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Frédéric Chaslin ist ein wahrer Tausendsassa. Seit Jahrzehnten einer der gefragtesten Dirigenten, ist der Franzose auch ein vielbeschäftigter Komponist mit einem beeindruckenden Werkverzeichnis, das unter anderem mehrere Opern beinhaltet. Auch als Pianist bestreitet Chaslin regelmäßig Konzerte und macht Studioaufnahmen, außerdem hat er verschiedene Bücher geschrieben. Zurzeit leitet er „Les Contes d’Hoffmann“ an der Dresdner Semperoper. Beat Schmid hat mit dem Künstler über Offenbachs Oper und deren verschiedene Fassungen gesprochen, sowie über seine Tätigkeit als Komponist, seine Ausbildung als Assistent Barenboims und Boulezs und vieles mehr.
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Im Oktober und November kehren Sie wieder an die Dresdner Semperoper zurück. Auf dem Programm steht „Les Contes d’Hoffmann“, in der Produktion, die unter Ihrer musikalischen Leitung in der Spielzeit 2016/17 dort Premiere feierte. Sie dirigieren diese Oper seit Jahrzehnten, in Häusern wie der Metropolitan Opera, der Wiener Staatsoper bis zuletzt in diesem Jahr an der Mailänder Scala. Könnten Sie Ihre Herangehensweise an diese Oper erklären, den Unterschied zwischen den verschiedenen Versionen und ob Sie sich letztendlich für eine bestimmte Ausgabe entschieden haben? Beabsichtigen Sie, eine eigene kritische Ausgabe zu veröffentlichen? Es gibt eigentlich nur noch drei offizielle Fassungen. Die ursprüngliche französische (Choudens), die damalige von Oeser für Alkor, für die viel Material plötzlich aufgetaucht ist, und natürlich die Fassung von Schott, die ein Haufen von Manuskripten auf den Markt gebracht hat. Ich bemühe mich seit Jahren darum, ein wenig Ordnung und Klarheit hinein zu bringen, aber das ist eine sehr schwierige Sache. Denn es ist völlig unklar, was Offenbach wirklich geschrieben hat und was seine Pläne für Hoffmann Erzählungen gewesen wären. Es ist wirklich eine Detektivarbeit « à la Sherlock Holmes ». Ich bereite eigentlich eine neue Edition vor, in der ich alles klar vorstellen werde, und mich besonders bemühen werde, die Orchestrierung zu vereinigen. Denn es gibt zu viele Hände, die sich im 20. Jahrhundert eingemischt haben. Und man spürt das stilistisch an manchen Stellen. Ich habe damit bereits im März für die Mailänder Scala begonnen, aber dann hat die Zeit gefehlt, diese neue Edition bis dahin fertigzustellen.
Ich habe den „Hoffmann“ in mehr als 30 verschiedenen neuen Produktionen und über 500 Vorstellungen im Laufe von 25 Jahren dirigiert. Für meine Herangehensweise ist sowohl meine Erfahrung, als auch meine eigene Ausbildung als Komponist, und natürlich als Dirigent zentral. Nachdem ich zwölf Opern selber geschrieben habe, und vieles von anderen Komponisten gründlich studiert habe, erlaube ich mir nun, ein wenig tiefer in diese Partitur zu schauen. Wie gesagt, ich bereite meine eigene Fassung vor. Ich bin der Meinung, dieses Stück wird für immer und ewig unvollendet bleiben, man muss aber eine richtige Anzahl von möglichen Kombinationen anbieten, sodass jede Produktion sich das Stück wieder „zusammenbasteln“ kann. Nur wichtig für mich ist, ganz genau zu wissen, was Offenbach ist, was 50 % Offenbach ist und was null Prozent Offenbach ist. Das ist das Ziel meiner zukünftigen Edition. Aber um Ihre Frage genauer zu beantworten:
Die „originale“ Choudens-Edition ist eine Mischung aus dem, was Offenbach und seine engen Freunde, Ernest Guiraud und Raoul Gunsbourg hinterlassen haben. Es hat bis zu 20 Jahre gedauert, bis der Antonia-Akt zu dem « vollendet » war, wie man es heute hören kann. Die « Barcarolle » zum Beispiel, war in der ersten Partitur im Antonia-Akt, denn es gab noch keinen Giulietta-Akt. Das kann man sogar auf IMSPL.COM nachlesen, unter Hoffmanns Erzählungen, ganze Partituren.
Dann hat Fritz Oeser für Alkor ein paar « Erfindungen » gemacht, besonders die « Violinen » Arie im Antonia-Akt für die Rolle des Nicklausse, und den ziemlich pompösen Schluss der Oper, der sehr wagnerisch klingt, wenig nach Offenbach. Aber jetzt liebt jeder dieses Finale. Ob es echt Offenbach ist, kann ich nicht sagen, denn ich habe umsonst mehrmals um das Manuskript gebeten und nie eine Antwort bekommen. Eines ist sicher: das Arrangement und die Orchestrierung sind von Oeser, denn Offenbach hat NUR die Arie des « Kleinzack » orchestriert. Das, zum Beispiel, wird bearbeitet, damit es nach einem echten Offenbach klingt.
Dann kam die Schott-Fassung mit extrem viel neuem Material. Die Quelle habe ich gefunden, und sie liegt nun in der Bibliothek der Universität Stanford, wo man sie online lesen kann. Mehrere hundert Seiten, die nicht aus Offenbachs Feder sind. Die Schott-Fassung hat auch sehr viele Fehler, manchmal «italienische Ausdrucks-Hinweise» wie « meno molto », was im Italienischen nicht existiert. « Wenig viel », oder « less much » oder « moins beaucoup » funktioniert in keiner Sprache. Ein kleines Beispiel von vielen anderen Fehlern.
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Sie sind ja auch Komponist und haben unter anderem mehrere Opern geschrieben. Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben? Schreiben Sie lieber Instrumentalmusik oder Vokalmusik? Ich schreibe zwar Instrumentalmusik, aber meine Vorliebe geht zur Stimme, zur Oper, zu Liedern. Alles, was ursprünglich aus einem Text stammt. Das Drama interessiert mich mehr als alles andere, darum bin ich Opern-Dirigent geworden. Ebenso denke ich, dass eine Sinfonie ein inneres Drama hat, das man wie ein Opern-Dirigent oder Opernregisseur betrachten kann. Mein Stil würde ich etwas zwischen Britten und Bernstein ansiedeln, manchmal extrem in Richtung Popmusik gehend, aber immer durch den Filter meiner klassischen Ausbildung.
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Sprechen wir über Ihre neueste Oper, Monte Christo. Wie ist sie entstanden? Wie sind Sie auf das Thema gekommen, und was können Sie unseren Lesern über die Charakteristika dieser Oper erzählen? Es ist eigentlich nicht mehr meine neueste Oper, denn ich habe inzwischen ein 60 minütiges Stück nach Jean Cocteau für Mezzosopran und Orchester komponiert. Sozusagen der Zwillingsbruder von La Voix Humaine. Eine komische Oper für Lissabon, mit einem Text von Jose Saramago. Das Stück wird nächstes Jahr uraufgeführt. Und gerade schreibe ich die letzte Seite von „Der kleine Prinz“ nach Saint-Exupéry. Monte Christo habe ich vor drei Jahren fertig geschrieben und ich bin froh, dass das Werk noch nicht uraufgeführt worden ist. Denn vieles habe ich inzwischen verbessert. Es handelt sich um eine Oper, die eine Brücke zwischen der klassischen Oper und der musikalischen Komödie schlägt. Ein wenig wie Bernsteins Candide…
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Zuletzt sind zwei Alben erschienen, für die Sie sowohl Musik geschrieben haben, als auch als Pianist beziehungsweise als Dirigent vertreten sind. Können Sie uns mehr über das Poulenc Album erzählen und über Rendez-Vous? Rendez-vous ist ein Zyklus von 6 Melodien für Sopran, Trompete und Klavier, nach drei verschiedenen Dichter. Die Idee war, das Repertoire für dieses Mini-Ensemble auszuweiten und ein richtiges Konzertprogramm zusammenzubauen. Deswegen haben wir auch sechs Texte schreiben lassen, die zu jeder Melodie passen.
Das Poulenc Album, das in Venedig am Teatro La Fenice aufgenommen worden ist, besteht aus « La Voix Humaine » mit Juli Cherrier-Hoffmann, meine Frau, und sieben Melodien von Poulenc, ursprünglich für Klavier, die ich für das Album orchestriert habe, damit nun auch ein Poulenc-Zyklus zum Konzertrepertoire für Sopran und Orchester zählt.
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Und welche Beziehung haben Sie zum deutschen Repertoire? Ich bin ja quasi im deutschen Repertoire geboren. Als Pianist, als Assistent in Bayreuth (1988), als Student in Salzburg, als Generalmusikdirektor in Mannheim (2004-2007) und generell in 22 Jahren an der Wiener Staatsoper.
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Sie waren der Assistent von Daniel Barenboim und Pierre Boulez. Wie war Ihre Beziehung zu diesen musikalischen Giganten und wie war die Zusammenarbeit mit ihnen? Diese Zusammenarbeit ist der Boden, auf dem ich jetzt stehe. Drei Jahre mit jedem. Barenboim hat mir alles über die Kunst des Klanges beigebracht, mit Boulez habe ich gelernt, die verschiedenen Aspekte der Musik gründlicher zu betrachten und die Organisation der Arbeit optimal vorzubereiten. Die beiden waren bzw sind extrem verschieden. Für mich deshalb wie zwei Seiten einer Medaille.
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Sie dirigieren gleichermaßen Opern und Symphonien: Haben Sie eine Vorliebe für eines der beiden Genres? Nein, beide sind notwendig, um ein kompletter Dirigenten zu sein. Und es ist wichtig, regelmäßig zur Symphonie zurückzukehren, denn nur da arbeitet man gründlich und bis zum Kern…
Und drei Worte zu ihrem musikalischen Werdegang? Wie haben Sie zur Musik gefunden? Wir wissen, dass Sie eine Art Wunderkind und mit 9 Jahren der jüngste Organist Frankreichs waren… Es hat mit fünf angefangen, mit Klavier und « Komposition ». Ich schrieb mit Zeichnungen, die für mich eine Bedeutung hatten. Das Heft habe ich noch immer, kann es leider nicht mehr entziffern. Die Orgel war eine Art Mini-Orchester für mich und eine Vorbereitung für das, was später gekommen ist. Regelmäßig kehre ich zurück zur Orgel, sowohl um die Technik nicht zu verlieren, als auch, weil ich einfach Lust darauf habe. (alle Fotos Martinez)