Janus-Köpfiges

 

Es ist sicher kein Zufall, dass Michael Spyres und Jonas Kaufmann zu meinen Lieblingstenören der letzten Jahre zählen. Beide haben eine interessante Karriere vom lyrischen zum schweren Tenor hinter sich, beide konnten/können  Koloraturen singen, aber beide haben die dunkle Tiefe für den Aeneas/Berlioz und Tristan.

Nun ist das mit dem Stimmfach so eine Sache. Das Wort „Fach“ findet sich sogar im englischen und französischen Jargon für Sänger, Theater stellen Sänger nach dem „Fach“ ein. Aber was wir heute darunter verstehen ist mindestens erst seit der Verdizeit so im Gebrauch. Die Vierereinteilung in Sopran, Tenor, Bariton und Bass findet sich vor allem in Verdis Opern, nicht bei Donizetti oder Bellini oder Rossini. Das Wort Bariton taucht davor kaum auf (wenngleich Meyers Lexicon von 1830 den Bariton bereits beschreibt). Was ist ein Bariton? Ein Zwischenfach zwischen Bass und Tenor (von beiden wie den anderen beiden Begriffen gibt es Spiel- oder Unterarten)? Dramatische Soprane waren (und sind es heute manchmal) gelegentlich ehemalige Mezzoprane, oft kurze Soprane, sogenannte „Falcons“ (nach Meyerbeers Cornélie Falcon). Es gibt kurze Tenöre, die Bariton-Martins (nach dem gleichnamigen Sänger). Es gibt helle Bässe, die leicht bestimmte lyrische Bartiton-Partien singen können. Es gibt Tenöre, die sich als falsche Baritone gebärden (s. der peinlich abgewrackte Domingo). Viele Counter sind eigentlich Baritone oder (seltener) Tenöre mit guter Falsettlage.

Michael Spyres/Foto Marco Borelli/Erato

Rossini hatte diese Probleme nicht, und seine Opern stellen eine Zeitenwende auch in dieser Hinsicht dar. Sein Otello wimmelt von Tenören, wie auch seine Armida – aus dem Barock kommend singen hier die hellen und dunklen Stimmen des sogenannten „Tenor-Fachs“ (im Barock wurden weitgehend nur die Väterpartien von Tenören dargestellt), und die dramatischeren könnten heute durchaus als helle Baritone durchgehen.

Nach Rossini findet sich dieser Stimmtyp m. W. nicht mehr (Verdis Tenöre sind eben Tenöre der Neuzeit, keine männlichen Falcons), es gibt auch so gut wie keine Tenorduette danach (ich habe nur noch die merkwürdigen Puritani aus Bari/Warner mit Katja Riciarelli in der sogenannten Malibran-Version gefunden, wo der Tenor Juan Luque Carmona/Riccardo mit Tenor Carlo Gaifa „Suoni la tromba“ schmettert).

Chris Merritt als Rossinis Otello/ IMDB

Rossini, der Tenorduette liebte und mit seinen beiden Standard-Tenören Nozzari und David das Modell der kontrastierenden tiefen und hohen Tenöre setzte, bleibt darin einzig. Die moderne ideale Entsprechung der beiden Genannten war für mich Chris Merritt und Rockwell Blake, beide unerreicht in Virtuosität und Komplementierung, beide ebenbürtig in ihrer Virtuosität, aber eben verschieden in der Stimmfarbe. Der heutige Verfall der Kenntnis von diesem historischen Tenortandem zeigt sich immer wieder in der falschen Besetzung der Partien beider, wenn jemand wie Florez den Giacomo in der Donna del Lago singt und ein noch leichterer wie Matteuzzi etc. den Rodrigo singt, der ja eine dunkle Nozzari-Partie war. Das gilt für andere Opern wie Ermione oder Zelmira noch deutlicher, wie Blake-Merrit vorexerziert haben. Die Farben stimmen heute nicht mehr und damit nicht mehr die Gewichtung. Der von Rossini gewollte Kontrast ist nicht mehr zu erleben. Dieses Gegeneinanderstellen von Tenorstimmen hört m.- W. mit Rossini auf, bzw. findet sich nur noch in abgespeckter Form, wenn der zweite Tenor zum Stichwortgeber reduziert wird – vergl. Normas Pollione und Freund Flavio. Die tiefen Tenorhelden wandeln sich zu echten Baritonen wie Guillaume Tell, Hamlet oder Masianello.

