Richters Erbe

 

Die Anhänger des früh verstorbenen Karl Richter (1926-1981), der sich besonders als Bach-Interpret (sowohl als Dirigent als auch als Organist) einen Namen gemacht hat, dürften es seit Jahrzehnten bedauert haben, dass Richter keine Gesamteinspielung des Oratoriums Die Schöpfung von Joseph Haydn vorgelegt hat. Einzig die beiden Arien „Nun beut die Flur“ sowie „Auf starkem Fittiche“ hat der Dirigent im Zuge eines Oratorien-Recitals mit Maria Stader und dem Münchener Bach-Orchester 1961 für die Deutsche Grammophon Gesellschaft auf Platte eingespielt. Es ist durchaus möglich, dass gleichwohl eine komplette Studioeinspielung geplant war, bedenkt man Richters stetige Repertoireerweiterung in Richtung Klassik und gar Romantik in seinen späteren Jahren. Er hat beispielsweise anlässlich des Ablebens seines Dirigentenkollegen Rudolf Kempe 1976 in München ein Gedenkkonzert mit Mozarts großer g-Moll-Sinfonie sowie Schumanns vierter Sinfonie geleitet. Und noch 1980 dirigierte er Mendelssohns Elias in Hamburg.

Der Richter-Kenner wusste auch, dass es durchaus zu kompletten Aufführungen der Haydn’schen Schöpfung unter seinem Dirigat gekommen ist, so bereits 1970 in Paris für den Französischen Rundfunk ORTF. Der gar nicht schlecht klingende, in Sammlerkreisen kursierende Mitschnitt aus dem Salle Pleyel (bereits in Stereo) machte unweigerlich Lust auf eine autorisierte Veröffentlichung dieses Werkes in Richters Interpretation. Diesem langersehnten Wunsche wurde jetzt tatsächlich Rechnung getragen, wenn auch in etwas anderer Form.

Hänssler Classic nämlich bringt nun unerwartet eine vollständige Aufnahme der Schöpfung auf den Markt (Hänssler HC20076). Es handelt sich um einen Mitschnitt aus dem Nationaltheater München im Zuge des 6. Akademiekonzerts des Bayerischen Staatsorchesters am 8. Mai 1972. Dieses historisch ungemein bedeutsame Tondokument konnte der Sohn Karl Richters, Prof. Tobias Richter, langjähriger Generalintendant der Deutschen Oper am Rhein, aus seinem Privatbesitz beisteuern, was freilich die Frage aufwirft, ob diese Aufnahme überhaupt noch im Archiv des Bayerischen Rundfunks vorrätig ist. Gleichsam als vorauseilende Abbitte ersucht der für die aufwändige Restaurierung zuständige Holger Siedler im beiliegenden Booklet um Nachsicht angesichts des „technisch sehr schlechte[n] Mitschnitt[s]“, der „wenig zu einem ungetrübten Musikgenuss“ beitrüge. Freilich sind die Erwartungshaltungen der Hörerschaft verschieden, doch darf bereits an dieser Stelle eine ehrlich gemeinte Entwarnung gegeben werden, handelt es sich doch um einen für die Zeitumstände sehr guten Stereomitschnitt, der sich wahrlich nicht verstecken muss. Gewiss, die Direktheit des eingefangenen Klangbildes und die sehr präsent abgebildeten Pauken und Blechbläser hätte ein Toningenieur im Aufnahmestudio womöglich abgemildert; und doch, genau diese unverfälschte Unmittelbarkeit macht dieses Tondokument gerade interessant. Die Besetzung zu loben hieße Eulen nach Athen zu tragen.

Wie in der Pariser Aufführung zwei Jahre zuvor ist auch hier der sehr für sich einnehmende Bassist Karl Christian Kohn als Raphael und Adam vertreten, der von der Tonträgerindustrie ein wenig unter ferner abgehandelt wurde. Die mächtig-ehrfurchtgebietende und sonor strömende Stimme ist eine echte Bereicherung für die Diskographie dieses häufig eingespielten Werkes. Anders als in Paris, sind es in München der Tenor Werner Hollweg (anstelle von Horst Laubenthal) und die Sopranistin Elisabeth Speiser (statt Lotte Schädle), welche das Solistenterzett vervollständigen. Hollweg, der den Uriel intoniert, darf mit Fug und Recht als einer der ganz großen Interpreten dieser Partie bezeichnet werden. Hier empfahl er sich bereits für die Studioproduktion unter Antal Doráti einige Jahre später (Decca). Eine Rundfunkaufnahme der Jahreszeiten von Haydn unter Rafael Kubelík aus demselben Jahre 1972, in der Hollweg ebenfalls den Tenorpart übernahm, wurde im Übrigen bei Orfeo veröffentlicht (Orfeo C 477 982 I). Die strahlende, glanzvolle Höhe hat er mit der Speiser (Gabriel und Eva) gemein, die auf dem Plattenmarkt völlig zu Unrecht wenig präsent ist. Überhaupt agieren die Solisten hier sehr homogen und ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Keiner will über den anderen hinaus; opernhafte Allüren gibt es nicht, was auch dem Werkcharakter entspricht. Wie bereits zu erahnen, kommen in dieser Aufführung nicht die von Richter ins Leben gerufenen (und übrigens immer noch existenten) Ensembles Münchener Bach-Chor und Münchener Bach-Orchester zum Zuge, sondern sind es der Chor der Bayerischen Staatsoper (Choreinstudierung: Wolfgang Baumgart) und das bereits genannte Bayerische Staatsorchester, mit welchem der Dirigent häufiger erfolgreich zusammenarbeitete, auch wenn seine Diskographie nicht unbedingt darauf schließen lässt. Sowohl Chorsänger als auch Klangkörper unterstützen kongenial Richters Interpretationsansatz, der etwas pathetisch als großer alter Stil bezeichnet werden könnte, voll dem allerhöchsten Anlass der göttlichen Schöpfungsgeschichte angemessen. So erzielt Karl Richter bereits zu Beginn einen wahren Gänsehautmoment, wenn Chor und Orchester derart gewaltig beim „Und es ward Licht“ einsetzen, dass selbst langjährige Kenner dieses Oratoriums aus dem Sessel gerissen werden. Die großangelegten Chöre sind es auch, bei denen Richter besonders eindrucksvoll zu Werke geht, sich einer ausgeklügelten Agogik bedient und die Steigerungen dermaßen gekonnt zu Gehör bringt, dass man nicht anders kann, als voller Überwältigung angesichts der im wahrsten Sinne schöpferischen Kraft aller Mitwirkenden innezuhalten. Doch auch in den lyrischeren Momenten der Rezitative und Arien tut sich ein Eindruck von vollumfänglicher Befriedigung auf. Die zweckdienliche Textbeigabe rundet diese überaus erfreuliche Neuerscheinung ab, die in keiner Oratoriensammlung fehlen sollte. Daniel Hauser