Alles von Wilhelm

 

Der Nimbus des Überdirigenten umstrahlt wohl niemanden im selben Maße wie den bereits zu Lebzeiten legendären Wilhelm Furtwängler (1886-1954). Mit der 55 CDs umfassenden repräsentativen Box The Complete Wilhelm Furtwängler on Record huldigt Warner Classics nun diesem musikalischen Titanen (Warner 9029523240) und vereint erstmals sämtliche Studioeinspielungen Furtwänglers, welche dieser zwischen 1926 und 1954 für HMV, Telefunken, Polydor und Decca einspielte. Der Fokus liegt somit vornehmlich auf den offiziellen Studioproduktionen und auf wenigen vom Dirigenten abgesegneten ausgewählten Live-Aufnahmen, was auch erklärt, wieso etwa kein kompletter Beethoven-Zyklus inkludiert wurde, der sich nur durch nicht von Furtwängler explizit autorisierte Mitschnitte vervollständigen ließe. Die Studioaufnahmen sind chronologisch geordnet, beginnend mit der Freischütz-Ouvertüre von Oktober 1926 aus Berlin und endend mit der Studio-Walküre von September/Oktober 1954 aus Wien. Nicht wenige Werke sind doppelt enthalten (u. a. Mozarts Kleine Nachtmusik, Straussens Till Eulenspiegel, Beethovens Violinkonzert [jeweils mit Menuhin] und die Sinfonien Nr. 3, 4 und 6 sowie diverse Ouvertüren und Vorspiele von Wagner, Mendelssohn und Gluck). Beethovens fünfte Sinfonie findet sich sogar dreifach (1926/27, 1937 sowie 1954).

Furtwänglers bewusst subjektiver, mitunter nebulöser und mit Pathos behafteter Dirigierstil weist ihn eindeutig als im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert sozialisierten Künstler aus. Obschon er die für einen Mann seiner Generation nicht untypische Haltung vertrat, dass die Musik im Moment der Aufführung entstünde und sie im Prinzip insofern nicht exakt eins zu eins wiederholbar sei, stand er dem Aufnahmestudio nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Seine Aufnahmekarriere begann beinahe gleichzeitig mit der revolutionär zu nennenden Etablierung der elektrischen Aufnahme um 1925, welche einen Quantensprung gegenüber dem bis dato üblichen rein akustischen Aufnahmeverfahren darstellte. So sind bereits seine frühesten Aufnahmen aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahren akustisch durchaus genießbar. Die großangelegte Warner-Kollektion deckt chronologisch den musikalischen Zeitraum von Bach (die berühmte Air aus der Orchestersuite Nr. 3) bis zur damaligen Gegenwart in Form von Furtwänglers eigener zweiten Sinfonie ab, die zweifelsohne als sein sinfonisches Meisterwerk gilt. Repertoiremäßig erzeigt sich jedenfalls, dass dieser Dirigent breiter aufgestellt war als es die landläufige Meinung wissen will. Neben den üblichen Verdächtigen aus dem deutschsprachigen Raum sind auch Cherubini (Ouvertüre zu Anacréon), Rossini (Ouvertüren zu Il barbiere di Siviglia und La gazza ladra), Berlioz (Marche hongroise aus La Damnation de Faust, sogar zweifach), César Franck (Sinfonie d-Moll), Tschaikowski (Sinfonien Nr. 4 und Nr. 6 Pathétique sowie drei Sätze aus der Streicherserenade C-Dur) und Bartók (zweites Violinkonzert mit Menuhin) vertreten, daneben aber auch die etwas ins Hintertreffen geratenen deutschen Komponisten Gluck (Ouvertüren zu Alceste und Iphigénie en Aulide) und Nicolai (Ouvertüre zu Die lustigen Weiber von Windsor). Die sogenannte „leichte Klassik“ lehnte Furtwängler – ähnlich Hans Knappertsbusch und Otto Klemperer – nicht grundsätzlich ab, wie einige Einspielungen von Josef und Johann Strauss Sohn beweisen (Pizzicato-Polka [mit und ohne Glockenspiel], Kaiser-Walzer, Ouvertüre zu Die Fledermaus). Haydn ist zumindest mit den damals wohl populärsten Sinfonien Nr. 88 und 94 Mit dem Paukenschlag berücksichtigt, Dvořák mit dem Slawischen Tanz op. 46 Nr. 3 und Smetana mit der Moldau.

Dieser Mitschnitt von 1937 entstand im Zuge der Feierlichkeiten anlässlich der Krönung des britischen Königs Georg VI. in London.