Rockwell Blake: „Mosé in Egitto“ in der berühmten De-Ahna-Produktion in Neapel und Pesaro/ROF/Blake

Wenn man heute darüber nachdenkt könnte ein Telramund durchaus auch einen Tristan singen und vice versa. Tristan liegt wie die Isolde weitgehend auf der Mitte, und die Tessitura hält sich in Grenzen, ist eher Kraftsache. Eben wiederum eine Frage der Stimmfarbe. Wir denken heute zu sehr in „Fach“-Kategorien. Jonas Kaufmann war ein für mich idealer Tristan, von Mozart und Verdi kommend. Sein Otello hingegen hat mich nicht überzeugt, da bleibe ich bei Mario del Monaco. Wiederum eine Frage des Strahls und der Farbe, die bei ihm bereits für Otello zu dunkel war.

„Baritenore“ nennt Michael Spyres im nachfolgenden Aufsatz zu seiner neuen CD bei Erato diese Gattung: dunkle Tenöre mit dramatischem Impetus und gutfundierten tiefen Noten.

Michael Spyres´ CD gibt Anlass zum Nachdenken (wenngleich ich diese Bunte Obstplatte zwischen Rossini, Wagner, Ravel (!) und Léhar etwas verwegen finde – warum Lohengrin in Frazösisch? –  und ich eher den Verdacht habe, Spyres schafft sich hier ein neues Repertoire, nun wo seine Höhe schwerer und nicht mehr so strahlend daherkommt, wie man beim Aeneas und bein Benvenuto Cellini hören konnte. Aber seine glorreiche stimmliche Beweglichkeit, seine sinntragende Diktion, seine satte Tiefe und seine hochvirile Ausstrahlung lassen ihn zum idealen Sänger des großen französischen Heldenrepertoires erscheinen. Daher bitte nach dem Fervaal (D´Indy) und Aeneas (Berlioz) auch einen Sigurd (Reyer) und das ganze wunderbare verlorene Repertoire, das mangels geeigneter Tenorstimmen bei unseren Nachbarn nicht mehr aufgeführt wird. Und warum nicht einen Alphonse in der Favorite und andere französische Bariton-Partien, die ja eh höher liegen als ihre italienischen Gegenparts. Der dunkle (Tenor-)Klang macht den Charakter der Rolle jugendlicher, wie Carmen als Sopran und nicht als mütterlicher Mezzo.

Jonas Kaufmann als Tristan an der Bayerischen Staatsoper/FOto Hösl

Man mag sich wie gesagt über die Auswahl auf der neuen Spyres-CD streiten, aber seine Überlegungen zu seiner eigenen Stimme und zu einem vergangenen (vergangenen) Stimm-Ideal sind bemerkenswert. Ein toller, kluger Sänger gibt uns einen spannenden Geschichtskurs, den er bereits mit der vorherigen Platte  im Tandem mit Lawrence Brownlee auf deren überraschender CD Amici & Rivali  bei Erato begonnen hatte, wo beide eben die Bandbreite der Rossinischen Tenöre (sogar den Unterschied der französischen und italienischen Stimmfarben) aufzeigen und zudem betörend singen.

Bernd Hoppe bespricht die neue CD von Michael Spyres und anschließend lassen wir den Tenor selbst zu Wort kommen, mit Dank an Erato/Warner.

