Stilistisch falsch – aber kurzweilig

 

Carl Maria von Weber ist nach Richard Wagner der berühmteste deutsche Opernkomponist des 19. Jahrhunderts – doch aufgeführt wird er ausgesprochen selten. Hin und wieder mal ein Freischütz, und das was dann auch schon. Jetzt hat das Label Relief  eine historische Rundfunkproduktion der Euryanthe aus dem Jahre 1957 ausgegraben.

 Euryanthe war Webers ehrgeizigstes Projekt, seine umfangreichste Partitur überhaupt, sein Traum von der großen deutschen Oper, das Werk, das den Freischütz in den Schatten stellen sollte.  Musikalisch ein Höhepunkt der Hochromantik, eine der wichtigsten und eigenständigsten Werke inmitten des exzessiven Rossini- und Spontini-Taumels der 1820er Jahre. Leider ist das Libretto wirklich verwegen, selbst gemessen an der auch sonst nicht grade durch Witz und Eleganz glänzenden deutschen Textbuchkultur der Ära. Diese biedermeierliche, an den Haaren herbeigezogene Rittergeschichte von Helmina von Chézy  ist schon den Zeitgenossen als mies, hochtrabend und unglaubwürdig aufgefallen, umso mehr zerrt sie heute an den Nerven des Zuhörers.

Ewig schade, dass Webers große Musik kein besseres Gefäß zur Aufbewahrung für die Ewigkeit gefunden hat. Sicher ist das Libretto ein Grund dafür, warum das Werk selten auf der Bühne zu sehen ist und nur wenige Male eingespielt wurde. Ein zweiter Grund ist der durchweg nachlässige Umgang der Deutschen mit dem musikdramatischen Erbe jenseits von Wagner und Strauss. Ausnahmen wie die umfangreichen Bemühungen Ulf Schirmers in München bestätigen die Regel.

 Feuriger junger Kurt Masur. Deswegen ist jede neue Euryanthe auf dem Markt eine genauere Betrachtung wert. Diese hier kommt aus dem deutschen Rundfunkarchiv und stammt ursprünglich aus der DDR. Es gibt viele gute Gründe, dieses Werk wieder aus der Versenkung zu holen, einer liegt auf der Hand, da kann man sogar schon von einer kleinen Sensation sprechen: Das ist der Dirigent Kurt Masur, 1957 grade mal 30 Jahre jung.

Masur war damals zwar noch kein weltberühmter Musiker, er hatte aber schon jede Menge Erfahrung als Orchesterleiter in Erfurt, Leipzig und Dresden. Schon nach wenigen Takten der Ouvertüre ist klar – das ist eine der am besten dirigierten Euyranthes überhaupt, trotz der Referenzaufnahme unter Marek Janowski. Sie gefällt mir vor allem, weil der junge Masur schon sehr genaue Vorstellungen hat, wie Romantik für ihn klingen soll, er hier aber noch viel ungezügelter, vorwärtsdrängender agiert als dann der späte, bedächtigere Professor, der viele Vorzüge hatte, aber wahrlich kein toscaninisches Feuer aufwies. Hier hat er das noch, plus Präzision und Seidigkeit.

Stilistisch falsch – aber kurzweilig. Solistisch hat die Produktion Staub angesetzt und funktioniert teilweise nicht mehr. Man sah Euryanthe damals vor allem als Wagner-Vorläufer, und das ist grundfalsch (Wagner war 10 Jahre alt, als Euryanthe herauskam!),. Da steckt viel Spontini in der Partitur, auch italienische Fioraturen werden verlangt, und die biegsamen schlanken Stimmen eben jenes Spontini-Zeitalters sind unerlässlich. Übertragen gesagt, man braucht hier Florette, wir bekommen aber Haudegen.

Diesen Stil konnte anscheinend 1957 niemand singen. Schmerzlich daneben liegt Tenor Gert Lutze, dessen Stimm-Material gar nicht schlecht ist und der ja einen groißen Namen als Bach-Sänger in der DDR hatte, der aber den Adolar wirklich heroisch stemmt, als sei das der Cousin von Siegfried, und fast alle lyrischen Momente verfehlt. Erstaunlich. Doch wenn man das Ganze als eigenständiges zeitgebundenes Werk stehen lässt, wird es wieder interessant – diese Euraynthe  ist von vorn bis hinten ein Kunstprodukt, das mit Webers Oper nur am Rande zu tun hat. Man hat das dreistündige Werk hier in der Rundfunkbearbeitung sehr skrupellos zusammengedampft – aber es ist eine kurzweilige Fassung von etwa zwei Stunden und kann so auch als sehr flottes Wagner-Frühwerk durchgehen, denn Diktion und vor allem Deklamation werden hier ganz großgeschrieben. Man versteht jedes Wort! Das ist enorm, das passiert einem bei heutigen Aufnahmen kaum noch. (Die Restauration des Bandes hat sicher auch zu diesem Effekt beigetragen – großflächiges Mono ohne Dumpfheit mit nur wenigen Magnet-Echos.) Euryanthe selbst, Ingeborg Wenglor, hat hier ihre große Stunde, trotz Stilunsauberkeiten, die zeitgebunden sind und für die sie nichts kann, ist sie eine der anrührendsten Euryanthes, die ich bisher gehört habe; eine helle Stimme, lyrisch, wo es notwendig ist, und von großer dramatischer Kraft in den Ensembles – allein ihretwegen lohnt sich diese Aufnahme.  Auch Sigrid Ekkehard als Eglantine und Rudolf Gonszar als Lysiart trifft oben Gesagtes ebenfalls zu – beide singen eigentlich Ortrud und Telramund und keinen Weber und sind doch bemerkenswerte und gestalterisch überzeugende Sänger.  (2 CD RELIEF CR 1926). Matthias Käther