Archiv für den Monat: Mai 2021

Wer kennt Anton Schweitzer?

 

Als Weltpremieren bringt CAPRICCIO auf zwei CDs (C5425) geistliche Werke des unbekannten Komponisten Anton Schweitzer heraus, der 1735 in Coburg geboren wurde und 1787 in Gotha verstarb. Er wirkte als Musiker in der Hofkapelle des Herzogs Ernst Friedrich III, Carl von Sachsen-Hildburghausen und komponierte für dessen Operntheater. Später schrieb er für Theatertruppen in Weimar und Gotha. Die hier vorliegenden Kompositionen fanden sich in Thüringer Archiven und wurden im Juli 2020 in der Oberkirche Arnstadt aufgenommen. Es musiziert das Thüringer Bach Collegium unter seinem Künstlerischen Leiter Gernot Süßmuth. Der Geiger, Dirigent und Honorarprofessor an mehreren Musikhochschulen ist vor allem auf Kammermusik spezialisiert, was sich am transparenten Klangbild der Aufnahme widerspiegelt. Das Solistenquartett ist solide und homogen.

Zum Auftakt erklingt das Oratorium Die Auferstehung Christi, dessen Text Schweitzers Dienstherr von Sachsen-Hildburghausen selbst verfasste. Das Osteroratorium vermittelt neben dem zentralen Gedanken der Auferstehung auch Zeitbezüge – Kriegserlebnisse, Todesangst, Apokalypse – und mündet in die Zuversicht auf das Leben im Jenseits. Entsprechend schildert die Musik nach dem jauchzenden „Halleluja“ des Eingangschores Schreckensbilder, wie Tempesta-Szenen und dramatische Erdbeben bis zum Weltuntergang. Dem Sopran fällt mit dem Accompagnato „Nun hat der Held gesieget“ das erste Solo zu. Mirella Hagen singt es mit klarer Stimme und energischem Ausdruck. Später überzeugt sie besonders durch Innigkeit in der AriaWie ruhig wird’ ich einst entschlafen“. Die erste Aria des Werkes, „So wie des Donners ernste Stimme“, hat der Bass zu absolvieren. Tobias Berndt formt sie mit beherztem Zugriff. Der Tenor Stephan Scherpe, versiert in Koloratur und Deklamation, komplettiert das Solistenterzett mit der Aria „O Tag voll Schrecken“, später noch mit „O Heiland, lass’ mich nicht“. Alle Solisten, ergänzt um die Altistin Henriette Gödde, vereinen ihre Stimmen in den Chören und Chorälen, welche die Solonummern verbinden.

Im Programm folgt die kurze Kantate zum Erntedankfest für Bass solo, vierstimmigen Chor, Orchester und Orgel „Lobet, ihr Knechte des Herren“, welche mit dem gleichnamigen Chor festlich beginnt und mit „Erkennt und genießet“ ebenso endet. Der Solist Tobias Berndt hat ein Recitativo und die Aria „So rein nach einem sanften Regen“ zu singen und überzeugt erneut durch Wortdeutlichkeit und Wohllaut.

Den Abschluss bildet die neunteilige Missa brevis C-Dur für vierstimmigen Chor und Orchester, entstanden 1780. Stilistische Bezüge zu Haydn und Mozart sind hier erkennbar, auch die Vielfalt der Themen und Harmonien ist beeindruckend. Der Gesang des solistisch besetzten Chores ist durchsichtig und ausgewogen (weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe

Mal wieder ein Vermächtnis

 

Die drei Da-Ponte-Opern in sechs Wochen: noch einmal und mit seinem Concentus Musicus Wien wollte Nikolaus Harnoncourt die drei Mozart Opern im Theater an der Wien ganz nach seinen Vorstellungen aufführen und hatte dazu wieder das teilweise für alle Aufführungen, soweit es passte, identische Ensemble in sein Arbeitszimmer mit dem wunderschönen Kachelofen geladen. Hier vermittelte er den Sängern seine Sicht auf die Dinge, verhalf ihnen zu ganz neuen Erkenntnissen über ihre Partien und vergaß auch nicht zu erwähnen, wie mühsam Leben und Arbeiten jenseits der 80 Lebensjahre sein können.

Für die Aufführung bediente man sich derselben Szene wie für den Figaro: eine Rückwand mit den Portraits der Mitwirkenden, teils in Alltagskleidung, teils in Rollenkostümen, einiger weniger Requisiten, und für den Rollentausch von Don Giovanni und Leporello zum Schaden der armen Donna Elvira reichte der Wechsel der Krawatten (Kostüme Doris Maria Aigner). Wie beim Figaro fiel der Sinn fürs Herbe bei Christine Schäfer (der Donna Anna) und der fürs Elegante bei der eher aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Zerlina auf. Ein schöner Effekt war der der mit Taschenlampen beleuchteten Gesichter auf der ansonsten finsteren Bühne ( Szenische Arrangements Felix Breisach), wirkungsvoll die blutige Hand Giovannis nach der Ermordung des Commendatore, das von Rotwein durchtränkte Hemd als Zeichen der Höllenfahrt. Mit wenigen Mitteln erreicht man viel, und vor allem verdirbt man nichts. Ein so sparsamer wie wirkungsvoller Hinweis auf Distanzierung ist auch das Schlusssextett mit Klavierauszügen in den Händen der Sänger, während zuvor alle außer der Donna Elvira von Maite Beaumont auf dieselben verzichten konnten.

Bei der musikalischen Umsetzung fallen wieder die teilweise gesungenen, teilweise gesprochenen Rezitative auf und die manchmal sehr ungewohnten Tempi, so das sehr langsame „Vedrai carino“.

Aus dem Figaro von André Schuen ist nun ein Don Giovanni geworden, mit angemessen mehr Eleganz in der Stimmführung, eindrucksvollen Rezitativen, einer atemlosen Champagnerarie und einer Serenata in fein durchgehaltenem Piano. Viel adäquater als der Don Basilio ist der Don Ottavioa für den hübschen Tenor von Mauro Peter, der hier sehr edel und gar nicht wie heute üblich als blässlicher Schwachkopf gezeichnet ist, „Dalla sua pace“ empfindsam singt und für „Il mio tesoro“ saubere Koloraturen aufweisen kann. Etwas mehr silbriger Glanz könnte dem Timbre noch ein weiteres Quäntchen an Verführungskraft verleihen. Ebenfalls bereits im Figaro war Christine Schäfer, damals Contessa, nun Donna Anna, zu erleben. Zu Beginn fürchtet man, die Stimme sei zu zart, besonders im aufgeregten Beginn der Oper, aber  „Or sai che l’onore“ wird sehr schön gesungen, nur hin und wieder klingt der Sopran angestrengt, „crudele“ wird in zartem Erschrecken gesprochen, in den wunderbar gestalteten Rezitativen ist sie die überzeugendste Anwältin der Intentionen ihres Dirigenten.

Eine rundere, wärmere Mezzostimme hat die Spanierin Maite Beaumont, eine schöne Gesangslinie und selbst in größter Erregung die vokale Contenance wahrend. Auch sie gewinnt den Rezitativen, so vor „Mi tradi“ viel mehr ab als man gewohnt ist. Etwas mehr gesanglichen Pep haben könnte die Zerlina von Mari Eriksmoen, die Susanna im Figaro war. Sehr klotzig und als dröhnenden Polterkopf gestaltet Mika Kares den Leporello und kann mit diesem Stimmmaterial als Commendatore viel mehr Ehre einlegen. Dunkler, weniger nobel und damit rollendeckend singt Ruben Drole den Leporello und ist damit das angemessene Pendant zu seinem Herrn. Der Arnold Schoenberg Chor gibt die fröhliche spanische Hochzeitsgesellschaft. Das Orchester mit Originalinstrumenten in dem recht kleinen Theater an der Wien gestattet den Sängern einen schlanken, unangestrengten Klang, was sicherlich die Intention des Dirigenten gewesen ist. Nun fehlt noch Così fan tutte, aber sicherlich nicht mehr lange (2 DVD Unitel 803908). Ingrid Wanja    

 

Das Beste kommt zum Schluss der beiden DVDs mit Mozarts Le Nozze di Figaro, wenn Dirigent Nikolaus Harnoncourt teils in seinem Heim, teils bei der Bühnenprobe Sängern und Zuschauern seine Sicht der Dinge nahebringt. Innerhalb eines Monats wurden im Theater an der Wien alle drei Mozart-Da-Ponte-Opern aufgeführt, und die Aufnahmen davon dürfen als Vermächtnis des Meisters angesehen werden. Den Zuhörer berührt es, wenn der Dirigent bekennt, dass er sich zwar seit Jahrzehnten mit den Werken auseinandersetze, „aber es ist mir noch nicht gelungen, was ich am allermeisten will“. Zu diesem „Es“ gehören die Rezitative, bei denen es dem Dirigenten auf die Tonhöhe auch des gesprochenen Wortes, nicht auf den Rhythmus ankommt, nach Harnoncourt auch die Auffassung von den und die  Darstellung der Personen als durchweg anfechtbar gelten kann, abgesehen vom Antonio, der als Einziger im Figaro ohne Falsch ist, während in Cherubino schon der spätere Don Giovanni zu erahnen ist. Schön zu sehen ist die große Aufmerksamkeit, ja Andacht, mit der die Sänger, die sich im Rollenkostüm aus einem Bilderrahmen äußern dürfen,  den Worten des Meisters lauschen, ihm sogar abnehmen, dass Barberina nicht über die verlorene Nadel, sondern die ihrer Jungfräulichkeit trauert, wenn sie Ihre Arie in Moll singt.

Die Aufführung selbst gewinnt nicht dadurch, dass sie sich nicht auf zwei CDs beschränkt. Das Szenische Arrangement von Felix Breisach postiert die Sänger vor drei Stellwände, in deren Aussparungen teils Spiegel, teils Portraits, so das Mozarts, wie er auf den nach ihm benannten Süßigkeiten erscheint, oder der Sänger in unterschiedlichen Kostümen durchaus nicht nur derer des Stücks zu sehen sind. Seltsamerweise gibt es auch einen Costume Designer (Doris Maria Aigner), so dass man die seltsame Kostümierung der Sänger nicht ihrem persönlichen Geschmack anlasten kann. Es berührt schon seltsam, wenn die Contessa im langen, aber schlichten schwarzen Hemdblusenkleid erscheint, während Barberina  in kostbarer Robe mit reichlich Glitzer auftritt. Keine Einheitlichkeit konnte man auch erzielen, wenn der Conte sich spielend über die Bühne bewegt, während die Contessa sich bei jedem Auftritt den Klavierauszug vors Gesicht hält, ja selbst der Basilio für seinen kurzen Auftritt im ersten Akt nicht auf denselben verzichten mag. Befremdlich ist zudem, dass sich Partner, selbst wenn sie Adressat einer Arie sind, die Bühne verlassen. Auch die Kameraführung erweist sich dann nicht als die glücklichste, wenn sie ein Faible für Aufnahmen von ihr Instrument säubernden Bläsern bekundet.

Maestro Harnoncourt hat sich für sein Mozart-Testament Sänger ausgesucht,  die seinen Intentionen am stärksten entsprechen konnten und die darum zum großen Teil auch in den beiden anderen Da-Ponte-Opern auftreten. Das Orchester ist natürlich der von ihm gegründete Concentus Musicus Wien mit seinen Originalinstrumenten, die ihr Dirigent zu für den Hörer ungewohnten Tempi animiert. Perfekt erfüllt der Arnold Schoenberg Chor unter Erwin Ortner seine Aufgaben.

André Schuen ist ein schmucker Figaro, der sich zunehmend frei singt und temperamentvoll das Geschehen dominiert, dazu auch noch einen angenehmen Bassbariton hören lässt. Susanna ist die hübsche Mari Eriksmoen mit feiner Zwitscherstimme leichter Höhe und noch ausbaufähiger Mittellage. Souverän trotz aller Bedeutungsbefrachtung der Aufnahme ist Bo Skovhus als viriler Conte, während Christine Schäfer ein makelloses „Dove sono“ singt, aber stellenweise auch säuselt und dem Vergnügen an extremem Ätherischsein manchmal die Verständlichkeit opfert. Mit köstlicher Mimik und die an sich recht farbige Stimme ins Kindliche zwingend ist Christina Gansch eine anmutige Barbarina. Ildiko Raimondi klingt recht hell für die Marzelline und weiß viel aus ihrer Partie zu machen. In ein extrem schnelles Tempo wird Elisabeth Kulman mit ihrer ersten Arie als Cherubino gezwungen, umso schöner und vollmundiger klingt dann „Voi che sapete“. Peter Kálmán ist ein polternder Baartolo, Mauro Peters Tenor ist für den Basilio fast zu schön.(Unitel 803708/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

Maria Dragoni

Meine uneingeschränkte Bewunderung und Liebe zur Stimme von  Maria Dragoni  stammt von dem Mitschnitt einer Norma mit ihr in der Titelrolle, den mir Freunde zukommen ließen („Hör doch mal!“). Und ich machte mich danach mehrfach auf nach Italien, nach Jesi, nach Rom oder vor allem für eine Live-Norma nach Genua (als Dokument bei Kicco optisch), wo ich sie absolut sprachlos (ich) und furchtlos (sie) erlebte. Ich stehe nich an sie in die Nachfolge der Großen, wie die Cerquetti oder auch Callas zu stellen (so wie ich die Millo füär eine würdige Nachfolgerin der Tebaldi und Milanov halte). Ihre Norma hatte Würde und Pathos und ruhte in der Wirkung auf dem absolut unglaublich phrasierten Rezitativ. Diese gewisse Gaumigkeit (in fiasca, wie die Italiener sagen) ist ein Teil ihrer Stimm-Timbres und nichts hinzu Erfundenes, darin der Kollegin M.C. auch sehr ähnlich, was ihr ungerechter Weise angekreidet wird. Ich habe sie dann in Folge recht oft gehört, auch als Norma in Sizilien,  Semiramide in Strasbourg und in Jesi als Persianis Ines de Castro (die bei Bongiovanni erschienen ist), als Giulia Spontinis an der Scala, in Turin als Gulnara (Il Corsaro), zudem in Berlin zweimal im Konzert:  immer außerordentlich beeindruckend. Nach eben dieser fulminanten Gulnara am Abend zuvor trafen wir uns im antiken und nach Gebäck (köstlich) und exzellentem Caffé duftenden Ambiente in den Kolonaden der Piazza di Castallo. Elegant erschien sie sehr pünktlich. Baci baci. Dann gings los.

Maria Dragoni in Procida/ Foto Sergio Goglia

Wir sprechen über die Garcia-Technik, der sie sich verschrieben hat und die der berühmte Belcanto-Tenor Manuel Garcia, Vater der Malibran und Viardot, entwickelte. Diese Technik bestimmt auch die Breite ihres Repertoires, das sich von Donna Anna („Mozart ist nicht eigentlich für mich, auch wenn ich ihn liebe!“) bis Rossinis Semiramide über die Belcanto-Heroinen hin zu den Verdi- und Puccini-Figuren erstreckt, die sie in Italien und im internationalen Ausland mit namhaften und führenden Dirigenten (Muli, Kuhn, Maazel u. a.) gesungen hat. Unklugerweise nenne ich ihre Turandot und frage zweifelnd, ob sie sich damit einen Gefallen getan hatte. Das hat einen Schwall an Antworten zur Folge, und vor dem atemlos lauschenden, die Kaffeetassen in der Luft haltenden Publikum in unserem ehrwürdigen Café an der Piazza di Castello demonstriert sie mir akustische Kostproben der bereits erwähnten Garcia-Technik, während sie eindrucksvoll den Ton von ganz hinten aus der Kehle über die Maske hoch nach vorne in die Stirn schiebt – außer ihr kommt von niemandem ein Geräusch. Die Espressotassen schweben immer noch in der Luft. Ganz konzentriert, nicht auf ihre Umgebung achtend, versucht sie mir klarzumachen (der ich in meiner nordeuropäischen Skepsis auf einer gewissen Facheinteilung ruhe), dass die Breite des Repertoires und der Partien nicht abhängig sind von kleinlicher Einteilung, sondern von einer gesunden Technik und dem eben beherrschten Sitz ihrer Stimme, die sie durchaus (zu diesem Zeitpunkt)  in einer Santuzza, Gioconda, Butterfly oder Andrea Chenier-Maddalena sieht.