 

Bereits bei seiner letzten ERATO-CD mit Rossini-Arien und -Duetten (Amici e Rivali) hatte sich der amerikanische Tenor Michael Spyres im Bariton-Fach versucht, als er mit seinem Gesangspartner Lawrence Brownlee im Duetto Figaro/Almaviva aus dem Barbiere die Bariton-Partie übernahm und eine erstaunlich fundierte Stimme mit baritonalem Kern hören ließ. Nun stellt er auf seiner neuen, im August und Oktober 2020 aufgenommenen Platte bei derselben Firma mit dem Titel Baritenor dieses besondere Stimmfach vor und äußert sich im Booklet ausführlich über die Gattung (0190295156664). Von den 18 Nummern des Programms finden sich neun Tenor-Kompositionen, beginnend mit der großen Arie des Titelhelden aus Mozarts Idomeneo, „Fuor del mar“, die hier in der kompletten Fassung und noch dazu mit zusätzlichen Verzierungen zu hören ist – eine tour de force der Koloraturen, die Spyres mit stupender Bravour absolviert. Zudem vermag sein dunkles Timbre die Vaterfigur perfekt zu imaginieren. Der nächste Tenortitel ist eine Weltersteinspielung – die Szene des Edgard, „Ô Dieux! Écoutez ma prière“ aus Méhuls Ariodant. Für deren Dramatik ist Spyres Stimme ideal. Auch der folgende Ausschnitt, die Arie des Licinius „Qu’ai-je vu!“ aus Spontinis La Vestale, ist eine Rarität und weist den Sänger gleichfalls als kompetenten Interpreten aus. Mit dem Duett Otello/Jago (Sangbae Choï) aus Otello wendet sich der Sänger Rossini zu, einem seiner favorisierten Komponisten. Hier hört man von ihm einen enormen Stimmumfang mit phänomenalen Spitzennoten, heroischen Aplomb, aber auch kultiviertes Melos.

Der nachfolgende Titel ist ein Tenor-Hit: das Lied des Chapelou aus Adams Le Postillon de Lonjumeau, welches einen Stimmumfang bis zum hohen d erfordert – für Spyres kein Problem. Darüber hinaus stattet er die Nummer mit viel Charme und zusätzlichen Trillern aus. Ähnlich bravourös ist die sich anschließende Arie des Tonio, „Ah! mes amis“, aus Donizettis La Fille du régiment, in der nicht weniger als neun hohe Cs zu absolvieren sind. Spyres’ Vortrag hat Esprit, Verve und Brillanz. Auch eine bekannte Nummer ist das Lied des Kleinzach aus Offenbachs Les Contes d’Hoffmann. Spyres hat die Partie am Liceu von Barcelona gesungen und man merkt seiner differenzierten und fesselnden Interpretation die Bühnenerfahrung an. Mit der Gralserzählung des Lohengrin in der original französischen Version („Aux bords lointains“) gibt es noch eine Besonderheit. Die Stimme klingt wunderbar ätherisch, aber auch gebührend heroisch und der Sänger prädestiniert sich mit seiner Interpretation für Auftritte in Bayreuth und anderen Wagner-Zentren. Auch der Schluss der CD ist mit Marietta Lied, „Glück, das mir verblieb“, aus Korngolds Die tote Stadt ungewöhnlich, denn eigentlich handelt es sich um ein Duett zwischen Marietta und Paul, das oft die Soprane für sich als Arie beanspruchen, da Paul nur kurze Einwürfe beisteuert. Hier hat sich der Tenor des Titels bemächtigt und sorgt damit für einen effektvollen Ausklang der Platte.

Die Bariton-Kategorie beginnt mit zwei Mozart-Titeln – der Arie des Conte Almaviva, „Hai già vinto la causa“ aus dem Figaro in einer vom Komponisten verfassten Alternativ-Version, und der Serenade des Don Giovanni aus der gleichnamigen Oper. Hier ist der Eindruck anfangs zwiespältig, denn die Stimme klingt in der Tiefe matt und vermag den resoluten Ausbruch des Conte nicht adäquat zu vermitteln. Die heiklen Spitzentöne in dieser Fassung gelingen dem Interpreten dagegen vorzüglich. Das Solo des Don Giovanni, „Deh, vieni alla finestra“, gerät etwas beiläufig, die erotische Komponente fehlt.

