Alfredo Kraus

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Zur Ehre von Alfredo Kraus, aber auch Renata Scotto. Inzwischen nicht nur als eine mehr als verdiente Hommage für den spanischen Tenor Alfredo Kraus, sondern auch als eine Würdigung der italienischen Sopranistin Renata Scotto kann die Box mit zehn Opern-Gesamtaufnahmen gelten, die alle in den Fünfzigern und Sechzigern und abgesehen von Lissabon und Edinburgh auf  italienischen Bühnen oder in italienischen Studios entstanden, wobei die Scotto häufig als Partnerin von Kraus fungierte.

Im Herbst 1999 erwartete das Berliner Publikum den Edgardo des Tenors, und man war tief erschüttert von der Todesnachricht, obwohl bekannt war, dass der Verlust seiner Gattin, die wie seine Schwester die Gastspielreisen des Stars häufig begleitet hatte, ihn 1997 schwer getroffen hatte. Vergleicht man nun heute sein Repertoire in den Sechzigern mit dem der letzten Karrierejahre, fällt auf, dass sich Stimme und damit klugerweise auch Rollenwahl im Verlauf der Jahrzehnte nicht verändert hatten, dass ein Cavaradossi und wenige Rodolfos nur „Ausrutscher“ zu Beginn der Karriere und als Beförderung derselben stattfanden. Außer italienischem Belcanto auch der opera buffa sang Kraus noch viel Französisches wie Gounod und Massenet und kann gemeinsam mit Nikolai Gedda das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, den tenore di grazia  à la Tito Schipa der Opernwelt erhalten zu haben. Die glänzen zwar nicht durch vokales Feuer, durch Süße ( die Schipa hatte) und Farbigkeit, wohl aber durch eine sichere Extremhöhe, Helligkeit und ein ausgeprägtes Stilempfinden, welches Kraus im Verlauf der Karrierejahre, als die Stimme etwas an Biegsamkeit verlor, noch verfeinern konnte.

In den Sechzigern besticht auf allen 20 CDs die Gleichzeitigkeit von vokaler Frische und ausgefeilter Technik, zudem sind die Dirigenten und die Partner durchweg hoch zu schätzende, bei den Sopranen außer der Scotto Maria Callas in der berühmten Lissaboner Traviata, Mirella Freni, Gianna D’Angelo und Teresa Stich-Randall. Interessant ist auch die Bekanntschaft mit Cherubinis wenig bekannter Oper Ali Baba.

Alfredo Kraus mit Maria Callas in der Lissabonner „Traviata“ 1957/ Foto Warner

Gleich zweimal ist Verdis Rigoletto vertreten, 1960 mit einer Studioaufnahme unter Gianandrea Gavazzeni und mit Scotto, Bastianini, Vinco und Cossotto und 1961 aus Triest unter Molinari-Pradelli und mit Aldo Protti in der Titelpartie. Bei der Studioaufnahme glänzen alle Mitwirkenden durch eine vorzügliche Diktion, der Tenor durch die helle, durchdringende Stimme, die viel Brio in „Quest`e quella“ investiert, sich rubativerliebt gibt, ironisch klingen kann und für „La donna è mobile“ viel slancio einsetzt. In der Arie verrät die Stimme nicht ihren leichten Charakter und kann doch heldisch klingen, zärtlich gibt sich das Rezitativ, energisch-elegant klingt die Cabaletta. Scottos Gilda geht alles Soubrettenhafte ab, sie ist keinen Takt lang naiv, sondern lieblich mädchenhaft und dominiert „Bella figlia d’amore“. Bastianini ist natürlich eine Wucht nicht nur in der Vendetta, Vinco hochmusikalisch und Cossotto lässt bereits das Ausnahmetimbre vernehmen.

Bereits nach wenigen Monaten Karriere war Kraus Partner der Callas in Traviata, von der man nicht weiß, ob sie die Ursache für das Fehlen der Cabaletta des Tenors war, der jedoch nur Gutes und Angenehmes über die Zusammenarbeit mit ihr zu berichten wusste. Jedenfalls scheinen beide Stars aneinander zu wachsen, sie zunächst verhalten, er bebend vor Leidenschaft, mit schönem Schwellton am Schluss der Arie. Ein Geheimnis scheint „misterioso“ zu umschweben, der Spitzenton ist spektakulär. Mario Sereni ist der Padre mit tränenumflorter Provenza.

Recht störend macht sich zunächst il maestro suggeritore bei Rossinis Il Barbiere di Siviglia aus dem Neapel von 1958 bemerkbar, in dem Aldo Protti sich als vokaler Kraftmeier gebärdet, Kraus umso aristokratischer wirkt und la Scotto verspielt-zärtlich „una voce poco fa“ feiert.

