circa 50 Minuten Dauer. So entstand ein szenisches Gesamtkunstwerk, in dem Dichtung, Musik, Tanz und bildende Kunst miteinander verflochten sind und Schauspieler, Tänzer und Sänger eng zusammenwirken. Bald nach der Premiere waren Debussy und seine Schüler bestrebt, die Musik für den Konzertsaal zu retten, beispielswiese durch eine Orchestersuite.

Der Dirigent Inghelbrecht erstellte eine Konzertfassung mit einem zusätzlich zur Musik Debussys auf etwa 15 Minuten radikal gekürzten Text. Ebenso verfuhr Cambreling in Freiburg mit seiner 77minütigen Fassung, indem er der Musik Debussys Texte Martin Mosebachs entgegensetzte, die nicht unbedingt den Verlauf der Handlung wiedergeben. Die Musik führt, um den Titel des 2. Akts zu zitieren, in eine „Wunderkammer“, „La chambre magique“, in ein Reich altertümlicher Choräle, klarer Linien, raffinierter Schmerzensgesten, süßer Engelsgesänge und beschwörender Sanftmut, instrumental so kostbar austariert und abgehört, dass sich die exotisch mystische Atmosphäre unmittelbar einstellt. So sanftmütig Dörte Lyssewski sowohl die Erzählerin als auch den Heiligen gibt, lässt sich die der hybriden Anlage geschuldete Fremdheit und Steifheit im Zusammenspiel mit den Gesängen der himmlischen Chöre und der Zwillinge Markus (Dagmar Pecková) und Marcellianus (Nathalie Stutzmann), die auf glühenden Kohlen hingerichtet werden sollen, nicht überhören. Cambreling ist von großer Intensität in den zauberisch verinnerlichten ersten Akten, wo im zweiten Abschnitt das Lied der Erigone auffällt; Heidi Grant Murphy ist für himmlische Stimmen und seelenvolle Inbrunst zuständig. Ab dem dritten Akt am Hof des von Sebastians Schönheit verzauberten Kaisers Diokletian prunken Cambreling und das SWR Sinfonierochester Baden-Baden und Freiburg sowie das Collegium Vocale Gent mit der schillernden Prachtentfaltung, mit der Debussy das Leiden und Sterben Sebastians geradezu wollüstig ausstellt, auskostet, steigert und samten umkleidet. Kurz vor der Aufführung hatte der Pariser Erzbischof den Besuch der Aufführung verboten, da die Vermischung der Heiligenlegende mit dem erotischen Adoniskult und die Darstellung des Heiligen durch eine Frau als Beleidigung des „christlichen Bewusstseins“ angesehen wurden. Debussy versicherte, er habe die Musik so geschrieben, als sei sie ihm von einer Kirche aufgetragen worden.  Rolf Fath