„Baritenor“ Michael Spyres als Rodrigo in Rossinis „Donna del Lago“ in London/ Foto ROCG/Barda

Auch eine Komposition von Rossini findet sich im Bariton-Register – Figaros „Largo al factotum“ aus dem Barbiere. Sie ertönt reich verziert und in lautmalerischer Vielfalt der imitierten Stimmen  und Geräusche. Zwei weitere italienische Beispiele bedeuten sogar einen Vorstoß in dramatische Gefilde – die Arie des Conte di Luna, „Il balen“, aus dem Trovatore und der Prologue des Tonio aus Leoncavallos Pagliacci. In ersterer klingt die Stimme gebührend viril, ausladend in der Höhe und fließend in der Kantilene. Im zweiten Titel trumpft sie imponierend auf, vermag aber auch mit schmerzlich umflorter Tongebung die Tragik der Szene zu vermitteln. Mit zwei französischen Bariton-Beiträgen beweist Spyres seine Vielseitigkeit, singt mit Elan und Raffinement das Trinklied des Hamlet aus Thomas’ gleichnamiger Oper („Ô vin, dissipe la tristesse“) und träumerisch-delikat die Szene des Ramiro, „Voilà ce que j’appelle“, aus Ravels L’Heure espagnole. Sogar einen Ausflug ins Genre der Operette offeriert Spyres mit dem nonchalant servierten Lied des Danilo, „O Vaterland“, aus Lehárs Die lustige Witwe. Der letzte Bariton-Titel ist ein Ausschnitt aus Orffs Carmina Burana, „Dies nox et omnia“, und bestätigt das enorme Repertoire-Spektrum des Sängers, der hier nochmals mit neuen Farben aufwartet.

Auch das begleitende Orchestre philharmonique de Strasbourg unter Leitung von Marko Letonja zeigt sich den unterschiedlichen stilistischen Anforderungen souverän gewachsen. Die CD ist in seltener Vollkommenheit gelungen und bietet eine Fülle von Überraschungen und Schönheiten. Bernd Hoppe

 

„Baritenor“ Jean-Blaise Martin, nach dem nachfolgend kurze Tenöre oder hohe Baritone „Baryton-Martin“ benannt wurden/ Amis et Passionés du Pêre Lachaise

Nun also Michael Spyres: Baritenor. Handelt es sich hier um ein reales Stimmfach oder nur um ein clever gewähltes so genanntes Kofferwort, d. h. ein aus zwei Begriffen verschmolzenes Kunstwort? Wie man im Folgenden sehen wird, halte ich den Baritenor für ein in Vergessenheit geratenes Stimmphänomen, das sich während der gesamten Operngeschichte gut sichtbar in den Werken versteckt hat. Auf dem Höhepunkt des Barock im 18. Jahrhundert konnten die Baritenöre aufgrund ihrer Virtuosität und technischen Fähigkeiten mit den berühmt-berüchtigten Kastraten konkurrieren und deren Ruhm sogar übertreffen. Im 19. Jahrhundert nahm der Baritenor dank seiner Virtuosität, Dramatik und Ambitus einen eigenen Rang ein. Die Rollen in Rossini-Opern forderten eine Beherrschung von mehr als drei Oktaven. Diese geschmeidige Stimme entwickelte sich und passte sich dem Publikumsgeschmack an, doch aufgrund der unersättlichen Besessenheit, die Orchesterbesetzungen immer mehr zu erweitern, spaltete sich dieses Zwischenfach schließlich in zwei separate Stimmkategorien. Der 1768 geborene Jean-Blaise Martin war der erste Sänger mit einer solchen „gegabelten“ Stimme und wurde zeitweise als dunkel timbrierter tiefer Tenor oder umgekehrt als heller, hoher Bariton beschrieben. Er war der Namensgeber dieses Stimmtyps des leichten, hohen Baritons, der als „Baryton- Martin“ klassifiziert wurde, denn er besaß die Tiefe eines Bassbaritons kombiniert mit einer Tenorhöhe. Baritenöre kreierten einige der beliebtesten und komplexesten Operncharaktere dank ihres eindrucksvollen Bühnenauftritts und ihrer chamäleonartigen Fähigkeit, den gängigen Stimmfächern zu trotzen.