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Maria Dragoni, wie auch oben,  in „La Vestale“ an der Scala (Costumi e scene dei premi Oscar Dante Ferretti e Gabriella Pescucci Dirigent Muti; Maria Dragoni, Marianna Pentcheva, Antony Michaels-Moore, Luca Lombardo, G)/ Foto Lelli & Masotti/ Teatro alla Scala/ Mit Dank an das Archivio storico

Was uns zu ihren Schallplatten bringt, die ich „unglücklich“ nenne und die sie hasst! „Das bin ich nicht, meine Stimme ist dort weiß in der Höhe und einfach nicht meine!“ Schuld daran waren stets die mangelnde Zeit und die mangelnde Vorbereitung durch Dirigenten oder Produzenten. „Mein Recital bei Orfeo! Ich verehre und liebe Gustav Kuhn, und ich verdanke ihm viel. Aber ich hatte nur vier Tage für diese Arien von Rossini bis Puccini, alles Brocken. Und ich kann nicht eine Aida in so kurzer Zeit aufnehmen, wenn so wenig drumherum stimmt. Andere können das sicher, ich nicht. Ich mkich organisieren können, ich muss sicher sein, dass ich mich auf festem Terrain bewege, alle Komponenten kenne.“ Und in der Tat – im Falle ihrer Gulnara im Torineser Corsaro stimmte einfach alles, klang die Stimme durch den ganzen Körper, blieb stets gedeckt, immer geheimnisvoll-dunkel, überaus wortdeutlich und der Artikulation verpflichtet, trugen die Worte den Ton auf ganz unverwechselbare Weise.

Was mich besonders im Gespräch mit ihr überraschte, waren diese klaren, präzisen Ausführungen einer jungen Frau, die in Italien nicht gerade zu den Intellektuellen gerechnet wird. Der Schein trügt. Hinter einer eher kompakten, fast provinziellen Erscheinung verbergen sich eine schon betroffen machende Sensibilität, Wachsamkeit und Intelligenz, die sich ebenso in einer Diskussion der Gesangstechnik wie in Bemerkungen über ein politisches oder soziales Umfeld mit­ teilen. Diese gewisse Robustheit verbirgt zudem eine Empfindsamkeit und Verletzbarkeit, die man immer wieder nur ahnen kann, die sich aber auf der Bühne in sensiblen Momenten mitteilt, in fast schon zu privaten Bewegungen, in einer sehr persönlichen Art der Darstellung. Und in einer Zeit der Anonymität nimmt man eine so große, starke und gesunde Persönlichkeit dankbar wahr. An Maria Dragoni ist nichts gekünstelt, herrscht keine plakative Primadonnenhaftigkeit. Sie umgibt kein „Hype“ eines aufgepuschten Industrieglitters.

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Sie beherrscht ihr Handwerk, sie bringt sich in ihre Kunst ein, sie macht keine Trennung von Privatem und Beruflichem, und sie gibt alles, was sie hat, um eine glaubhafte Figur, eben eine lebendige Person, auf der Bühne darzustellen. Daneben ist sie eine lebenslustige junge Frau, die die Körpersprache liebt, ihr Gegenüber zur Bekräftigung ihrer Argumente anfasst, auch schüttelt, die ihre Umgebung vergisst. Und ihre großen braunen Augen auf ihren Gesprächspartner fixiert. Sie liebt Streitgespräche mit der ganzen Leidenschaft Mittelitaliens (Procida!). Und dass dieser Charakter-Zug in der Familie liegt, bestätigte sich, als ich mich mit ihrer ebenso formidablen Mutter vor der Garderobentür in einer Diskussion über die Unterschiede zwischen Katholizismus und Protestantismus sowie über den Schuldkomplex in der christlichen Religion verwickelt sehe – nicht eben übliches Pausengespräch, möchte man meinen .

Maria Dragoni als Aida/ TdC

Aida, Norma, auch Adalgisa (neben der Dimitrova),  Trovatore-Leonora, Don Carlo-Elisabetta, sogar Mimi und Sonnambula, lmogene und Gulnara, Semiramide und Butterfly – die Rollen-Reichweite der Dragoni ist bemerkenswert. Platten können den lmpakt, die dramatische Wucht und die belcantistische Agilität dieser Ausnahmestimme nicht einfangen, oder bislang nicht. Sie selber nennt sich – richtig – einen soprano d’agilita, wenngleich die Stimme nun in der Folge schwerer und vielleicht Mitte-lastiger wird und zu diesem Zeitpunkt eher auf das mittlere Verdi-Repertoire zusteuert (und sie, wie schon gesagt, ein festes Auge auf Maddalena und Santuzza hatte). Natürlich ist sie den Versuchungen des Marktes und der Agenturen ausgesetzt, und jeder hat ein Recht auf Irrtum (Tosca), denke ich. Aber in ihren besten Momenten kann man in dieser beinahe altmodischen Stimme baden und in seinem Geist die Assoziationen an illustre Vorgängerinnen anklingen lassen, ohne ihr ihre hochindividuelle Eigenständigkeit zu nehmen. Im dramatischen Belcanto jedenfalls hat sie keines gleichen, und von wem kann man das sagen?

Wir haben dann unsere Begegnungen aufgefrischt. In einem späteren Gespräch sagt sie, ebenso dezidiert wie zuvor: Die Oper ist eine antike, eine klassische Kunstgattung. So wie man die Mona Lisa von Leonardo in einem Museum hütet, so braucht die Oper ausübende Künstler, die gleichermaßen fleißig, seriös und gewissenhaft sind. Ich selber bin im Denken und der mich als Kind und Jugendliche umhüllenden Kultur meiner Mutter aufgewachsen. Um eine virtuose Stimme zu bekommen, muss man bereits früh beginnen, mit etwa 17 Jahren, Gesang zu studieren – und das in der richtigen Tradition, mit den hochbewährten alten Übungen des Musikpädagogen Manuel Garcia. Nach acht Jahren Studium ist man bereit, und dann hoffentlich bestens vorbereitet, zu debütieren. Ich war so jung wie die Callas am Beginn ihrer Karriere. Ich verblüffte die Simionato, die in der Jury saß, sang bereits die Arie n der lmogene/ Pirata und Norma und gewann den ersten von vielen weiteren Wettbewerbspreisen. An einem einzigen Abend wurde ich berühmt. Aber ich wollte nicht überschnappen, und auch wenn ich von Anfang an neben Pirata und Norma noch Poliuto, Sonnambula und Turandot sang, wollte ich mich nicht zu Partien hinreißen lassen, die für meine Stimme nicht geeignet waren –  denn ich war damals  ja am Anfang und eben noch kein voll gültiger dramatischer Sopran, sondern eher ein soprano d‘ agilità, was ein gewaltiger Unterschied ist. (…)

Norma ist der Gipfel des canto di bravura. Sie ist meine Lieblingsrolle. Ich habe sie hundert mal gesungen, begann damit mit  27 Jahren, und die bewegendste und schönste Regie war die des großen Werner Herzog. Norma braucht, wie Bellini selbst sagte, eine voce di carattere enciclopedico – es ist di e einzige wirklich dramatische Partie Bellini s. Sie hat ein Finale, das mich an Wagner erinnert, einfach herrlich! Aber Mein absoluter Wunschtraum ist die lsolde (lacht).

Und wir haben unsere incontri per mail (modi moderni in tempi extremi) nochmal erneuert. Sie schreibt:  Meine Karriere ist durchaus nicht zu Ende und wird nie zu Ende sein, solange meine Stimme existiert. Und meine Stimme habe ich zum Glück noch. Viele Dinge sind seit 1997 geschehen. Nach dem Corsaro, den ich 1996 in Turin gesungen habe und der eine wichtige Etappe war, sind wunderschöne Sachen passiert, so das Verdi-Requiem in Mondovision mit Carlo Maria Giulini und 1998 der Nabucco. Ich habe eine besonders glückliche, starke Natur, so dass ich trotz gesundheitlicher Probleme nie das Handtuch geworfen habe und in Form bin, so dass, falls Corona es erlaubt, noch viel von mir zu hören sein wird. Als nächstes steht die Vorstellung meiner Biographie auf dem Programm, die von einer jungen, sehr begabten Schriftstellerin geschrieben wurde. Es wundert mich, dass man in Deutschland so wenig über mich weiß, da ich doch in der ganzen Welt bekannt bin.

Maria Dragoni (Foto di Roberto Recanatesi che collabora con il ROF Rossini Opera Festival data 2010)

Ein Ass im Ärmel ist die Aufnahme von Ines de Castro des Komponisten Giuseppe Persiani, die nur ich in diesem Jahrhundert gesungen hat, weil die Partie so schwierig ist. Sie wurde für Maria Malibran geschrieben, und die hatte damit am San Carlo einen Riesenerfolg. Ich bin stolz darauf, diese Aufgabe bewältigt zu haben und den Hörern eine Partie vorzustellen, die sich über drei Oktaven erstreckt. Als ich die Rolle 1999 im Teatro Pergolesi in Jesi sang, kamen 60 Journalisten (ich auch und war frenetisierend/ G. H.) aus der ganzen Welt und bedankten sich bei mir dafür, weil ich ihnen eine Vorstellung davon gegeben hatte, was ein wirklicher soprano drammatico d’agilità  und ein canto di bravura sind. Diese Begriffe sind verbunden mit Maria Callas, aber erst nachdem sie sich in den Partien des soprano leggero und des soprano drammatico bewiesen hatte, übernahm sie 1949 von Margherita Carosio die Puritani und zeigte sich in ihrer ganzen Großartigkeit.

Ich bin die einzige Erbin von Maria Callas, weil nur ich die Diskussion darüber in Gang gebracht habe, dass man mit einer dramatischen Stimme das Fach des soprano leggero singen kann, indem ich als eklatantes Beispiel am Teatro San Carlo nach Edita Gruberova die Sonnambula sang, die zwar einen Triumph erlangte, während ich das Theater quasi zum Einsturz brachte, und der Grund dafür war, dass ich sang wie die Callas. Ein soprano d’agilità mit einem melancholischen Timbre, der alle Verzierungen singen kann und der quasi eine Kombination von Ghena Dimitrova und Mariella Devia ist. Diese Fähigkeit gab es im 19. Jahrhundert, dann verschwand sie und wurde erst wieder von der Callas entdeckt.

Maria Dragoni als Königin der Nacht in Werner Herzogs „Zauberflöte“, laut Maria Dragoni aber als Norma/ Foto TMP

Meine Biographie wird im Sommer erschienen, den Titel darf ich noch nicht nennen. Ich bin in Procida geboren, das 2022 Kulturhauptstadt sein wird, wofür ich viele Pläne hatte, die sich im Moment nicht verwirklichen lassen. Ich habe nach den beiden Konzerten in Deutschland viel gesungen und nie damit aufgehört. Ich habe danach als Violetta debütiert, viele Konzerte gegeben, die Abigaille gesungen und die Santuzza wieder ins Repertoire aufgenommen, für die ich den Premio Mascagni gewonnen habe, Norma, die ich dreihundertmal gesungen habe und die eines meiner cavalli di battaglia ist. 2013 habe ich sie in sieben sizilianischen Städten gesungen, und es war immer ein Triumph. Dann habe ich in Genua in einer wunderschönen modernen Oper mit dem Titel Che fine ha fatto la piccola Irene (Welches Ende hat die kleine Irene genommen) nach einem Roman des großen Andrea Cammileri debüttiert. Ich habe Tosca in Torre del Lago gesungen. 2005 war ich die Gulnara im Corsaro in New York, 2007 debüttierte ich mit der Santuzza, und in Frankreich die Turandot. Bis 2019 habe ich durchgehend gesungen. Wenn es wieder möglich ist, werde ich die Norma im Teatro del Antico von Taormina singen. Ein Regisseur von RAI will eine Dokumentation über mich machen. Karfreitag 2020 gab es die Übertragung des Verdi-Requiems unter Giulini erneut im Fernsehen. Ich bin also noch da! (Die Gespräche führte Geerd Heinsen; Übersetzungen Ingrid Wanja/ Foto oben Maria Dragoni als Giulia/La Vestale/ Lelli e Masotti © Teatro alla Scala)

 

Stella d’Oriente

 

Immer wieder überraschen die Opernwelt Stimmen aus dem slawischen Raum höchst angenehm, so die der Weißrussin Oksana Volkova, ein Mezzosopran, der sich mit Opernarien vorwiegend aus dem französischen und slawischen Repertoire unter dem Titel Poison d’Amour bei Delos vorstellt. Sie beginnt mit der Schlussarie der Sapho aus Gounods gleichnamiger Oper und lässt den Hörer über das Leuchten der Stimme, die sie durchgehend schlank halten kann, erfreut sein, ihre Herkunft durch leicht scharfe Höhen dabei nicht verleugnend. Parallel zum Orchester wird der Mezzo zunehmend tränenschwer, ehe die Stimme verstummt. Es folgen die beiden Arien der Dalila, denen sie sinnlich samtige Farben verleiht, die Tiefe erweist sich als gut angebunden an die Stimme, deren schöne Farben in großen Bögen eingesetzt werden, die stets schlank bleibt und trotz aller heraufbeschworenen Schwüle nie ordinär erscheint. Thomas‘ Mignon beschwört das Land, wo die Zitronen blühen mit einer leichten Emission der Stimme, vielleicht etwas zu auffahrend für das zarte, knabenhafte  Geschöpf. Tränenschwer und reichlich vollmundig beklagt Charlotte ihr Schicksal, die Carmen der Volkova gehört sicherlich nicht zu den dem Chanson zugeneigten Vertreterinnen der Partie.

Aus dem slawischen Repertoire sticht die Arie aus der im Westen vollkommen unbekannten weißrussischen Oper The Gray Legend von Dmitri Smolski hervor, 2012 uraufgeführt und vollkommen der Tonalität verpflichtet, eine blutrünstige Geschichte mit frommem Ende, spätromantisch und von der Sängerin mit slawischen Schärfen ausgestattet. Slawische Melancholie verbreitet sich mit Lyubavas Arie aus Sadko, hellere, mädchenhafte Töne lässt Tschaikowskis Jungfrau von Orléans vernehmen, eine Art Mezzo-Tatjana. Mit dräuender Bruststimme, phantastischen Intervallsprüngen nach unten, die im Fahlen enden, schafft die Sängerin einen scharfen Kontrast zu der mezzofarbigen Höhe, alles vereint in der Arie der Marfa aus Khovanshchina.

Zwei bekannte Arien aus dem italienischen Repertoire sind am Schluss der CD zu hören: Santuzzas Bekenntnis gegenüber Mamma Lucia und Adrianas Rivalin mit ihrem  „Acerba voluttà“. Bei beiden stört das verwaschen klingende Italienisch den Gesamteindruck, bei Santuzza das schwache „Io piango“, während die Principessa de Bouillon jeden noch so schlachterprobten Maurizio erzittern lassen könnte.

