Insel im Chaos

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Der Titel der Edition wirft eine berechtigte Frage auf. Singt Christian Gerhaher tatsächlich alle Lieder von Robert Schumann? Sollte er es getan haben? Nein, hat er nicht. Der Zyklus Frauenliebe und Leben wurde der Sopranistin Julia Kleiter überlassen. Und das ist eine gute Wahl. Sie trägt ihn mit dem Stolz der unerschütterlich liebenden Ehegattin des 19. Jahrhunderts vor, nimmt deren Gefühle ernst. Dadurch wirken die Lieder nicht verschroben und altmodisch. „Süßer Freund, du blickest mich verwundert an.“ Der Einbruch des Leides mit dem sechsten Lied gelingt deshalb so überzeugend, weil ihn die Sopranistin mit derselben Ehrlichkeit gestaltet wie den überschwänglichen Beginn des Werkes. Da nimmt man sogar in Kauf, dass nicht jede Silbe zu verstehen ist. Was geschieht, teilt sich trotzdem mit. Wer die Texte von Adelbert von Chamisso verinnerlicht hat, im Geiste also mitsingen kann, wird letztlich nichts vermissen. Julia Kleiter hat gut zu tun in der neuen Edition, die mit einem Umfang von elf CDs bei Sony erschien (19439780112). Alle Titel werden von Gerold Huber am Klavier begleitet.

Diese enge künstlerische Partnerschaft mit Gerhaher, die seit mehr als dreißig Jahren währt, zahlt sich in perfektem Zusammenspiel aus. Nie ist auch nur ein Hauch von Unsicherheit zu vernehmen. Es ist, als ob der eine bereits ausführt, was der andere erst zu denken beginnt – und umgekehrt. Auf den Boden solcher Sicherheit gedeiht Kunst üppig und reich. Die Edition ist beider Werk. Kooperationspartner ist der Bayerische Rundfunk (BR Klassik). Gefördert wurde das ambitionierte Produkt vom Liedzentrum Heidelberg, das über sich selbst in seiner Internetpräsentation sagt, „eine Vielzahl von Projekten“ zu vereinen. In der jährlichen Lied-Akademie arbeiteten junge Sängerinnen und Sänger „in öffentlichen Masterclasses mit dem künstlerischen Leiter Thomas Hampson an ihrer Liedgestaltung und erleben einen Freiraum, in dem über die Gattung und deren Zukunft offen, genreübergreifend und gemeinsam nachgedacht und debattiert wird“. Mit Gerhahers und Hubers Edition sei das Zentrum „Partner, Ermöglicher und Förderer eines beispielhaften Vorhabens zur zeitgemäßen Vermittlung eines der bedeutenden Werkkanons“. Um den Liedgesang muss sich also niemand sorgen. Säger nicht – und auch nicht das Publikum. Welche Rolle dabei in Zukunft die Tonträgerindustrie spielt, wird sich zeigen. Gerhaher selbst ist skeptisch. „Wahrscheinlich wird es nicht mehr viele vergleichbare Gesamteinspielungen auf CDs geben können, und die dunklen Wolken des Niedergangs physischer Tonträger waren drohend auch schon am Horizont dieses Herzensprojekts nicht nur ahn- sondern auch gut sichtbar“, schreibt er im Booklet.

Die Edition ist keine Momentaufnahme. Eingespielt wurde das Gros der Lieder zwischen 2017 und 2020. Die Ballade Belsatzar (Op. 57), die es in sich hat, geht als einziger Titel auf das Jahr 2004 zurück. Der Produktionskalender nennt Aufnahmesitzungen an vier Tagen. Das ist extrem viel Zeit für gut vier Minuten. Man fühlt sich an alte Zeiten erinnert, in denen die Sänger im Studio von Produzenten für ein einziges Lied so lange getriezt wurden, bis es besser nicht mehr ging. Die Ballade nach der Vorlage von Heine, sei „in Schumanns Liedschaffen vielleicht das Extrem-Beispiel für eine dramatisch aufgeladene Drastik“, bemerkt der Sänger im Booklet. Ist dies der Grund, warum er sich für die mehr als fünfzehn Jahre alte Einspielung entschied? Damals war er Mitte dreißig. Wie dem auch sei. Sie ist ein Highlight der Edition. Es bietet sich noch eine andere Erklärung für das ungewöhnlich weit zurückliegende Aufnahmedatum und die zahlreichen Sitzungstermine an. Im Oktober 2004 legten Gerhaher und Huber bei der RCA eine Schumann-CD vor, auf der sich auch die Ballade befindet. Sollten beide Einspielungen identisch sein? Das Booklet gibt keine Antwort. Nur die Vermutung, dass an den vier Produktionstagen von einst, die gesamte CD entstand, auf der Gerhaher auch die bizarre Löwenbraut-Ballade sang, die er in der Edition seinem Tenorkollegen Martin Mitterrutzner überließ, der sie mit viel Empathie und absolut wortverständlich vorträgt.