Das Gros der Box machen freilich Mozart (Sinfonie Nr. 40, zwei Serenaden, diverse Ouvertüren und Arien), Beethoven (alle Sinfonien außer Nr. 2 und 8, Violinkonzert, diverse Ouvertüren sowie die Gesamtaufnahme des Fidelio), Schubert (Unvollendete sowie Große Sinfonie C-Dur, Rosamunde-Orchestermusik), Weber (Ouvertüren, Aufforderung zum Tanz), Mendelssohn (Ouvertüren Die Hebriden und Ein Sommernachtstraum, Violinkonzert mit Menuhin), Schumann (vierte Sinfonie, Manfred-Ouvertüre), Brahms (erste und zweite Sinfonie, Violinkonzert mit Menuhin, Haydn-Variationen, diverse Ungarische Tänze), Richard Strauss (Till Eulenspiegel, Don Juan, Tod und Verklärung) und insbesondere Wagner (diverse Opernauszüge sowie die legendären Gesamtaufnahmen von Tristan und Isolde und Die Walküre) aus. Wie verzerrend der Fokus allein auf die echten Studioproduktionen allerdings sein kann, beweist der Fall Anton Bruckner. Einzig der langsame Satz aus der siebenten Sinfonie von 1942 ist unter Studiobedingungen entstanden und hier inkludiert. Ebenfalls nur mit jeweils einem Werk vertreten sind Liszt (Les Préludes) und Mahler (Lieder eines fahrenden Gesellen mit Kirsten Flagstad und Dietrich Fischer-Dieskau). Ein Kuriosum stellt der zweite Satz aus Furtwänglers Sinfonischem Konzert für Klavier und Orchester mit Edwin Fischer aus dem Jahre 1939 dar. Testaufnahmen des Kaiser-Walzers, von Siegfrieds Trauermarsch sowie des dritten Entr’acte von Rosamunde auf der ersten Bonus-CD runden dies ab. Auf der zweiten Bonus-CD, welche zugleich die Kollektion beschließt, finden sich schließlich von Jon Tolansky produzierte und zwischen 1993 und 2003 entstandene Interviews mit Edward Downes, Remo Lauricella, Hugh Bean, Hugh Maguiere, Gervase de Peyer, Harold Nash, Yehudi Menuhin, Berthold Goldschmidt, Bernard Dennis-Browne, John Meek, Elisabeth Furtwängler, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Gellhorn sowie Christopher Raeburn. Sie alle versuchen dem Mythos Wilhelm Furtwängler auf den Grund zu gehen.

Jugendbildnis Wilhelm Furtwänglers/Archiv Clarens/Booklet zur Warner Edition

Neben den wirklich im Studio produzierten Einspielungen fanden, wie eingangs bereits erwähnt, auch einige wenige Live-Aufnahmen Eingang in die Kollektion. Die ältesten dieser Mitschnitte datieren auf das Jahr 1937 und entstanden im Zuge der Feierlichkeiten anlässlich der Krönung des britischen Königs Georg VI. in London. Es handelt sich um Beethovens neunte Sinfonie mit den Berliner Philharmonikern und dem Philharmonic Choir London aus der Queen’s Hall (Solisten: Erna Berger, Gertrude Pitzinger, Walther Ludwig, Rudolf Watzke) sowie um Auszüge aus Wagners Ring des Nibelungen aus dem Royal Opera House, Covent Garden, wovon sich der dritten Walküren-Aufzug (mit Kirsten Flagstad und Rudolf Bockelmann) sowie ein guter Teil der Götterdämmerung (mit Kirsten Flagstad und Lauritz Melchior) erhalten haben. Beethovens Neunte ist live sogar ein zweites Mal enthalten, nämlich in der berühmten Nachkriegsaufnahme im Zuge der Eröffnung von „Neu-Bayreuth“ im Jahre 1951 (Solisten: Elisabeth Schwarzkopf, Elisabeth Höngen, Hans Hopf, Otto Edelmann). Die Bach’sche Matthäus-Passion aus Salzburg von 1954 fand ebenfalls Eingang in die Box (Solisten: Elisabeth Grümmer, Marga Höffgen, Anton Dermota, Dietrich Fischer-Dieskau, Otto Edelmann). Erstveröffentlicht wird zudem ein 1950 entstandener Live-Mitschnitt von Schuberts Unvollendeter mit den Wiener Philharmonikern aus Kopenhagen, der indes wohl kaum von Furtwängler zur späteren Veröffentlichung bestimmt war.

Die Studioaufnahmen in der Warner-Edition sind chronologisch geordnet, beginnend mit der „Freischütz“-Ouvertüre vom Oktober 1926 in Berlin und endend mit der Studio-„Walküre“ vom September/Oktober 1954 in Wien.

Erfreulicherweise wurden praktisch sämtliche Aufnahmen anlässlich dieser Veröffentlichung einem neuen Remastering in 24 Bit/192 kHz-Qualität unterzogen (die einzige Ausnahme betrifft CD 35, die allerdings auch gerade erst 2016 neu gemastertet wurde). Soweit noch möglich, wurde auf die Originalbänder zurückgegriffen. Wundertaten sollte man sich aufgrund der historischen Aufnahmequalität indes auch diesmal nicht erwarten, selbst wenn man sich oft nicht des Eindrucks erwehren kann, diese Tondokumente tatsächlich noch nie besser gehört zu haben. Die natürlichen Beschränkungen der durch die Bank bloß in Mono vorliegenden Einspielungen sollten nicht geleugnet werden. Leider war es Furtwängler nicht mehr vergönnt, von den klanglichen Vorteilen der Stereophonie zu profitieren, die sich praktisch zeitgleich mit seinem Ableben Ende 1954 allmählich durchsetzte (das letzte Konzert seines großen Antipoden Arturo Toscanini wurde im April 1954 schon in Stereo mitgeschnitten). Vielleicht aber unterstreicht gerade dieser Umstand auch, dass mit Furtwänglers Tod wahrlich eine Ära ihr Ende nahm. Die gut 150-seitige Textbeilage ist absolut mustergültig, liegt dreisprachig vor (Deutsch, Englisch, Französisch) und beinhaltet zahllose höchst interessante Photographien. Sie unterstreicht somit die Wertigkeit der Box, die nicht nur für den Furtwängler-Enthusiasten eine wirkliche  Bereicherung darstellt und schon jetzt als eine der gelungensten Neuerscheinungen des Jahres 2021 gelten darf. Daniel Hauser