Ein zuverlässiger Begleiter ist das Kaunas City Orchestra unter Constantine Orbelian (Delos DE 3584). (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Ingrid Wanja       

Pauline Tinsley

 

„Vil bastarda di Bolena“ – nie werde ich den Auftritt von Pauline Tinsley (27. März 1928 – 10. Mai 2021) als Elisabetta an der ENO London neben Janet Bakers Maria Stuarda  vergessen: ein zutiefst charaktervolles Gesicht, der Körper, die Spannung, die Gestik zu jeder Minute dem Ausdruck untertan. Die Stimme selbst nicht sonderlich schön und auch im oberen Bereich vielleicht etwas sehr scharf, aber was für ein Aplomb, welche Kraft, welche Flexibilität der Diktion und der Mitteilung. Das ist das Zeug, aus dem große Sänger gemacht sind. Die Tinsley war so eine, kein Zweifel, auch wenn sie in der öffentlichen kontinentalen Wahrnehmung vielleicht zu sehr auf die großen Charakterpartien wie Elektra oder Lady Macbeth festgelegt war. Gerade letztere an der ENO und an der Scottish Opera hatte mich tief beeindruckt, und mir fällt dazu nur das Attribut „furchtlos“ ein. Ähnlich wie die Scotto wucherte die Tinsley mit ihrem Pfund, und ähnlich wie die italienische Kollegin ist sie nicht in den Kategorien von Schön-Singen zu beurteilen. Eine Sing-Schauspielerin wie die Borkh, wie die Lippert vielleicht, dabei von einer enormen Fachbreite von Monteverdi zu Britten und Strauss. Und sie kam herum. Ost- wie West-Berliner werden sich an das Gastspiel der Amsterdamer Harry-Kupfer-Elektra (Premiere dort 1977) in der Komischen Oper mit ihr erinnern – wie die Kollegin Barstow in der Salome an der Staatsoper auch sie unvergessen und unverwischbar nachdrücklich. Nun starb sie am 10. Mai 2021.

Pauline Tinsley: „Maria Stuarda“ mit Beverly Sills/ NCO/ youtube

An offiziellen Aufnahmen gibt es kaum welche mit ihr – eine Hexe Purcells und die Idomeneo-Elettra bei Philips, eine Magd in Soltis Elektra bei Decca (neben den von mir ebenfalls verehrten Britinnen Maureen Lehane und Helen Watts). Dazu kommt als bleibender Eindruck auch ihre Maiella in Wolf-Ferraris Gioielli della Madonna bei Gala von der BBC.  youtube hat hingegen Reichliches von ihr, vor allem ihre gut dokumentierte Elektra, und ihre Biografie zeigt auf, wo und was sie alles gesungen hat. Sie war nie die erste Sängerin, und sie hatte das Pech, noch in der Ära der Callas angefangen zu haben, die Kolleginnen Nilsson und Jones erleben zu müssen und den zähen, aber unaufhaltsamen Aufstieg der britischen Sänger, die heute aus dem großen Geschäft nicht mehr fortzudenken sind, damals aber sich sehr behaupten mussten. Nachstehend gibt es einen zusammenfassenden Artikel von den Freunden von Isoldes Liebestod, die ihre Laufbahn schildern und mit mir diese große und nicht nur für mich bedeutende Sängerin schätzen. Was für eine intensive Künstlerin war sie doch. Und was bin ich froh, sie noch erlebt zu haben. G. H.

 

Pauline Tinsley: Elektra mit Marie Collier in Cardiff/ WNO

 Tinsley Pauline Cecilia, Sopran, * 27.3.1928 Wigan bei Manchester; Ausbildung an der Northern School of Music in Manchester durch Margaret Dillon und Ellis Keeler, dann in London durch Joan Cross, Roy Henderson und Eva Turner. Sie begann ihre Karriere zunächst als Konzertsängerin. Bühnendebüt 1961 bei den Philopera Company in London als Desdemona in Rossinis Belcanto-Oper »Otello«. Sie hatte seit 1962 bei der Welsh Opera Cardiff große Erfolge als Abigaille in Verdis »Nabucco«, als Lady Macbeth In »Macbeth« von Verdi und als Turandot von Puccini, dann auch als Aida und als Elektra in den gleichnamigen Opern von Verdi und R. Strauss. Sie sang 1962-72 und wieder 1975-81 bei der Welsh National Opera Cardiff u.a. auch die Elsa im »Lohengrin«, die Donna Elvira im »Don Giovanni« und die Susanna in »Figaros Hochzeit«, bei der English National Opera London 1963-74 die Gilda im »Rigoletto«, die Königin der Nacht in der »Zauberflöte« und die Leonore im »Fidelio«. Seit 1963 auch bei der English National Opera London engagiert, wo sie als Gräfin in »Nozze di Figaro«, als Fiordiligi in »Così fan tutte«, als Leonore im »Troubadour« wie in »La forza del destino« von Verdi und als Elisabetta in »Maria Stuarda« von Donizetti auftrat. Seit 1965 Mitglied der Covent Garden Oper London; hier 1971 sehr erfolgreich als Amelia in Verdis »Ballo in maschera«, 1976 als Santuzza, 1983 als Mère Marie in »Dialogues des Carmélites« von F. Poulenc, 1989 als Lady Billows in »Albert Herring« von B. Britten, die sie auch 1990 beim Glyndebourne Festival übernahm. 1966 wirkte sie am Londoner Camden Theatre in der englischen Erstaufführung von Verdis Oper »Il Corsaro« mit. Gastspiele an der New York City Centre Opera (1971-72, u.a. in der amerikanischen Bühnen- Erstaufführung von »Maria Stuarda« von Donizetti), an der Niederländischen Oper Amsterdam (1984 Titelrolle in »Elektra« von R. Strauss), an der Hamburger Staatsoper, bei den Festspielen von Verona (1982), an den Opernhäusern von Zürich und Genf (1988), Vancouver, Philadelphia, Houston (Texas), Santa Fé (1969 als Titelheldin in Donizettis »Anna Bolena«) und New Orleans (1985 als Ortrud im »Lohengrin«).

Pauline Tinsley: Lady Macbeth in Cardiff/ WNO

An der Scottish wie an der Welsh Opera hörte man sie als Küsterin in Janáceks »Jenufa«, 1989 an der English National Opera als Kabanicha in »Katja Kabanowa« von Janácek, an der Opera North Leeds als Fata Morgana in »L’Amour des trois oranges« von Prokofieff, beim Wexford Festival 1990 in »The Rising of the Moon« von N. Maw. Noch 1996 übernahm sie beim Garsington Festival die Partie der Lady Billows in B. Brittens »Albert Herring«. 1979 wirkte sie an der Oper von St. Louis in der Uraufführung der Oper »The Village Singer« von Stephen Paulus (als Candace) mit. An der Mailänder Scala wie am Teatro Liceo Barcelona (1986) war sie als Färberin in »Die Frau ohne Schatten« von R. Strauss zu hören. Die Elektra, eine ihrer großen Kreationen, sang sie u.a. in London, San Diego, Amsterdam, Basel, Düsseldorf und Mannheim. Gegen Ende ihrer Bühnenkarriere übernahm sie dramatische und Wagner-Partien (Isolde, Kundry, Brünnhilde, Kabanicha, Hexe in »Hänsel und Gretel« wie in »Die Königskinder« von Humperdinck). Noch 1997 trat sie am Opernhaus von Dublin als Marcellina in »Figaros Hochzeit« auf. Sie sang auf der Bühne ein universelles Repertoire, dessen Partien von der Koloraturrolle bis ins dramatische Fach reichten. Dazu galt sie als hervorragende Schauspielerin. Sie konnte eine gleich bedeutende Karriere im Konzertsaal entfalten. Schallplatten: Philips (Elettra in Mozarts »Idomeneo«), MRF/ Gala (»I Gioielli della Madonna« von Wolf- Ferrari). Lit: E. Forbes: Pauline Tinsley (in »Record Collector«, 1982). Quelle: Isdoldes Liebestod

Viktor Parmas „Zlatorog“

Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen,  dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel. Zwar schlagen sich zwar wichtige politische Ereignisse meist nur mit Verzögerung in den Opernplots nieder, aber auch aktuelle Bestrebungen nach nationaler Einheit und Identität ((und dem Verlust derselben) finden sich in vielen Werken ganz aktuell, oft in Form der Verwendung von Folklore und/oder nationalem Liedgut, oft auch durch Reaktivierung glorioser Siege in der ferneren Geschichte des jeweiligen Landes (so zum Beispiel bei Gounod oder Saint-Saens um die Schmach des deutsch-französischen Krieges vergessen zu machen, auch in Ivan Zajcs Nicola Subic Zrinski, in dem zwar die Türken niedergemacht werden aber die Österreicher gemeint sind; gleiches gilt für Pavlo Carrers Marcos Botsaris oder Naumanns Gustav Wasa und natürlich auch Verdis Nabucco).

Anders als in z. B. Carl Maria von Webers Freischütz, der nicht bekanntes Volksgut verwendet, sondern Eigenes in der Nähe des Volkstümlichen erfindet und es wie Langbekanntes klingen lässt, sind viele Opern aus vor allem Süd- und Osteuropa angefüllt mit direkten Zitaten aus der musikalischen Folklore. Jede osteuropäische ethnische Minderheit beherbergt mindestens eine Oper, die als Banner des Nationalstolzes dient.

Immer noch ist einer der aufregendsten Momente in meinem langen Musikleben die Entdeckung des Unbekannten. Durch Zufall las ich einen englischsprachigen Aufsatz der Uni Ljubljana über Viktor Parma und seine Oper Zlatorog, was soviel wie Goldenes Horn heißt und sich als das Gehörn eines Ziegenbock, hier einer Gämse im Gebirge Istriens, entpuppte. Nach Meyerbeer nun noch eine Oper über eine Ziege! Diese Ziege nun ist ein zaubernder Zoegenboch und Held n einer Oper von 1919 (erst 1921 in Ljubljana uraufgeführt), von eben diesem Herrn Parma. Parma? Veilchen, Schinken? Durchaus nicht. Italienischer Abstammung (Triest) zählt Viktor Parma zu den musikalischen Größen Sloweniens nach der Auflösung der Donaumonarchie und Schöpfer einer nationalen slowenischen Oper. Mit vielen west-europäischen und slawischen Einflüssen. Spannend.

Bei youtube gibt es einen Mitschnitt eben dieses Zlatorogs von 2009 aus Maribor, gut gesungen (namentlich der Tenor). Weitere Opern, wie die sehr ansprechende Ksenija im russischen Millieu, finden sich dort dankenswerter Weise auch. Musikalisch ist das eine interessante Sache zwischen spätem Belcanto und Verismo, Catalani und Mascagni näher als Puccini und Cilea.

Der slowenische Komponist Viktor Parma/ Kamra.si

Die Suche nach Material gestaltete sich dornenreich, aber dann halfen slowenische Freunde und vor allem der Dramaturg der Oper von Maribor außerordentlich liebenswürdig mit Hinweisen und konkreten Liebesgaben (sogar ein zweisprachiger Klavierauszug). Zudem gibt es ein – leider nur slowenisch-sprachiges – Buch über Viktor Parma, das der Autor uns als italienisches Maschinenskript zukommen ließ. Die originalen Yugoton-LPs von 1979 sind nicht mehr greifbar, trotz aller Suche.

Der folgende Artikel beruht auf vielerlei Hilfe und soll für nicht slowenisch-kundige Opernliebhaber einen ersten Eindruck dieses im Westen absolut unbekannten Komponisten und seiner Nationaloper Zlatorog vermitteln, Appetit machen, diesen kennenzulernen. Hoffe ich jedenfalls.

Viktor Parma (Triest, 20. Februar 1858 – Marburg an der Drau, 25. Dezember 1924) studierte Komposition als Jurastudent in Wien. Einer seiner Kompositionslehrer war dort Anton Bruckner. Um die Jahrhundertwende war Parma der beliebteste und produktivste Opernkomponist in Slowenien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zum künstlerischen Leiter des Nationaltheaters von Maribor ernannt. In der ersten Phase seiner kompositorischen Tätigkeit nahm Parma den kroatischen Kollegen Ivan Zajc als Vorbild, den Gründungskomponisten der kroatischen Nationalschule (der in Mailand studiert hatte). Parmas Absicht war es, eine slowenische Nationalschule zu gründen. Sein Stil wurde tiefgreifender sich in späteren Werken, als die Einflüsse von Smetana, Dvorak und Tschaikowsky es Parma ermöglichten, einen eigenen  slawischen Stil zu erlangen, der mit dem Einfluss des slowenischen Volksliedes verschmolz und zur Geburt der slowenischen Nationaloper führte.

Der Dichter Rudolf Baumbach schuf die Vorlage zum Libretto des „Zlaterog“ von Richard Brauer/ Wikipedia

Er entwickelte einen Kompositions-Stil, der auch in seinen Operetten zu finden ist, obwohl auch hier – wie bei Ivan Zajc – das Wiener Vorbild erkennbar ist. Parma schrieb die meisten seiner Werke auf slowenisch verfasste Texte und wurde so zum Musiker, der als Erster Werke für das Theater in dieser Sprache komponierte, wie Paolo Petronio in seinem Buch über Parma schreibt (das einzige zudem und auch „nur“ in slowenischer Sprache). Zur selben Zeit komponierte Parma auch Werke anderer Genres, darunter zwei Kantaten, viele Klavierstücke, Chöre, Lieder für Gesang und Klavier, Bühnenmusik und ein Quartett für Streicher.

Sein Meisterwerk ist seine späte, letzte Oper Zlatorog, die auf einer Volks-Legende der Julischen Alpen basiert und sich mit einer mythischen Gämse mit goldenen Hörnern befasst, zweifellos ein Einfluss der alpinen Oper La Wally von Alfredo Catalani (1892), aber auch Nähe zu Webers Feischütz. Parmas letzte Oper, Pavliha, zu einem beliebten slowenischen Komödien-Stoff, blieb aufgrund des Todes Parmas unvollendet.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtete das jugoslawische kommunistische Regime die Werke von Parma (die bereits seit vielen Jahren unaufgeführt blieben, nur Maribor kann auf beträchtliche eine Liste von Produktionen der Opern Parmas vor dem Krieg verweisen) als reaktionäre Musik, da eines seiner Werke während der nationalsozialistischen Besatzung in Ljubljana aufgeführt worden war, und verbot dessen Ausführung. Erst in den Jahren 1977 und 1983 versuchte das Theater von Maribor immer wieder, seine Opern zu exhumieren, aber bis auf eine Ksenija in Ljubljana blieb es doch bei diesen regionalen Darbietungen in Maribor (Zlatorog 1979 und 2009). 2002 wurde Parma an der Oper von Ljubljana wiederentdeckt, gefolgt von Aufführungen seiner Werke in Novo Mesto und Maribor.  Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Parma aufgrund des langen Schweigens, das das jugoslawische Regime seiner Musik auferlegt hat, immer noch nicht die wirklichen Vorzüge der slowenischen öffentlichen Meinung genießt, die ihm als Initiator der nationalen Musikschule zugeschrieben werden sollten.

„Zlatorog“ an der Oper Maribor 2009/ OperaBallet Maribor

Die Musik von Parma fällt daher unter das Phänomen der „nationalen Schulen“, die im allgemeinen Komplex der musikalischen und politischen Evolution Europas keine Rolle (mehr) spielen, die aber im Heimatland vor allem „jüngerer“ Länder (i. e. Länder nach der Befreiung von außernationaler Dominanz) von Bedeutung sind. Die Qualität seiner Musik setzt Parma mit nationalbewussten Komponisten wie Smetana, Grieg, Berwald, Catalani oder Zajc gleich. Viktor Parma wurde aufgrund des Schweigens, das ihm das jugoslawische Regime auferlegt hatte, sowohl von der slowenischen als auch von der europäischen Musikwissenschaft lange Zeit ignoriert.

Das Problem der Annahme des Komponisten in seiner Heimatstadt Triest, wo Parma seit 1913 nicht mehr aufgeführt wurde, bleibt jedoch ungelöst. In Triest kennt man zwar Parma, aber nicht den Komponisten, sondern wegen des Orchesters, das seinen Namen trägt. Allerdings denken auch in Slowenien denken, dass Parma eine Stadt und nicht ihr wichtigster Komponist ist. Obwohl er nationale slowenische Musik komponieren wollte, hielt man ihn in Slowenien für einen Ausländer. Er ist ein Paradebeispiel für einen durch die politischen Umstände Heimatlosen, zwischen den Systemen und geopolitischen Verschiebungen Gefangenen. 1918 trennt sich Slowenien von Österreich-Ungarn, dem es seit 1456 – mit Unterbrechung durch die napoleonischen Kriege – angehörte. Parma ist bei Kriegsende in Wien. Erst 1920 kann er nach Slowenien zurückkehren, wird aber nun agressiv von der Presse kommentiert.