Der gestandene Klassikliebhaber, der oft auch ein Sammler ist, weiß Boxen wie diese zu schätzen. Er ist haptisch geprägt, weniger virtuell. Für ihn kommt es einer heiligen Handlung gleich, Tonträger aus der Hülle zu nehmen wie einen Brillantring aus der Schatulle. Bevor noch der erste Ton aus dem Lautsprecher kommt, bedarf es feierlicher Vorbereitung, die zum Bestandteil der Beschäftigung mit Musik wird. Schumann aber kann sich auch anders mitteilen. Keinem seiner Lieder wird etwas genommen, wenn es über Kopfhörer von Festplatte, Datenkarte oder Stick kommt. Und keine Interpretation erfährt durch die Verbreitung auf einer CD oder einer Schallplatte eine irgendwie geartete Veredelung. Doch das Auge hört gewöhnlich mit. Die Gestaltung der Neuerscheinung – das muss gesagt und gewürdigt werden – ist besonders apart ausgefallen. Sony hat sich alle erdenkliche Mühe gegeben. Kulturverfall sieht anders aus. Die Oberfläche der Schachtel ist so empfindlich, dass sie mit Samthandschuhen angefasst werden müsste, um keine lästigen Fingerabdrücke zu hinterlassen. Porträts des Komponisten außen wie innen kommen aus der Werkstatt des iranischen Künstlers Hadi Karimi, der sich mit seinen lebensechten 3D-Konterfeis berühmter Persönlichkeiten, die auf historischen Abbildungen beruhen, einen Namen gemacht hat. Das geht so weit, dass auf Schumanns fülligen Wangen der Schatten des Bartwuchses aufscheint, den auch eine noch so perfekte Rasur hinterlässt. Nur die Haartracht und der Hemdkragen versetzen ihn in seine Zeit zurück. Neunzehntes Jahrhundert wird im Computer heraufbeschworen als sei es Gegenwart – ein rasanter Kontrast zum ehr konservativen Konzept der Sammlung. Die schmalen Rücken der Hüllen sind gut lesbar mit den entsprechenden Opuszahlen versehen, die zu den jeweiligen Werken führen. Auf einen Blick ist zu erfahren, was sich drinnen befindet. Ohne Fehl und Tadel ist das dicke Booklet, an dem auch nicht gespart wurde. Mehrfarbig sind die Tracklisten unterlegt.

Der Bariton Christian Gerhaher (links) und sein Pianist Gerold Huber arbeiten seit mehr als dreißig Jahren eng zusammen. Huber begleitet sämtliche Einspielungen der Edition. Foto Booklet der Sony Ausgabe

Die Lieder sind in zwei Abteilungen geordnet, ein Begriff, den man von Gesamtausgaben der Dichter kennt, die schon zu Goethes Zeiten immer beliebter wurden und prächtig gebunden die Bibliotheken bürgerlicher Haushalte füllten. Damit wird einer Besonderheit im Liedschaffen von Schumann Rechnung getragen. Es zerfällt in zwei Schaffensperioden. Im spektakulären ersten „Liederjahr“ 1840 habe er aus dem Nichts heraus über 140 Meisterwerke in 23 Opera niedergeschrieben, so Gerhaher. Im zweiten um 1850 herum habe er noch einmal angehoben weitere 23 Opera zu komponieren, die jedoch ein wenig anders gefärbt seien. „Sind die Lieder des Jahres 1840 trotz aller Innovation klanglich, harmonisch und textausdeutend vielleicht noch ein wenig stärker jener Tradition der Liedkomposition verbunden, die Schumann vorfand, so sind die 1849-1852 entstandenen Lieder von einer größeren inhaltlichen Radikalität und Düsterkeit geprägt“, befindet der Sänger.

