Archiv für den Monat: Mai 2024

„Von ewiger Liebe“

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Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Lieder von Johanne Brahms, ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt hatte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vorlegt. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen von Brahms auf etwa 200 originäre Lieder. Nun hat Naxos eine eigene Produktion in die Wege geleitet und ist inzwischen bei Vol. 5 angelangt. Begleiter ist stets Ulrich Eisenlohr. Der Auftakt mit Vol. 1 war von Christoph Prégardien bestritten worden (8.57428). Er und der Pianist sind auf dem weiten Feld des Liedgesangs ausgewiesene Fachleute und bringen die für das Vorhaben notwendige Kompetenz – und Prominenz mit. Die Diskographie des 1956 geborenen Tenors Prégardien ist lang und umfasst neben Liedern auch Oratorien und Opern.

Eisenlohr, Jahrgang 1950, saß für Naxos schon bei den Schubert-Lieder-Einspielungen am Klavier und wirkt als Professor für Liedgestaltung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Er beschäftigt sich auch in theoretischen Schriften mit Musik. Seine Analysen in den Booklets sind auch für den musikalischen Laien gut verständlich. Gebührende Erwähnung finden die Verfasser der literarischen Vorlagen, wenngleich die von Brahms gewählten Gedichte „selten von höchster künstlerischer Qualität“ seien. Eisenlohr: „Oft sind die einzelnen Lieder eines Opus zu verschiedenen Zeiten komponiert und erst nachträglich zusammengefasst worden – dies aber niemals zufällig, es sind immer inhaltliche und kompositorische Querverbindungen vorhanden.“ Aufgenommen wurden alle bisher veröffentlichten Teile zwischen September 2020 und Oktober 2022 im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden.

Der Spiritus Rector der Edition Ulrich Eisenlohr begleitet die Sänger am Klavier / Naxos

Mit der Programmauswahl auf der ersten CD wird viel Pulver verschossen. Das Beste nicht zuletzt, sondern zuerst. Berücksichtigt wurden die Werkgruppen Opus 32, 43, 86 und 105, in denen sich mehrere der bekanntesten Lieder von Brahms finden. Gleich an erste Stelle steht – einem Programm gleich – aus den Vier Gesängen Op. 43 Von ewiger Liebe, für mich ein Gipfel der hochromantischen Liedkunst. Eisenlohr gelingt es, diese – wie er schreibt – „abendlich ruhige Landschaft“ noch vor dem Einsatz des Sängers musikalisch so eindrücklich darzustellen als sei er Maler und nicht Pianist. Prégardien wählt eine ehr schlichte Vortragsweise, stets bemüht, einen volksliedhaften Ton zu finden. Es folgt die ähnlich angelegte Mainacht. Zu hören sind des weiteren Feldeinsamkeit, Wie Melodien zieht es mir, Immer leiser wird mein Schlummer, Auf dem Kirchhofe, Wie bist du, meine Königin. Der Liedsänger Christoph Prégardien legt größten Wert darauf, auch mit dem Wort verständlich zu sein. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet unter Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auf den CD-Hüllen angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Der Auftakt für die neue Edition war gelungen.

Vol. 2 enthält die ersten fünf Hefte der Deutschen Volkslieder, bei denen es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen handelt (8.574345). Mit den Quellen beschäftigt sich Eisenlohr im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms mit ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“ seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.

Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Dadurch kommt eine gewisse singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Wer wird das nächste Lied singen? Und wie im Flug ist die CD auch schon an ihr Ende gekommen. Musikalisch gelingt schon der Einstieg effektvoll. Eisenlohr betont ihn so, als würde an eine Tür geklopft, hinter der sich diese ganz eigene Welt wie eine große poetische Erzählung auftut: „Sag mir, o schönste Schäf’rin mein“, lässt sich der Tenor vernehmen. Alle Solisten sind sehr gut zu verstehen, was für Lieder wie diese mit ihren gelegentlichen mundartigen Einlassungen unabdingbar ist. Mit Vol. 3 liegen die Die Deutschen Volkslieder nun komplett bei Naxos vor (8.574346). Diese CD enthält die restlichen zwei Hefte. Und noch etwas unterscheidet diese Volkslieder-Einspielung von ihren Vorgängern: Sie ist komplett, enthält auch das siebte Heft, dessen Titel für Vorsänger und kleinen Chor – hier die vier Solisten – angelegt sind. Dadurch kommt noch zusätzlich eine gewisse Theatralik ins Spiel, die ihren ganz besonderen Reiz entfaltet. Nach Auffassung des Pianisten Eisenlohr öffnen sich durch die Wechselgesänge neue Ebenen des Musizierens. Komplettiert wird das Programm der CD mit den Volkskinderliedern. Brahms hatte sie den Kindern von Robert und Clara Schumann gewidmet. Hierbei sei die musikalische Faktur und Ausführbarkeit des Klaviersatzes einfach und „kindgerecht“, so Eisenlohr. Für die Liedauswahl gelte das nicht immer. So gehöre das Heidenröslein mit seiner sexuell konnotierten Symbolik trotz „vordergründig naiver Erzählweise nicht in den Bereich des Kindlichen“.

Alina Wunderlin und Kieran Carrel bestreiten Vol. 4 (8.574489) und Vol. 5 (8.574489). Realisiert wurden neun Werkgruppen mit den Opuszahlen 6, 14, 19, 48 und 70, 71, 95, 97, 107 sowie mit den fünf Ophelia-Liedern ein kleiner Zyklus ohne Opuszahl. „Ein bis heute gängiges Klischee ortet Johannes Brahms mit seinen Klangwelten als Inbegriff norddeutscher Melancholie und Schwerblütigkeit. Wendet man sich mit dieser Erwartung seinen frühen Kompositionen zu, so erlebt man einige Überraschungen.“ Mit diesen Worten leitet Pianist Eisenlohr seinen Text für die vierte CD ein. Mehrere Titel – darunter gleich das erste Lied aus den Sechs Gesängen op. 8 des zwanzigjährigen Komponisten belegen diese Feststellung sehr anschaulich. Es lässt auch deshalb aufhorchen, weil es durch Hugo Wolf vierzig Jahre später in seinem Spanisches Liederbuch populärer wurde als durch Brahms. „In den Schatten meiner Locken schlief mir mein Geliebter ein.“ Der Text stammt von Paul Heyse, dem ersten deutschen Nobelpreisträger. Alina Wunderlin kitzelt die erotische Stimmung geschickt, doch unaufdringlich heraus, so dass man auf Anhieb eben nicht auf Brahms käme. In derselben Werkgruppe vier Lieder weiter gibt er sich schon ehr als derjenige zu erkennen, der sich – wie Eisenlohr treffend anmerkt – als „schwärmerisch, sich vollkommen der Sehnsucht nach der Geliebten und dem Glanz ihrer Augen“ ausliefert. Und damit in einen Seelenzustand versetzt, der als typisch für Brahms gilt. Textdichter des Liedes „Wie die Wolke nach der Sonne“ ist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Vortragender der Tenor Kieran Carrel, dem zu wünschen ist, dass er mit seinem wohlgebildeten lyrischen Tenor noch klarer in die mit einem Konsonanten beginnenden Wörter hineinfindet – nicht aspiriert. Also „wie“ statt „whie“!

