Bruckner live aus München

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Zweifellos war der Niederländer Bernard Haitink (1929-2021) eine der prägenden Dirigentengestalten der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, wozu insbesondere seine lange Zeit an der Spitze des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters (1961-1988) beitrug. Ein Zyklus der Sinfonien Anton Bruckners, eingespielt für Philips zwischen 1963 und 1972 (und auch die seinerzeit noch sehr periphere Nullte umfassend), begründete Haitinks Ruf als ernstzunehmenden Brucknerianer. In der Digitalära folgten, ebenfalls auf dem Philips-Label, Studioaufnahmen der Sinfonien Nr. 3, 4, 5 und 8 mit den Wiener Philharmonikern. Mittlerweile ist zudem eine zunehmend unüberschaubare Anzahl an Live-Mitschnitten aus Rundfunkarchiven von Bruckner-Sinfonien veröffentlicht worden, darunter am bemerkenswertesten vielleicht die Fünfte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks von 2010 (BR-Klassik) sowie die Achte mit der Staatskapelle Dresden von 2002 nach der Elbhochwasserkatastrophe (Hänssler).

Die nunmehrige Neuerscheinung (2 CDs) kommt, wie im ersteren Falle, bei BR-Klassik (Bestellnummer 900212) mit dem entsprechenden BR-Klangkörper heraus und enthält, wie im letzteren, abermals die Sinfonie Nr. 8, zu der Haitink offenkundig eine besonders enge Verbindung pflegte. Es handelt sich um die Tonkonserve eines im Dezember 1993 aufgezeichneten Konzerts aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz. Haitink bedient sich, wie in seinen insgesamt drei Studioeinspielungen für Philips (Concertgebouw 1969 und 1981, Wien 1995), der Haas-Edition von 1939, dirigierte aber auch ab und an die Nowak-Edition von 1955, wie aus einer Auflistung bei abruckner.com hervorgeht. Die Fassungsfrage kann bei diesem Komponisten mitunter zu größten Unterschieden führen, doch halten sie sich im Falle der Achten in Grenzen. Ein Blick auf die Spielzeiten offenbart ein Tendenz zur Zurücknahme der Tempi. Kam der Dirigent in seiner ersten Einspielung 1969 noch mit 14 Minuten für den Kopfsatz aus, genehmigt er sich 1993 dreieinhalb Minuten mehr. Ähnliches lässt sich für die übrigen Sätze feststellen: Das Scherzo ist mit knapp 16 Minuten zweieinhalb Minuten langsamer als in den 1960er Jahren, das berühmte Adagio übertrifft in der Neuveröffentlichung mit einer geschlagenen halben Stunde alle anderen Haitink-Aufnahmen recht deutlich. Und auch der Schlusssatz kommt auf stattliche 25 Minuten Spielzeit und steht rein quantitativ an der Spitze. Das etwa 88-minütige Werk verteilt sich auf den beiden CDs, wie bei der Achten unumgänglich (CD-Wechsel zwischen dem zweiten und dritten Satz). Eine gewisse Verschiebung von einer vorwärtsdrängenden Dramatik hin zu einer kontemplativeren Lesart ist kaum abzustreiten. Das sehr luftige und andernorts verdeckte Details hörbar machende Klangbild aus Bayern, in der frühen Concertgebouw-Einspielung von 1969 recht kompakt und in jener von 1981 leider zu verwaschen, lässt auch die sehr ordentlich abschneidende Wiener Studioaufnahme aus den 90ern weit hinter sich.

Gewissermaßen als Zugabe wurde auf der ersten Disc das Te Deum beigesteuert, welches auf einem Konzertmitschnitt vom November 2010 aus der Münchner Philharmonie im Gasteig beruht. Dieses gewiss berühmteste Vokalwerk Bruckners spielte Haitink bereits 1966 im Concertgebouw Amsterdam sowie 1988 im Wiener Musikverein ein. Die Tempomaße unterscheiden sich in allen drei Aufnahmen eher unwesentlich (23:30 in der Neuerscheinung). Neben dem vorzüglichen Chor des Bayerischen Rundfunks konnte ein hochkarätiges Solistenquartett gewonnen werden: Krassimira Stoyanova (Sopran), Yvonne Neef (Mezzosopran), Christoph Strehl (Tenor) und Günther Groissböck (Bass). Klanglich profitiert die BR-Aufnahme von einer überlegenen Leistung der Tontechniker.

In der Summe künstlerische Leistungen ohne Fehl und Tadel und eine lohnende Anschaffung auch für diejenigen, die „ihren“ Haitink-Bruckner komplett im Regal stehen haben. Daniel Hauser