Wer will schon die Frage nach dem größten Sänger neuerer Zeit entscheiden? Toscanini, weil er totaler Willensmensch war! Callas, die er in ihrer Frühzeit hörte? “Eine große, häßliche Stimme!“; Caruso, dem er feurig eine Weltkarriere vorhersagte? Als sie 1901 zutraf, war das Feuer aus. “Yes, you make much money, but no, n o , NO !“ Zum größten ihm je begegneten Vokalisten erklärte Toscanini ausgerechnet sein nacktes Negativ, einen Sünder wider alles, was er sein Lebtag der Opernwelt oktroyiert hatte: Fjodor Schaljapin, der weder vom Taktstock noch von den Noten zu fesseln war, weniger ein Sänger als ein kochender Lavastrom.
Sein Portraitist, Maxim Gorki, beschreibt das Publikum eines Recitals als minutenlang stumm und unbeweglich, “als habe man eine zähe, feste, schwere Flüssigkeit über sie gegossen !“ Die Darbietung bescherte kein Behagen, nur “bleiche, angstverzerrte Gesichter.“ Angst wovor ? Mag sein vor dem Jammer des Daseins, der Flüchtigkeit des Glücks, dem Schrecken Boris Godunows, wenn die Orchesterglocken ihm die Stunde schlagen und er der Niederträchtigkeit seiner Existenz gewahr wird: “Können meine Gebete meine Sünden löschen ? Prestitie, prestitie“, Erbarmen “o, smert.“ Oh Tod. Unmöglich, diese Zeile von Schaljapins Stimme zu trennen ! Erbarmen mit der bête humaine, der Sterblichkeit von Freud und Leid, umschreibt wohl am besten die innere Quelle, aus der der Unsterbliche schöpfte. Was unsterblich bleibt ist indes nur ein Schemen, ein Untoter, der aus 248 in Schellack geritzten Musiknummern schallt.
Was haben diese armseligen Fragmente von der unschönen Wahrhaftigkeit schaljapinscher Kunst der Nachwelt mitzuteilen ? Sie ist noch fürchterlicher geworden, das regt sie aber nicht mehr auf. Abgebrüht wie man ist, reagiert unsereins auf die Barden der “Oh Mensch“ Ära eher allergisch. Nun ist dem Melomanen das spröde, knurrige Timbre dieses Basso profondo durchaus ins Ohr gewachsen, nebst einigen anderen seines Fachs. Man denke an das sanft vernebelte Schmachten Ezio Pinzas, an den blausamtenen Umhang Alexander Kipnis’, den nobel gekörnten seduttore Cesare Siepi, den gruftigen Yi-Kwei Sze, die Orgel Mark Reizens, den mitternächtlichen Ol’ man river Paul Robeson; eine pelzige Wohltat nach der anderen. Unser Mann verhält sich anders, man wird nicht gewärmt von seinem schneidenden Organ, es geht unter die Haut, ist kreuzungemütlich wie ein Kirchenvater, kündet Verdammnis. So gehört er in den Klangkosmos der Schallplattengeschichte, kolossal vorhanden, auf Anhieb erkennbar wie all’ diese Altheiligen.
Die Erschaffung der Schallplatte als künstlerisches Medium wird gewöhnlich auf den 11.4.1902 datiert, als ein 29jähriger Gott aus den Sielen Neapels im Mailänder Grand Hotel vier Matrizenseiten besang. Disc 1 der Schaljapin Gesamtedition des Restaurators Ward Marston korrigiert den Mythos Caruso, indem man einen ebenfalls 1873 Geborenen am 23.01.1902 im Continental Hotel Moskau vernimmt, der mit gleicher Pranke eine vokale Physiognomie in Wachs preßte, die noch vier Generationen danach so gegenwärtig scheint als sei hier die Vergänglichkeit unterbrochen. Nebst ihm und Caruso existiert kein weiterer so zeitloser Sänger unter den Männern.