Alfredo Kraus und Renata Scotto in „Faust“ 1970 in Tokio/Legato

Es bleibt komisch mit Donizettis Don Paquale von 1963 und eine Radioaufnahme ( mit ausführlicher Ansage )aus Edinburgh unter Alberto Erede. Leuchtend, flüssig, elegant ist der Ernesto von Alfredo Kraus, sein „Sogno soave e casto“ hört sich genau so an, und pure Poesie ist „Cercherò lontana terra“. Einen lüsternen Pasquale singt Fernando Corena, von keuscher Koketterie ist die Norina von Gianna D’Angelo, und es fehlen natürlich nicht die halsbrecherischen Duette von Pasquale und Renato Capecchi als Dottore.

Zweimal ist Vincenzo Bellini vertreten, einmal mit La Sonnambula mit Scotto und Vinco in Venedig 1961 unter Nello Santi, wo zunächst das Publikum präsenter ist als die Musik. Aussetzen könnte man auch, dass Kraus, obwohl dies kein Problem für ihn gewesen wäre, nicht die Originalfassung singt, aber trotzdem begeistert er durch eine feine vokale Linie, durch ein souveränes Spiel mit der unendlichen Melodie von „Prendi..“, hochpoetisch und durchaus dem Publikum mit ausgehaltenen Spitzentönen Zucker gebend. Sanft geflutet wird der Sopran von Renata Scotto, entrückt wirkt sie in der Schlafwandlerszene, ihre Pianissimi sind anbetungswürdig. Von schönem dunklem Ebenmaß ist der Bass von Ivo Vinco, der einige Jahrzehnte später mit seinem Neffen Marco Vinco die Partie für das Teatro Sociale di Mantova, wo Alberto Zedda dirigiert, einstudiert.

Renata Scotto und Alfredo Kraus in „La Sonnambula“ in Florenz 1963/ Foto RTM

Einer der ganz wenigen Tenöre, die einen wirklich hochklassigen Arturo in Bellinis I Puritani singen konnten, war sicherlich Alfredo Kraus, der außer mit Mirella Freni wie hier auch mit Christina Deutekom und Montserrat Caballé die Partie einspielte. Die Aufnahme von 1962 stammt aus der Heimatstadt des Soprans, Modena. Ihre Elvira fasziniert durch kindlich hingetupfte Koloraturen, eine unterhörte Reinheit des Klangs und ist hochpoetisch. Sie leuchtet über den Ensembles. Kraus stellt die unerhörten Acuti seiner Partie so wirkungs- wie geschmackvoll aus, die scheinbare Mühelosigkeit seines Singens übt eine nie wieder erlebte Faszination aus. Etwas altmodisch, wenn auch hochpräsent wirkt der Bass von Raffaele Arie, eine sichere Bank war natürlich Attilio D‘Orazi als Rivale des Tenors. Das Orchester aus Modena klingt unter Nino Verchi zunächst wie eine schlecht gestimmte banda musicale, gewinnt aber zunehmend an Format.

Die letzte und von Anfang bis Ende ihres Entstehens mit Pech verfolgte Oper Luigi Cherubinis war Ali Baba, die zunächst einen chinesischen Mandarin zum Helden haben sollte, deren Libretto mehrfach umgeschrieben wurde und die eigentlich nur zwei  Arien, die des Tenors im 1. und die des Soprans im 3. Akt enthält. Ali Baba ist hier der Vater des verliebten Soprans, die Kraus-Rolle die ihres Liebhabers. Teresa Stich-Randall singt zart, innig und rein mit schönem Triller, Kraus textverständlich und unnachahmlich raffiniert-elegant. Seine Spitzentöne werden vom Publikum in  Mailand angemessen honoriert. Dort entstand auch 1961 eine italienische Aufnahme der Perlenfischer mit Pia Malgarini und Giuseppe Taddei.

Es begann mit Lucia di Lammermoor, für die Alfredo Kraus im September 1999    in Berlin vergeblich erwartet wurde, es endet mit Lucia di Lammermoor, die er 1963 in Florenz unter Bruno Rigacci sang, mit Renata Scotto, Sesto Bruscantini und Paolo Washington.  Von Anfang an tragisch umflort klingt die Lucia der Scotto, hochvirtuos ihre Wahnsinnsarie; hell, straff, elegant, vollkommen unangestrengt präsentiert Kraus beispielhaften canto elegiaco und macht die Kassette mit 20 CDs zum erwünschten Begleiter auf die einsame Insel (Pan Classics 10449). Ingrid Wanja

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Alfredo Kraus im Kostüm des Werther/ Publicity Foto Warner/EMI

Dazu fand sich in unserem Archiv ein historisches Interview, das Ingrid Wanja 1995 mit dem Tenor in Wiesbaden machte:

