Meine uneingeschränkte Bewunderung und Liebe zur Stimme von Maria Dragoni stammt von dem Mitschnitt einer Norma mit ihr in der Titelrolle, den mir Freunde zukommen ließen („Hör doch mal!“). Und ich machte mich danach mehrfach auf nach Italien, nach Jesi, nach Rom oder vor allem für eine Live-Norma nach Genua (als Dokument bei Kicco optisch), wo ich sie absolut sprachlos (ich) und furchtlos (sie) erlebte. Ich stehe nich an sie in die Nachfolge der Großen, wie die Cerquetti oder auch Callas zu stellen (so wie ich die Millo füär eine würdige Nachfolgerin der Tebaldi und Milanov halte). Ihre Norma hatte Würde und Pathos und ruhte in der Wirkung auf dem absolut unglaublich phrasierten Rezitativ. Diese gewisse Gaumigkeit (in fiasca, wie die Italiener sagen) ist ein Teil ihrer Stimm-Timbres und nichts hinzu Erfundenes, darin der Kollegin M.C. auch sehr ähnlich, was ihr ungerechter Weise angekreidet wird. Ich habe sie dann in Folge recht oft gehört, auch als Norma in Sizilien, Semiramide in Strasbourg und in Jesi als Persianis Ines de Castro (die bei Bongiovanni erschienen ist), als Giulia Spontinis an der Scala, in Turin als Gulnara (Il Corsaro), zudem in Berlin zweimal im Konzert: immer außerordentlich beeindruckend. Nach eben dieser fulminanten Gulnara am Abend zuvor trafen wir uns im antiken und nach Gebäck (köstlich) und exzellentem Caffé duftenden Ambiente in den Kolonaden der Piazza di Castallo. Elegant erschien sie sehr pünktlich. Baci baci. Dann gings los.
Wir sprechen über die Garcia-Technik, der sie sich verschrieben hat und die der berühmte Belcanto-Tenor Manuel Garcia, Vater der Malibran und Viardot, entwickelte. Diese Technik bestimmt auch die Breite ihres Repertoires, das sich von Donna Anna („Mozart ist nicht eigentlich für mich, auch wenn ich ihn liebe!“) bis Rossinis Semiramide über die Belcanto-Heroinen hin zu den Verdi- und Puccini-Figuren erstreckt, die sie in Italien und im internationalen Ausland mit namhaften und führenden Dirigenten (Muli, Kuhn, Maazel u. a.) gesungen hat. Unklugerweise nenne ich ihre Turandot und frage zweifelnd, ob sie sich damit einen Gefallen getan hatte. Das hat einen Schwall an Antworten zur Folge, und vor dem atemlos lauschenden, die Kaffeetassen in der Luft haltenden Publikum in unserem ehrwürdigen Café an der Piazza di Castello demonstriert sie mir akustische Kostproben der bereits erwähnten Garcia-Technik, während sie eindrucksvoll den Ton von ganz hinten aus der Kehle über die Maske hoch nach vorne in die Stirn schiebt – außer ihr kommt von niemandem ein Geräusch. Die Espressotassen schweben immer noch in der Luft. Ganz konzentriert, nicht auf ihre Umgebung achtend, versucht sie mir klarzumachen (der ich in meiner nordeuropäischen Skepsis auf einer gewissen Facheinteilung ruhe), dass die Breite des Repertoires und der Partien nicht abhängig sind von kleinlicher Einteilung, sondern von einer gesunden Technik und dem eben beherrschten Sitz ihrer Stimme, die sie durchaus (zu diesem Zeitpunkt) in einer Santuzza, Gioconda, Butterfly oder Andrea Chenier-Maddalena sieht.
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Was uns zu ihren Schallplatten bringt, die ich „unglücklich“ nenne und die sie hasst! „Das bin ich nicht, meine Stimme ist dort weiß in der Höhe und einfach nicht meine!“ Schuld daran waren stets die mangelnde Zeit und die mangelnde Vorbereitung durch Dirigenten oder Produzenten. „Mein Recital bei Orfeo! Ich verehre und liebe Gustav Kuhn, und ich verdanke ihm viel. Aber ich hatte nur vier Tage für diese Arien von Rossini bis Puccini, alles Brocken. Und ich kann nicht eine Aida in so kurzer Zeit aufnehmen, wenn so wenig drumherum stimmt. Andere können das sicher, ich nicht. Ich mkich organisieren können, ich muss sicher sein, dass ich mich auf festem Terrain bewege, alle Komponenten kenne.“ Und in der Tat – im Falle ihrer Gulnara im Torineser Corsaro stimmte einfach alles, klang die Stimme durch den ganzen Körper, blieb stets gedeckt, immer geheimnisvoll-dunkel, überaus wortdeutlich und der Artikulation verpflichtet, trugen die Worte den Ton auf ganz unverwechselbare Weise.