Doch anders als das in Carrara Marmor gemeißelte Melodram des Napolitaners, schön wie der junge Morgen, ist Schaljapins Vortrag blutig, wächst aus der Erde, trägt ein Schicksal, eine schwarze Kruste, aus der die Freude als temporäre Erlösung von dem Übel heraussprudelt wie eine Fontäne. Die Stimmfarben sind überreich, doch nie auf Farbeffekte angelegt wie bei dem eitlen Battistini. Und ob das Organ prunkvoll klingt oder mager, groß ist, ausgeglichen oder brüchig, ist ganz unbeachtlich. Dieser Mensch treibt Gesang um sein Herz aufzureißen, deklamiert nicht, sondern bohrt in den Abgründen als gäbe Dostojewski das Schreiben auf und heulte Lieder. Man kann gar nicht krass genug den Abstand betonen, zu dem was gemeinhin Stimmkunst ist, will und kann. Obwohl die seinige nach allen Regeln fabulös ist, hält man sie nicht dafür, weil das Artifizielle klassischen Singens spurlos verdunstet und er wie unbeschwert davon “im Wald und auf der Vogelweid’“ spaziert. Die Kunst fällt nirgends als Kunststück auf und ein Liebeslied besteht nicht aus Schmelz, sondern ist von Zärtlichkeit durchtränkt zum Steinerweichen.
Seltsamerweise verträgt sich diese Magie mit Stücken, die man außerhalb ihrer Sphäre wähnt, Brahms’ Saphische Ode, Beethovens Tomba oscura, Griegs Intimitäten, Mozarts Registerarie. Bellini und Donizetti baden in lupenreinstem Legato; wenn er will, macht er es den Salbadern vor, und ohne Luftholen ! Man mag als die Vollendung aller Gaben die in der Marston Edition versammelten russischen Volkslieder aus der Aufnahmezeit 1902 – 1910 ansehen. Die Schlachtrösser des Repertoires – Boris, Mephisto, Philipp – wohnen bereits unkündbar in der Erinnerung, direkt aus seinem Munde oder auch transportiert von seinem großen Imitator Christoff. Der mag allerdings nicht von seinem Prachtorgan absehen. Die anspringende Lebendigkeit, das Mutterlaut Syndrom der schaljapinschen Vortragsart berührt jedoch am tiefsten in den unbegleiteten und wunderschönen Gesängen vom Versinken der Sonne, der Landstraße und dem Dahinfließen der ewigen Ströme. Hier ist Singen keine Darbietung mehr, sondern ein Daseinsakt wie Atmen, Gehen, Ruhen, Fühlen, das, was nicht anders geht !
Und nun sei die Großtat Ward Marstons gerühmt, der die Sisyphosarbeit des Besorgens und Reproduzierens dieses von 1902 – 1936 entstandenen Erbes von Schellacktürmen geleistet hat. Niemand außer einer Handvoll Gralshüter hätte je die Moskau- Petersburger Sitzungen 1902 – 1908 registriert; sie sind aber unerläßlich. Die damaligen Grenzen des Trichteraufnahmeverfahrens vergißt man anbetrachts der prallen Manneskraft des Dreißigjährigen, die darin halbwegs passabel aufbewahrt ist. Die nach Einsatz von Mikrophonen ab 1925 festgehaltene Stimme des Mittfünfzigers ist gravitätischer, schründiger, aber vollkommen intakt; gelegentlich verblüfft der Realismus der phonographischen Abbildung, verglichen mit dem heutigen Klangmatsch. Die letzten Aufnahmen 1933 – 1936 erreichen nachgerade High Fidelity. Wie kann man die vier Ausschnitte aus Don Quichotte, dem Ritter von der traurigen Gestalt, anders als mit gefalteten Händen hören ? Hier endet jede Vergleichbarkeit. Zwei Jahre vor seinem Tod schließt sich der Kreis mit dem Lied der Wolgaschiffer: “Ay-da, da ay, Ay-da, da ay. Pesni solnyshko poyom.“ – wir singen Lieder an die Sonne. Wahrlich !
Um wieder auf das Parisurteil Toscaninis zurückzukommen: Si, si; es ist begründet ! Der einzige Mißerfolg, einem Witz Schaljapins zufolge war, dass Nikolai ihm 1917 den Zarenthron nicht übergeben hat. Dann wäre die Russische Revolution nicht passiert. So kehrte er denn erst 56 Jahre nach seinem Tod in Paris heim, als Asche. Ward Marstons Edition zeigt aber an, dass die Glut in dem Rest nicht erlischt.
(Die Marston-Box enthält 13 CDs, 51301-2 (auf allen dieselbe), veröffentlicht 2018. Es gibt ein reich illustriertes Beibuch mit allen Texten sowie Aufsätzen von Michael Scott, Michael Aspinall und Ward Marston, dazu persönliche Erinnerungen von Gerald Moore und Ivor Newton, English only, Texte jeweils in Originalsprache u. engl. Übersetzung.) Jörg Friedrich