„Zlatorog“ an der Oper von Maribor 2009/ Szene/ OperaBallet Maribor

Das Theater von Maribor bietet ihm Intendanz an.  Nun will plötzlich auch Ljubljana den Zlatorog aufführen, und hier findet 1921 die späte Uraufführung des Zlaterog statt. Es gibt14 Aufführungen und eine feindselige Presse (weil Parma als konservativ und ex-österreichisch galt). Danach komponiert Parma Märsche, Kantaten, Streichquartette. In Maribor dirigiert er seine Werke. Urh du Zlatorog wird 1923 in Maribor aufgeführt. Weihnachten 1924 stirbt er während einer Krebsoperation in Maribor

 

Es  besteht kein Zweifel, dass Viktor Parma zu den produktivsten slowenischen Komponisten des Musiktheaters gehört, wie seine Opern (Urh, Der Graf von Celje, Ksenija, Stara Pesem, Zlatorog, die unvollende heitere Oper Pavliha), seine Operetten (Kaiserin der Amazonen, Der Neffe, Der Tempel der Venus) und seine Bühnenmusiken beweisen. Natürlich bleibt Parma nicht nur wegen seiner umfangreichen Theaterproduktion in Erinnerung, sondern auch als Schöpfer der ersteren durchkomponierten slowenische Oper, Zlatorog (1919), seine letzte Oper.  Zlatorog  nimmt einen besonderen Platz im Oeuvre des Komponisten sowie in der  Geschichte der slowenischen Oper ein. Parma wollte nach Jahren der österreichisch-italienischen Dominanz eine großartige slowenische Nationaloper schreiben und wählte dafür ein märchenhaftes Sujet und die Form eines Musikdramas, das zu dieser Zeit bei den europäischen Kollegen sehr üblich war, war aber im Slowenischen völlig neu. Parma mischt deshalb überkommene konservative und für Slowenien neue Strukturen. Daher gibt es im Zlatorog verschiedene Einflüsse aus dem Belcanto mit jenen des italienischen Verismo, dazu Einflüssen aus Operette, Volksmusik, großer Oper und Wagners Musikdrama.

100 Jahre Gesang in Maribor – Sonderausgabe des Theaters mit historischen Aufnahmen/ OperaBallet Maribor

Parma verzichtete auf die Form der Nummern-Oper zugunsten des durchkomponierten Musikdramas auf, aber man kann dennoch „Nummern“ wie Janez` Trinklied, zwei Liebesduette und die Choreinlagen sowie Jericas Lied als solche erkennen. Weiter entwickelt ist Jakas Monolog aus dem Prolog, aufgebaut aus verschiedenen Fragmenten und leitmotivischen Anspielungen. In seiner Verwendung jener Leitmotiven ist Parma nicht so streng wie Wagner, aber er baut ein starkes psychologisches Motivnetz an Wechselbeziehungen auf. Ein solcher Übergang zum Neuen bedeutete jedoch keine radikale Abkehr vom Bekannten, sondern eher eine Synthese von Alt und Neu.

Dies ehrgeizige Projekt hatte in dem neugefundenen Slowenien nach dem Ersten Weltkrieg kein nennenswertes Vorbild. Zur Zeit des slowenischen nationalen Erwachens wurden zwei Singspiele auf slowenischem Boden komponiert – Vilhar’s Jamska Ivanka (1850) und Tičnik von Benjamin Ipavec (1864).  Nationales Erwachen in Opern könnte bereits in Foersters Gorenjska/ Die Nachtigall gesehen werden, die ursprünglich als Operette (1872) entworfen war und erst gut zwei Jahrzehnte später in eine Oper umgewandelt wurde (1896). Auch in Risto Savins  zweiter Oper Lepa Vida (1907), die viel  slowenisches, folkloristisches Material enthält.

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„Zlatorog“ als ehemalige Yugoton-Aufnahme

Parma lebte während seines Jurastudiums in Wien (1876-1881) und nahm an Vorlesungen Anton Bruckners teil, besuchte auch die österreichische National-Bibliothek, in der er Opernpartituren studierte, die ihm wichtige Impulse gaben. In Wien traf er Richard Brauer, den Librettisten des Zlaterog (der Dichter Cvetko Golar übersetzte schließlich das Ganze ins Slowenische). Die Bauweise des Librettos erinnert in einigen Umrissen an Webers Freischütz, das heißt an eine frühe deutsche romantische Oper. Die Berührungspunkte findet man im Motiv des „gefallenen“ Jägers (Tondo), und auch im Motiv des Jägers, der Hilfe bei mythischen Wesen sucht, um das Glück seiner Liebe mittels übernatürlicher Kräfte zu erreichen. Parmas Oper Zlatorog versuchte wie Webers Freischütz, wenn man so will, die Idee der nationalen Oper mit der Technik des musikalischen Dramas und des mythologischen Materials zu verbinden. Dazu kommen Formen der veristischen Oper und sogar ein umfangreiches Ballett im Sinne des Dramas wie Verdis Handlungsballett im Don Carlos und nicht auf eigenständige Modelle eines Petipa an der Pariser Grand Opera.

Parma vertraut auf die melodiöse Gesangsmelodie, die ihn mit dem italienischen Belcanto verbindet. Das ist am deutlichsten im Duett von Jerica und Marco zu sehen, das in diese „italienische“ Richtung zeigt. Aber es gibt auch veristische Beispiele, trotz der mythologischen Verwurzelung der Protagonisten. Und man findet auch in der Oper auch immer wieder diese typischen Chöre, die die national orientierten Werke kolorieren und für eine vernakuläre Atmosphäre sorgen. Für die dramaturgische Entfaltung sind sie eher irrelevant, bleiben statisch. Die veristischen Anleihen zeigen sich in dem Konzept eines schnellen Finales: Janez wird von einer Lawine zu Tode gerissen, ein Chor kommentiert sein Ende. Da sind Assoziationen zu den italienischen Vorbildern nicht weit. Aber auch die Versöhnung mit dem Schicksal, der Abschied von der Welt, das Gleichgewicht von Gut und Böse und letztlich auch die Bestrafung der Hybris des Anti-Helden sind bekannte Strukturen aus dem west-europäischen Opernschaffen der Zeit.

Viktor Parmas „Zlatorog“ bei youtube: der Mitschnitt der Live-Aufnahme aus Maribor 2009 unter Simon Robinson mit Matjanez Stopinsek, Sabina Cvilak, Irena Petkova, Janko Volcansek u. a.; Orkester in zbor Opera in balata SNG Maribor/ Roberto Job

Ein ganz wichtiger Bestandteil des Komposition sind die Einschlüsse slowenischer Volkslied-Bestandteile, die man im Prolog besonders häufig findet. Parma als ehemaliger erfolgreicher Operettenkomponist, weiß genau, wie er diese einbaut und verwendet, ihre spezifischen Rhythmus-Impulse effektvollvorstellt und eine gewisse Farbigkeit und Verwurzelung im nationalen Klang-Image erzeugt. Eben diese Einschlüsse folkloristischer Elemente lassen den Zlatorog eine ganz eigene, nationale Oper sein. So wie bei den Kompositionen seiner Kollegen der anderen von der K. u. K.-Dominanz fortstrebenden Länder, man denke da an Ivan Zajc und seine große nationale Oper Nicola Zrinski (1876 Zagreb). Geerd Heinsen

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Zlatorog, Oper in einem Prolog und drei Akten, Libretto von Richard Brauer, inspiriert von der epischen Erzählung von Rudolf Baumbach, Übersetzung ins Slowenische von Cvetko Golar (Adaption des Librettos von Igor Order) Musik von Viktor Parma Komposition: 1917 – 1921 Uraufführung: Ljubljana, Opernhaus, 17. März 1921 Rollen: Janez, Jäger aus Trient (T) – Špela, junger Hirte (C) – Jaka, alter Hirte (B) – Katra, Gastgeberin (Frau) – Jerica, seine Tochter (S) – Tondo, angehender Jäger (B) – Marco, venezianischer Kaufmann (Br) – vier venezianische Kaufleute (2T, 2B) – die Sojenice, drei weiße Feen von Triglav (S, S, C) – zwei Kinder der Hütte, Schulkinder und Lehrer, Jäger und Jäger, Gäste der Taverne, Jungen und Mädchen (Chor und Statisten).

Parmas „Zlatorog “ lieferte auch die Vorlagen zu Bearbeitungen für Tanz und Klavier/ Wiki

Prolog: Es ist später Abend. Der alte Hirte Jaka raucht eine Pfeife, während zwei Kinder Milch aus einer Schüssel trinken und die junge Špela die Hausarbeit erledigt. Es klopft an der Tür: Es ist Janez, ein junger Jäger. Nach einer guten Jagd bittet er um Gastfreundschaft für die Nacht. Er trägt eine Gämse und einen Luchs mit sich. Janez wird mit großer Gastfreundschaft begrüßt und zum Abendessen eingeladen und Jaka erzählt nun eine fast tausend Jahre alte Sage, die Sage vom Zlatorog (der zauberischen Gämse). Auf der Bergkette von Bogatin bis Triglav befindet sich das magische Königreich der Sojenice, die drei weißen Feen. Sehr selten kommen sie ins Tal und wachen über der Wiege eines Neugeborenen. Dieses Kind wird dann ein reiches Leben mit einem wunderbaren Schicksal führen. Aber im Allgemeinen bleiben die drei Feen in ihrem magischen Reich verborgen. Hier leben Herden weißer Gämsen. Deren Anführer ist Zlatorog, der ein goldenes Horn auf dem Kopf hat. Aus seinem Schweiß entsteht grünes Moos, aus jedem Tropfen seines Blutes eine Rose von Triglav. Wenn Zlatorog verletzt wird, heilt er auf wundersame Weise, indem er eine der Rosen isst. Die Feen stürzen sich dann in den Abgrund, wo bereits mehrere Tote liegen. Es sind diejenigen, die ihn verletzen. Es wird jedoch gesagt, dass eines Tages jemand kommt, der den Zlatorog besiegen wird. Dann öffnet sich vor dem Schützen die mysteriöse Höhle des Berges Bogatin voller Gold und Juwelen. Janez ist beeindruckt von der Geschichte, allein gelassen mit Špela, gibt ihr die Rosen, die er auf dem Triglav gesammelt hat, und versucht dann eine Werbung, aber das Mädchen entzieht sich. Er versucht sie zu küssen, aber Špela entkommt und lässt ihn allein. Janez schläft ein und die Wände der Hütte verschwinden lanmgsam: Das magische Königreich Zlatorogs und der Ziegenbock mit einer Herde weißer Gämsen erscheinbt. Die drei Feen ermahnen Janez, vorsichtig zu sein und das Abenteuer einer Jagd auf Zlatorog nicht zu wagen.

„Zlatorog“ am Theater von Maribor 2009/ OperaBallet Maribor

Akt 1: Die Brücke über den Isonzo bei Trient. Es ist ein Feiertag. Eine Gruppe von Schulkindern  singen für die Gastgeberin der Gastwirtschaft,  Katra. Dies dankt und bietet Süßigkeiten. Tondo, der Jägerlehrling ist sehr verärgert: Janez schlägt alle im Schießwettbewerb. Špela versucht ihn zu trösten, aber sie denkt viel an Janez. Janez singt ein Lied auf den slowenischen Wein und die Heimat. Die blonde Jerica, Tochter von Katra, betritt die Bühne. Sehr zu Špelas Verachtung verliebt sich Janez auf den ersten Blick in sie und bittet Katra um Erlaubnis, mit ihr tanzen zu dürfen. Jerica wirtft sich Janez an den Hals und sie tanzen leidenschaftlich..

Akt 2: Es ist früher Morgen, noch dunkel. Die Sonne gezt langsam auf.  Špela putzt. Janez erscheint mit einem Strauß Triglav-Rosen am Fenster und fragt nach Jerica. Das Mädchen reagiert ausweichend und verlässt den Raum, als Jerica erscheint. Janez reicht ihr die Blumen. Die beiden küssen und umarmen sich und erklären sich ihre Liebe.Allein gelassen träumt Jerica von Janez. Špela kehrt zurück, und Jerica erzählt ihr von ihrer Liebe und fragt sie, ob sie auch verliebt sei. Špela antwortet ausweichend … Sie war einmal in jemanden verliebt, der behauptete, von den Feen  auserwählt worden zu sein, aber das war eine Täuschung. Jerica sagt, dass Janez auch von dern Feen beobachtet würde, wie er selber behauptete. Und Špela weist darauf hin, dass das Jagen und Sammeln von Blumen auf dem Berg nicht den Segen der Feen hätte. Die beiden necken sich gegenseitig, aber darin kündigt Katra die Ankunft des Postwagens an. Marco, ein venezianischer Kaufmann tritt mit vier Reise- und Geschäftsbegleitern auf. Sie , trinken, singen und loben Bacchus. Marco sieht Jerica und beginnt sie zu umwerben, er gibt er ihr eine goldene Halskette. Jerica nimmt  das kostbare Geschenk gerne an. Darin tritt Janez ein, der Zeuge der Szene war und von ihr schockiert ist. Er fordert Jerica auf, die Kette abzulkegen, aber sie lehnt ab und sagt, dass Marco immerhin ihr eine goldene Halsketten gab un d nicht nur Blumen wie Janez. Unter den hämischen Kommentaren der Anwesenden verschwindet Janez wütend. Jerica nimmt ihre Halskette ab und fängt an zu weinen. Marco ist verärgert, während Katra versucht, Jerica zu trösten.

„Zlatorog“; Klavierbearbeitung der „Barcarole“/ Wikipedia

Akt 3: Bei geschlossenem Vorhang beschreibt ein symphonisches Zwischenspiel  den Aufstieg Janez´in das magische Königreich. Dann gibt es das wunderbare Ballett aus Blumen, Gämsen und Feen, während das Zeuiberreich Sojenice und Zlatorog erscheinen. (In den verfügbaren Aufnahmen fehlt dieses). Während die magischen Wesen verschwinden tritt Janez ein lauert auf Zlatarog. Eine Stimme ruft von ferne: Es ist Špela, die ihm gefolgt ist und versucht, ihn aufzuhalten. Es gäbe doch andere, wichtigere Dinge als das Geld: ein friedliches Leben und aufrichtige Liebe. Sie will ihn retten und fleht ihn an umzukehren und diesen Wahnsinnzu lassen. Aber Janez weist sie wütend ab. Zlatorog erscheint, Janez schießt und verwundet ihn. Die Szene verdunkelt sich plötzlich, und der Berg bricht zusammen, Janez wird mit Špela im Steinschlag in den Abgrund geschleudert. Unten zwischen den Felsen ist Janez Körper zu sehen. Spela ist unversehrt und wirft sich verzweifelt über ihn. Er stirbt voller Schuld. Die weißen Feen haben ihn geholt. Der Chor kündigt das Erscheinen deZlatorogs an: Er hat seine Rache bekommen. (G. H./ Google-Übersetzung)

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Der Artikel über Viktor Parma beruht auf verschiedenen Quellen, auf Paolo Petronios Biographie „Viktor Parma – Oče slovenske Opern“ („Viktor Parma – DerVater der slowenischen Oper“), leider nur auf Slowenisch; ein italienisch handgetipptes Manuskript lag uns bei operalounge.de vor und wurde von Ingrid Wanja für uns bewertet. Die slowenische Wikipedia bietet vieles an Informationen; zudem lohnt sich ein Blick auf den Artikel von Gregor Pompe von der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana 2009, „Viktor Parma’s Goldenhorn – between opera and music drama“.

Mein Dank gilt aber vor allem aber Alan Kavcic, dem Dramaturgen vom OperaBallet Maribor, der mir sehr geduldig mit vielen Hinweisen, konkreter Hilfestellung und unermüdlicher Vermittlung zur Seite stand. Maribor ist zudem das Theater mit den meisten Parma-Aufführungen vor dem II. Weltkrieg: allein Zlatorog gab es 1923, 1977 und 2009; sodann 1979 eben hier, der Soundtrack der Videoaufzeichnung 1977 bildete auch die Basis für die Yugoton-LP-Ausgabe der Oper, bislang die einzige offizielle Aufnahme; das Foto oben zeigt eine Reklame für einen gleichnamigen Ziegenkäse Sloweniens. Bei youtube gibt es dank Roberto Job den Zlaterog von 2009 Maribor wie auch  viele weitere Parma-Opern als Livemitschnitte in gutem Sound. Parmas hoichinteressante Oper Ksenija wurde in Ljubljana 2009 gegeben. Dank auch an Ivan Mirnik für seine Hilfe bei der Beschaffung des Videos der Oper aus Maribor 1979. Ebenso danke ich Karmen Salmic Kovacic von der Universität Maribor. Weiteres zur Geschichte und den politischen Wirren Sloweniens s. https://de.wikipedia.org/wiki/Slowenien. G. H.

Schulhoffs „Flammen“

„Liebe mich, versenge mich, verbrenne mich, saug mir das Blut aus! Verwunde mich, ah! Meine Lippen, Hüften und Brust, nimm mich, reiß mich in Stücke!“ Die Dame, schlicht als „Frau“ bezeichnet, befindet sich zweifellos in Ekstase. Könnte sie nicht stöhnend nach dreimaligem „Ah“ noch ein „Juan“ nachstoßen, würde der Zuschauer oder Zuhörer genauso im Dunklen tappen wie die Schatten, die sich aus der dunklen, angedeuteten Szenerie schälen, in der immer wieder von „schwarzen Sammetdraperien“ die Rede ist. Erwin Schulhoffs am 27. Januar 1932 in Brünn als großer Einakter uraufgeführte Oper Flammenes dirigierte Zdenek Chalabla – ist eine weitere Oper über die 1624 von Tirso de Molina in seinem Drama El burlador de Sevilla entworfene Gestalt des Don Juan. Und sie hat damit nichts zu tun mit Franz Schrekers 1902 vollendeter Kreuzfahrer-Oper Flammen, deren erste komplette Bühnenaufführung erst rund hundert Jahre später, 2001, in Kiel stattfand. Das Schicksal von Schulhoffs Flammen verlief aber ähnlich ungünstig. Eine Produktion unter Udo Zimmerman in Leipzig, dann eine weitere 2006 am Theater an der Wien, die Aufführungen am Pfalztheater Kaiserslautern 2008  sowie wenige Konzertaufführungen gehören zu der Handvoll Rettungsversuchen, wozu auch John Mauceris Berliner Einspielung in der (vergriffenen) Decca-Reihe Entartete Musik aus dem Oktober 1993 und April 1994 mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin zählt.

Das erstaunt ein wenig, denn die jetzt vorliegende Aufnahme unter Bertrand de Billy vom Theater an der Wien aus dem August 2006 (Capriccio 2 CD C5382) mit dem Arnold Schönberg Chor und dem ORF Radio Symphony Orchestra zeigt uns ein hochexplosives Werk, das auf anderen entdeckungsfreudigen Bühnen durchaus eine Chance haben sollte. Ekstase, Enthemmung, ein orgiastisches Spielen mit Orchesterfarben kennzeichnet Flammen, das in zehn Szenen und sechzehn ineinanderfließenden Musikabschnitten von dem anfänglichen „Notturno“ beispielsweise über Szenen wie das „Lied des Feuers“, „Sturm“, „Gespräch mit dem Meer“, „Karnevalsnacht“ bis „Bankett reicht, bevor es wieder mit einem „Notturno“ endet. Die Inhaltsangabe für die letzte Szene lautet bei Capriccio: „Don Juan ist dazu verdammt, den Zyklus seines Lebens immer wieder von vorne zu beginnen. Wie in der ersten Szene tritt er unter Flötenklängen in das dunkle Haus, um dort ein weiteres Opfer seiner Verführungskünste zu finden. In der Dunkelheit lauern La Morte und die Schatten, um erneut sein Treiben zu verfolgen“. Bei Decca heißt es entsprechend dazu: „Wie zu Beginn verfolgen La Morte und die Schatten den ruhelosen Don Juan. Leidenschaftliche Lustschreie eines neuen Liebesopfers. La Morte bleibt allein auf der Szene zurück und fragt erregt: Lebens- und Todesflammen, wann endlich zusammen…“ Juan ist zu ewigem Leben verdammt. In seinem hochsymbolistischen, von den Erkenntnissen der Psychoanalyse angestrahlten und leichtsinnigerweise „Eine musikalische Tragikomödie“ genannten Stück verbindet Karel Josef Beneš in einer pathetisch aufgeladenen, heute schwer erträglichen Sprache – in der deutschen Übersetzung von Max Brod – seinen Juan mit dem Ahasver-Mythos.

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„Flammen“: der Librettist der tschechischen Originalversion, Karel Josef Benes/ Wikipedia

Die Nebenfiguren sind Projektionen der Hauptfigur; die Frau, eine Nonne, Margarethe und Donna Anna werden demzufolge von einer Sängerin verkörpert. Als weitere Figur tritt neben den teilweise sehr individuell geführten Frauenschatten aus je drei Sopran- und Altstimmen und kleinen Nebenfiguren nur die Todesfee La Morte auf. Flammen lässt an Schönbergs Glückliche Hand denken, an die Farb-Ton-Experimente Scriabins, an expressionistischen Bühnenexperimente, phantastisches und surreales Theater, Orchesterexzesse à la Schreker, ohne Zugeständnisse an den Zeitgeschmack der 1920er Jahre. In der sinfonischen Anlage seines Zweistünders sah sich Schulhoff als Nachfolger Wagners, „Die Verbindung Wagner-Schönberg“, so schreibt Albrecht Dürnling im Beiheft der Decca-Aufnahme, „die sich in den Bühnenwerken Erwartung und Glückliche Hand besonders deutlich manifestiert, ist das Traditionsfeld, aus dem Schulhoffs Flammen hervorwuchsen. Die Parallele geht bis in di Licht- und Farbendramaturgie hinein, die der seit 1909 malerisch aktive Schönberg detailliert durchplante“. Flammen ist keine modische Zeitoper, dennoch benutzte Schulhoff Jazz-Elemente, also Foxtrott, One-Step und Ragtime, die er dem Opernorchester In den Szenen „Mitternachtsmesse“ und „Bankett“ mit zwei Jazzbands als erotisch triebhaftes Element entgegenhält. Das ist oftmals, etwa in der Chimären-Szene, von einer schmeichelnden Sinnlichkeit, oder einer fanfarengleißend entfesselten Klangmagie. Vor allem diese zarten, durchsichtigen Klänge kommen unter Bertrand De Billy mit dem ORF-Orchester bestens zur Geltung, die das hypertrophe Werk nicht als Vokalsinfonie begreifen, als welches es unter Mauceri mit den diffusen Jane Eaglen und Kurt Westi erscheint, sondern so virtuos und fast durchsichtig zergliedern und auffächern – etwa im impressionistischen Flötensolo des Beginn oder in der Schlussszene der Todesfee – dass der zuvor kaum erahnbare Text erstaunlicherweise manchmal zeilenlang verständlich wird.

Schulhoffs „Flammen“ am Theater an der Wien 2006/Szene/ Foto Badel/ credits s. unten

Die Widergabe der Neuausgabe bei Capriccio ist derart übervoll von überraschenden Klang- und Stimmzaubereien, dass man der einzigen Oper des 1942 im Lager Wülzburg gestorbenen Schulhoff Flammen unbedingt neue Bühnenversuche wünscht. Der Juan, eine strapaziöse Tenorpartie, wie sie die Oper der Zeit so liebte, ist mit Raymond Very auf dem Weg vom lyrischen zum jugendlichen Heldentenor gut besetzt. Bei Stephanie Friede klingen die Frauengestalten noch irgendwie als Figuren fassbar und beseelt, wenngleich man da nicht viel Individualität erwarten darf; ein wirkliches großes Duett, „Dialog“ genannt, gibt es eigentlich nur in der sechsten Szene. Iris Vermillion ist, wie schon bei Mauceri, als La Morte sehr eindrucksvoll. Rolf Fath

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Dazu Christian Heindl: Ewiger Abschied und ewige Wiederkehr Erwin Schulhoff und seine Oper Flammen: „Schreibe an meiner Oper ,Juan‘ wobei ich Freude habe, ein Ziel zu erreichen, welches mir heute noch unbekannt ist – die vollkommene Überwindung, was mir ein bekannter, gewohnter Weg war und mir neu, gänzlich neu scheint.“ (Erwin Schulhoff, Tagebucheintrag vom 6. Juni 1927)

Mit der Biographie Erwin Schulhoffs (1894-1942) erhebt sich ein prominentes Einzelbeispiel der Musikgeschichte aus der Anonymität der Millionen Opfer, die das nationalsozialistische Unrechtsregime im Zuge der versuchten Auslöschung einzelner Minderheiten und insbesondere der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung in seinem Machtbereich forderte. In den 1920er- und 1930er-Jahren herrschte in der kulturell blühenden Tschechoslowakei eine vielfältige musikalische Szene, wobei sich nicht zuletzt im Umfeld des in Prag wirkenden Wiener Dirigenten und Komponisten Alexander Zemlinsky ein Kreis junger Komponisten fand, der seine ästhetischen Ansätze abseits der von Schönberg propagierten Zwölftontechnik in einer Fortsetzung tonaler Gestaltung mit Mitteln der Funktionstonalität, Chromatik und Modalität definierte. Betrachtet man etwa das CEuvre von Pavel Haas (1899-1944), Gideon Klein (1919-1945), Hans Krasa (1899-1944), Viktor Ullmann (1898­1944) oder eben Erwin Schulhoff, so lässt sich ein zueinander stilistisch teils sehr ähnlicher Weg wahrnehmen, der an eine vor dem gegebenen Hintergrund entstandene „Prager Schule“ (als Gegenbewegung zur „Wiener Schule“ um Schönberg, Berg und Webern) denken lässt. Die physische Auslöschung der Genannten und vieler weiterer, damals noch weniger namhafter Kollegen bewirkte einen musikalischen Aderlass, der mutmaßlich entscheidenden Einfluss auf die nachfolgende musikalische Entwicklung in Mitteleuropa hatte.am Pfalztheater

„Flammen“ am Pfaklztheater Kaiserslautern 2008/ Foto Doerfler/ volle credits s. unten

Sowohl Haas, Klein, Krasa als auch Ullmann wurden als Juden inhaftiert, zunächst nach Theresienstadt verfrachtet und schließlich in das Konzentrationslager Auschwitz (bzw. dessen Nebenlager) deportiert, wo man sie ermordete oder sie unter teils unklaren Umständen bald in Folge der menschenunwürdigen Verhältnisse ums Leben kamen. Schulhoff starb im bayerischen Internierungslager Wülzburg: das Ende eines kurzen Lebens, welches unter durchaus nicht alltäglichen Umständen verlief. Erwin (tschechisiert auch Ervrn) Schulhoff wurde am 8. Juni 1894 in eine deutsch­jüdische Prager Kaufmannsfamilie geboren. Überliefert ist, dass er im Alter von sieben Jahren Antonrn Dvorak vorgestellt wurde, der ihn für sein Können mit Schokolade belohnte und ausdrücklich für eine musikalische Ausbildung als Pianist empfahl. 1904 wurde er am Prager Konservatorium aufgenommen, 1906 wechselte er nach Wien und 1908 begann er schließlich am Leipziger Konservatorium Klavier bei Robert Teichmüller sowie Komposition bei Stephan Krehl und Max Reger zu studieren. Sein Abschluss erfolgte 1913 in Köln, wo u. a. Fritz Steinbach sein Lehrer war. Frühe Preise als Pianist und als Komponist bestätigten sein herausragendes Format.

Der Erste Weltkrieg, in dem er als österreichischer Soldat in Galizien und Norditalien diente, brachte eine Zäsur in die Künstlerlaufbahn, zugleich entwickelte er eine nachdrücklich pazifistische Neigung, die ihn in der Folge Orientierung an einer politisch linken Ideologie nehmen ließ. Die frühen 1920er-Jahre verbrachte Schulhoff in Dresden, Saarbrücken und Berlin, doch blieb ihm in all diesen Städten eine vollständige Integration in die jeweilige Musikszene versagt, sodass er schließlich im Herbst 1923 mit seiner Frau Alice und seinem Sohn Peter in seine Geburtsstadt Prag zurückkehrte, wo er als Pianist und Musikjournalist arbeitete. Als Komponist konnte er 1924 beim Prager IGNM-Fest mit der Uraufführung der elf Jahre zuvor entstandenen ersten Violinsonate reüssieren. Im selben Jahr kam in Donaueschingen unter Mitwirkung von Paul Hindemith sein Streichsextett zur Uraufführung. Von Beginn an hatte Schulhoff sich intensiv für die Musik seiner Zeitgenossen – darunter jene des Schönberg-Kreises und seines Landsmanns Alois Haba – eingesetzt, die er vielfach als Organisator und Pianist in Konzerten und im Rundfunk zur Aufführung brachte. Neben dem klassischen und modernen Repertoire galt er zudem als vorzüglicher Jazzinterpret, der über einige Zeit auch in der populären Band von Jaroslav Jezek spielte. Gestalteten sich die mittleren dreißiger Jahre aufgrund der mangelnden Auftrittsmöglichkeiten im nunmehr von den Nationalsozialisten beherrschten und somit jüdischen Künstlern verwehrten Deutschland beruflich äußerst problematisch, so folgte im März 1939 nach der Besetzung Tschechiens durch die deutsche Wehrmacht umgehend die Entlassung von seiner Stelle beim Rundfunk in Brünn.

„Flammen“ am Theater an der Wien 2006/ Szene/ Foto Badel/ credits s. unten

Dass die verheerende politische Entwicklung nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine Freiheit und sein Leben bedrohen würde, erkannte Schulhoff zu spät. Noch während er seine Emigration in die Sowjetunion vorbereitete, deren Staatsbürgerschaft er wenige Wochen zuvor erhalten hatte, wurde er im Juni 1941 verhaftet. Infolge der Gefangenschaft an Unterernährung und Tuberkulose leidend, starb er am 18. August 1942 im Alter von nur 48 Jahren im Lager Wülzburg, wo er auch begraben wurde. Nach Schulhoffs Tod geriet sein zu diesem Zeitpunkt nur eingeschränkt international bekanntes Schaffen zunächst fast völlig in Vergessenheit. Lediglich in seiner ursprünglichen Heimat, der kommunistisch regierten CSSR als Nachfolgestaat der künstlerisch so liberalen und blühenden Tschechoslowakei der Jahre 1918-1939, fand eine gewisse Pflege seines Schaffens statt. Es gab vereinzelte Druckausgaben seiner Kammermusik und symphonischer Werke. Wahrgenommen wurde aus politisch nahe liegenden Gründen auch „Das Kommunistische Manifest“ eine Kantate für Soli, Kinderchor, zwei gemischte Chöre und Blasorchester (1932/33), die ein interessantes Zeugnis für Schulhoffs pazifistische und linke politische Haltung darstellt. Wie viele andere seiner Werke blieb auch sie trotz der Kriegsgeschehnisse und der Verfolgung erhalten, weil er seine Manuskripte rechtzeitig in die UdSSR geschiickt hatte.

(Der oft angeführte Titel Das Kommunistische Manifest. Nach Marx-Engels op. 82 ist nicht eindeutig verifiziert. Schulhoff hatte für den Transport seiner Werke in die Sowjetunion das ursprüng­liche, nicht erhaltene Titelblatt des Werks durch einen Umschlag mit der Aufschrift Das Manifest ersetzt, um die Partitur nach außen hin nicht als politisch brisant erscheinen zu lassen und sicher außer Landes bringen zu können.)

„Flammen“ am Pfalztheater Kaiserslautern 2008/ Szene/ Foto Doerfler/ credits s. unten

Wo seine russischen Freunde – darunter Dmitri Schostakowitsch – sie bei der Evakuierung der Bibliotheken des Komponisten­verbands in Leningrad und Moskau retten und so der Nachwelt übermitteln konnten. Zentrale Werke seines Katalogs sind u. a. die Oper „Plameny“ („Flammen“), das Ballett „Ogelala“, Lieder, Instrumentalkonzerte, Kammer- und Klaviermusik sowie insbesondere die acht Symphonien, deren beide letzte in der Gefangenschaft nur mehr als Klavierskizzen konzipiert werden konnten; die achte zudem nur als Fragment. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre setzte international eine großflächige Entdeckung des Schaffens der durch den Nationalsozialismus Verfemten und Ermordeten ein, darunter auch der Werke Schulhoffs, die sich nach und nach zu international fixen Repertoire­bestandteilen entwickelten. Merkmale in Schulhoffs Musik sind in den Frühwerken ein von Reger geprägter spätromantischer Ansatz, der sich später stark rhythmusbetont in Richtung Expressionismus und Neoklassizismus entwickelte und auch Elemente des Jazz einbezog. In der Verknüpfung reifte dies zu einem sehr persönlichen Stil, der auch durch die Vereinfachung der Mittel in den dreißiger Jahren im Sinn einer für breitere Hörerschichten verständ­licheren Klangsprache keineswegs verflachte.

Stele zum Gedenken an Erwin Schulhoff auf der Festung Wülzburg in Weißenburg in Bayern/ Wikipdia

Alle diese Mittel finden in geradezu organischer Verschmelzung Verwendung in der abendfüllenden Oper „Flammen“. Sie entstand 1923-29 (mit Revisionen 1932) nach einem Text von Karel Benes. Die kongeniale deutsche Übersetzung stammt von Max Brod, von dem Schulhoff auch auf den ursprünglichen Text aufmerksam gemacht worden war. Ausgangspunkt ist der „Don Juan“-Stoff, der vielfach in der Literatur- und Musikgeschichte Verarbeitung fand, wobei es besonders naheliegend ist, an Mozarts ungleich berühmteren „Don Giovanni“ zu denken. Schulhoff gelingt es meisterlich, in seiner Oper einerseits einen auch dramaturgisch anderen Zugang zu finden und doch zugleich eine Art verfremdeter Hommage an Mozarts Werk zu schaffen. Mag jeder Gedanke an dieses zu Beginn der Oper zunächst in den Hintergrund treten, so entsteht doch im Verlauf durch zunächst nur vermeintliche, schließlich aber entsprechend der inhaltlichen Geschehnisse vor allem im zweiten Akt deutliche Zitatmomente eine untrennbare Verbindung. Die Grundidee in Benes und Schulhoffs Werk ist nicht die Darstellung des schillernden Frauenverführers, sondern das Schicksal des von seinen Wünschen und Bedürfnissen Getriebenen, der nie auch nur annähernd sein Glück und seinen Frieden in der Beständigkeit zu finden vermag. Eine Schlüsselstelle findet sich in diesem Zusammenhang in Don Juans Gespräch mit dem Meer (7. Szene), als er in den Wellen eine Spiegelung seiner selbst erkennt: „Ewiges Abschiednehmen, ewige Wiederkehr.“ 

Übersetzer, Musiker, Dichter, Literaturwissenschaftler. Max Brod, 1941 (1886 – 1968)

Dieses Gegensatzpaar findet seine zentrale Entsprechung in der Gegenüberstellung von Leben und Tod, Mann und Frau. Don Juan steht für die „Flammen“ des Lebens, der Tod/die Frauenfigur La Morte für die „Flammen“ des Todes, die einander ewig anziehen, aber nie zu endgültiger Verschmelzung gelangen können. Erwin Schulhoff versprach sich viel von der Wirkung seiner Oper, wurde aber schon vorweg enttäuscht, als die Wiener Universal Edition eine Inverlagnahme des Werks ablehnte. Immerhin kam es am 27. Januar 1932 zur tschechischsprachigen Uraufführung von „Plameny“ am Veven-Theater (dem damaligen Tschechischen Nationaltheater) in Brünn, der Erfolg war jedoch enden wollend und die Produktion wurde bald wieder abgesetzt. In seinen noch verbleibenden Lebensjahren konnte der Komponist „Flammen“ auf keiner weiteren Bühne sehen. Eine von ihm gewünschte Präsentation in Deutschland als damals wichtigster Spielfläche neuer Musik fand erstmals am 16. April 1994 in konzertanter Form in Berlin statt, die szenische Deutschlandpremiere folgte am 17. März 1995 in einer Inszenierung von Uwe Wand an der Oper Leipzig. Christian Heindl (Den Artikel entnahmen wir mit sehr freundlicher Genehmigung dem Booklet zur Neuausgabe der Oper bei Capriccio, Dank an den Autor.)

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Fotos “Flammen” Theater an der Wien 2006  Foto 1: Raymond Very (Don Juan), Gabriela Bone (1. Frauenschatten), Nina Bernsteiner (2. Frauenschatten), Elisabeth Wolfbauer (6. Frauenschatten), Hermine Haselböck (5. Frauenschatten), Christa Ratzenböck (4. Frauenschatten) & Anna Peshes (3. Frauenschatten) sowie Foto 2 Raymond Very (Don Juan), Iris Vermillion (La Morte) & 5 Frauenschatten; Fotos: © Armin Bardel Fotos „Flammen“ Pfalztheater Kaiserslautern 2008 Pfalztheater Kaiserslautern 19.4.2008; ML.: Uwe Sandner; Regie: Urs Häberli; Bühne und Fotos: Thomas Doerfler/ Jürgen Brehm-Seufert; Kostüme: Ursula Beutler; www.frappante-bilder.de/ Foto oben: Erwin Schulhoff/ Wikipedia/ Dank an die Pressestelle vom Theater an der Wien und an Thomas Doerfler. (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Zweifelhafte Retro

 

Kaum eine andere Epoche hat so untrennbar im Gedächtnis des Publikums ihre Schlager mit deren Interpreten verbunden wie die Zwanziger und Dreißiger des vergangenen Jahrhunderts, und auch wenn es einem Max Raabe gelungen ist, mit einer Mischung aus ironischer Distanz und sichtbarer und hörbarer Verneigung vor der Vergangenheit neue und erfolgreiche Wege zu gehen, bleiben doch für die meisten Hörer die fesche Lola mit Marlene Dietrich und Das gabs nur einmal mit Lilian Harvey verbunden.

Die österreichische Sängerin Ethel Merhaut hat sich auf ihrer neuen CD bei Sony, Süß und bitter, einiger der bekanntesten Schlager teilweise sogar der Nazizeit angenommen und sich für deren Interpretation aller Errungenschaften einer Ausbildung zur Opernsängerin entledigt, als da Passaggiobewältigung oder gestützte hohe Töne sind.

Es beginnt mit Waldemar von Michael Jary, den einst Zarah Leander mit bestechend guter Diktion  besang und der eine doppelte Daseinsberechtigung auf der CD dadurch erlagt zu haben scheint, dass der Besungene sich in scharfem Kontrast zum Mannesbild der Nazis darstellt und sein Komponist mehrere jüdische Kollegen ins rettende Exil chauffierte. Ethel Merhaut nimmt sich des Herrn mit einer Stimme an, die eine Mischung von Lilian Harvey und Claire Waldoff zu sein scheint, halb kindlich, halb derb verrucht und mit wenig Potenz in der Mittellage. Friedrich Hollaender ist der Komponist von Die Kleptomanin, die die Sängerin in die Nähe einer entschärften Dreigroschenoper rückt. Verruchtes wird im Tango Alois hörbar, in der Höhe mit leicht gequetschten Tönen und hier wie auch bei den anderen Tracks trägt das kleine Orchester aus Klavier, Saxophon oder Klarinette, Kontrabass und Schlagzeug wesentlich dazu bei, dass zwar kein mit der Vergangenheit identischer, aber ein adäquater Sound gefunden wird. My little boy wurde einst von Rose Barsony besungen, Die ganze Welt ist himmelblau  von Robert Stolz komponiert, der, obwohl nicht jüdisch, emigrierte. Das Lied wird von der Interpretin  verfremdet, indem die Vokale leicht verfärbt, die Konsonanten weich gespült werden, in seinem und Richard Taubers Ich möchte einmal wieder verliebt sein hingegen werden nur die Konsonanten zum Interpretationsmittel. Sehr amüsant ist die Interpretation von Benjamin, ich hab nichts anzuziehn durch die Steigerung der Dringlichkeit, in der der Wunsch nach neuen Klamotten zum Ausdruck kommt. Etwas verruchter könnte Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben klingen, duftig ist die Kopfstimme in Abrahams Toujours l’amour, zu dessen Zauber besonders das Orchester beiträgt. Bei Ich weiß, es wird einmal fällt der überzarte Ton als Kontrast zum Original auf, Raymonds Mein Bruder zeigt, wie gut Stimme und Orchester einander ergänzen können. Hollaenders Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre bemüht sich um Verruchtheit und erreicht doch Marlene nicht, Richard Tauber sang einst Ich möchte einmal wieder verliebt sein, Ethel Merhaut versucht es mit kindlicher Stimmfarbe und Konsonantenverdoppelung, aber wer in die Zeit vor knapp 100 Jahren eintauchen will, wird zu den Originalen zurückkehren, wird sie immer in Ohr und Gedächtnis behalten. Süß &bitter nennt sich die CD, überaus pikant war, was man in den Zwanziger und Dreißigern hörte (Sony 19439753932). Ingrid Wanja

 

Zwischen Spätromantik und klassischer Moderne

 

Im Jahr 1920, als die erfolgreichste Oper von Walter Braunfels in München unter der Leitung von Bruno Walter uraufgeführt und er dadurch in der Zwischenkriegszeit neben Richard Strauss zu einem der erfolgreichsten Komponisten Deutschlands wurde, gelangte auch Strawinskys neoklassizistisches Pulcinella-Ballett und Schrekers Schatzgräber zur Uraufführung, schlossen sich Milhaud und Honegger und weitere Komponisten zu Les Six zusammen und folgte im Jahr darauf Hindemiths Expressionismus-Schocker Mörder, Hoffnung der Frauen, während Mahlers Werk wieder Aufmerksamkeit fand und Schönberg seine Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen fixierte. Walter Braunfels hatte, wie es damals in der Münchner Theaterzeitung hieß, „den Mut, unmodern zu sein, obwohl er modern sein kann, wie kaum ein anderer. Fesselnd in seinen Einfällen, unerschöpflich in ihrer Ausgestaltung und Verknüpfung macht er immer ‚Musik‘, und sie klingt leicht, obwohl sie, rein technisch gesprochen, keineswegs leicht ist“. Einflüsse von allen Seiten lassen sich nachweisen, doch „Braunfels musikalische Sprache ist einmalig, was sich unter anderem in der heterogenen Menge der Komponisten bestätigt findet, mit denen seine Musik verglichen wurde“, heißt es im Beiheft von frühen Orchesterwerken bei Capriccio, das mit mehreren maßstäblichen Aufnahmen, zu dem Label avancierte, wo man in Sachen Braunfels fündig wird. Einflüsse von Strawinsky über Hindemith, Bartok, Mahler, Wagner, natürlich Strauss, Janáček, Orff, Pfitzner und Schreker usw.

Mit dem ORF Vienna Radio Symphony Orchestra, das eigentlich ORF Radio-Symphonieorchester Wien heiß, spielt Gregor Bühl, der mit weiteren Aufnahmen zum zentralen Dirigenten der Braunfels-Reihe wird, das buffoneske Vorspiel zu der Musikalischen Komödie Don Gil mit den grünen Hosen, einer Mantel- und Degenkomödie nach Tirso de Molina, mit der Braunfels 1924 in München nicht an den Erfolg der Vögel anknüpfen konnte. Der leichte freche, dabei elegant aufgemischte Ton findet sich auch in dem explizit für Radioorchester geschriebenen knapp 20minütigen Divertimento op. 42 mit zwei deutlich herausgestellten Saxophonen, wobei Braunfels drängte, den Saxophonen „einzubläuen, daß sie gar nicht tremolieren dürfen“. Das klug zusammengestellte und wunderbar abgerundete Programm schließt neben Ariels Gesang für keines Orchester (Streicher, zwei Hörner, Trompete, Harfe) die im gleichen elfenhaft luftigen, romantisch-originellen Klang gehaltene Serenade op. 20 ein, in der der frisch verheiratete Braunfels 1910 das „Glück der jungen Ehe“ spiegelte (C5429). Eine der schönsten Aufnahmen in der Reihe.

Gleichfalls gut zusammengestellt hat Gregor Brühl das Programm, das im November 2017 und Mai 2018 mit der Deutschen Staatsphilharmonie Reinland-Pfalz in Ludwigshafen aufgenommen wurde: drei Werke für Klavier und Orchester mit der durch zahlreiche Ersteinspielungen hervorgetretenen Tatjanam Klavier (5345). Zuerst als World Premier Recording der während Braunfels‘ Studienzeit bei Ludwig Thuille in München 1906 entstandene Hexensabbat op. 8 für kleines Orchester, ein durchgehendes, in vier Teile gegliedertes Stück, das etwas bemüht spätromantisch wuchtig, dann aber auch sehr virtuos und auftrumpfend klingt. Nachdem die Karriere von Braunfels, der 1933 als Halbjude aller Ämter enthoben worden war, abrupt geendet und er den Zweiten Weltkrieg in innerer Emigration am Bodensee überlebt hatte, wurde er 1947 neuerlich zum Direktora Blome  der Kölner Musikhochschule berufen. Im Jahr zuvor wurde in Hamburg unter Eugen Jochum und mit Braunfels als Solist das Konzertstück op. 64 für Klavier und Orchester uraufgeführt. Das von Tatjana Blome und der Deutschen Staatsphilharmonie Reinland-Pfalz mit aparter Delikatesse gespielt Stück wirkt abgeklärter als das Jugendwerk, lebt gleichwohl von den interessant abgetönten Passagen der Soloinstrumente und dem noblen romantischen Duktus. Ebenfalls um eine Ersteinspielung handelt es sich bei Braunfels‘ vorletztem Stück, den Hebridentänzen op. 70, die 1952 mit dem Braunfels-Sohn Michael als Solist in Karlsruhe erstmals erklangen und nach 1962 für ein halbes Jahrhundert völlig vergessen waren. Das ist, wie es im Beiheft heißt, tatsächlich „Romantik mit Kanten“, etwas schwer zugänglich, aber voll schwelgerischer Schönheiten und süßlich-frecher Einwürfe.

Aus Gera stammt die Aufnahme des 1924 im Leipziger Gewandhaus unter Wilhelm Furtwängler uraufgeführten Don Juan op. 34 und der 1909 unter Leitung von Hermann Abendroth erstmals gespielten Symphonischen Variationen über ein altfranzösisches Kinderlied op. 15, über die schon einmal berichtet wurde. Obwohl der großorchestrale, Berlioz-wilde Don Juan mit seinem bewussten klassisch romantischen Bezug und der kunstreichen Variation der Champagnerarie und von „Là ci darem la mano“, bei denen laut Braunfels, „ein klassisches Gebilde, mit romantischem Geist verbunden, traumhaft aufsteigen und abtauchen“ solle, vermutlich einer der größten Erfolge Braunfels war, wirken die von unverhohlener Strauss-Bewunderung zeugenden brillanten Symphonischen Variationen – die auch ein bisschen an Ernst von Dohnányis Variationen über ein Kinderlied erinnern – heute überzeugender, wie Markus L. Frank und das Philharmonische Orchester Altenburg Gera am 19. März 2013 in ihrem Konzertsaal belegten (C 5250).