In seinem Textbeitrag für Vol. 5 kommt Ulrich Eisenlohr anhand Programms dieser CD darauf zurück, dass es sicher nicht die Absicht von Brahms gewesen sei, Liederzyklen wie Schubert und Schumann als „eine in sich geschlossene Einheit“ zu schaffen. Nach seinen eigenen Worten habe er einzelne zu unterschiedlichen Zeiten geschaffene Titel später wie ein „Bouquet“ von Blumen zusammengefügt. Für Eisenlohr meint der Begriff „auch eine Zusammengehörigkeit“. Diese könne aus „thematischen Bezugnahmen, Ähnlichkeiten im formalen Bereich oder auch wirkungsvollen Kontrasten im Musikalischen wie im Poetischen entstehen“. Einzelne Gruppen unter diesen Gesichtspunkten, die auch Anregungen für die Beschäftigung mit dem Liedschaffen von Brahms sein wollen, näher besehen – und gehört – kommt einem der Komponisten sehr nahe. Die fünf Ophelia-Lieder, die fast ineinander übergehen, stehen am Schluss. Und sie stehen dort gut. Alina Wunderlin singt sie denn auch wie ein Finale, in dem unnötiger Ballast abgeworfen wird, Text und Musik zu großer Schlichtheit finden. Sie seien als Gelegenheitsarbeit für eine „Schauspielerin ohne Gesangsausbildung“ anzusehen und im Rahmen einer Hamlet-Aufführung als Bestandteil der berühmten Wahnsinns-Szene im Dezember 1873 aufgeführt worden, so Eisenlohr. Brahms benutzt die Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Laut Regieanweisung von William Shakespeare sollten sie auch gesungen vorgetragen werden.  Rüdiger Winter

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Abbildung oben:  Ophelias tragisches Ende durch Ertrinken/Selbstmord, Gemälde von  John Everett Millais (Ausschnitt). / Tate Gallerie London Wikipedia

Erstmals ungekürzt

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Nicht jedermanns Sache war das Alt-Weiber-Ballett von gut zwanzig Minuten, wie es die Regie Donizettis La Favorite ausgerechnet in des Komponisten Heimatstadt Bergamo angedeihen ließ, und so ist es verständlich, dass das Label Naxos neben der Bluray (dazu auch die Besprechung in operalounge.de) nun auch eine auf drei CDs zu erlebende Fassung für Nur-Hörer veröffentlicht hat. In deren Booklet, das von dem der Bluray abweicht, gibt es ein interessantes Gespräch mit dem Dirigenten der Aufnahme, mit Riccardo Frizza. Dieser setzt sich vehement für die Wahl der ersten, der französischen Fassung der Oper ein, einmal wegen der italienischen Zensur, die das Libretto des Werks nie genehmigt hätte, aber auch wegen der Tatsache, dass die Musik ein untrennbares Ganzes mit der französischen Sprache bilde. Interesssant in diesem Zusammenhang sind auch eine Besonderheit der Grand Opéra im Vergleich mit der italienischen Orchesterbesetzung mit fünf Streichergruppen, das Aufbrechen des starren Schemas von Rezitativ, Arie und Cabaletta  und die Besetzung mit einem Falcon-Sopran (nach der französischen Sängerin Cornélie Falcon), denn den aus Verdi-Opern bekannten Mezzosopran à la Azucena kannte man damals in Italien noch nicht. Und diese neue ungekürzte Fassung ist mit rund 20 Minuten mehr an Musik den Vorgängern unbedingt überlegen.

War das Auge geblendet von der Attraktivität des Alphonse-Sängers und enttäuscht von der eher unscheinbaren Optik, die der Fernand ihm bot, so kann nun der Zauber des besonders schönen Timbres des Tenors ungestört wirken, während Schwächen in der Leistung des Baritons nicht mehr „übersehen“ werden können. Javier Camarena hat für den Fernand eine strahlende Höhe, auch im Falsettone, die Mittellage ist farbig, das Timbre insgesamt keusch, und der Säger befleißigt sich einer ausgeprägten messa di voce. Der französische Donizetti scheint ihm auf die Stimmbänder komponiert, er klingt empfindsam, aber nie wehleidig und das Ange pur ist von schöner Innigkeit. Für den Alphonse XI von Florian Sempey spricht natürlich, dass Französisch seine Muttersprache ist, unter Druck klingt der Bariton streckenweise stumpf, aber er bleibt präsent auch wenn er sich zurücknehmen muss, ist temperamentvoll im Léonor! Mon amour brave. Inmitten der übermütigen Hofgesellschaft Gehör verschaffen kann sich der Bass von Evgeny Stavinsky als Balthazar, klingt nur selten etwas hohl, meistens aber balsamisch und Autorität vermittelnd. Edoardo Milletti hat einen netten Tenor für den Gaspar.

