Auf den Spuren einer Legende

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Regelmäßig arbeitet GLOSSA mit Filippo Mineccia zusammen und hat schon mehrere Alben mit dem italienischen Countertenor produziert. Das neueste ist Il castrato del granduca betitelt und bietet Arien, die für den Kastraten des toskanischen Großherzogs, Gaetano Berenstadt, komponiert wurden (GCD 923539). Das Booklet beinhaltet einen Einführungstext vom Sänger selbst in mehreren Sprachen und eine tabellarische Übersicht über die Karriere des Kastraten, welche 1708 in Neapel begann und ihn 1717 nach London führte. Dort trat er zunächst in Opern von A. Scarlatti, Mancini und Ariosti auf, bis er 1717 in Händels Rinaldo die Rolle des Argante übernahm. Der Komponist hatte sie bei dieser vierten Wiederaufnahme des Werkes eigens für Berenstadt von einer Bass- zu einer Altkastratenpartie umgearbeitet. Danach folgte eine mehrjährige Periode in Deutschland und Italien, bis er 1722 in die britische Metropole zurückkehrte und dort in mehreren Opern Händels mitwirkte. Diese Jahre bis 1724 gestalteten sich zum Höhepunkt in der Laufbahn des Sängers. Es waren vor allem Ratgeber, Väter und Schurken, die er interpretierte, auch wegen seiner riesigen Statur, die ihn für Frauenrollen ungeeignet erscheinen ließ. Händel komponierte für ihn die Titelrolle in Flavio (1723), den Adelberto in Ottone (1723) und den Tolomeo in Giulio Cesare (1724). Von London kehrte er nach Italien zurück, das er bis zu seinem Tod 1734 nicht mehr verlassen sollte. Er sang dort in Opern von Vinci, Sarro, Hasse, Giay, Giacomelli und im letzten Auftritt im Jahr seines Todes in Orlandinis La Semiramide.

Mineccia hat die Reihenfolge der Arien in seiner Anthologie streng chronologisch geordnet, was dem Hörer Gelegenheit bietet, die Karriere des legendären Sängers in ihrer Entwicklung zu verfolgen. Zu Beginn erklingen drei Arien des Argante aus Händels Rinaldo, also jener Oper, welche 1717 einen Wendepunkt in der Karriere des Kastraten markierte. Die erste, „Sorte amor“, bietet einen vehementen Einstieg in das Programm und erlaubt dem Sänger, auch seine tiefe Lage auszureizen. Auffällig ist ein zuweilen heulender Ton, der früher nicht zu bemerken war. Er findet sich in der zweiten Arie, „Ogni tua bella“, besonders stark. Das  dritte Solo, „Pregio è sol“, ist von lebhaftem Charakter und virtuosem Anspruch. Es folgt die Arie des Oreste „L’incauto che non teme“ aus Lottis Ascanio (Dresden, 1718). Sie ist von rasendem Duktus, den das Orchester mit stampfendem Rhythmus unterstützt. Mineccia kann den Erregungszustand der Figur plastisch einfangen. Die Arie des Pilade, „Vezzosetta tra questi fiori“, stammt aus Gasparinis Astianatte, in der Berenstadt 1719 in Rom auftrat. Sie gibt sich kontemplativ-gemessener. 1722 kam es in Venedig zur Aufführung von Giulio Flavio Crispo von Capelli, in der Berenstadt die Rolle des Flavio Costantino sang. Dessen Arie „Piaccia agli astri“ verlangt eine flexible Stimmführung für die Verzierungen, was Mineccia keine Probleme bereitet. Danach präsentiert er mit der Arie des Adelberto, „Bel labro formato“, aus Händels Ottone wieder ein Glanzstück des Kastraten, kann in seiner Interpretation aber einen jammernden Tonfall nicht vermeiden. Besser gefallt die folgende, munter hüpfende Arie des Sicino  „Nel tuo figlio“ aus Ariostis Oper Cajo Marzio Coriolano. Sie wurde 1723 in London gezeigt wie auch Bononcinis Farnace, in der Berenstadt den Osmano sang. Dessen Arie „O della sorte“ ist ein Klagegesang – für Mineccias Stimme wie geschaffen.

Die letzten vier Beispiele stammen aus Werken, die in Italien zur Premiere kamen: Hasses Astarto 1726 in Neapel, Vincis Didone abbandonata 1726 in Rom, Sarros Siroe 1726 in Neapel und Giays Demetrio 1732 in Rom. In der Arie des Jarba aus Vincis Oper ist der Einsatz baritonal tiefer Töne effektvoll, bei Cosroas Arie „Gelido in ogni vena“ aus Siroe ist der Vergleich mit Vivaldis Vertonung dieses Textes aufschlussreich. Stürmisch wird die Anthologie beendet mit der tobenden Arie „Non fidi al mar“ aus Demetrio – eine jener Gleichnisarien vom schwankenden Schiff auf stürmischer See, welche dem Interpreten neben starkem Ausdruck auch virtuoses Zierwerk abverlangt. Mineccia setzt hier einen glänzenden Schlusspunkt.

Mit dem Ensemble I Musici del Gran Principe unter Leitung von Samuele Lastrucci tritt ein hierzulande weniger bekannter Klangkörper in Erscheinung, der das Programm mit orchestralen Beiträgen schmückt, so mit der lebhaften Ouverture zu Tito Manlio von Ariosti, der Ouverture zu Händels Ottone und der aufgewühlten zu Hasses Astarto. Das Ensemble legt hier mit engagiertem und affektgeladenem Spiel hohe Ehre ein. Bernd Hoppe