„Baritenor“ Manuel Garcia Vater als Rossinis Otello/Wikipedia

Der große Lehrer, Komponist und Sänger Manuel Garcia Vater sang nicht nur den Grafen Almaviva bei der Premiere von Rossinis Barbiere di Siviglia, sondern auch Mozarts Almaviva in Figaros Hochzeit in ganz Europa und hatte die besondere Ehre, die ersten Almavivas, Otellos und Don Giovannis in der neuen Welt zu verkörpern. Aufgrund ihrer Schauspielkunst, ihres großen Stimmumfangs, ihrer ausgezeichneten Diktion und ihrer unübertroffenen Technik prägten die heimlichen Baritenöre das dramatische und vokale Komponieren in allen Gattungen vom Barock über die Klassik und Romantik über den Verismo und das 20. Jahrhundert bis heute.

Der ewig unkonventionelle Wolfgang Amadeus Mozart beeinflusste die Vokalkom­position mehr als jeder andere vor ihm, und sein Meisterwerk Idomeneo wurde für den legendären Anton Raaff geschrieben. Die Arie für den König, „Fuor del mar“, ist technisch ein Wunderwerk und gehört zu denjenigen, die Mozart mit einem Höchstmaß an Verzierungen ausgestattet hat. In Figaros Hochzeit experimentierte der Komponist im aufkommenden Baritonfach und beeinflusste seine künftige Ausrichtung. Als er 1789/91 die Oper für Wien überarbeitete, komponierte er eine Alternativfassung der Arie „Hai gia vinta la causa“, die einige der schwierigsten Spitzentöne enthält, die jemals geschrieben wurden: 14 Mal das viergestrichene „g“! Sowohl mit dem Grafen als auch mit Don Giovanni stellte Mozart die Stärken eines Sänger-Schauspielers vor, indem er von seinem Primo uomo die Fähigkeit forderte, sowohl komisch als auch verführerisch zu sein, statt sich nur auf einen ausgewogenen, lauen Charakter und die Schönheit seiner Stimme zu verlassen.

„Baritenor“ Andrea Nozzari als Poliflegante in Mayrs Oper „Il sogno di Partenope“/ Wikipedia

Wie der Graf im Figaro war auch die Rolle des Don Giovanni während des größten Teils des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Vehikel fürTenöre, und einige der bekanntesten Namen in der Geschichte der Tenöre standen regelmäßig als Don Giovanni auf der Bühne, darunter Giovanni Matteo „Mario“ de Candia, Andrea Nozzari, Adolphe Nourrit und überraschenderweise der erste romantische Superstar-Tenor Giovanni Battista Rubini, der die Rollen mit den höchsten Tönen aus der Taufe gehoben hat, die zuvor oder seither jemals für Tenor geschrieben wurden. Das berühmteste Beispiel für einen „Tenor“ als Don Giovanni war der legendäre Manuel Garcia Senior, der von Kritikern einstimmig gelobt wurde, als er Paris mit der Champagnerarie „Finch’han dal vino“, die jedes Mal wiederholt werden musste, im Sturm eroberte.

Mit der Französischen Revolution begann eine neue Ära der Oper, in der der Baritenor in den Hauptrollen zur Stimme der napoleonischen Epoche wurde. Der erste Romantiker, Etienne Mehul, wurde zum produktivsten und einflussreichsten Komponisten seinerzeit, und der große Erfolg von Ariodant hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der neu entstehenden Schule der romantischen Oper. Die Rolle des Edgard wurde für Jean-Pierre Solie geschrieben, dessen einzigartige Karriere als Tenor begann, doch seine größten Erfolge hatte er als Bariton. Solie sang sogar Bassrollen und hob die Partie des Jacob in der Uraufführung von Mehuls biblischer Oper Joseph aus der Taufe. Der Komponist fungierte als wichtiges Brückenglied für das aufkommende Helden-Stimmfach, und er ebnete mit Ariodant den Weg für fast alle folgenden dramatischen Werke. Von den zahlreichen Opern, die in der napoleonischen Ära komponiert und uraufgeführt wurden, war keines erfolgreicher als Gaspare Spontinis La Vestale. Wie Mehul hatte Spontini einen monumentalen Einfluss auf die Richtung, die die Oper nahm, und mit Licinius, Cherubinis Jason, Beethovens Florestan und Simone Mayrs Giasone wurde der Baritenor das vorherrschende Stimmfach für männliche Protagonisten.

„Baritenor“ Jean-Baptiste Chollet als Aubers Fra Diavolo/ Gallica/BNF

Im Gegensatz zu den Turbulenzen der Revolution betrat mit dem großen Maestro Gioachino Rossini der vielleicht einflussreichste Komponist für den Baritenor überhaupt die Bühne. Wie Mozart vor ihm arbeitete Rossini Hand in Hand mit Sängern, um die Grenzen der menschlichen Stimme zu erweitern und sogar zu überschreiten. Rossinis erster Welterfolg war II barbiere di Siviglia, und die Rolle des Figaro wurde für Baritone und Tenöre gleichermaßen zu einer Art Initiationsritus. Es gibt sogar Berichte darüber, dass die Partie des Figaro für ausgewählte Bässe um ein Drittel nach unten transponiert wurde. Von den vielen erstaunlichen Erfolgen, die Rossini in der komischen Oper erzielte, kamen jedoch nur wenige seinem Können bei dem dramatischen Erfolg mit Otello Rossinis nahe. Die Rolle seines Otello veränderte den Lauf der Operngeschichte und mit ihrer dramatischen Wirkung entstand eine der stimmlich anspruchsvollsten Rollen, die jemals für einen Sänger geschrieben wurde. Der legendäre Andrea Nozzari war der erste Otello, und vielleicht warerauch der passgenaueste Sänger gemäß Rossinis Vorstellung, insgesamt schrieb er neun Rollen für ihn. Nozzaris virtuose Charaktere besaßen eine beispiellose Ausdrucksbreite und Tiefe dramatischer Charakterisierung sowie einen Stimmumfang vom zweigestrichenen-G bis zum selten komponierten viergestrichenen d. In Nozzaris Baritenor hatte Rossini das perfekte Ausdrucksvehikel, und mit der Rolle des Otello definierte er einen neuen Kurs für den Tenor als Protagonist, der die aufstrebende Gattung der französischen Grand opera beeinflussen sollte.

„Baritenor“ Marie-Piere de Galli-Marie, erster Max in Webers „Freischütz“ an der Pariser Oper/Wikipedia

Im Gegensatz zu den ernsten Opernthemen der Revolutionszeit sollte die komische Oper eine Fülle von Rollen für den Baritenor entwickeln, da sie zwei wichtige Erfolgsträger, das bevorzugte Stimmfach für den männlichen Protagonisten und ihre Ursprüngen in der komischen Unterhaltung, miteinander verband. Adolphe Adam war einer der erfolgreichsten Komponisten dieses Genres und Le Postillon de Lonjumeau sein größter Erfolg, der weit über tausend Mal gespielt wurde. Die Rolle des Chapelou/Saint-Phar zeigt kluge Anspielungen auf die Ursprünge des Baritenors, und Adam hat die Zwangslage des Baritenors von seinen niedrigen Ursprüngen bis zum Höhepunkt seines Ruhms in eine perfekte Satire gepackt. Die Arie „Mes amis, ecoutez l’histoire“ ist besonders berühmt dafür, wie Adam den Triumph des Baritenors bis hin zu einem klingenden hohen d geschickt nachahmt! Jean-Baptiste Chollet (der erste Chapelou/Saint-Phar) begann als Bariton und avancierte als Saint-Phar mit seiner Paraderolle in Le Postillon de Lonjumeau zum Startenor.