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Eines der großen Wunder der Gattung Oper ist für mich die Glaubwürdigkeit einer sechzigjährigen Butterfly, eines eben- so alten Romeo. Gibt es eine Erklärung für dieses Phänomen? Es ist das Wunder, das sich dank der Phantasie des Zuschauers vollzieht. Es ist das Wunder des konventionellen Thea­ters, bei dem ja die Kulissen bemalte Pappe sind; d. h., schon die Szene ist nicht Realität, sondern braucht die Phanta­sie des Zuschauers, um zum Leben zu erwachen. Der Film konnte etwas Gleichartiges nie erreichen, denn er gibt die Wirklichkeit wieder und lässt den Zuschauer passiv bleiben. Im Theater hingegen muss der Zuschauer selbst kreativ sein. Der Zauber der Sängerstimme hilf ihm dabei, dass sich das Wunder des Theaters, die Imagination, vollziehen kann.

Fast alle Tenöre haben früher oder später Probleme mit der Höhe. Wie gelingt es Ihnen, sich die sicheren Spitzentone zu erhalten? Ich glaube, dass ich mir die sichere Höhe durch zweierlei bewahrt habe: Einmal ist es natürlich ein physiologischer Aspekt; dazu kommt das Wissen um die richtige Technik. Es reicht nicht, dass ein Sänger seine Stimme entdeckt und entwickelt, sie muss ihm seine ganze Karriere hindurch quasi als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung bewusst  sein. Er muss auf jeden Entwicklungsschritt reagieren, ja ihre Entwicklung bestimmen. Ich glaube, ich habe beides, die angeborene Leichtigkeit der Höhe und das Wissen darum, wie ich sie mir bewahren kann.

Heutzutage hört man von den sogenannten großen Tenoren „Che gelida manina“ fast nur noch transponiert, was denkt ein Tenor, der die letzte Szene des Edgardo stets in Es-Dur singt, über diese Kollegen? Ein Sänger sollte nie eine Rolle singen, die er nicht durchgehend in tono bewältigt. Erreicht er die Extremhöhe einer Partie nicht, dann ist es die falsche Rolle fur ihn. Wer das hohe C nicht hat, sollte den Rodolfo nicht singen.

Und die vieler Orts zu hoch gestimmten Orchester sind keine Entschuldigung? Nein, die Differenz ist minimal, nur wenige Frequenzen, und rechtfertigt kein Transponieren. Besser ware es fur den Sänger, sich das Repertoire zu suchen, bei dem keine Manipulationen notwendig sind.

Finden Sie es richtig, vom Komponisten nicht geschriebene, aber traditionell gesungene Höhen zu eliminieren? Damit bin ich nicht einverstanden. Die sogenannte traditionelle Aufführungspraxis ist im Verlauf der Zeit zur Norm geworden. Ein „La donna è mobile“ ohne Spitzenton ist dem Publikum heute nicht zuzumuten. Diese zusätzlichen hohen Töne sind sehr kurz nach der Entstehungszeit der Werke schon hinzugefügt und von den Komponisten oft schon bei den Proben, die sie selbst geleitet haben, toleriert worden. Wenn eine Arie auf ein effektvolles Finale hin komponiert ist, mit einem Crescendo im Orchester, dann ist der Spitzenton für die menschliche Stimme etwas so Natürliches wie das tutti für das Orchester. Die Komponisten haben ihn gern geduldet, wenn ein Sänger dazu in der Lage war.

Haben Ihrer Meinung nach die Cabaletten, zum Beispiel in Rigoletto und Traviata, einen Sinn im musikalischen und szenischen Kontext? Einige haben einen Sinn, andere wurden nur geschrieben, weil es der musikalischen Tradition entsprach. Ich finde, dass die Cabaletta des Duca nach „Parmi veder le lacrime“ dem Gesamtbild von der Figur nichts hinzufügt. Sie macht die Gestalt nicht komplexer, erklärt dem Publikum nichts. Außerdem ist sie im Vergleich zur Arie musikalisch nicht so wertvoll. Hingegen finde ich, daft die Cabaletta des Tenors in Traviata bedeutender ist, weil sie eine neue, sehr wichtige Seite des Alfredo zeigt. Er wird sich seiner und Violettas Situation bewusst, und er macht in  der Cabaletta dieses Reifen der Persönlichkeit deutlich. Vom Psychologischen, aber auch vom Musikalischen her ist diese Cabaletta also durchaus gerechtfertigt.