Was mich besonders im Gespräch mit ihr überraschte, waren diese klaren, präzisen Ausführungen einer jungen Frau, die in Italien nicht gerade zu den Intellektuellen gerechnet wird. Der Schein trügt. Hinter einer eher kompakten, fast provinziellen Erscheinung verbergen sich eine schon betroffen machende Sensibilität, Wachsamkeit und Intelligenz, die sich ebenso in einer Diskussion der Gesangstechnik wie in Bemerkungen über ein politisches oder soziales Umfeld mit teilen. Diese gewisse Robustheit verbirgt zudem eine Empfindsamkeit und Verletzbarkeit, die man immer wieder nur ahnen kann, die sich aber auf der Bühne in sensiblen Momenten mitteilt, in fast schon zu privaten Bewegungen, in einer sehr persönlichen Art der Darstellung. Und in einer Zeit der Anonymität nimmt man eine so große, starke und gesunde Persönlichkeit dankbar wahr. An Maria Dragoni ist nichts gekünstelt, herrscht keine plakative Primadonnenhaftigkeit. Sie umgibt kein „Hype“ eines aufgepuschten Industrieglitters.
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Sie beherrscht ihr Handwerk, sie bringt sich in ihre Kunst ein, sie macht keine Trennung von Privatem und Beruflichem, und sie gibt alles, was sie hat, um eine glaubhafte Figur, eben eine lebendige Person, auf der Bühne darzustellen. Daneben ist sie eine lebenslustige junge Frau, die die Körpersprache liebt, ihr Gegenüber zur Bekräftigung ihrer Argumente anfasst, auch schüttelt, die ihre Umgebung vergisst. Und ihre großen braunen Augen auf ihren Gesprächspartner fixiert. Sie liebt Streitgespräche mit der ganzen Leidenschaft Mittelitaliens (Procida!). Und dass dieser Charakter-Zug in der Familie liegt, bestätigte sich, als ich mich mit ihrer ebenso formidablen Mutter vor der Garderobentür in einer Diskussion über die Unterschiede zwischen Katholizismus und Protestantismus sowie über den Schuldkomplex in der christlichen Religion verwickelt sehe – nicht eben übliches Pausengespräch, möchte man meinen .
Aida, Norma, auch Adalgisa (neben der Dimitrova), Trovatore-Leonora, Don Carlo-Elisabetta, sogar Mimi und Sonnambula, lmogene und Gulnara, Semiramide und Butterfly – die Rollen-Reichweite der Dragoni ist bemerkenswert. Platten können den lmpakt, die dramatische Wucht und die belcantistische Agilität dieser Ausnahmestimme nicht einfangen, oder bislang nicht. Sie selber nennt sich – richtig – einen soprano d’agilita, wenngleich die Stimme nun in der Folge schwerer und vielleicht Mitte-lastiger wird und zu diesem Zeitpunkt eher auf das mittlere Verdi-Repertoire zusteuert (und sie, wie schon gesagt, ein festes Auge auf Maddalena und Santuzza hatte). Natürlich ist sie den Versuchungen des Marktes und der Agenturen ausgesetzt, und jeder hat ein Recht auf Irrtum (Tosca), denke ich. Aber in ihren besten Momenten kann man in dieser beinahe altmodischen Stimme baden und in seinem Geist die Assoziationen an illustre Vorgängerinnen anklingen lassen, ohne ihr ihre hochindividuelle Eigenständigkeit zu nehmen. Im dramatischen Belcanto jedenfalls hat sie keines gleichen, und von wem kann man das sagen?
Wir haben dann unsere Begegnungen aufgefrischt. In einem späteren Gespräch sagt sie, ebenso dezidiert wie zuvor: Die Oper ist eine antike, eine klassische Kunstgattung. So wie man die Mona Lisa von Leonardo in einem Museum hütet, so braucht die Oper ausübende Künstler, die gleichermaßen fleißig, seriös und gewissenhaft sind. Ich selber bin im Denken und der mich als Kind und Jugendliche umhüllenden Kultur meiner Mutter aufgewachsen. Um eine virtuose Stimme zu bekommen, muss man bereits früh beginnen, mit etwa 17 Jahren, Gesang zu studieren – und das in der richtigen Tradition, mit den hochbewährten alten Übungen des Musikpädagogen Manuel Garcia. Nach acht Jahren Studium ist man bereit, und dann hoffentlich bestens vorbereitet, zu debütieren. Ich war so jung wie die Callas am Beginn ihrer Karriere. Ich verblüffte die Simionato, die in der Jury saß, sang bereits die Arie n der lmogene/ Pirata und Norma und gewann den ersten von vielen weiteren Wettbewerbspreisen. An einem einzigen Abend wurde ich berühmt. Aber ich wollte nicht überschnappen, und auch wenn ich von Anfang an neben Pirata und Norma noch Poliuto, Sonnambula und Turandot sang, wollte ich mich nicht zu Partien hinreißen lassen, die für meine Stimme nicht geeignet waren – denn ich war damals ja am Anfang und eben noch kein voll gültiger dramatischer Sopran, sondern eher ein soprano d‘ agilità, was ein gewaltiger Unterschied ist. (…)
Norma ist der Gipfel des canto di bravura. Sie ist meine Lieblingsrolle. Ich habe sie hundert mal gesungen, begann damit mit 27 Jahren, und die bewegendste und schönste Regie war die des großen Werner Herzog. Norma braucht, wie Bellini selbst sagte, eine voce di carattere enciclopedico – es ist di e einzige wirklich dramatische Partie Bellini s. Sie hat ein Finale, das mich an Wagner erinnert, einfach herrlich! Aber Mein absoluter Wunschtraum ist die lsolde (lacht).
