Zweifelhafte Retro

 

Kaum eine andere Epoche hat so untrennbar im Gedächtnis des Publikums ihre Schlager mit deren Interpreten verbunden wie die Zwanziger und Dreißiger des vergangenen Jahrhunderts, und auch wenn es einem Max Raabe gelungen ist, mit einer Mischung aus ironischer Distanz und sichtbarer und hörbarer Verneigung vor der Vergangenheit neue und erfolgreiche Wege zu gehen, bleiben doch für die meisten Hörer die fesche Lola mit Marlene Dietrich und Das gabs nur einmal mit Lilian Harvey verbunden.

Die österreichische Sängerin Ethel Merhaut hat sich auf ihrer neuen CD bei Sony, Süß und bitter, einiger der bekanntesten Schlager teilweise sogar der Nazizeit angenommen und sich für deren Interpretation aller Errungenschaften einer Ausbildung zur Opernsängerin entledigt, als da Passaggiobewältigung oder gestützte hohe Töne sind.

Es beginnt mit Waldemar von Michael Jary, den einst Zarah Leander mit bestechend guter Diktion  besang und der eine doppelte Daseinsberechtigung auf der CD dadurch erlagt zu haben scheint, dass der Besungene sich in scharfem Kontrast zum Mannesbild der Nazis darstellt und sein Komponist mehrere jüdische Kollegen ins rettende Exil chauffierte. Ethel Merhaut nimmt sich des Herrn mit einer Stimme an, die eine Mischung von Lilian Harvey und Claire Waldoff zu sein scheint, halb kindlich, halb derb verrucht und mit wenig Potenz in der Mittellage. Friedrich Hollaender ist der Komponist von Die Kleptomanin, die die Sängerin in die Nähe einer entschärften Dreigroschenoper rückt. Verruchtes wird im Tango Alois hörbar, in der Höhe mit leicht gequetschten Tönen und hier wie auch bei den anderen Tracks trägt das kleine Orchester aus Klavier, Saxophon oder Klarinette, Kontrabass und Schlagzeug wesentlich dazu bei, dass zwar kein mit der Vergangenheit identischer, aber ein adäquater Sound gefunden wird. My little boy wurde einst von Rose Barsony besungen, Die ganze Welt ist himmelblau  von Robert Stolz komponiert, der, obwohl nicht jüdisch, emigrierte. Das Lied wird von der Interpretin  verfremdet, indem die Vokale leicht verfärbt, die Konsonanten weich gespült werden, in seinem und Richard Taubers Ich möchte einmal wieder verliebt sein hingegen werden nur die Konsonanten zum Interpretationsmittel. Sehr amüsant ist die Interpretation von Benjamin, ich hab nichts anzuziehn durch die Steigerung der Dringlichkeit, in der der Wunsch nach neuen Klamotten zum Ausdruck kommt. Etwas verruchter könnte Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben klingen, duftig ist die Kopfstimme in Abrahams Toujours l’amour, zu dessen Zauber besonders das Orchester beiträgt. Bei Ich weiß, es wird einmal fällt der überzarte Ton als Kontrast zum Original auf, Raymonds Mein Bruder zeigt, wie gut Stimme und Orchester einander ergänzen können. Hollaenders Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre bemüht sich um Verruchtheit und erreicht doch Marlene nicht, Richard Tauber sang einst Ich möchte einmal wieder verliebt sein, Ethel Merhaut versucht es mit kindlicher Stimmfarbe und Konsonantenverdoppelung, aber wer in die Zeit vor knapp 100 Jahren eintauchen will, wird zu den Originalen zurückkehren, wird sie immer in Ohr und Gedächtnis behalten. Süß &bitter nennt sich die CD, überaus pikant war, was man in den Zwanziger und Dreißigern hörte (Sony 19439753932). Ingrid Wanja