Zu allen Zyklen, Gruppen und einzelnen Stücken gibt es prägnante deutsche und englische Erläuterungen – wie auch die anderen einführenden Texte in beiden Sprachen geboten werden. Dass auch die literarischen Vorlagen abgedruckt sind, gilt beim hohen Niveau der Neuerscheinung als selbstverständlich. Sie wurden mit der gut nachvollziehbaren Begründung Gerhahers in der von Schumann vertonten Form belassen, weil Übersetzungen „oft zu sehr eigenständige Interpretationen“ seien. Schließlich könne man „heutzutage im Internet mit Leichtigkeit die Gedichte als Hilfestellung übersetzt finden“. Indexe nach Titeln, Liedanfängen und Textdichtern erleichtern den Umgang. Rasch ist gefunden, wonach man auch sucht. Alle beteiligte Sänger und der Pianist Gerold Huber sowie sein Kollege James Cheung, der das Piano II in den Spanischen Liebesliedern (Op. 138) bedient, werden mit Bild aber ohne Biographie vorgestellt. Auch diese Informationen sind leicht im Netz zugänglich – stets auf dem jeweils aktuellen Stand, den keine gedruckte Form bieten kann, die bereits im Moment ihres Erscheinens nicht mehr aktuell ist. Die Lied-Edition aber will und soll für einen langen Zeitraum Bestand haben.

Gerhaher hat die ideale Stimme für Schumann. Er ist ein Meister der Zwischentöne und Schattierungen. Bei ihm können junge Sänger lernen, was Legato ist. Durch geschickte dynamische Staffelungen kann er einzelne Lieder spannungsvoll aufladen. Das geschieht aber stets dezent und mit aller Vorsicht. Er überinterpretiert nicht, er übertreibt nicht, er aspiriert nicht. Schlusstöne lässt er verhauchen wie einen Nachhall, wenn ihm das zwingend erscheint. So natürlich wie mit Schumann habe ich ihn nie singen hören. Exemplarisch für seinen Stil wären neben den berühmten Zyklen Dichterliebe und Liederkreis Op. 39 die aus zwei Büchern bestehenden Gesänge Op. 107 nach verschiedenen Dichtern zu nennen. Dass Gerhaher die riesige Aufgabe, die ihm auch als Bariton natürliche Grenzen setzt, nicht allein würde stemmen können, hatte sich bereits geklärt. Er brauchte Mitstreiter. Der Name Julia Kleiter fiel bereits. Sie kommt vierundzwanzig Mal zum Einsatz. Noch mehr als sie hat ihre Soprankollegin Sibylla Rubens zu tun (43), gefolgt von der Mezzo-Sopranistin Wiebke Lehmkuhl (25), Christina Landshamer (17), Camilla Tilling (12) und Anett Fritsch (3) – alle drei Sopran. Die Mezzosopranistin Stefanie Irányi (1) wird für die Drei Gedichte von Emanuel Geibel für mehrstimmigen Gesang gebraucht, in die zudem Sibylla Rubens und Wiebke Lehmkuhl einstimmen. Sie bilden ein perfektes Team, gehen diszipliniert und rücksichtsvoll miteinander um. Niemand reißt aus und hebt sich mit eigenen Akzenten heraus. So werden diese kunstvollen Miniaturen, in die auch noch Martin Mitterrutzner einstimmt, zur Entdeckung der besonderen Art, die nur im perfekt aufeinander abgestimmten Zusammenspiel ihre Wirkung entfalten können. Der Tenor hat insgesamt 24 Auftritte, zwei der Bariton Andreas Burkhart. Wo sonst als bei einer ambitionierten Studioproduktion treffen namhafte Solisten wie diese in so großer Zahl aufeinander? Alle sind gut im Geschäft und singen an großen Häusern tragende Partien. Umso mehr Anerkennung verdient es, dass sie sich gemeinsam mit Gerhaher und Huber diesem Projekt verschrieben haben. Deshalb wäre es auch geboten gewesen, ihre Namen auf dem Cover zu nennen. Gleichberechtigung sieht anders aus. Die Stimmen passen auch in ihrer ausgeprägten Natürlichkeit zusammen. Es ist niemand darunter, der für so genannte Charakterrollen geboren worden wäre. Und, was ganz besonders wichtig ist: Alle sind muttersprachlich. Niemand ist dem Zwang ausgesetzt, sich ein Lied phonetisch aneignen zu müssen. Sie wissen bis in jede Einzelheit, was sie singen, worum es geht. Es ist kein Akzent zu vernehmen. Idiomatisch sind die Aufnahmen wie aus einem Guss.

