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Mit gläserner Bravour stellt sich Anthony Roth Costanzo, der als altägyptischer Echnaton an der Met bereits mit Wesen jenseits unserer Vorstellungskraft vertraut wurde, als „I, Dionysos, son of Zeus“ vor. Erbost darüber, dass er aus Theben vertrieben wurde, sucht Dionysos einen neuen Ort und „a way for people to recognize me“. Roth Costanzo adelt mit seinem Kurzauftritt und den weiteren Dracula-Erscheinungen als Stranger und Wolf Prince die 140minütige Oper The Lord of Cries mit dem Untertitel A tragedy for singers and orchestra des amerikanischen Komponisten-Doyens John Corigliano. Ein Musiktheaterstück, das ungeachtet seiner bombastischen Anforderungen ohne harmonische und melodische Experimente auskommt, den großen Chor und die Sänger relativ konventionell einsetzt und sich durch ausgereifte technische und handwerkliche Meisterschaft und einen gewissen Instinkt für Bühnensituationen auszeichnet.
Er wollte es nochmals wissen. Rund 30 Jahre nach der Uraufführung von The Ghosts of Versailles an der Metropolitan Opera, an deren Erfolg das damalige Star-Ensemble nicht unwesentlichen Anteil hatte, brachte John Corigliano 2021 in New Mexico seine von der Santa Fe Opera beauftragte zweite Oper heraus. Eine stolze Leistung des damals 83jährigen, der wie bei The Ghosts of Versailles, wo er sich großzügig bei Beaumarchais, Mozart und Rossini bediente, wieder nach europäischer Kultur- und Literaturgeschichte griff. Aus der verwegenen Verbindung von Euripides‘ Drama Die Bacchantinnen und Bram Stokers Dracula -Roman entstand das Libretto zu The Lord of Cries, geschaffen von seinem Komponistenkollege und Lebenspartner Mark Adamo, was an Barbers Zusammenarbeit mit seinem Partner Menotti bei Vanessa und Anthony and Cleopatra denken lässt.
Adamo erzählt, wie er auf die Idee kam, „I remembered Bram Stoker’s Dracula, which is to The Bacchae what Nahum Tate’s King Lear is to Shakespeare’s: that is, the same story, with only a falsely happy ending distinguishing the compromised copy from the terrifying original. Euripides admitted what Stoker repressed: the monster isn’t on the mountain, or in the city, but in the mirror. …I concluded that mapping Dracula onto The Bacchae could accomplish two things. By using only what the book shared with the play, I could strip away all the unnecessary Gothic kitsch of the novel. And because Stoker’s Victorian England is more familiar to today’s listeners than Euripides’s Thebes is, the opera could use the novel to make the themes of The Bacchae clearer than even the original play could“. Das klingt sehr viel diffuser als es letztlich ist. Die Melange aus Griechischer Klassik und angelsächsischer Schauerliteratur belässt es mit dem London in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als Schauplatz, wo Stokers Figuren – mit gewissen Abweichungen gegenüber dem Roman – mit einem geheimnisvollen Fremden, dem in unterschiedlicher Gestalt auftauchenden Dracula, konfrontiert werden: Lucy Westenra ist mit Jonathan Harker verheiratet, Professor Abraham Van Helsing ist der Ratgeber des Irrenarztes John Seward. Dionysos terrorisiert London und fordert von Seward die Carfax Abbey, was dieser dreimal verweigert. Lucy, derweilen zwischen ihren Gefühlen zu Seward und ihrem Gatten, dessen Geist nach Reisen zum Dracula Schloss verwirrt ist, hin- und hergerissen, verweigert sich ebenfalls Draculas Drängen. Dracula bringt Seward dazu, in Trance einem Wolf den Kopf abzuschlagen. Der Wolf verwandelt sich in Lucy, und Seward hält Lucys Haupt in Händen. Nachdem Dionysos höhnte, „Now look at what you’ve done“ und der das gesamte Geschehen kommentierende Korrespondent der Westminster Gazette vom Ende des wahnsinnig gewordenen Doctor Seward berichtet, erhebt der Chor am Ende warnend seine Stimme, „And deny him not“.
Ein Jahr nach der Uraufführung reiste die nahezu gleichbleibende Erstbesetzung nach Worcester unweit von Boston, wo im November 2022 im prachtvollen neo-renaissance Saal der Mechanics Hall mit dem vielfach bewährten Boston Modern Orchestra Project, dem Odyssey Opera Chorus und dem ebenso bewährten und eminent vielseitigen Gil Rose die als world premiere recording angekündigte Aufnahme von The Lord of Cries entstand (2 CD Pentatone PTC 5187 008). Ebenso wie die gleichfalls bei Pentatone erschienen Ghosts unter James Conlon präsentiert die Lord of Cries-Aufnahme ein effektvolles Stück Musiktheater. The Lord of Cries ist gelegentlich ein heftiger Schocker voll extremer Kontraste, zirzensischer Instrumentalfeinheiten und greller Klangkombinationen, in dem Corigliano seine Sänger vorbildlich bedient, weniger mit Arien, wenngleich Arien und Duette Bestandteil der Partitur sind, sondern mit explosiven Szenen für Chor und Solisten und sorgfältig austarierte Ensembles. Mit seinem keuschen, kindlich reinen Countertenor überzeugt Anthony Roth Costanzo in den vielen Gestalten des Dionysos durch einen verführerischen Sphärenklang. Der markant smarte Bariton von Jarrett Ott als Seward, David Portillos gepflegter Mozarttenor als Jonathan und Matt Boehlers nobler Bass als Van Helsing sind ausgezeichnet als seine Gegenspieler, Kathryn Henry bleibt als Lucy auf dramaturgisch nicht unrechte Weise etwas farblos. Eindringlich der intensive, sing- deklamierende Tenor von William Ferguson als Zeitungskorrespondent. Rolf Fath