Zumindest im ersten Teil recht viel zu singen hat die Inès von Caterina Di Tonno, deren frischer, rescher Sopran einen soubrettennahen Kontrast zum sanften Mezzo von Annalisa Stroppa bildet. Deren Stimme ist einheitlich gefärbt, hat klare Konturen und verschießt viel vokales Feuer. Das dunkle Metall kann leuchten, ihr O mon Fernand ist eine schöne, sanfte Klage, die Intervallsprünge werden mühelos beherrscht und das unangestrengte Singen gibt ihrem Entschluss, über Verdis Fenena und Maddalena nicht hinauszugehen, Recht.  Das Orchestra Donizetti Opera unter Riccardo Frizza kann sogar dem Ballett viel abgewinnen und lässt sich von seinem Dirigenten in feiner Steigerung von einem Höhepunkt zum nächsten führen. Der zum Festival gehörige Chor, erstärkt um den Coro dell’Accademia Teatro alla Scala ist mit allerdings eher italienischer Vehemenz bei der Sache (Naxos 8.660549-51). Ingrid Wanja       

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Eine frühe Daguerrographie des Balletts zu „La Favorite“ Donizettis als eine farbige Diapositiv-Doppelplatte der Laterna Magica/ Sammlung Bernoit

Und nun: Ein Theater der Stimmen –  Alberto Mattioli im Gespräch mit Riccardo Frizza über eben diese Aufführung: Der aus Bergamo stammende Donizetti war nach dem frühen Tod Bellinis 1835 fast ein Jahrzehnt lang der führende Komponist der italienischen Oper. Seinen ersten Erfolg hatte er mit Zoraida di Granata im Jahr 1822. Es folgten eine Reihe von 60 weiteren Opern und ein Umzug nach Paris, wo sich Rossini zu seinem Vorteil niedergelassen hatte. Donizettis letzte Krankheit hielt ihn für etwa 17 Monate in einem französischen Krankenhaus gefangen, bevor er nach Bergamo zurückkehrte, wo er 1848 starb. Er war nicht nur ein Opernkomponist, sondern schrieb Musik aller Art – Lieder, Kammermusik,

Klaviermusik und eine Reihe von Kirchenmusik. Die Oper Anna Bolena, die bei ihrer Uraufführung 1830 in Mailand einen beachtlichen Erfolg feierte, enthält in ihrem Finale Piangete voi? eine beliebte Sopranarie, während Deserto in terra aus der letzten Oper Dom Sébastien, die 1843 in Paris aufgeführt wurde, bei Operntenören von Caruso bis Pavarotti beliebt war. Die Komödie Don Pasquale, die 1843 in Paris aufgeführt wurde, ist ein beliebter Teil des Standardrepertoires, ebenso wie L’elisir d’amore („Das Elixier der Liebe“), aus dem die Tenorarie Una furtiva lagrima (“ Eine versteckte Träne“) besonders bekannt ist. Erwähnenswert ist auch La Fille du régiment („Die Regimentstochter“), die 1840 in Paris uraufgeführt und für Mailand unter dem Titel La figlia del reggimento überarbeitet wurde . Lucia di Lammermoor, die auf einem Roman von Sir Walter Scott basiert, bietet ein intensives musikalisches Drama für Tenöre im letzten Akt mit Tomba degl’avei miei (‚Grab meiner Ahnen‘) und für die Heldin in ihrer berühmten Wahnsinnsszene. Wie La Fille du régiment wurde auch La Favorite 1840 in Paris uraufgeführt und diente als Quelle für weitere Opernarien.

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Sänger der Pariser Uraufführung: Gilbert Duprez und Rosine Stoltz in „La Favorite“/ Wikipedia

Maestro Riccardo Frizza, bei den Festspielen haben Sie La Favorite dirigiert, mit einem abschließenden ‚e‘, denn Donizettis Oper wurde in der kritischen Ausgabe und auf Französisch aufgeführt. Warum ist es so wichtig, die Oper in der Sprache aufzuführen, in der sie geschrieben wurde? Ich würde sagen, dass es immer wichtig ist, aber in diesem Fall noch mehr. Bei der Eroberung von Paris – einem besonders wichtigen Opern-‚Schauplatz‘, weil die Stadt nach Walter Benjamins berühmter Definition ‚die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‘ war – hat Donizetti die französische Sprache und Prosodie gründlich beherrscht. Außerdem wurde die ins Italienische übersetzte Fassung der Oper von der Zensur heftig kritisiert, was im Italien der Vorwendezeit bei einem Thema, das einen Mönch, der aus dem Priesterstand austritt, und einen König, der eine Mätresse hat, unvermeidlich war. Wenn man das italienische Libretto liest, hat man wirklich Mühe zu verstehen, worum es in der Oper geht, und einige dramatische Wendepunkte sind immer noch unverständlich oder zumindest nebulös. Ich würde auch sagen, dass die Übersetzung zu einem Verrat wird, wenn man, um die Noten an Worte anzupassen, für die sie nicht geschrieben wurden, auch die Musik verändert.

Obwohl La Favorite in dramaturgischer und struktureller Hinsicht eher untypisch ist, gehört es sicherlich zur Gattung der Grand Opéra von Rossini und Meyerbeer. Wie interpretiert Donizetti sie? Vom musikalischen Standpunkt aus gesehen, sind die wichtigsten Neuerungen im Orchester zu finden. Denken Sie an die Streicherbesetzung. In seinen italienischen Opern schreibt Donizetti für vier Stimmen, das klassische Streichquartett, die erste und zweite Geige, die Bratsche und das Cello, dem in der Regel die Basslinie anvertraut wird. In La Favorite ist die Besetzung fünfstimmig, wobei der Kontrabass die Basslinie spielt und das Cello eine neue Rolle spielt. Man kann deutlich einen anderen musikalischen Gedanken dahinter erkennen.

Welche typisch „Donizetti“-Elemente weist diese Oper dagegen auf? Ich würde sagen, die Konstruktion der Melodie, die, obwohl Donizetti sich an die dramaturgischen und musikalischen Regeln der Opéra gehalten hat, immer noch „italienisch“ und, wie ich finde, sehr „donizettistisch“ ist. Glücklicherweise ist Donizetti auch mit einfachen Mitteln sofort als Melodiker zu erkennen. Man denke nur an Fernands Arie Ange si pur, die im Italienischen zum berühmten Spirto gentil wird: Es handelt sich um eine scheinbar einfache Phrase, deren musikalischer Wert und theatralischer Sinn durch eine kaleidoskopische und raffinierte harmonische Konstruktion gegeben sind. Ich möchte hinzufügen, dass Donizettis handwerkliches Geschick auch darin zum Ausdruck kommt, dass er Rezitative in einer Sprache komponierte, die letztlich nicht seine eigene war.

Rosina Stoltz und der Gilbert  Duprez in Donizettis Oper „La Favorite“/Illustration/Donizetti-Society

Lassen Sie uns auch über den Gesangsstil sprechen: La Favorite ist nicht gerade eine leicht zu singende Oper. Sicherlich ist die interessanteste Stimme die der Protagonistin. Mezzosopran, sagen wir gewöhnlich. Aber den Mezzosopran im verdianischen Sinne des Wortes gab es 1840 noch nicht. Vor La Favorite in Bergamo habe ich Il trovatore im Liceu in Barcelona dirigiert: Nun, Azucena scheint mir die erste echte Mezzopartie zu sein, aber zur Zeit von La Favorite war Il trovatore noch 13 Jahre entfernt. Léonor ist eigentlich ein ‚Soprano-Falcon‘, von Cornélie Falcon, der legendären ersten Interpretin von Meyerbeers Hugenotten und Halévys La Juive, zwischen einem Sopran und einem Mezzo. Rosina Stolz, für die Donizetti diese Rolle schrieb, gehörte zweifellos zu dieser ganz besonderen Gesangskategorie, die für das transalpine Repertoire typisch war und im italienischen Repertoire zu jener Zeit nicht vorkam. Eine weitere französische Besonderheit dieser Oper, die es erforderlich macht, sie in der Originalsprache aufzuführen.

Und natürlich in der kritischen Ausgabe von Rebecca Harris-Warrick, und zwar in ihrer Gesamtheit. Diese Regel gilt eigentlich für das gesamte Repertoire. La Favorite darf nicht gekürzt werden, genauso wie, sagen wir, Semiramide oder La traviata nicht gekürzt werden dürfen. Es ist sicherlich eine Frage der Struktur, die im Fall von La Favorite besonders wichtig wird, weil Donizetti hier in seiner musikalischen und dramaturgischen Reife und als Komponist für die Pariser Oper die stereotypen Formen der zeitgenössischen italienischen Oper zu überwinden suchte, um aus der Wiederholung von Rezitativ-Kantable-Tempo di mezzo-Kabaletta auszubrechen. Dies wird besonders in den Rezitativen deutlich, die ungewöhnlich lang und entwickelt sind und in der „Szene“ gipfeln, die später ein wesentliches Merkmal von Verdis Theater werden sollte. Die Integrität der Partitur zu respektieren bedeutet nicht nur, die Schrift und damit den Willen des Autors zu respektieren. Es bedeutet, den dahinter stehenden Gedanken besser zu verstehen, Donizettis „Werkstatt“ zu betreten, in der Musik und Dramaturgie nur selten mit dem Blick auf das Theater als unfehlbar erdacht und „gewogen“ wurden.

Die Oper enthält in ihrer Gesamtheit auch die Cabaletta des Duetts zwischen Léonor und Alphonse, die in Paris nach den ersten Aufführungen gestrichen wurde, wie man in den kritischen Anmerkungen der Editionen nachlesen kann. Dieses Stück ist im Anhang der kritischen Ausgabe enthalten. Es wurde nach den ersten Aufführungen gestrichen, aber nicht aus musikalischen oder theatralischen Gründen, auch nicht wegen seiner Länge, sondern nur aus politischen Gründen. Hier wettert Alphonse gegen die Kirche mit Ausdrücken, die damals ziemlich „stark“ klangen und dementsprechend für das Regime von Louis Philippe inakzeptabel gewesen wären, auch wenn es liberal und bürgerlich war. Die Autoren zogen es vor, kein Risiko einzugehen und kürzten dieses Stück. In Bergamo wird die Cabaletta schließlich ihre – vermutlich – erste moderne Aufführung erleben.

„La Favorite“ / zeitgenössische Illustration von Leee Woodward Ziegler/ Wikipedia

Und natürlich werden wir auch das aufwendige Tanzdivertissement hören, das seit Lullys Zeiten, also seit der Gründung der Opéra, jeden Operntitel begleitet hat Donizettis Vorbild ist eindeutig die brillante Musik der Ballette zu Rossinis französischen Opern. Hier ist Donizettis Komposition sehr aufgeladen, um alle Möglichkeiten des Opernorchesters auszuschöpfen, und besonders aufwendig. Der Effekt ist sehr interessant: Diese Musik klingt gut und „reich“, wenn ich das sagen darf. Natürlich ist, um ehrlich zu sein, nicht alles gleich gut. Einige Nummern sind wirklich bemerkenswert, während andere, wie der Pas de deux, ein wenig etwas manieriert sind. Wir sehen, dass es Donizetti in diesem Fall darum ging, die ausgezeichneten étoiles der Académie Royale de Musique hervorzuheben, ein Theater, in dem das Ballett seit jeher als ebenso wichtig oder vielleicht sogar wichtiger als die Oper angesehen wird.

Wir wissen sehr gut, wie die meisten Opern Donizettis sowie das gesamte Repertoire der italienischen Romantik zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts aus den Spielplänen der Theater verschwunden sind. Jahrhunderts aus den Spielplänen verschwanden. Doch La Favorite, oder besser gesagt La Favorita, ist, wenn auch durch die Übersetzung und Kürzungen verunstaltet, immer im Repertoire geblieben. Und warum? Weil es eine von Donizettis Opern ist, die die meisten berühmten Stücke enthält. Sie haben vielleicht den Gesamtsinn der Oper und sicherlich auch ihre stilistischen Eigenheiten nicht verstanden, aber das Publikum war empfänglich für den Charme einiger der berühmtesten und mitreißendsten Arien, die Donizetti geschrieben hat.

Donizettis „Favorite“ in Bergamo 2022/Ballettszene/Foto Franco Rota

In diesem Sinne müssen wir den großen Sängern dankbar sein, die sich in diese Oper verliebt und das Publikum dazu gebracht haben, sich ebenfalls in sie zu verlieben. Wäre La Favorita eine der beliebtesten Opern von Kraus oder Pavarotti, Simionato oder Cossotto, Bruscantini oder Bruson, würden die Theater sie ganz klar für sie programmieren. Wir sollten schockiert sein: Donizettis Theater ist auch (Achtung: auch, nicht nur) ein „Theater der Stimmen“. Man denke nur an den neuen Reichtum, den La Fille du régiment in den letzten Jahren erlangt hat, eine Oper, die ein wenig in Vergessenheit geraten war, seit sie zum Signaturtitel eines Tenors wie Juan Diego Flórez wurde. Wenn diese Interpretationen es dem Publikum ermöglichen, auch die musikalische und theatralische Größe von Gaetano Donizetti zu entdecken, umso besser. Englische Übersetzung: Michela Compagnoni/Naxos/Deutsch DeepL

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Als kleines rechthaberisches PS. sei daraufhin gewiesen, dass das Liceu von Barcelona bereits 2018 radioübertragen (und Sammler-beheimatet) eine komplette (?) Favorite mit Michael Spyres und Clémentine Margaine brachte, mit Ballett (das zweigeteilt gespielt wurde). G. H.

Monteverdi und Andere

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Im Jahr 1650, sieben Jahre nach Claudio Monteverdis Tod, gab der venezianische Verleger Alessandro Vincenti mit Hilfe von Francesco Cavalli, einem Schüler und Nachfolger Monteverdis, dessen Messa a quattro voci et salmi concertati heraus. Diese Messe hat das 2004 von Krijn Koetsveld gegründete niederländische Ensemble Le Nuove Musiche mit einer ganzen Reihe weiterer Stücke von Monteverdi und zusätzlich einem Magnificat von Cavalli bei BRILLIANT CLASSICS herausgebracht. Dazu kommt die Messa in illo tempore, die von Monteverdi als Eröffnungsstück für die berühmte Marienvesper geschrieben wurde. Zu den beiden Messen kommen verschiedene Vertonungen von einzelnen Psalmen und liturgischen Texten wie beispielsweise Dixit Dominus, Confitebor tibi oder Laetatus sum, mit denen sich Monteverdi zu unterschiedlichen Zeiten beschäftigt hat, sodass ein Vergleich der verschiedenen Stile möglich wird. Bereits bei den fast a capella gesungenen Messen  erweist sich die hohe Qualität der Sängerinnen und Sänger, die – auffällig dezent lediglich von Orgel und Bass begleitet – wunderbar ausgewogen und immer mit lupenreiner Intonation singen. Das gilt für die einzelnen Stücke in gleichem Maße; hier wird das durchweg schlankstimmige, jeweils unterschiedlich besetzte Gesangsensemble von den stets durchsichtig musizierenden Instrumentalisten unterstützt. Dass alles stilsicher ausgedeutet wird, ist sicher auch dem musikalischen Leiter der Aufnahme, dem erfahrenen Spezialisten für Alte Musik Krijn Koetsveld an der Orgel oder dem Cembalo zu verdanken (BRILLIANT CLASSICS 96880, 2 CDs).