Nicht thematisch verbunden mit den Symphonischen Variationen über ein Altfranzösisches Kinderlied sind die 1919 entstandenen und 1945 neubearbeiteten Variationen über ein Altfranzösisches Lied für zwei Klaviere op. 46, die Tatjana Blome – zusammen mit Holger Groschopp – auf ihrer Einspielung von Klavierwerken Braunfels‘ mit dem Kleinen Stück für vier Hände op. 24 und den Bagatellen für Klavier solo op. 5 verband. Ausgehend von dem Lied „Au clair de la lune“ entwickelt Braunfels über 18 Variationen ein halbstündiges Werk, in dem der Sohn und Pianist Michael den Höhepunkt im Schaffen seines Vaters für das Klavier sah. Das Stück besitzt trotz seines Lehrbuchcharakters genügend Originalität, wie Blome und Groschopp nicht nur in Sätzen wie „Geschwindmarsch“ oder „Gemessen, sehr spritzig“ beweisen. Die „Sprühende, oft groteske Phantastik“ der neun Bagatellen, so das Urteil nach der 1908 erfolgten Uraufführung, erfüllt Blome mit der erforderlichen Brillanz und lyrischer Farbigkeit. Und die Kleinen Stücke, Laurson nennt sie, „ideale – und im besten Sinne – Bildungsbürger-Hausmusik“, spielen Blome und Groschopp an zwei Klavieren (C5361).

Ebenfalls schon einmal berichtet wurde über die aus Braunfels‘ erster Oper Prinzessin Brambilla herausgelöste Carnevals-Ouvertüre op. 22, die Schottische Phantasie op. 47,  die  „in allem, bis auf den Namen ein Violakonzert“ ist, wie Jens Laurson in seiner ausgezeichneten, Leben und Werk verbindenden Einführung („Walter Braunfels, eine Affäre des Herzens“) schreibt, Präludium und Fuge op. 36 sowie die zwei Orchesterlieder nach Hölderlin („An die Parzen“, „Tod fürs Vaterland“) op. 27 (C5308), deren dramatische Wucht, in der sich die Kriegserfahrung von Braunfels spiegelt, Paul Armin Edelmann mit direkter Aussagekraft vermittelt. Die sehr hörenswerte, klanglich souveräne Aufnahme unter Gregor Bühl mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz (C5250) vom April und Juni 2017 spürt nicht nur der reichen Ausdruckspalette und der zwischen Spätromantik und Neuer Sachlichkeit wandelnden Formensprache von Braunfels‘ Musik nach, sondern vermittelt eine großartige Musik – im Falle der Ouvertüre und Präludium und Fuge in Ersteinspielungen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient Jörg-Peter Weigles Aufnahme der Großen Messe op. 37 für Soli, gemischten Chor und Knabenchor, die er in der Berliner Philharmonie mit dem Konzerthausorchester Berlin, dem Philharmonischen Chor Berlin, der Berliner Singakademie und Knaben des Staats- und Domchores Berlin realisierte (C 5267). Michael Honeck kommt das Verdienst zu, die Messe 2010 in Stuttgart erstmals nach 80 Jahren wieder aufgeführt und Decca sie veröffentlicht zu haben; das Berliner Konzert vom 1. Mai 2013 unter Weigle war die zweite moderne Aufführung der 1926 unter Hermann Abendroth uraufgeführten, rund 80 Minuten dauernden Messe. Neben dem Te Deum ist die Große Messe das bedeutendste geistliche Werk des nach dem Ersten Weltkrieg zum Katholizismus übergetretenen Braunfels. So großartig und ausgreifend die Messe auch konzipiert ist, so luzide ist sie instrumentiert, so dramatisch und suggestiv sind Schlagwerk, Glockenspiel, Tam-Tam eingesetzt, so theatralisch verblenden sich die Solisten (Simone Schneider, Gerhild Romberger, Christian Elsner, Robert Holl) mit den Chorstimmen. Die Musik ist sowohl szenisch explosiv wie stark verinnerlicht entworfen, wechseln sich bestürzende dramatisch Momente wie die Schlusszeile des Credos „et vitam venturi saeculi“ mit dem langen Orchesterinterludium für Orgel, Blech und Streicher im Offertorium ab.

Eine weitere CD ist Ausgewählten Liedern gewidmet. Es handelt sich um 41 Lieder, die mit Ausnahme der beiden Lieder op. 44 auf Texte von Hans Canossa, mit denen Braunfels 1932 sein Liedschaffen beendete, alle aus den frühen Jahren vor Beendigung der Vögel stammen (C 5251). Marlis Petersen und der Bariton Konrad Jarnot haben die Gruppen und Zyklen bei den im März und April 2011 in Berlin stattgefundenen Aufnahmesitzungen gerecht unter sich aufgeteilt. Möglicherweise verkörperte Maria Ivogün für Braunfels die idealtypische Sopranstimme. Während die Gesänge für tiefe Männerstimme gelegentlich, so in den sechs Liedern op. 1 etwas bemüht und schwerfällig wirken, sind die Lieder für Sopran geradezu sphärisch und körperlos. Auffallend: alle Lieder sind ausgesprochen kurz, viele kürzer oder nur wenig länger als eine Minute; das längste ist die Brentano-Vertonung Nachklänge Beethovenscher Musik op. 13. An Ivogün, die erste Nachtigall in den Vögeln, denkt man unwillkürlich bei den beiden Zyklen Kleines Federspiel op. 7 und Neues Federspiel: acht bzw. neun Vogelporträts nach Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn, unter denen sich auch Die Nachtigall befindet. Marlis Petersen singt die schlichten, von dem sensiblen Eric Schneider am Klavier mit imitatorischem Zierrat versehenen Vogel-Lieder mit funkelnder Schlichtheit und jubelnden Ton, der in den beiden Klärchen-Liedern von 1916 „Freudvoll, leidvoll, gedankenvoll sein“ und „Die Trommel gerühret!“ energische Züge annimmt und in Herbstgefühl und schließlich den Canossa-Gesängen eine sublime Abschiedsstimmung suggeriert. Konrad Jarnot gefällt mir am besten mit den Gesängen aus der 1909 entstandenen Schauspielmusik zu Shakespeares Was ihr wollt op. 11, bestehend aus der melodramatischen Einleitung „If music be the food of love, play on“, wo der englische Bariton in seiner Heimatsprache rezitieren kann, und den drei Liedern des Narren, deren Bänkellieder-Charakter der herb-dunklen Stimme entgegenkommt; finster schürfend gibt Jarnot Hölderlins An die Parzen (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Rolf Fath

Klingende Seelenwanderung

 

Die Wesendonck-Lieder sind längst nicht mehr nur Sängerinnen vorbehalten – auch wenn sie so nicht gedacht waren. Sie sind die künstlerische Frucht der sehnsuchtsvollen Liebe zwischen Richard Wagner und der reichen Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck. Ort des Geschehens ist die Villa in Zürich. Während der idyllische Park die durch Briefe belegte schwärmerische Beziehung noch immer ahnen lässt, sind die Spuren in den dazugehörigen Gebäuden verweht. Aus der im Renaissancestil erbauten Villa Wesendonck ist das Museum Rietberg für außereuropäische Kunst aus Afrika, Amerika, Ozeanien und Asien geworden. Größer können Gegensätze nicht sein. Zwei der insgesamt fünf Lieder für eine Frauenstimme und Klavier – Im Treibhaus und Träume – sind als Studien für Tristan und Isolde ausgewiesen. Wagner instrumentierte nur Träume, die anderen Lieder versah der Dirigent und Komponist Felix Mottl mit Orchesterbegleitung. Als eine der ersten Sängerinnen nahm sich Frida Leider der Lieder an, verzichtete aber auf Stehe still! Die meisten Einspielungen und Mitschnitte – mindestens zehn – dürfte Kirsten Flagstad hinterlassen haben. Es gibt diverse Bearbeitungen und neue Orchestrierungen beispielsweise von Hans Werner Henze. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Herren der singenden Zunft nach den Liedern greifen würden. Mit dem Tenor Jonas Kaufmann (Decca), dem Bariton Konrad Jarnot (Oehms) und dem Bass Günther Groissböck (ebenfalls Decca) sind alle Stimmlagen dokumentiert. Nach einem Eindruck hat keiner von ihnen die Ausdruckspalette dieser feinsinnigen Liedkompositionen erweitern können. Es sind ehr beachtliche sportliche Leistungen gelungen. Jetzt fehlen noch die Countertenöre und Altisten.

Ein reizvolles Gegenstück zu diesen Eskapaden hat das Voyager Quartet bei Solo Musica vorgelegt (SM 358). Wesendonck-Lieder – Transcripted and recomposed by Andreas Höricht. Zu dem Ensemble hatten sich 2014 die orchester- und kammermusikerfahrenen Solisten Nico Christians (1. Violine), Maria Krebs (2. Violine), Klaus Kämper (Violoncello) und Höricht mit der Viola zusammengetan. Bei ihnen stellt sich die Frage nicht, ob dieser Zyklus nun gendergerecht dargeboten werden soll oder nicht. Sie kommen ganz ohne Säger aus. Und das verfehlt seine Wirkung nicht. Die feinsinnige Bearbeitung, mit der großer Respekt vor dem Original bekundet wird, findet zu einer Intimität, die auch der Entstehungsgeschichte und den Gedichten Mathildes inhaltlich mehr als gerecht wird. Es klingt, als müsste es so sein. Jedes Lied – die Reinfolge ist beibehalten – bildet einen eigenen Satz. Die größte Veränderung im Vergleich mit der Vorlage sind bei ist Stehe still! wahrzunehmen. Dieses zweite Lied erklingt im Quartett weniger drängend und bewegt und passt sich dadurch den anderen Nummern stilistisch besser an. „Boten der Liebe“ ist die Neuerscheinung getitelt. Zu Beginn erklingt passenderweise das Vorspiel zu Tristan und Isolde. Am Schluss steht ein Streichquartett von Gustav Mahler Nr. 1.0. Was es mit der seltsamen Nummerierung auf sich hat, klärt Andreas Höricht im Booklet auf und nennt das quasi neu geschaffene Stück „die größte Herausforderung“. Es würden Werke aus seinem gesamten musikalischen Schaffen zu etwas Neuen verbunden. „Angefangen mit dem Jugendwerk, dem fragmentarischen Klavierquartett, über das Adagietto aus der 5. Sinfonie hin zur wieder unvollendeten 10. Sinfonie werden Mahlers Kompositionen übertragen, verbunden und weitergeführt.“ So gehe das Voyager Quartet „auf Seelenwanderung, überbringt klingende Liebesbriefe, verschlüsselte Botschaften und geheime Nachrichten. Ein Psychogramm in betörenden Tönen, recomposed für Streichquartett, dem Medium für spirituelle Botschaften“. Rüdiger Winter

Tastengenie

 

Wieder einmal hat uns Musik- und Opernliebhaber das Klassiklabel Naxos zu Dank verpflichtet und der Schatztruhe seiner Raritäten eine weitere Perle hinzugefügt (jaja, ich verweile auch hier mal wieder im lyrischen Bereich), nämlich die bislang auf Einzel-CDs erschienen Aufnahmen des Klaviervirtuosen, Pädagogen und Komponisten Sigismund Thalberg (1812-1871) zu einer 6-CD-Box (8.506042) zu versammeln und diesen   Genius der Virtuosität noch einmal gezielt vorzustellen. Allein schon das schmissige Klavierkonzert lässt einen die Schwarz-Weißen-Tasten durch die Luft fliegen sehen. Seine hinreißenden Opernparaphrasen und Fantasien über Themen von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi tun dies noch mehr. Und anders als bei seinem Kollegen Franz Liszt herrscht hier weniger selbstverliebte Kunst als solide Meisterschaft, die von den bestens geschulten Töchtern des gehobenen Bürgertums und Adels im   mittleren 19. Jahrhunderts viel abverlangte. Hochgeachtet von den Schumanns und der Musikwelt seiner Zeit reduzierte Thalberg wie seine Kollegen Czerny oder Kalkbrenner die große Kunst ins die kleine, salonfähige, ohne dass es ihr an Elan und Tiefe fehlte.

Ein „scheener Mensch“ war er ja – Sigismund Thalberg in seiner Jugend/Wikipedia

Ich liebe diese Variationen über Norma, Capuleti, Beatrice di Tenda, Lucia, Lucrezia Borgia, Don Pasquale,  Semiramide, Siège de Corinth und viele mehr! (Nicht zu vergessen diese wüsten Titel wie die Les Soirées de Pausilippe!) Man hat hier die Opern in nuce, lernt ihre Harmonik kennen, ihre thematische Durchführungen, um dann in schierer Begeisterung ob der Fingerfertigkeit des Pianisten Francesco Nicolosi auszubrechen. Das ist Kunst für die arrivierte, ebenso moindäne wie multinationale Gesellschaft, aber auch für das arrivierte Bürgertum, hohe Virtuosität für die Salons der Zeit (das Gemälde von Josef Dannhauser mit Liszt, Paganini und der Sand fällt einem dazu ein).

Und Thalberg war zudem als Erzieher unendlich wichtig, seine L’art du chant appliqué au piano zählt zu den bedeutenden Lehrwerken des angehenden und fortgeschrittenen Studiums. Ich selber habe mich in die ersten Seiten gequält und auf ihn geschimpft. Mit den Noten dazu findet man ein-zwei Bände bei youtube und als Musik-CD bei Naxos und anderen. Nach der Begeisterung über die hier versammelte Musik folgt hier ein Auszug aus dem einführenden Artikel von Keith Anderson, den wir dem Beiheft zur 6-CD-Box (8.506042 entnahmen, Danke dafür. Und Dank an Naxos. Vielleicht gibt es demnächst auch eine Box für den nicht minder wichtigen Carl Czerny? Der hat sogar ein Klavierkonzert mit Alphorn geschrieben, immerhin! G. H.

