Nobel geht die Welt zugrunde! Dieses Zitat des russisch-ukrainischen Schriftstellers Nikolai Gogol mag auf den ersten Blick nicht unpassend erscheinen für die neue Luxusausgabe, welche das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker vorlegt: Mit der 22 hybride SACDs umfassenden Hardcover-Edition Wilhelm Furtwängler: The Radio Recordings 1939-1945 ehrt das führende Orchester Deutschlands seinen vermutlich bedeutendsten Chefdirigenten und beschränkt sich gleichzeitig doch bis auf eine einzige Ausnahme auf die berühmten Kriegsaufnahmen, die unter Kennern oft als seine allerbesten angesehen werden. Um es gleich vorwegzunehmen: Wirklich Neues wird man hier gleichwohl nicht vorfinden. Furtwängler-Fans kennen die hier vorgelegten sämtlichen Rundfunkmitschnitte der Kriegsjahre seit geraumer Zeit in unterschiedlichen Ausgaben und Klangqualitäten. Also lediglich alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht ganz!
Zunächst aber noch einige grundsätzliche Ausführungen. Enthalten sind 42 Werke in Produktionen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG), wobei die Jahre 1942 bis 1945 eindeutig den Schwerpunkt bilden, nämlich 21 der 22 SACDs ausmachen. Auf der ersten CD sind die einzig auf Schellack erhaltenen Konzerte vom 19. Jänner 1939 – und somit die einzige Vorkriegseinspielung (Furtwänglers eigenes Klavierkonzert mit Edwin Fischer) –sowie vom 13. September 1939 – also kurz nach Kriegsbeginn (Händels Concerto grosso Nr. 5 sowie Beethovens fünfte Sinfonie) – enthalten. Bereits hier zeigt sich ein Charakteristikum der Edition, haben sich doch nicht alle seinerzeit im Konzert aufgeführten Werke als Tonaufnahme erhalten. So ist die im erstgenannten Konzert ebenfalls dargebotene erste Sinfonie von Beethoven genauso verschollen wie etwa drei Minuten im Finalsatz der fünften Sinfonie im letzteren. Bei den übrigen enthaltenen Aufnahmen handelt es sich durchgehend um Tonbandproduktionen. Bereits auf dieser ersten SACD zeigt sich der Gewinn durch die Neuausgabe, ist die bisher klanglich doch nur arg desolat überlieferte Einspielung hier doch erstmals trotz aller Einschränkungen halbwegs genießbar dokumentiert.
Die Tonband-Aufnahmen sind den bekannten Überspielungen klanglich per se überlegen. Im Allgemeinen ist das Klangbild räumlicher (beinahe pseudo-stereophonisiert) und natürlicher als in den bislang landläufig bekannten offiziellen Ausgaben der Deutschen Grammophon Gesellschaft und von Melodija. Letzteres Label legte viele der Jahrzehnte lang verloren geglaubten Furtwängler-Aufnahmen, die in die Sowjetunion verschleppt worden waren, erstmals vor. Doch auch gegenüber ambitionierten neueren Ausgaben von Labels wie Tahra oder der Société Wilhelm Furtwängler können diese Neuauflagen punkten. Störgeräusche wurden behutsam gefiltert, was in den meisten Fällen durchaus als gelungen bezeichnet werden darf; nur ab und an wäre weniger vielleicht mehr gewesen, da sich besonders an den leisen Stellen gewisse Klangartefakte der entfernten Publikumsgeräusche erhalten haben. Dies mindert den grundsätzlichen Wert dieser Vorgehensweise allerdings nur marginal.
Das hochinformative, nicht weniger als 184 Seiten umfassende Begleitbuch (welches wirklich die Bezeichnung Buch verdient) listet zunächst sämtliche hier berücksichtigten Konzerte minutiös auf und spart, grau unterlegt, auch die als Toneinspielung verschollenen Werke der Programme nicht aus. Diese Akribie ist absolut begrüßenswert und hebt sich wohltuend ab von einer gewissen Schludrigkeit, wie sie bei neueren Editionen der letzten Zeit häufiger zu beobachten war. Überhaupt macht diese luxuriöse Box einiges her und rechtfertigt damit letztlich auch den hohen Anschaffungspreis, bei dem umgerechnet gut zehn Euro pro SACD aufgewendet werden müssen. Insofern versucht sich das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker bewusst von den ramschartig auf den Markt geworfenen Mammutboxen der Majors abzuheben. Klasse statt Masse. Dies gilt auch für die Spielzeiten der SACDs, die durchschnittlich nur etwa 50 Minuten Musik enthalten, dabei aber die Geschlossenheit und den Zusammenhang der einstigen Konzertprogramme wahren.