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Auch das 2010 gegründete spanische Ensemble AMYSTIS steht mit seinen acht Sängerinnen und Sängern sowie vier Continuo-Instrumentalisten (Dulzian, Harfe, Viola da Gamba und Orgel) unter Leitung seines GründersJosé Duce Chenollfür Transparenz und stilgerechtes Musizieren. Die Künstler haben sich geistlicher Werke des so gut wie vergessenen spanischen Komponisten AlonsoXuárez (1640-1696) angenommen. Xuárez war als maestro de capilla (Kapellmeister / Musikdirektor) für die Musik an den Kathedralen in Sevilla und Cuenca verantwortlich und leistete Wertvolles zur spanischen Renaissance im Übergang zum Barock. Auffallend an allen aufgenommenen Werken, besonders an der Misa Surge propera a 7, ist die Vielschichtigkeit des Kompositionsstils. Da die jeweiligen Sänger durchgehend selbstständige Tonfolgen zu singen haben, entsteht ausgesprochen farbenreiche Chor-Polyphonie. In den vorliegenden Welt-Ersteinspielungen überzeugt das Ensemble durch kompetentes, stets intonationssicheres Musizieren (BRILLIANT CLASSICS 96954).

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Im Album Salvation werden auf den ersten Blick überraschend Kompositionen von Johann Sebastian Bach und Dmitri Shostakovich nebeneinander gestellt, die Welten und Jahrhunderte voneinander entfernt sind. Im Booklet wird etwas bemüht ein Zusammenhang hergestellt, indem Shostakovich zitiert wird: „Der Einfluss von Bach ist wirklich enorm. Ich spiele jeden Tag Bach. Für uns ist Bachs Vermächtnis eine Verkörperung leidenschaftlicher Emotionen, seelenvoller Menschlichkeit und wahren Humanismus‘, der im Gegensatz zur dunklen Welt des rohen Bösen und der Menschenverachtung steht.“ Bereits im Alter von zwölf Jahren soll er beide Bände von Bachs Wohltemperiertem Klavier gespielt haben. Unter dem Titel Salvation werden Instrumentalwerke beider Komponisten und Kantatenausschnitte von Bach Shostakovichs späten Romanzen für Sopran und Klaviertrio op.127 nach Gedichten von Alexander Blok gegenüber gestellt. Es musizieren die Barock-Spezialistin Dorothee Mields und das G.A.P. Ensemble, bestehend aus dem Geiger Emilio Percan, dem Cellisten Oriol Aymat Fusté und dem Pianisten Luca Quintavalle. Ohne Makel interpretieren die Instrumentalisten Bachs Violinsonate BWV sowie auf dem Cembalo Präludium und Fuge d-Moll aus seinem Wohltemperamenten Klavier. In Shostakovichs temperamentvollem erstem Klaviertrio op.8 beweisen sie sicher die erforderliche Virtuosität, über die der Pianist ebenso in dessen Präludium und Fuge Nr.5 in D aus den 24 Präludien und Fugen für Klavier verfügt. Vom Klaviertrio sicher begleitet deutet die Sopranistin sehr unterschiedliche Rezitative und Arien aus verschiedenen Bach-Kantaten aus, wobei jeweils beeindruckt, wie abgerundet und intonationsrein sie ihre schlanke Stimme durch alle Lagen führt. Gemeinsam gestalten die vier Musiker Shostakovichs Romanzen, die sehr unterschiedliche Stimmungen entfalten. Von ihnen beeindrucken besonders das anrührende Wir sind zusammen, das heimliche, nächtliche Treffen zweier Liebenden, die visionären Stürme und Seltsamen Zeichen als träumerische Vorboten eines grauenvollen Krieges und das abschließende Lied Musik als leidenschaftliches Gebet an die „Königin der Schöpfung“ (BRILLIANT CLASSICS 97280). Gerhard Eckels