Und wir haben unsere incontri per mail (modi moderni in tempi extremi) nochmal erneuert. Sie schreibt: Meine Karriere ist durchaus nicht zu Ende und wird nie zu Ende sein, solange meine Stimme existiert. Und meine Stimme habe ich zum Glück noch. Viele Dinge sind seit 1997 geschehen. Nach dem Corsaro, den ich 1996 in Turin gesungen habe und der eine wichtige Etappe war, sind wunderschöne Sachen passiert, so das Verdi-Requiem in Mondovision mit Carlo Maria Giulini und 1998 der Nabucco. Ich habe eine besonders glückliche, starke Natur, so dass ich trotz gesundheitlicher Probleme nie das Handtuch geworfen habe und in Form bin, so dass, falls Corona es erlaubt, noch viel von mir zu hören sein wird. Als nächstes steht die Vorstellung meiner Biographie auf dem Programm, die von einer jungen, sehr begabten Schriftstellerin geschrieben wurde. Es wundert mich, dass man in Deutschland so wenig über mich weiß, da ich doch in der ganzen Welt bekannt bin.
Ein Ass im Ärmel ist die Aufnahme von Ines de Castro des Komponisten Giuseppe Persiani, die nur ich in diesem Jahrhundert gesungen hat, weil die Partie so schwierig ist. Sie wurde für Maria Malibran geschrieben, und die hatte damit am San Carlo einen Riesenerfolg. Ich bin stolz darauf, diese Aufgabe bewältigt zu haben und den Hörern eine Partie vorzustellen, die sich über drei Oktaven erstreckt. Als ich die Rolle 1999 im Teatro Pergolesi in Jesi sang, kamen 60 Journalisten (ich auch und war frenetisierend/ G. H.) aus der ganzen Welt und bedankten sich bei mir dafür, weil ich ihnen eine Vorstellung davon gegeben hatte, was ein wirklicher soprano drammatico d’agilità und ein canto di bravura sind. Diese Begriffe sind verbunden mit Maria Callas, aber erst nachdem sie sich in den Partien des soprano leggero und des soprano drammatico bewiesen hatte, übernahm sie 1949 von Margherita Carosio die Puritani und zeigte sich in ihrer ganzen Großartigkeit.
Ich bin die einzige Erbin von Maria Callas, weil nur ich die Diskussion darüber in Gang gebracht habe, dass man mit einer dramatischen Stimme das Fach des soprano leggero singen kann, indem ich als eklatantes Beispiel am Teatro San Carlo nach Edita Gruberova die Sonnambula sang, die zwar einen Triumph erlangte, während ich das Theater quasi zum Einsturz brachte, und der Grund dafür war, dass ich sang wie die Callas. Ein soprano d’agilità mit einem melancholischen Timbre, der alle Verzierungen singen kann und der quasi eine Kombination von Ghena Dimitrova und Mariella Devia ist. Diese Fähigkeit gab es im 19. Jahrhundert, dann verschwand sie und wurde erst wieder von der Callas entdeckt.
Meine Biographie wird im Sommer erschienen, den Titel darf ich noch nicht nennen. Ich bin in Procida geboren, das 2022 Kulturhauptstadt sein wird, wofür ich viele Pläne hatte, die sich im Moment nicht verwirklichen lassen. Ich habe nach den beiden Konzerten in Deutschland viel gesungen und nie damit aufgehört. Ich habe danach als Violetta debütiert, viele Konzerte gegeben, die Abigaille gesungen und die Santuzza wieder ins Repertoire aufgenommen, für die ich den Premio Mascagni gewonnen habe, Norma, die ich dreihundertmal gesungen habe und die eines meiner cavalli di battaglia ist. 2013 habe ich sie in sieben sizilianischen Städten gesungen, und es war immer ein Triumph. Dann habe ich in Genua in einer wunderschönen modernen Oper mit dem Titel Che fine ha fatto la piccola Irene (Welches Ende hat die kleine Irene genommen) nach einem Roman des großen Andrea Cammileri debüttiert. Ich habe Tosca in Torre del Lago gesungen. 2005 war ich die Gulnara im Corsaro in New York, 2007 debüttierte ich mit der Santuzza, und in Frankreich die Turandot. Bis 2019 habe ich durchgehend gesungen. Wenn es wieder möglich ist, werde ich die Norma im Teatro del Antico von Taormina singen. Ein Regisseur von RAI will eine Dokumentation über mich machen. Karfreitag 2020 gab es die Übertragung des Verdi-Requiems unter Giulini erneut im Fernsehen. Ich bin also noch da! (Die Gespräche führte Geerd Heinsen; Übersetzungen Ingrid Wanja/ Foto oben Maria Dragoni als Giulia/La Vestale/ Lelli e Masotti © Teatro alla Scala)