Die deutsch-russische Dichterin Elisabeth Kulmann starb 1825 in St. Petersburg mit nur siebzehn Jahren. Ihr Schicksal  bewegte Robert Schumann stark. Er komponierte zwei kleine Zyklen nach ihren Versen. 

Schumann war anspruchsvoll bei der Auswahl seiner Dichter. Goethe, Heine, Rückert, Eichendorff, Geibel, Kerner, Lenau, Mörike, Schiller, Fallersleben. In den allermeisten Fällen sind die Texte von hohem literarischen Rang. Mit den Mädchenliedern (Op. 103) und Sieben Liedern (Op. 104) führt er zu Elisabeth Kulmann, deren Schicksal den Komponisten tief bewegte. Ihr Konterfei soll über seinem Schreibtisch gehangen haben. Die deutsch-russische Dichterin starb 1825 in St. Petersburg mit nur siebzehn Jahren. Sie beherrschte zehn Sprachen. Goethe soll ihr prophezeit haben, in der künftigen Literatur einen ehrenvollen Rang einzunehmen, was ihr früher Tod verhinderte. Schumann wurde erst 1851 auf ihre Gedichte aufmerksam und erkannte darin auch eine Wesensverwandtschaft mit sich selbst. Der jugendlichen Dichterin war nämlich sehr bewusst, dass sie früh sterben müsse. Schumann hatte noch fünf Jahre zu leben, als er beide Werkgruppen innerhalb von nur drei Tagen vollendete. Mit eigener Feder steuerte er für die Sieben Lieder, die von Sibylla Rubens sehr einfühlsam gesungen werden, Zwischentexte bei, die im Booklet auch abgedruckt sind. Als Duette sind die vier Mädchenlieder ausgearbeitet. Sie wurden mit Julia Kleiter und Wiebke Lehmkuhl eingespielt. In der Edition werden die verbreiteten Vorbehalte gegen die Textdichterin nicht vertieft. (Mit Porträts des Komponisten Robert Schumann ist die Box außen wie innen gestaltet. Sie kommen aus der Werkstatt des iranischen Künstlers Hadi Karimi, der sich mit seinen lebensechten 3D-Konterfeis berühmter Persönlichkeiten, die auf historischen Abbildungen beruhen, einen Namen gemacht hat. Das geht so weit, dass auf Schumanns fülligen Wangen der Schatten des Bartwuchses aufscheint, den auch eine noch so perfekte Rasur hinterlässt.)

In seinem „Robert Schumann – Wort und Musik – Das Vokalwerk“ hatte Dietrich Fischer-Dieskau – selbst ein bedeutender Interpret des Komponisten – noch geschrieben: „Wir Heutigen verstehen kaum mehr, in welchem Ansehen die Reimerei der mit siebzehn Jahren verstorbenen Lyrikerin stand und warum sie so hohe Auflagen erreichte. Es lässt sich höchstens aus dem Bedürfnis nach sentimentaler Rührung, das damals en vogue war, erklären.“ Schumann habe diese poetischen Ergüsse als „erhabene Meisterstücke und eine wahre Insel im Chaos der Gegenwart“ wahrgenommen. Das Buch ist vor genau vierzig Jahren erschienen. Die Heutigen, von denen Fischer-Dieskau schreibt, sind in die Jahre gekommen oder gestorben. Rüdiger Winter