Zur künstlerischen Qualität der hier enthaltenen Aufnahmen muss im Grunde genommen nicht mehr allzu viel gesagt werden. Sie zu preisen, hieße Eulen nach Athen tragen. Auf der zweiten SACD ist ein reines Richard-Strauss-Programm enthalten mit den Vier Liedern mit Orchesterbegleitung (Solist: Peter Anders) und dem Don Juan. Auf SACD 3 hat man eine bislang vornehmlich in der Filmfassung bekannte Darbietung des Meistersinger-Vorspiels vor versammelten Arbeitern der AEG-Fabrik in Berlin vom 26. Februar 1942 berücksichtigt. Den Rest des Programms machen Schumanns Klavierkonzert (mit Walter Gieseking) sowie Beethovens Siebente aus, wobei hier unsicher ist, ob letztere ebenfalls auf den März 1942 datiert werden kann oder nicht doch eher vom Oktober/November 1943 stammt. Diese Unklarheiten verdeutlichen die schwierige Quellenlage, deren Aufarbeitung trotz intensiver Bemühungen nach wie vor an ihre Grenzen stößt. Dem Furtwängler’schen Feuerwerk tut dies freilich keinen Abbruch, sind gerade diese Tondokumente der fürchterlichen letzten Kriegsjahre doch in ihrer existenziellen Eindringlichkeit niemals überboten worden, nicht einmal vom Maestro selbst. Die meisten Mitschnitte stammen aus der bei Kriegsende leider völlig zerstörten Alten Philharmonie in Berlin, die im Booklet großartig in Farbe rekonstruiert wurde und einen vagen Eindruck ihrer einstigen Pracht vermittelt. Dort wurde auch die vielleicht berühmteste Furtwängler-Aufnahme überhaupt eingespielt: Beethovens Neunte vom März 1942 mit dem Solistenquartett Tilla Briem, Elisabeth Höngen, Peter Anders und Rudolf Watzke sowie dem Bruno Kittelschen Chor, der wenig später im selben Jahr 1942 in Deutscher Philharmonischer Chor umbenannt wurde. Die Unerbittlichkeit der Darbietung macht dieses Tondokument zum Zeitdokument ersten Ranges, mutet der Beethoven-Schiller’sche Humanismus doch kurz nach der berüchtigten Wannseekonferenz geradezu grotesk an. Eine zuweilen schwer erträgliche Angelegenheit, die nur wohldosiert konsumiert werden will, die dafür aber umso nachhaltiger wirkt. Quelle ist nach wie vor die Kopie des Moskauer Rundfunks aus dem Konvolut Russland des Reichsrundfunk-Originals, welches bis zum heutigen Tage nicht wiederaufgetaucht ist. Gleichwohl hat man hier klanglich das Menschenmögliche herausgeholt und den künstlich hinzugefügten Hall reduziert.
Es ist in jedem Fall unendlich schade, wieviel an Ton-Aufnahmen der RRG aus dieser Zeit vermutlich unwiederbringlich verlorenging. Von den etwa 250 zwischen 1942 und 1945 produzierten Stereo-Aufnahmen (!) haben sich nur einige wenige erhalten, darunter das fünfte Beethoven‘sche Klavierkonzert mit Walter Gieseking, allerdings nicht unter Furtwänglers Stabführung und daher hier nicht berücksichtigt. Wie der Begleitband ausführt, ist es sicher bezeugt, dass die RRG bei den letzten Bayreuther „Kriegsfestspielen“ von 1944 eine komplette Aufführung der Meistersinger von Nürnberg unter Furtwängler per Übertragungswagen stereophon aufzeichnete. Auch diese Bänder sind verschollen. Dieses Malheur kann getrost zu den größten Unglücksfällen in der Geschichte der Tonaufzeichnung gezählt werden.
Zu den besonders hervorzuhebenden Aufnahmen dieser Box muss selbstredend auch die legendäre Interpretation der fünften Sinfonie von Bruckner gerechnet werden, welche im Oktober 1942 in der Philharmonie mitgeschnitten wurde. Wie sehr sich diese völlig säkularisierte Darbietung dieser Klangkathedrale doch vom weihrauchgetränkten Bruckner-Bild unterscheidet, das seinerzeit eigentlich dominierte. Auch Furtwänglers eigene, ein knappes Jahrzehnt später entstandene Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern wirkt im direkten Vergleich geradezu handzahm.
Dass sich Furtwängler auch für zeitgenössische Komponisten einsetzte, belegt unter anderem die Einspielung der zweiten Sinfonie von Ernst Pepping (November 1943) und des Hymnischen Konzerts für Orchester und Orgel mit Sopran- und Tenorsolo des heute praktisch vergessenen Heinz Schubert (Dezember 1942). Mit Erna Berger und Walther Ludwig standen – wie seinerzeit üblich – hochkarätige Solisten zur Verfügung. Ungewohnt auch Furtwänglers Beschäftigung mit der Musik des nordischen Komponisten Jean Sibelius, die immerhin in einigen Tonaufnahmen mündete. Der inkludierte Konzertmitschnitt vom Februar 1943 überliefert der Nachwelt eine der packendsten Aufnahmen der Tondichtung En saga sowie des Violinkonzerts (Solist: Georg Kulenkampff). Gerne hätte man den großen Furtwängler auch zumindest bei der zweiten Sinfonie des Finnen erlebt, die er augenscheinlich aber niemals einstudiert hat. Dominant freilich trotz allem Ludwig van Beethoven, dessen Werke unter Furtwänglers Stabführung besonders gut dokumentiert sind. Zu den schon genannten Aufnahmen gesellen sich noch die vierte Sinfonie (zweifach: einmal ohne, einmal mit Publikum), eine weitere Einspielung der fünften Sinfonie (diesmal vollständig), die Pastorale, die Coriolan-Ouvertüre sowie das vierte Klavierkonzert (mit Conrad Hansen).
Trotz aller Bemühungen: Der Kopfsatz der einzigen Furtwängler-Aufnahme der sechsten Sinfonie von Bruckner (November 1943) bleibt auch hier verschollen. Hiervon ebenfalls stark betroffen das Schumann-Violinkonzert (Solist: Pierre Fournier) aus demselben Mitschnitt, das einzig im Finalsatz komplett erhalten ist. Das Nämliche gilt für Furtwänglers letztes Konzert mit den Berliner Philharmonikern vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, welches am 22./23. Jänner 1945 im Berliner Admiralspalast stattfand. Einzig der Schlusssatz der ersten Brahms-Sinfonie hat sich hiervon erhalten. Auch hier gilt: Besser hat Furtwängler das wohl nie dirigiert.
Zu den bedeutendsten daneben enthaltenen Ton-Dokumenten müssen auf jeden Fall die Unvollendete (Dezember 1944) und die Große C-Dur (Dezember 1942) von Schubert, die vierte Sinfonie von Brahms (Dezember 1943), die neunte Sinfonie von Bruckner (Oktober 1944) sowie das zweite Klavierkonzert von Brahms mit Edwin Fischer (November 1942) wie auch Adrian Aeschbacher (Dezember 1943) gerechnet werden. Zu Vergleichszwecken lässt sich auch Mozarts Sinfonie Nr. 39 Es-Dur KV 543 – die dem Dirigenten offenbar nahegehendste Mozart-Sinfonie –, die doppelt berücksichtigt werden konnte (1942 oder 1943 und Februar 1944), heranziehen.
Ein informatives, gut 13-minütiges, von Gert Fischer geführtes Interview mit dem Tonmeister Friedrich Schnapp aus den 1970er Jahren rundet die Edition schließlich ab. Summa summarum kann für diese Prunkausgabe nur die Höchstnote vergeben werden, da sie in allen Belangen vorzüglich abschneidet und eine spürbare Verbesserung gegenüber im Grunde genommen allen bisherigen Ausgaben bringt, was den hohen Preis erklärt und letztlich auch rechtfertigt. Ein wenig Dekadenz darf also sein. Daniel Hauser
Dank an Stefan Stahnke für die Bereitstellung der Fotos aus dem Archiv der Berliner Philharmoniker; Foto oben: Wilhelm Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker.