Erbangelegenheiten

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Willy Heinz Müller (1900–1974) gehört zu den Komponisten, deren Oeuvre bislang noch auf seine Entdeckung gewartet hat. In seinem Fall auf einem Stapel neben dem Klavier seiner Urenkelin, der Sopranistin Mélanie Adami. Während der Corona-Pandemie hat sie sich des Stapels angenommen und beschlossen, die Lieder ihres Urgroßvaters, so schreibt sie im Booklet, ›wieder zum Leben zu erwecken‹. Den Bariton Äneas Humm und die Pianistin Judit Polgar hat sie für ihre Mission gewinnen können und mit den beiden ein Album eingespielt. Vergessene Lieder, vergessene Lieb heißt es – übrigens kein Liedtitel von Willy Heinz Müller, sondern von Ernst von Dohnány. Neben den Kompositionen ihres Urgroßvaters hat sich Melanie Adami noch eine Reihe weiterer Lieder und Duette von Komponisten ausgesucht (neben Dohnány auch Béla Laszky, Franz Ries und Eugen Hildach und Carl Götze), die alle in verschiedenen Beziehungen zu ihm standen. Vor allem eint sie aber, dass sie, mit Ausnahme von Ernst von Dohnány vielleicht, eher selten gespielt werden – um es vorsichtig zu formulieren.

Die Kompositionen von Willy Heinz Müller erweisen sich durchaus als Entdeckung: farbenreiche, durch eine ausgefeilte Linearität bestechende Lieder, die unweigerlich an Bergs Jugendlieder, Lieder von Zemlinsky und Schreker erinnern. Typischer musikalischer Jugendstil gepaart mit überwiegend melancholischen Texten von Hugo Binder und Victor Heindl. Mélanie Adami, die unüberhörbar aus dem Opernfach kommt, singt die Lieder ihres Urgroßgroßer mit strahlender, vibrato- und obertonreicher Stimme. Aus den Liedern werden (schwer)gewichtige Arien. Vielleicht ist es der Wille, dem urgroßväterlichen Erbe gerecht zu werden, zu zeigen, dass er ein begnadeter Komponist war – nötig hätten die Kompositionen diesen Zeigefinger nicht gehabt. Schöner wäre es gewesen, wenn sie, so wie es der Pianistin Judit Polgar gelingt, den Farbenreichtum der Lieder in ihrer Interpretation mehr aufgegriffen hätte: mehr dynamische Varianzen, mehr Ausdruck und weniger Schwelgen in jedem Takt. Das von Mélanie Adami hin und wieder angebotene piano ist eher ein mezzopiano und offenbart stimmliche Schwächen, hörbar vor allem in einem verstärkten Anteil von Nebenluft und einer insgesamt raueren Stimme (ich möchte beinahe sagen, Mélanie Adami klingt leicht erkältet). Eine Ausnahme bildet das piano – dieses ist auch in meinen Ohren ein tatsächliches! – im Schluss des im Liedes Lass mich an deine Liebe glauben. Dieses piano dringt, ganz dem Text entsprechend, tief in die Seele ein und zeigt, dass sie durchaus fähig ist, erstklassig piano zu singen. Besonders in der Mittellage fehlt ihrer Stimme aber die Brillanz, die sie in der Höhe besitzt. Es gibt auch hier Nebenluft und die Vokale – die in allen Lagen eine Spur exakter sein dürften, besonders die o-Vokale – wirken flach.

Die Lieder der anderen Komponisten auf dem Album übernimmt beinahe ausschließlich Äneas Humm. Der als großes Nachwuchstalent gehandelte junge Schweizer Bariton ist bekannt dafür, in allen Genres zu Hause zu sein. Hier singt er Lied, häufig im besten Opern- und Operettenstil. Im Falle der Lieder des Komponisten Franz Ries, die ohnehin eine gewisse Nähe zur Operette besitzen, geht dieses Konzept gut auf. In Stücken wie dem titelgebenden Vergessene Lieder, vergessene Lieb von Ernst von Dohnány wirkt seine sehr dramatische Interpretation eine Spur zu pathetisch und damit leider auch weniger glaubwürdig, als man dies von ihm gewohnt ist. Es stellt sich, wie auch bei Mélanie Adami, selbst bei den gut gesungenen sechs Liedern von Franz Ries eine Übersättigung an großen Tönen ein. Wenn mit vollem Pathos vom ›Herzen‹ geschmettert wird, trifft es einen schon gar nicht mehr ins eigene – trotz seines unbestreitbar schönen und samtigen Timbres und seiner großen stimmlichen Möglichkeiten. Dass er sich eines größeren Ausdrucksrepertoires bedienen kann, versprechen kurze, innigere Passagen wie in Abschied von Franz Ries, die leider die Ausnahme bleiben. Im Duett der beiden Sänger verstärkt sich, was schon in den Sololiedern hörbar wird: Es wird nicht zu knapp geschwelgt und mit viel Vibrato und Legato dick aufgetragen. Die Interpretationen wirken insgesamt aus der Zeit gefallen, böse Stimmen würden ›altbacken‹ sagen (Prospero, PROSP0087). Henrike Leißner