 

Sigismund Thalberg in lässiger Pose/Pinterest

Keith Anderson schreibt: Ein Geheimnis umgibt die Geburt und Abstammung des virtuosen Pianisten Sigismond Thalberg, 1812 in Pâquis bei Genf geboren, der im Volksmund der uneheliche Sohn des Grafen Moritz Dietrichstein und der Baroness von Wetzlar gewesen sein soll. Seine Geburtsurkunde weist eine jedoch andere und relativ legitime Abstammung aus, als Sohn eines Frankfurter Bürgers, Joseph Thalberg. Es scheint daher keinen besonderen Grund zu geben, den Namen Thalberg als Erfindung abzutun. Die Legende auf der anderen Seite erzählt die Geschichte der Baroness, die ihm ein Tal („Thal“) verkündet, das eines Tages auf die Höhe eines Berges („Berg“) ansteigen würde. Thalbergs Schulausbildung führte ihn nach Wien, wo ihn sein Mitschüler, der Herzog von Reichstadt, der Sohn Napoleons, fast zu einer militärischen Karriere überredete. Musikalische Interessen triumphierten und er konnte bei Simon Sechler und bei Mozarts Schüler Hummel studieren. In Wien trat er auf privaten Feiern auf und machte einen besonderen Eindruck, als er als Vierzehnjähriger im Hause des Fürsten von Metternich spielte. Bis 1828 hatte er die Reihe von Kompositionen begonnen, die sich als wichtiger und notwendiger Begleiter seiner Karriere als Virtuose erweisen sollten. 1830 unternahm er seine erste Konzertreise ins Ausland nach England, wo er Unterricht bei Moscheles erhielt. 1834 wurde er zum Kammervirtuosen des Kaisers in Wien ernannt und erschien im folgenden Jahr in Paris, wo er Unterricht bei Kalkbrenner und Pixis erhielt. Paris war in den 1830er Jahren eine Stadt der Pianisten. Das Konservatorium war voll davon, während die Salons und Ausstellungsräume der wichtigsten Klavierhersteller Érard und Pleyel mit der Virtuosität von Kalkbrenner, Pixis, Herz und natürlich Liszt erklangen. Die Rivalität zwischen Thalberg und Liszt wurde weitgehend von der Presse geschürt. Berlioz wurde der Vorkämpfer des letzteren, während Fétis die Leistungen von Thalberg pries. Liszt war zum Zeitpunkt der Ankunft Thalbergs in Paris in der Schweiz, wo er sich mit seiner Geliebten, der Comtesse Marie d’Agoult, zurückgezogen hatte. Sie schrieb unter Liszts Namen einen abfälligen Angriff auf Thalberg, auf den Fétis ebenso beleidigend antwortete. Die sogenannte „revolutionäre Prinzessin“, Prinzessin Belgiojoso, erzielte einen bemerkenswerten gesellschaftlichen Coup, als sie die beiden Virtuosen überredete, in ihrem Salon bei einem Konzert zugunsten italienischer Flüchtlinge zu spielen. Wie bei anderen solchen Wettbewerben wurde der Sieg taktvoll zwischen den beiden geteilt. Thalberg spielte seine Moses-Fantasie und Liszt antwortete mit seiner neuen Paraphrase aus Pacinis Oper Niobe. Die Prinzessin erklärte Thalberg zum ersten Pianisten der Welt, während Liszt einzigartig sei. Sie gab eine Reihe von Variationen über ein patriotisches Thema von Bellinis I Puritani bei den sechs führenden Pianisten in Paris in Auftrag, zu denen Liszt, Thalberg, Chopin, Pixis, Herz und Czerny beitrugen. Dieses zusammengesetzte Werk, Hexaméron, blieb in Liszts Konzertrepertoire. Der Musikjournalismus hat eine Legende über Thalbergs Niederlage und Abreise aus Paris und die anhaltende Rivalität zwischen ihm und Liszt geschaffen. Ein Element des Wettbewerbs blieb bestehen, obwohl es keine offene Feindseligkeit gegeben zu haben scheint, und Liszt schrieb nach dem Tode ihres Mannes im Jahre 1871 ein Beileidsschreiben an Thalbergs Witwe. Thalberg erlebte eine Karriere von größter Bedeutung und unternahm Tourneen bis nach Amerika, wo Liszt niemals hinkam, mit Konzerten in Brasilien und Havanna und einem längeren Aufenthalt beim Geiger Vieuxtemps in den Vereinigten Staaten, wo er innerhalb von zwei Jahren 56 Konzerte in New York gab, mit einem Repertoire hauptsächlich aber nicht gänzlich seinen eigenen Kompositionen gewidmet. Liszt hatte unterdessen einige von Thalbergs Opernparaphrasen und -phantasien, die er durch Marie d’Agoult einmal öffentlich herabgesetzt zu haben schien, in sein Repertoire aufgenommen. 1843 hatte Thalberg in Paris Cecchina geheiratet, die Tochter des berühmten Bassisten Luigi Lablache und Witwe des Malers Boucher. Versuche einer Opernkomposition blieben erfolglos. Florinda wurde 1851 in London und Cristina di Suezia vier Jahre später in Wien aufgeführt. Seine Karriere als Virtuose dauerte bis 1863, als er sich nach Posilippo in der Nähe von Neapel zurückzog, um sich für die verbleibenden Jahre mit seinen Weinbergen zu beschäftigen. Er starb dort 1871.

Ein Abend wie chez Thalberg: Dannhausers Gemälde „Lliszt am Klavier“/ Alte Nationalgallerie Berlin Alexandre Dumas d. Ä. oder Alfred de Musset, Victor Hugo, George Sand, Niccolo Paganini, Gioacchino Rossini, Liszt, Marie d’Agoult und Beethoven/ Wikipedia

Thalbergs Grande fantasaisie sur des motives de Norma op. 12 wurde von Schumann gelobt, der im Allgemeinen wenig Zeit für bloße technische Virtuosität hatte. Es ging um Thalbergs Spiel und folglich um seine Kompositionen für Klavier, ein Element des Klassizismus, und dies sprach sicherlich Clara Schumann und andere an, die die Showmanier von Liszt und seine Gewohnheit, die Musik anderer in der Aufführung zu „verbessern“, nicht mochten. Thalberg hatte beträchtliche Disziplin in Bezug auf  seine aufrechte Körperhaltung; er behauptete, diese sei das Ergebnis des Rauchens einer „Meerschaum“ während des Übens technischer Anwendungen. Chopin war jedoch nicht beeindruckt und behauptete, Thalberg habe das weiche Pedal für seine Effekte verwendet, anstatt einen sanften Ton durch Berühren zu erzielen, wie er es getan hätte. Ein besonderer von Thalberg verwendeter Effekt war eine Melodie, die von den Daumen der rechten und linken Hand gespielt wurde, welche oben und unten von Arpeggios umgeben waren und somit den Eindruck von drei statt zwei Händen erweckten. Dies gelang ihm zum Teil durch den subtilen Einsatz des Haltepedals. Kritiker äußerten sich zu seiner perlmuttartiger Klarheit und zu seinem Gesangston, wie er ihn in seiner pädagogischen Arbeit L’art du chant appliqué au piano lehrte, in der er Beispiele aus der Oper verwendet. Fantasien über Opernthemen waren im 19. Jahrhundert eigenständige Kompositionen, die das Publikum durch die Vertrautheit mit ihrem melodischen Material und den Einfallsreichtum und die Kunstfertigkeit ihrer virtuosen Präsentation begeisterten. (…)

Ein Hauptgenre im Solo-Klavierrepertoire war die Opernparaphrase der Fantasie, in der sich Thalberg auszeichnete. In Werken dieser Art konnten die Künstler ein hohes Maß an Virtuosität zeigen, das auf mehr oder weniger bekanntem Material basierte, an dem sich das Publikum erfreuen konnte, während es sich über den Einfallsreichtum und die Kunstfertigkeit wunderte, mit denen bekannte Melodien behandelt wurden. Thalberg stützte sich in Werken dieser Art sehr stark auf die Opern von Rossini, der eine konkurrenzlose Position einnahm und sich im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Komponist von Witz und dramatischer Kraft etabliert hatte. (…)

Und nochmal Sigismund Thalberg, hier von auf einem Foto von Nadar/ Gallica

Thalbergs Klavierkonzert f-Moll op. 5 ist ein relativ frühes Werk. Der erste Satz beginnt mit der erwarteten Orchesterexposition, die zwei kontrastierende Themen präsentiert, bevor der Solist mit einer Ausarbeitung des Materials einsetzt. Im Folgenden gibt es viel Raum für Virtuosität, insbesondere in einer anspruchsvollen und abwechslungsreichen Kadenz. Es findet sich eine kurze orchestrale Einführung ins Adagio, mit fortgesetzten Andeutungen, dass die Musik aus einer Zeit stammt, als auch Chopin begann, sich einen Namen zu machen, obwohl Thalberg die relativ gedämpften Zwischentöne bei Chopin heruntergespielt haben soll. Es gibt hier jedoch eine ähnliche Verwendung der ausgeschmückten Opernmelodie. Der Solist bietet einen unmittelbaren Kontrast in der Stimmung des Hauptthemas des letzten Rondos mit seinen verschiedenen Episoden. Keith Anderson/ Übersetzung Daniel Hauser ((Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

 Sigmund Thalberg: Fantasies on Operas by Vincenzo Bellini/Fantasies on Operas by Gaetano Donizetti/ Variations on Themes from Operas by Gioachino Rossini/  Fantasies on Operas by Giuseppe Verdi, Gioachino Rossini and Vincenzo Bellini/ Les Soirées de Pausilippe, Op.75 – Hommage à Rossini: 24 Pensées Musicales/ Souvenirs de Beethoven: Grande fantaisie pour le piano sur la 7e Symphonie de Beethoven, Op.39/ pour le piano sur la 7e Symphonie de Beethoven, Op.39/ 5 Nocturne, Op.28/ Canzonette italienne, Op.36 No.5/ Piano Concerto in F minor, Op.5 (Razumovsky Symphony Orchestra, Andrew Mogrelia conductor); Pianist Francesco Nicolosi (6 CDs, Naxos 8.506042, Aufnahmen 1990 – 1995)

Schönes Rossini-Programm

 

Eines Enzo Dara, eines Renato Bruson und eines Michele Pertusi, meint man, bedarf es, um die CD zu verwirklichen, die Giorgio Caoduro unter dem Titel the art of virtuoso baritone aufgenommen hat und die eigentlich nur eine Rückkehr zu Rossini-Zeiten bedeutet, als es noch keinen Bariton, sondern nur je eine hohe und eine tiefe weibliche oder männliche Stimme gab. Dem Beispiel Filippo Gallis nachzueifern scheint der italienische Sänger, denn dieser hob einige der auch auf der CD vertretenen Partien aus Torvaldo e Dorliska, La Gazza Ladra und L’Inganno felice aus der Taufe, während Henri-Bernard Dabadie sein Vorbild für die Gestalt des französischen Tell sein könnte.

Es beginnt mit der Arie des Duca aus Torvaldo, einer semi seria, in der der Sänger, der hier den Habitus eines basso cantante annimmt,    ein ausgesprochen dunkles Timbre zeigt, sehr präzise Koloraturen ausführt und den Eindruck erweckt, als fühle er sich in den Höhen noch wohler als in den tiefen Passagen. Offensichtlich war er bei der Zusammenstellung seines Programms bewusst auf einen starken Kontrast zwischen den einzelnen Tracks bedacht, denn es folgt der Dandini als „ape d’aprile“ aus La Cenerentola, in der er nicht nur von „leggera e scherzosa“ singt, sondern sich auch so anhört, wo man konstatiert, dass es auch schon hellere Stimme in dieser Partie gab, dass selbst im extremen Prestissimo die Stimme prägnant bleibt, nie etwas Verhuschtes annimmt. In „Un segreto d’importanza“ trifft die seine auf eine andere Bassstimme, die von Fabio Maria Capitanucci, die den Don Magnifico singt, während Caoduro hier der Zauberer Alidoro ist, beide schenken einander nichts an vokaler Präsenz, und Caoduro singt später noch die ungeheuer schwierige Bravourarie des Alidoro „Là del ciel“, sehr klug aufgebaut und auf den Höhepunkt hinzielend. Auch in Bassregionen führt der Fernando, der bereits eine verdi-gemäße Phrasierung erfordert, die ihm der Sänger zuteil werden lässt, der die Koloratur zum Ausdrucksmittel, hier der Verzweiflung, werden lässt und mit einem prachtvollen Acuto aufwartet. Einen leichten Grauschleier hängt er hingegen auf die Arie des Griesgrams aus Il signor Bruschino, gestattet ihm aber eine  prachtvolle Kadenz. Noch mehr als der Fernando nähert sich der Assur aus Semiramide zumindest in der Ausstattung des Rezitativs und des Beginns der Arie an Verdi an, zugleich markant und geschmeidig wird die Cabaletta bewältigt. Ganz irrsinnige Virtuosität ist die Arie des Batone aus L’inganno felice, aus einer anderen Welt hingegen stammt das Gebet des Tell vor dem Apfelschuss, für das Caoduro Wärme, Farbe, Virilität und Geschmeidigkeit gleichermaßen hat. Eine weniger bekannte Szene und Arie für eine Bassstimme, eine typische aria di baule, in der der Sänger seine Stärken vor dem Publikum ausbreiten konnte, nutzt auch Caoduro für den Beweis, wie sich Virtuosität und Sonorität miteinander vereinbaren lassen, Koloraturen bereits bei Rossini nicht als rein artifiziell anzusehen sind, sondern zu Ausdrucksmitteln werden  können. Kongenial lassen sich als Begleitung (auch mit volkaler Unterstützung der Kolleg/innen Cecilia Bernini, Anna Vila und Alessandro Antonello)  die Virtuosi Brunenses unter Jacopo Brusa vernehmen (Glossa GCD 923525/ 2. 5. 2021). Ingrid Wanja

Für immer jung

 

Na bitte, es geht doch noch, eine Bohéme so zu inszenieren, wie es Librettist und Komponist im Sinn hatten, und das im Jahre 2017 an Covent Garden. Eine Aufnahme gibt es nun von der Wiederaufnahme 2020 gerade noch rechtzeitig vor der Schließung der Theater wegen Corona, zwar nicht von der ersten, sondern von einer der folgenden Vorstellungen, als die erkrankte Sonya Yoncheva wieder genesen und als Mimi einsetzbar war.

Richard Jones hatte sich von Stewart Laing ein Bühnenbild zimmern und Kostüme entwerfen lassen, bei dem und denen 90 Prozent der Ausgaben für den zweiten Akt verschwendet wurden, drei opulent wirkende Passagen, in denen sich der Chor und die Statisten in wundervollen Kostümen tummeln können, während die Solisten im  ersten und vierten Akt unter einem Giebel und mit einer aus Stuhl und Kochkiste bestehenden Einrichtung sich arrangieren und aufpassen  müssen, nicht mit den Köpfen an die Balken zu stoßen. Der dritte Akt entbehrt jeder romantischen Stimmung, die klitzekleine Baracke entlässt zwar wunderbarer Weise jede Menge Partyvolk, das wohl zuvor in ihr gestapelt worden war, wäre aber des Aufwands einer Bemalung kaum würdig gewesen. Immerhin gibt es reichlich Schnee, nicht nur während und in der Vorstellung, sondern bereits davor über den Vorhang rieselnd, und aus dem Schornstein kommt echter Rauch.

Bei der Personenregie hatte sich Richard Jones einiges Ungewohnte einfallen lassen, so wenn Mimi, kaum in die Mansarde eingetreten, zu Boden fällt, dafür aber im vierten Akt noch einmal vom Totenbett aufsteht und einen recht munteren Eindruck macht. Das ist doch eigentlich einer Violetta vorbehalten! Recht verlegen-burschikos, benimmt sich Rodolfo, der die bewusstlose Mimi mal kurz in die Seite tritt, um sich über ihren Zustand klar werden zu können. Auch im vierten Akt ist er aktiver, als sonst von der Figur gewohnt, wenn er die tote Mimi von ihrem Lager reißt. Diese erscheint übrigens in einem eleganten Ballkleid zum Sterben, während Musetta kostümmäßig direkt einer Klosterschule entsprungen zu sein scheint. Es gibt also auch bei einer traditionellen Inszenierung genug Möglichkeiten, seine eigenen Ideen einzubringen.

Wunderbar typgerecht sind die vier artisti mit einem dunkel-romantisch wirkenden Rodolfo, einem prallen Marcello, einem windigen Schaunard und einem Tiefsinn versprühenden Colline. Charles Castronovo scheint mit seinem inzwischen sehr dunkel timbrierten Tenor schon fast der Partie des Rodolfo entwachsen, auch weil in den Ensembleszenen mit den amici, in denen eh die dunklenpucc Stimmen dominieren, eine hellere Stimme angebracht wäre. Seine große Arie singt er gut, der Schluss des 1. Akts wirkt wunderbar romantisch, auch weil er seiner Partnerin den hohen Ton überlässt und nach unten singt. Diese ist Sonya Yoncheva mit ebenfalls dunkel grundierter, sanfter und schön gerundeter Sopranstimme, die auch im Piano gut trägt und das Erinnerungsmotiv wie aus einer anderen Welt kommend klingen lässt. Zwischen Koketterie und Unschuld trifft sie auch darstellerisch den richtigen Ton für die liebenswerte Grisette. Mit virilem, farbigem Bariton singt Andrzej Filonczyk den Marcello, Simona Mihai nimmt man nicht so recht ab, dass ihre Musetta die gesamte Männerwelt in Aufruhr versetzt. Angemessen gestaltet Gyula Nagy seine Geschichte vom gemeuchelten Papagei, während Peter Kellner eine frische, junge Bassstimme für den Colline hat.

Der Chor des Hauses leistet Großes im zweiten Akt, das Orchester unter Emmanuel Villaume noch Bedeutenderes, indem es die Partitur so frisch, so bitter-süß, so temperamentvoll und jung erscheinen lässt, als handele es sich um eine Uraufführung (Opus Arte Bluray OABD7287D)Ingrid Wanja