Streng und asketisch

 

Der in Graz geborene österreichische Dirigent Hans Rosbaud (1895-1962) ist heute am ehesten noch ein Begriff als Interpret zeitgenössischer Musik. Er leitete Erstaufführungen von Messiaen, Boulez und Stockhausen und vor allem die konzertante Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron. Dass sich Rosbaud aber auch intensiv mit der Romantik und Spätromantik beschäftigte, ging darüber hinaus weitgehend unter. SWR Classic widmet diesem weniger bekannten Kapitel nun nicht weniger als drei Veröffentlichungen. Eine erste CD beschäftigt sich mit Wagner (SWR19036CD), eine zweite mit Weber und Mendelssohn (SWR19036CD). An Umfang deutlich ambitionierter ist die jüngste Publikation, eine acht CDs umfassende Box mit acht Sinfonien von Anton Bruckner (SWR19043CD). Rosbaud hat mit dem Südwestfunk-Orchester, dem er ab 1948 vierzehn Jahre bis zu seinem Tode vorstand, in seinen letzten sieben Lebensjahren die Sinfonien Nr. 2 bis 9 seines Landsmannes Bruckner eingespielt; eine das Projekt abschließende Aufnahme der ersten Sinfonie scheiterte höchstwahrscheinlich nur am frühen Ableben des Dirigenten.

Die Einspielungen entstanden mit einer Ausnahme von 1955 (Sinfonie Nr. 8) bis 1962 (Sinfonie Nr. 5) im Studio des Südwestfunks in Baden-Baden, dem heutigen Hans-Rosbaud-Studio. Allein die siebte Sinfonie wurde 1957 im Südwest-Tonstudio in Loffenau eingespielt. Es ist angesichts der hohen künstlerischen Qualität dieser Interpretationen bedauerlich, dass auch die spätesten der Aufnahmen nur in Mono vorliegen, auch wenn sich Gerüchte über eine Stereoveröffentlichung der Siebten halten (das Beiheft gibt darüber indes keine weiteren Auskünfte). Immerhin wurde viel Mühe in das Remastering der Originalbänder des SWR gesteckt, so dass die Tonqualität in allen Aufnahmen als durchaus akzeptabel zu bezeichnen ist. Anders als der etwas jüngere Eugen Jochum, der als Bruckner-Dirigent ungleich größere Berühmtheit erlangte, ist Rosbauds Stil in Sachen Bruckner nüchterner und sachlicher ausgelegt. Feierlichkeit oder gar Weihecharakter sucht man hier vergebens. Insofern kommt man kaum umhin, Rosbaud als den „moderneren“ Interpreten anzusehen, vielleicht vergleichbar mit dem ebenfalls weitgehend vergessenen Schweizer Volkmar Andreae, der eine beachtliche Gesamtaufnahme – die erste überhaupt – bereits 1953 vorlegte. Zumindest widerlegen diese beiden Beispiele eindrucksvoll, dass Bruckner früher stets übervoll an katholischem Pathos gewesen sei.

