Hat es wirklich bis zum Jahr 2021 gedauert, um eine vollständige Gräfin Mariza-Gesamtaufnahme herauszubringen? Natürlich gibt es schon lange verschiedene, durchaus berühmte Gesamtaufnahmen: erinnert sei an die mit Sena Jurinac, Karl Terkal und dem Hamburger Rundfunkorchester unter Wilhelm Stephan 1952, an die mit Anneliese Rothenberger und Nicolai Gedda unter Willy Mattes mit dem Symphonie-Orchester Graunke von 1972 oder als bislang letztem Eintrag in die Diskographie die von Uwe Theimer 1999 dirigierte Doppel-CD, mit dem Wiener Opernball Orchester sowie Izabel Labuda und Ryszard Karczykowskí als Mariza und Tassilo. Erwähnt werden müssen auch die unendlichen vielen Highlight-Aufnahmen, wo man die Haupthits dieses Welterfolgs von 1924 umfangreich hören kann: sei es mit Fritz Wunderlich, Peter Minich oder Nikolai Schukoff, sei’s mit Sari Barabas, Friedl Loor oder Margit Schramm. Nicht zu vergessen: Eine Gesamtaufnahme auf Englisch von der Ohio Light Opera gibt’s auch, 2004 in Wooster live eingespielt mit Julie Wright als Titelheldin und Brian Woods als smartem Tassilo. Diese Einspielung enthält sogar den Schlager, den Emmerich Kálmán für die Verfilmung 1932 nachkomponierte.
Aber auf all den genannten Aufnahmen fehlt an irgendeiner Stelle etwas, mal der Kinderchor im 1. Akt, mal der Tassilo-Song aus dem 3. Akt („Wer hat euch erdacht, ihr holden Frau’n“), mal die unterlegte Begleitmusik als Einleitung zu den großen Hits usw. usf. Nun hat also Dirigent Ernst Theis mit dem Münchner Rundfunkorchester die erste Aufnahme vorgelegt, die alle (wirklich alle!) Musiknummern inklusive Tanzevolutionen enthält, wie sie im Octava-Klavierauszug enthalten sind. Chapeau!
Die von cpo (8992793) veröffentlichte Aufnahme basiert auf einem Konzert im Münchner Prinzregententheater vom April 2018, mitgeschnitten vom Bayerischen Rundfunk. Ob von Anfang an eine CD-Ausgabe geplant war, weiß ich nicht. Aber: Wenn man schon auf den mit so vielen prominenten Vorgängeraufnahmen übersättigten Markt drängt, wäre es meines Erachtens sinnvoll gewesen, über einen „Unique Selling Point“ der neuen Einspielung nachzudenken. Oder ist „Vollständigkeit“ ausreichend als Kaufanreiz?
Was sofort auffällt ist, dass zwar die komplette Fassung eingespielt wird, aber den vielen Anmerkungen im Octava-Klavierauszug keine Beachtung geschenkt wurde. Da wird beispielsweise sehr genau angegeben, wie der Kinderchor gleich zu Beginn des Werkes zu gestalten sei („1. und 2. Kind“, dann „3. und 4. Kind“, oder „das kleinste Kind allein“). Bei Theis singt durchweg der gesamte Kinderchor, wodurch jede Differenzierung verloren geht. Und das setzt sich fort.
Wenn man mit Mehrzad Montazeri einen Tenor zur Verfügung hat, der zwar eifrig die Schluchzer von Fritz Wunderlich kopiert (was effektvoll ist, wenn auch an der Grenze zur Parodie), wenn dieser Tenor aber eben kein Wunderlich sein kann, sondern „nur“ ein angenehm kompetenter Sänger ohne besonderen Gestaltungswillen, dann hätte man ihm als Dirigent schon unter die Arme greifen und ihn eine Fassung von „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien“ singen lassen können, bei der das „da capo“ der Hauptmelodie gepfiffen wird, wie im Klavierauszug vorgeschlagen. Das wäre dann „Anders als die Anderen“ gewesen. Und eine interessante Nuance. Auch das nur ein Beispiel von vielen.
Ernst Theis ist an solchen Nuancen nicht interessiert. Er dirigiert eine geradeheraus interpretierte Gräfin Mariza ohne besondere Vorkommnisse. Das bedeutet auch, dass er die Jazz-Instrumentation der Tanzschlager – etwa beim Shimmy „Komm mit nach Varasdin“ – nur im Hintergrund erahnen lässt. Dass Kálmán sich hier deutlich am Broadway und an Jerome Kern orientiert, muss man wissen. Hören tut man’s nicht. Wie überhaupt der eigenwillige Klangreiz dieses Werks nur in Bezug auf die ungarischen Elemente betont wird (Táragotó: Péter Horváth; Cimbalom: Olga Mishula). Dabei hieß es in einem zeitgenössischen Cartoon zu Kálmán: „Zwei Seelen wohnen auch in meiner Brust, die eine csardast und die andere bluest!“ Dazu sah man den Komponisten wild auf einem Xylophone spielen, das er auch in der Gräfin Mariza eifrig einsetzt. Im Mund hat er ein Saxophon.
Nach den vielen Einspielungen mit Opernstars fällt Theis und dem BR nichts weiter ein, als ebenfalls eine Opernbesetzung aufzubieten, allerdings ohne Stars. Statt sich darauf zu berufen, dass 1924 am Theater an der Wien kein einziger Opernsänger dabei war: vielmehr gestaltete damals Hubert Marischka den Tassilo „auf Burgtheaterniveau“, wie’s in einer Kritik hieß (die auch von Stefan Frey im Booklet zitiert wird). Wer den Film von 1932 kennt, mit Marischka als Tassilo, der weiß, dass er „Auch ich war einst ein feiner Csardaskavalier“ („Komm Zigány“) wie eine große soziale Anklage rezitiert – nicht aussingt –, und dann in einen rauschhaft getanzten Csardas übergeht, bei dem Kálmán es wirklich krachen lässt. (Auf CD kriegt das Robert Stolz als Dirigent am wirkungsvollsten hin.) Ich bin sicher, das hätte Montazeri vorm Mikrophon à la Marischka hingekriegt, wenn ihn jemand dazu animiert hätte. So wirkt er leider nur wie der Abklatsch von hundertfach besser gehörten Alternativen.
Als Mariza steht Betsy Horne bereit. Die bemerkenswerte Textgestaltung, die Rothenberger in ihr Auftrittslied steckt („Klingt ein heißer Csardastraum sinnbetörend durch den Raum“) wird man bei ihr nicht finden, den durch alle Lagen perfekt geführten Sopran der Rothenberger auch nicht. Von den Sehnsuchtstönen einer Jurinac ist Horne ebenfalls weit entfernt. Und die Quicklebendigkeit von Sari Barabas, die die vielleicht überzeugendste Aufnahme von „Höre ich Zigeunergeigen“ vorgelegt hat (1962 mit den Berliner Symphonikern unter Frank Fox) fehlt gänzlich. Barabas ist die Einzige auf Tonträger, die in den schnellen Parlando-Passagen („Willst du toll der Freude leben, soll das Herz vor Lust erbeben“) wirklich mit einem Jauchzen durch das endlosen Achtelketten gleitet, trotz fulminantem Accelerando. Jedes Wort ist bei ihr eine Aussage. Barabas hat in den 1950ern noch mit Kálmán selbst zusammengearbeitet und war später lange mit seinem Sohn Charles befreundet, sie wusste sehr genau, wie diese Musik „geht“.
Übrigens: Truesound Transfers hat kürzlich ein Album mit Aufnahmen der Uraufführungssängerin Betty Fischer herausgegeben. Auch das – nochmals – eine ganz andere Stimme, an der man sich hätte orientieren können, um auf CD neue interpretatorische Mariza-Wege zu beschreiten. Von Kálmán selbst dirigiert gibt’s immerhin das Duett „Sag‘ ja, mein Lieb, sag‘ ja“ mit Gitta Álpár und Felix Knight (auf Englisch, 1940 in New York aufgenommen). Was Kálmán bei dieser kurzen Nummer an Schmelz und Schmachten herausholt, von Álpár mit einer Sinnlichkeit gesungen, die niemand sonst erreicht, das wäre ebenfalls ein lohnendes Vorbild gewesen. Denn niemand dirigiert einen Slow Walz und (!) einen rauschhaften Walzer so wie Kálmán. Auch nicht Konkurrent Robert Stolz, der in New York Kálmáns Nachbar war und selbstredend in den 1920er-Jahren die Aufführungen mit Fischer und Marischka erleben durfte. Immerhin kommt Stolz solch einen Ideal recht nahe, und er hat auf seiner Aufnahme neben Schramm auch Rudolf Schock zur Verfügung, der einen effektvollen Tassilo singt. Nicht auf „Burgtheaterviveau“, aber definitiv mit Niveau.
Aber wozu sich die Genies der Vergangenheit anhören und von ihnen lernen? Das gilt letztlich ebenso für die Buffo-Rollen, die 1924 Elsie Altmann und Max Hansen kreierten (und Hans Moser). Hier hört man Lydia Teuscher und Jeffrey Treganza als Lisa und Zsupán. Ein Comedy-Glanzlicht sind sie sicher nicht, und vom Witz eines Max Hansen ist das neue „Behüt dich Gott, komm gut nach Haus“ mit seinem augenzwinkernden Quickstep-Rhythmus weit entfernt.