Wie bei Rossini vor ihm sollte auch Gaetano Donizetti sowohl in der ernsthaften als auch in der komischen Oper in Paris große Erfolge erzielen, und seine Oper La Fille du regiment half ihm, neue Höhen des Ruhmes zu erreichen. Während das bemerkenswerte „Ah! mes amis“ mit seinen schwindelerregenden neun hohen Cs wohlbekannt ist, wurde der schillernde Sänger der Uraufführung, Mecene Marie de l’lsle, so gut wie vergessen. Er begann seine Karriere als Tenor, aber nur vier Jahre nach seinem Debüt als erster Tonio sang Marie, so sein Künstlername, ausschließlich Rollen als 1. Bariton. 20 Jahre lang interpretierte er alle Hauptrollen und sang die Uraufführung von Gounods Sapho und Reine de Saba sowie den Robert in Verdis Les Vepres siciliennes.

Richard Wagner etablierte die Neuausrichtung des Baritenor-Stimmfachs und begann im Lohengrin einen Weg zu beschreiten, der dieses Stimmfach zum Heldentenor führen sollte. Nur wenige machen sich bewusst, dass die Blaupause von Wagners bahnbrechendem Komponierens für die Singstimme das Ergebnis des perfektionierten Baritenors war, der an der französischen Grand opera und der eher zentralisierten Revolutionsära geschult worden war.

„Baritenor“ Jean-Baptiste Fauré als Nevers in Meyerbeers  „Huguenots“/ Foto Bialiystok/Ipernity

Die stetig wachsende Orchesterbesetzung der französischen Grand opera und der Wagner-Ära brachte neue Stimmkategorien hervor, und eine dieser neu gebildeten Kategorien war der Verdi-Bariton. In Anlehnung an Rossinis Baritenori schuf Verdi einige der begehrtesten Rollen im gesamten Opernrepertoire, indem ersieh von den revolutionären Tenorpartien zur Wende des 19. Jahrhunderts inspirieren ließ. Verdis Zeitgenosse Ambroise Thomas stellte fest, dass er nach Jahren der Verzögerung und des Wartens auf der Suche nach seiner idealen Ophelia auch keinen geeigneten Tenor für seinen Hamlet finden konnte, so dass er gezwungen war, seine Hauptrolle zu transponieren und dafür als Poliflegante in Mayr ‚s Il sogno di Partenop, einen der Pariser Star-Baritone, auszuwählen. Dieser Schritt erwies sich als großer Erfolg, und bis heute hat noch niemand seine ursprünglich geplante Tenor- Version des Hamlet gehört. Parallel zur französischen Grand opera entstand Mitte des 19. Jahrhunderts die Operette, und von den vielen Operettenkomponisten war keiner produktiver oder berühmter als Jacques Offenbach mit seinen mehr als 120 Bühnenwerken. Les Contes d’Hoffmann war Offenbachs einziges ernstes Werk und im Gegensatz zu Thomas‘ Hamlet konzipierte Offenbach die Rolle des Hoffmann zunächst als Bariton, beendete sie aber später als Tenor. Die ersten beiden Akte existieren in zwei verschiedenen Versionen für Tenor und Bariton. Ob beabsichtigt oder nicht, Offenbachs Hoffmann destilliert die Geschichte des Baritenors, indem ein gemeinsamer Faden in den Stoff des Dramas und der Vokalkomposition der Titelrolle eingewebt ist.

„Baritenor“ Victor Maurel/ Wikipedia

Der Verismo markierte einen Wendepunkt in der Operngeschichte und erhöhte mit seinem aufregenden neuen deklamatorischen Gesangsstil die dramatischen und stimmlichen Anforderungen. Ruggero Leoncavallos Pagliacci ist zu einer der beliebtesten Opern aller Zeiten geworden, und die Rolle des Tonio wurde dem großen französischen Bariton Victor Maurel anvertraut. Neben Tonio schuf Maurel auch zwei der berühmt-­berüchtigtsten Rollen in Verdi-Opern, Jago und Falstaff. Maurels Stimme soll nicht so beeindruckend gewesen sein wie die seiner Bariton-Kollegen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sein Erbe in jeder Hinsicht die Symbiose des singenden Schauspielers widerspiegelt. Neben den wenigen Verismo-Rollen fand der Wiener Operettenstil häufige Einsatzmöglichkeiten für den Baritenor, als dieser mit komischer Unterhaltung Punkte sammelte und einige der nachdrücklichsten Charaktere der Gattung porträtierte. Franz Lehars Lustige Witwe ist eine der wenigen Operetten, die weltweit bekannt wurden, und aufgrund der üppigen Orchestrierung der Wiener Operette wurden die führenden männlichen Hauptrollen entweder von Tenören oder Baritonen gesungen, die den schwierigen Gesangsanforderungen gerecht wurden.