Meistens macht die Stimme eines Tenors eine Entwicklung durch, die vom Rodolfo zum Manrico oder gar Otello, von Donizetti zu Verdi führt. Ihre Stimme ist über Jahrzehnte die gleiche geblieben. Liegt das in der Natur lhrer Stimme, oder haben Sie bewusst daran gearbeitet? Eine Entwicklung macht wohl jede Stimme durch, aber häufig verlieren sich damit wichtige Vorzüge wie etwa die leichte, selbstverständlich erscheinende Höhe zugunsten der Ausbildung des mittleren Registers. Häufig geht Entwicklung auf Kosten des Timbres. Ich für meinen Teil denke, dass  Volumen nicht Qualität, nicht das berühmte „Metall“ bedeutet. Ich habe es vorgezogen, die Qualität meiner Stimme zu konservieren, statt Volumen zu gewinnen. Volumen bedeutet fur sich genommen überhaupt nichts. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, in meinem Repertoire zu bleiben und alle Partien zu meiden, die eine gewisse Anstrengung fur die Stimme erfordert hatten, denn das hätte zwangsläufig eine Einbuße an Qualität und den Verlust der Höhe zur Folge gehabt. Ich kann mit Stolz behaupten, dass ich ein Repertoire gewählt habe, in dem ich so gut wie einzigartig bin. Ein Sänger sollte ein Zeugnis für die Zukunft hinterlassen. Ich hinterlasse es in diesem Repertoire, in dem ich mich fast perfekt fühle. Absolute Perfektion existiert natürlich nicht, aber wenn man von Rossini bis Puccini alles singen will, kommt man ihr nicht einmal nahe. Ich ziehe es vor, die Nummer Eins auf einem beschränkten Gebiet zu sein.

Ist es Ihrer Meinung nach heute (1995) noch möglich, eine Karriere nach dem Muster der Ihrigen zu machen? Es ist sicherlich schwieriger, denn wir wurden noch bessergeleitet. Es gab noch wirkliche Operndirigenten, die die jungen Sanger betreuten und ihre Entwicklung förderten, die sie davor zurückhielten, ungeeignete Partien zu singen. Während der Proben vermittelten sie den Sängern, wie man ein Rezitativ singt, wie man im richtigen Stil singt, gaben viele wichtige Ratschläge in Bezug auf Technik, aber auch auf Interpretation. Die heutigen Dirigenten sind reine Orchesterdirigenten. So sind die jungen Sänger auf sich selbst gestellt, und das macht natürlich alles viel schwieriger.

Alfredo Kraus und Mirella Freni in „Manon“ an der Scala 1970/ Archivio storico Teatro alla Scala

Man musste früher unbedingt in der Provinz beginnen, an kleinen Theatern, mit weniger anspruchsvollen Partien. Man musste sich zwischen einzelnen Auftritten ausruhen. Aber die Sänger lassen sich heute keine Zeit, sie haben es eilig, Karriere zu machen, sofort viel Geld zu verdienen, berühmt zu werden. Aber um eine solide Basis für eine Karriere zu haben, muB man langsam vorangehen, sonst ist man schnell physisch und psychisch am Ende.

Gibt es eine einzige richtige Art zu singen, eine alleinseligmachende Art, Gesang zu studieren? Für mich persönlich: Ja. Ich betrachte meine Stimme als Instrument, das ich nur in perfekter Art und Weise benutzen will. Dafür gibt es nur eine einzige angemessene Technik des Singens. Die richtige Gesangstechnik wiederum ist eine durchaus exakte Wissenschaft mit eindeutigen Methoden.

Die Autorin: Ingrid Wanja/ I. W.

Das ist das Problem, denn viele Lehrer verstehen nichts von ihrem Metier. Sie richten sich nach ihrer Intuition, und das ist absolut unwissenschaftlich. Sicherlich haben die Sänger alle mehr oder weniger eine Stimme und eine gewisse Gesangstechnik. Auch ein Sänger mit falscher Technik kann  – und nicht nur fur wenige Jahre – Karriere machen, wenn die Stimme robust genug ist. Wenn einer eine schöne Stimme hat, kann er so ohne weiteres berühmt werden. Ein Instrument von einem so großen Zauber wie die menschliche Stimme kann auch ohne eine perfekte Technik fur eine gewisse Zeit die Menschen in ihren Bann schlagen.

Was bedeutet fur Sie Perfektion? Ja, was ist Perfektion? Etwas, das es nicht gibt. Es existiert nur das Streben nach Perfektion. Es ist das Streben in uns, immer besser zu werden, das Bewusstsein, dass das Beste von heute schon das nicht mehr Akzeptierbare von morgen ist. Es ist das Ziel, das wir nie ganz, aber immerhin teilweise erreichen werden. Und das gibt schon eine große Genugtuung und den Ansporn, sich weiter zu vervollkommnen. Ingrid Wanja (1995; Dank auch an Wolfgang Denker für die Archiv-Arbeit)