Als Fürst Dragomir wird vom Bayerischen Rundfunk Peter Schöne aufgeboten, der für diesen Charakter-Part völlig falsch ist, weil keine Charakterstimme. Und Pia Viola Buchert als wahrsagende Zigeunerin Manja ist letztlich keine Konkurrenz für Edda Moser auf der alten EMI-Aufnahme unter Mattes (wo ihre Szene übrigens vollständig enthalten ist und Moser sogar die halsbrecherischen Triller singt, die Kálmán vorschreibt und um die sich Buchert drückt).
Was bleibt also? Ist es zu harsch, die cpo-Aufnahme mit all den älteren Einspielungen zu vergleichen? Ist es zu viel verlangt, vom Bayerischen Rundfunk oder vom selbsterklärten Operettenexperten Ernst Theis mehr zu erwarten als nur eine routiniert Gräfin Mariza?
Wo so viel von „Original“ und „historisch informierter Aufführungspraxis“ die Rede ist: Wieso will niemand dieses Kálmán-Opus aus dem Geist der Zwanziger neu entdecken? Wieso immer wieder die aufgewärmte Puszta-Romantik, die nach dem Zweiten Weltkrieg so an Kálmán geliebt wurde und die auf Tonträger bis zum Überfluss dokumentiert ist? (Am schrecklichsten auf der Aufnahme mit René Kollo und Erzsebét Hazy unter Wolfgang Ebert, der Soundtrack zum entsprechenden TV-Operettenfilm.)
Wer bei Gräfin Mariza etwas „Neues“ entdecken will, kann umfangreiche Ausschnitte aus den 1940er-Jahren auf der CD Kálmán on Broadway hören, vom Operetta Archive in Los Angeles liebevoll herausgegeben (und über dieses bestellbar). Die originale Broadwayfassung, die einst erfolgreich in den USA lief, ist bislang nicht eingespielt, Ohio Light Opera hat ihre neue englische Version auf Basis des Wiener-Originals erstellt. Was Glanz der Stimmen angeht, kann diese ebenfalls vom Operetta Archive veröffentlichte Aufnahme mit der hier diskutierten Konkurrenz auch nicht mithalten.
Ich selbst muss gestehen, dass ich trotz aller Kritik an der Affektiertheit von Anneliese Rothenberger die Souveränität und Stilsicherheit der EMI-Aufnahme doch sehr zu schätzen gelernt habe. Und dass ich Sena Jurinac im Zweifelsfall lieber höre … zudem mit der blutjungen Rothenberger als Lisa neben Rupert Glawitsch als Zsupán. Der klingt auch nicht wie Max Hansen, aber damals hat so etwas niemanden interessiert. Auch Willi Brokmeier klingt bei EMI 1972 nicht wie Hansen, aber er zieht eine zeittypische Buffo-Show ab. Ist das, was Treganza, Teuscher, Horne und Montazeri bei cpo abliefern auch „zeittypisch“ für die 2020er-Jahre?
All das ändert nichts daran, dass hier eine vollständige Gesamtaufnahme vorliegt, die erste ihrer Art. Muss man dankbar sein, dass sich endlich jemand diese Mühe gemacht hat. Ob diese CD genauso schnell wieder vergessen sein wird, wie die Aufnahme unter Dirigent Uwe Theimer, muss sich zeigen. Das Cover sieht nahezu identisch aus, in beiden Fällen wird das kolorierte Bild vom Octava-Klavierauszug verwendet, auf dem eine kesse Gräfin in Fantasiekostümierung zu sehen ist, die weder bei Theimer noch bei Theis so kess klingt, wie sie auf dem Bild wirkt.
Zum Schluss sei noch eine kleine Nachbemerkung erlaubt: Wenn man meint, in den Dialogen auf das Wort „Zigeuner“ eingehen zu müssen und dieses im Sinn von „Virtue Signaling“ zu problematisieren, dann sollte das intelligenter geschehen als hier von Paul Esperanza („Dialogregie“) vorgeführt. Der Rassismusvorwurf, der hinter der Verwendung des Z-Worts steht, ist wichtig und ernst. Aber dazu wurde vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma schon gesagt, dass es lächerlich sei, sich hierüber im Operettenkontext zu streiten, wenn es wichtigere Aspekte der Diskriminierung von Sinti und Roma gibt, die angegangen werden müssten. Und wenn man schon auf Rassismus eingeht (wie beim Bayerischen Rundfunk), dann kann man nicht anschließend die Darsteller mit lächerlich-stereotypem ungarischen Akzent sprechen lassen. Entweder ist man „wach“ für solche Ausgrenzungen und schreibt die Dialoge um (was kaum geht, bei diesem Stück) – oder man steht zum Original und macht etwas daraus. Kevin Clarke