„Baritenor“ Jean Périer als Pelléas/ Wikipedia

Die französische Grand opera wurde nach und nach Geschichte, und mit ihrem Niedergang wurden die Stimmen immer spezialisierter, und das Stimmfach „Baryton-Martin“ erwies sich um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts als der letzte Hoffnungsträger des Baritenors. Der berühmteste Baryton-Martin dieser Zeit war Jean Perier, der insgesamt 16 Rollen uraufführte. Neben Ramiro in Maurice Ravels L’Heure espagnole war Periers Pelleas in Claude Debussys Pelleas et Melisande seine berühmteste Premiere. Parallel zu seiner Opernkarriere spielte er in über 30 Filmen mit. Der Film und die Entstehung des amerikanischen Musicals im frühen 20. Jahrhundert wurden zur neuen Basis für den Baritenor. Einige Baritenor-Rollen sollten in der russischen, deutschen und englischen Oper sowie in der Gattung des Opernoratoriums komponiert werden, aber sie sollten sich als Randbereiche erweisen, und der Baritenor geriet quasi in Vergessenheit. Eine Ausnahme bildeten Carl Orffs Carmina Burana. Orff erwies sich als einer der letzten Komponisten, die den Baritenor nochmals in vollem Umfang einsetzten, indem er eine teuflisch schwere Tessitura vorschrieb, die eine vollständige Beherrschung von Stimme und dramatischem Ausdruck fordert. In seinem letzten Bariton-Gesang in Carmina Burana, „Dies nox et omnia“, enthüllt Orff die wahre Natur und Schönheit der Baritenor-Stimmlage, wenn er für den Sänger ein ätherisches obbligato wie aus einer vergangenen Ära des Vokalkunst schreibt.

(Baritenor)-Wettbewerb: Michael Spyres und Lawrence Brownlee bei Erato

Als die Ära der Opern-Baritenors zu Ende ging, schuf Erich Korngold, eine Art Wunderkind, eine der letzten Rollen dieser Art in seinem brillant komponierten Meisterwerk Die tote Stadt. Richard Schubert sang den Paul in der Premiere – er begann seine Karriere als Bariton, bildete sich aber als Tenor weiter und sang alles von der französischen Grand opera bis Belcanto, Richard Strauss und Wagner. Parallel zu seinem Erfolg in den Rollen von Wagner und Strauss behielt er über seine gesamte Karriere hinweg die Rolle des Eisenstein in Johann Strauss‘ Fledermaus bei, und in der letzten Phase seiner Karriere wechselte Schubert zwischen dem Siegfried und Eisenstein hin und her. Wie bei den Geistern, die Paul in der Toten Stadt heimsuchen, wird das Erbe und der Einfluss des Baritenors immer tief in der Geschichte der Oper eingebettet sein.

Zum Abschluss lade ich die Hörer ein, über die letzte Strophe der ätherischen Arie aus Carmina Burana nachzudenken, die die allgegenwärtige und doch verborgene Kunst des Baritenors mit den Worten „a ramender… statim vivus fierem per un baser“ wiedergibt – was übersetzt bedeutet: „Ich würde lebendig sogleich … durch einen Kuss.“  Michael Spyres/Übersetzung: Anne Schneider

 

Den Artikel von Michael Spyres entnahmen wir mit Dank dem Beiheft zur neuen CD „Baritonor“ bei Erato.