Immer wieder Brahms

 

Nach Eins kommt bekanntlich Zwei. Zur höchst erfreulichen Einspielung der ersten Sinfonie von Johannes Brahms mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter seinem Ehrendirigenten Herbert Blomstedt gesellt sich nun die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 (Pentatone PTC 5186 851). Geplant ist ein kompletter Zyklus.

Tatsächlich legte das Label Querstand bereits einen Mitschnitt dieses Werkes in derselben Kombination aus dem Jahre 2000 vor. 19 Jahre später (die Neuaufnahme entstand im Oktober 2019 im Gewandhaus zu Leipzig) wurden die Tempi des damals sage und schreibe bereits 92-jährigen Dirigenten gar noch ein klein wenig flotter, freilich nie übereilt (21:04 – 9:37 – 5:04 – 9:06). Die Klangqualität übertrifft die bereits sehr gut klingende Vorläuferin; störende Nebengeräusche gibt es trotz des explizit erwähnten Live-Charakters mitnichten.

Diese D-Dur-Sinfonie ging aufgrund ihrer lebensbejahenden Heiterkeit als „Brahmsens Pastorale“ in die Musikgeschichte ein. Anders als die Vorgängerin in c-Moll, von der sie sich insgesamt stark unterscheidet, entstand sie in einem kurzen Zeitraum im Jahre 1877. Ihre Uraufführung in Wien unter Hans Richter geriet zum Triumph für den Komponisten. Eduard Hanslick sah das Werk als Beweis dafür, „daß man (freilich nicht jedermann) nach Beethoven noch Symphonien schreiben kann“.

 Ungemein süffig und natürlich im besten Wortsinne gelingt Blomstedt der große Kopfsatz, sowohl in den lyrischen wie auch in den dramatischen Passagen schlechterdings idealtypisch. Eine Rückbesinnung auf die Grundstimmung „Zurück zur Natur“ der Beethoven’schen Pastorale lässt sich kaum leugnen. Das darauffolgende Adagio, eine Mischung aus Lied- und Sonatensatz, darf als einer der bezwingendsten langsamen Sätze im Schaffen von Brahms gelten. Man kann sich Jörg Peter Urbachs Auffassung im Beiheft anschließen, dass hier eine ungewohnt starke Nähe zum Antipoden Anton Bruckner nachweisbar ist. Schön rein von den Dimensionen her hat der tänzerische dritte Satz das geringste Gewicht. Ein wirkliches Scherzo hat Brahms hier jedenfalls nicht intendiert. Im Schlusssatz wird neuerlich das Hauptthema des ersten Satzes aufgegriffen. Dieses Finale mit all seinen kunstvollen Variationen kann als ein absoluter Höhepunkt in der spätromantischen Sinfonik gelten, Applaus gleichsam mit komponiert.

Abgerundet wird die Neuerscheinung durch eine feurige Darbietung der zehnminütigen Akademischen Festouvertüre c-Moll op. 80, die trotz ihrer nominellen Grundtonart zum Inbegriff einer feierlichen Jubelstimmung wurde und die zweite Sinfonie adäquat ergänzt. Anders als ihre Schwester, die Tragische Ouvertüre, genießt sie bis zum heutigen Tage hohe Wertschätzung beim Publikum. Besonders das populäre Studentenlied Gaudeamus igitur als theatralischer Maestoso-Abschluss trägt dazu sicherlich einen ganz erheblichen Teil bei. Entstanden ist sie im Sommer 1880, anderthalb Jahre nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Breslau an Brahms am 11. März 1879.

Eine hochwillkommene Fortsetzung dieses brandaktuellen Zyklus, der damit bereits die halbe Wegstrecke zurückgelegt hat. Künstlerisch und klanglich ausgezeichnet. Man freut sich auf die noch ausstehenden Sinfonien Nr. 3 und 4. Daniel Hauser

 

Herbert Blomstedt, der bescheidende Amerikaner mit schwedischen Wurzeln, der mittlerweile im sage und schreibe 94. Lebensjahr steht, ist ein Phänomen. Zurecht der Nestor unter den heutigen Dirigenten, erlebt er im hohen Alter, nicht ganz unähnlich weiland Otto Klemperer, seinen Indian Summer, obwohl er freilich seit den 1950er Jahren irgendwie immer präsent war, ohne jemals den Status eines „Stardirigenten“ anzustreben. Dazu ist Blomstedt zu honorig und seriös. Dass die Musik des Norddeutschen Johannes Brahms unter seiner Stabführung bestens aufgehoben ist, liegt insofern praktisch auf der Hand. Gleichwohl musste er die neunzig überschreiten, ehe er nun endlich eine offizielle Einspielung der großen ersten Sinfonie von Brahms auf dem dem stets für Überraschungen guten Label Pentatone vorlegen kann (PTC 5186 850).