Was die bei Bruckner in besonderer Weise komplexe Frage der unterschiedlichen Fassungen betrifft, hält sich Rosbaud an die noch heute dominierenden Editionen von Robert Haas und Leopold Nowak, die Bruckners letzte Hand berücksichtigen. Etwaigen Kürzungsvorschlägen folgt er mitnichten. Zum Zeitpunkt der hier vorliegenden Aufnahmen war es noch keineswegs unstrittige Regel, Fassungen auszuwählen, die fremde Eingriffe so gering wie möglich halten. Der berühmtere Dirigentenkollege Hans Knappertsbusch spielte bis zuletzt unbeirrbar die aus heutiger Sicht „entstellenden“ Fassungen von Schalk und Löwe; die Decca ließ 1956 gar noch die in ihrem Charakter stark veränderte fünfte Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern unter Knappertsbusch einspielen. Anders als dieser vermeidet Hans Rosbaud in seinen Deutungen eine ekstatische, von mitunter sehr eigenwilliger Agogik gezeichnete Interpretation des Bruckner’schen Œuvre. Sein Stil ist vielmehr streng, verfolgt ein gleichmäßiges Tempo und ist gleichsam asketisch anmutend. Bildlich gesprochen hat man hier gewissermaßen eine Art protestantischen Bruckner vorliegen – und das von einem Österreicher. Auch der frühen und seinerzeit selten gespielten zweiten Sinfonie lässt Rosbaud jene Sorgfalt zukommen, die die späteren Werke auszeichnen. Die Tempi sind nicht in jedem Fall so flott, wie man glauben möchte. In der Richard Wagner gewidmeten Dritten lässt sich Rosbaud im Finale etwa deutlich mehr Zeit als Jochum, ohne freilich die ausdehnte Spielzeit Sergiu Celibidaches zu erreichen. Die „Romantische“ kommt gänzlich unprätentiös daher, mit knapp 65 Minuten geschlagene 21 Minuten schneller als Celibidaches letzte Aufnahme davon. Die bekannte Coda ist zielgerichtet, ohne romantische Gefühlsduselei. Rein temporal betrachtet, sticht Rosbauds Fünfte – in gewisser Weise die Krönung im sinfonischen Schaffen Bruckners – mit etwa 76 Minuten Spielzeit gar nicht besonders heraus. Von Weihrauchschwaden ist hier nichts zu merken; wer diese sucht, wird enttäuscht werden.

Freilich erweist sich die eben doch eingeschränkte Tontechnik gerade in den musikalischen Höhepunkten als hinderlich. Dies tritt neben der fünften besonders in der achten und neunten Sinfonie zu Tage, gleichsam der besonders großformatigen Trias. Das Südwestfunk-Orchester verrichtet seine Arbeit weitgehend völlig tadellos. Allerdings vermisst man doch hie und da die orchestralen Raffinessen, die Spitzenorchester auszeichnen. Ab und an ist Rosbauds betont unprätentiöser Zugang dann doch zuviel des Guten. Im Finale der Achten verfehlt er die Vorschrift Feierlich, nicht schnell mit allzu beschwingten 19:27 einigermaßen deutlich. Erstaunlich getragen dafür das Adagio mit 26 Minuten. Sehr gelungen auch das Scherzo der Neunten, das hier unerbittlich hämmernd und geradezu spukhaft erklingt. Großartig und trotz der tontechnischen Mängel eindrucksvoll in seiner Klarheit der langsame Satz. Dass Rosbaud den rekonstruierten Schlusssatz der neunten Sinfonie nicht einspielte, nicht einspielen konnte, ist selbstredend zeitbedingt.

Die SWR-Box kommt sehr hochwertig und gediegen daher. Ihr liegt ein informatives Booklet mit ausgezeichneter Einführung von Hartmut Lück in deutscher Sprache und in englischer Übersetzung bei. Die Aufnahmedaten und -orte sind akribisch vermerkt nebst der Verzeichnung der jeweiligen künstlerischen Aufnahmeleiter und Toningenieure (soweit bekannt). Auch die vom Dirigenten gewählten jeweiligen Fassungen sind vermerkt, so dass eine genaue Zuordnung ein Leichtes ist. Eine höchst willkommene, großartig aufbereitete Neuerscheinung. Daniel Hauser

  1. Dr. Lutz Graeve

    Zitat:“ auch wenn sich Gerüchte über eine Stereoveröffentlichung der Siebten halten (das Beiheft gibt darüber indes keine weiteren Auskünfte)“

    Diese Gerüchte sind keine, denn die Stereoaufnahme gibt es, sie steht gepresst auf zwei Langspielplatten in meiner Sammlung und ist seit drei Jahrzehnten meine Lieblingsaufnahme dieser Symphonie. Vermutlich sind die Bänder dieser Aufnahme bei der Plattenfirma verblieben, während der Rundfunk, der damals ja nur mono sendete, nur eine Monoaufnahme archiviert hat.

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