Wie der Kenner weiß, ist es natürlich keine Erstbegegnung, hat sich Blomstedt doch schon vor Jahrzehnten mit Brahms‘ Werken auseinandergesetzt und bereits während seiner Zeit in San Francisco (1985-1995) das Deutsche Requiem, von der Kritik gefeiert, bei Decca vorgelegt. Noch vor seiner Berufung zum Gewandhauskapellmeister in Leipzig spielte er sodann 1996 die vierte Sinfonie ein, wiederum für Decca. Das Label Querstand veröffentlichte einen Mitschnitt der zweiten Sinfonie aus dem Jahre 2000 und in der nur als Online-Download erhältlichen Reihe Decca Concerts erschien eine Live-Aufnahme der dritten Sinfonie, 2007 aufgezeichnet. So schließt sich nun gewissermaßen der Kreis, indem jetzt endlich auch die Erste folgt, die zwar chronologisch am Anfang steht, aber in gewisser Weise doch den Höhepunkt des sinfonischen Schaffens Brahmsens darstellt.

Beinahe jeder Dirigent von Rang hat sich irgendwann im Laufe seiner Laufbahn mit der c-Moll-Sinfonie op. 68 auseinandergesetzt, die Hans von Bülow als Beethovens Zehnte adelte. Kaum eine Sinfonie dürfte einen langwierigeren Entstehungsprozess gehabt haben als dieses Werk. Sage und schreibe vierzehn Jahre mussten vergehen, ehe sie 1876 endlich zur Uraufführung bereit war. Es gibt eine interessante Parallele zum seinerzeit ebenfalls bereits 90-jährigen Leopold Stokowski, der die Erste von Brahms in seinem spektakulären Rückkehrkonzert in London 1972 noch einmal aufführte. Auch wenn der Dirigententypus, den Stokowski verkörperte, kaum unterschiedlicher sein könnte, so ist es doch gleichsam ein verbindendes Element zum greisen Blomstedt. Die erste Sinfonie von Brahms ist mitnichten ein Werk für Anfänger. Und der altersweise Zugriff, den Blomstedt diesem Opus magnum angedeihen lässt, spricht vollumfänglich für sich. Mit 50 Minuten Spielzeit wählt er die adäquaten Zeitmaße, bei denen sich Tempofragen gar nicht erst stellen. Vom ersten bis zum letzten Takt klingt es schlicht und ergreifend richtig. Der monumentale Kopfsatz, hier 17 Minuten lang, mit einem der einprägsamsten Auftakte in der gesamten Sinfonik weist bereits den Weg. Keine noch so kleine Phrasierung ist hier zufällig, alles durchdacht und in sich überzeugend. Obwohl der Interpretation eine norddeutsche Ernsthaftigkeit nicht abzusprechen ist, ist sie doch gleichwohl keineswegs von einer kühlen akademischen Strenge, die jedwedes Gefühl im Ansatz unterdrückt. Blomstedts Brahms ist ein zutiefst menschlicher, nahbarer, was gerade im träumerischen langsamen zweiten Satz hervorsticht. Die Leichtigkeit des kurzen dritten Satzes, der nicht wirklich ein Scherzo darstellt, bildet den idealtypischen Kontrast zum titanenhaften Finale. Dunkel timbriert, erzielt das exzellente Gewandhausorchester den für Brahms mustergültigen Tonfall. Blomstedt lässt sich nicht dazu verleiten, in der Adagio-Einleitung das Tempo anzuziehen. Erst nach ziemlich genau fünf Minuten erklingt der einprägsame Hymnus als Hauptmotiv und wiederum behält der brillante Dirigent die Zügel fest in der Hand. Die Coda gerät selbstredend zum Höhepunkt, wobei das Choralthema eindeutig protestantisch-asketische Züge hat. Großartig die Detailarbeit bis zum Schluss, wo die hier oft untergehenden Blechbläser noch einmal auftrumpfen können. Die zurecht gerühmte Akustik des Gewandhauses zu Leipzig unterstützt dies kongenial. Als Beigabe rundet die Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81 die Compact Disc ab. Sie steht zu Unrecht im Schatten der berühmteren Akademischen Festouvertüre. In ihrem dunkel-festlichen Charakter ist dieses Stück sicherlich näher an der ersten Sinfonie denn an der zweiten, nach welcher sie im Jahre 1880 entstand, insofern ist die von Pentatone gewählte Kombination sinnig. In Blomstedts Interpretation verliert auch diese Ouvertüre etwas von ihrer Schwere und erklingt mustergültig. (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser