„Vil bastarda di Bolena“ – nie werde ich den Auftritt von Pauline Tinsley (27. März 1928 – 10. Mai 2021) als Elisabetta an der ENO London neben Janet Bakers Maria Stuarda vergessen: ein zutiefst charaktervolles Gesicht, der Körper, die Spannung, die Gestik zu jeder Minute dem Ausdruck untertan. Die Stimme selbst nicht sonderlich schön und auch im oberen Bereich vielleicht etwas sehr scharf, aber was für ein Aplomb, welche Kraft, welche Flexibilität der Diktion und der Mitteilung. Das ist das Zeug, aus dem große Sänger gemacht sind. Die Tinsley war so eine, kein Zweifel, auch wenn sie in der öffentlichen kontinentalen Wahrnehmung vielleicht zu sehr auf die großen Charakterpartien wie Elektra oder Lady Macbeth festgelegt war. Gerade letztere an der ENO und an der Scottish Opera hatte mich tief beeindruckt, und mir fällt dazu nur das Attribut „furchtlos“ ein. Ähnlich wie die Scotto wucherte die Tinsley mit ihrem Pfund, und ähnlich wie die italienische Kollegin ist sie nicht in den Kategorien von Schön-Singen zu beurteilen. Eine Sing-Schauspielerin wie die Borkh, wie die Lippert vielleicht, dabei von einer enormen Fachbreite von Monteverdi zu Britten und Strauss. Und sie kam herum. Ost- wie West-Berliner werden sich an das Gastspiel der Amsterdamer Harry-Kupfer-Elektra (Premiere dort 1977) in der Komischen Oper mit ihr erinnern – wie die Kollegin Barstow in der Salome an der Staatsoper auch sie unvergessen und unverwischbar nachdrücklich. Nun starb sie am 10. Mai 2021.
An offiziellen Aufnahmen gibt es kaum welche mit ihr – eine Hexe Purcells und die Idomeneo-Elettra bei Philips, eine Magd in Soltis Elektra bei Decca (neben den von mir ebenfalls verehrten Britinnen Maureen Lehane und Helen Watts). Dazu kommt als bleibender Eindruck auch ihre Maiella in Wolf-Ferraris Gioielli della Madonna bei Gala von der BBC. youtube hat hingegen Reichliches von ihr, vor allem ihre gut dokumentierte Elektra, und ihre Biografie zeigt auf, wo und was sie alles gesungen hat. Sie war nie die erste Sängerin, und sie hatte das Pech, noch in der Ära der Callas angefangen zu haben, die Kolleginnen Nilsson und Jones erleben zu müssen und den zähen, aber unaufhaltsamen Aufstieg der britischen Sänger, die heute aus dem großen Geschäft nicht mehr fortzudenken sind, damals aber sich sehr behaupten mussten. Nachstehend gibt es einen zusammenfassenden Artikel von den Freunden von Isoldes Liebestod, die ihre Laufbahn schildern und mit mir diese große und nicht nur für mich bedeutende Sängerin schätzen. Was für eine intensive Künstlerin war sie doch. Und was bin ich froh, sie noch erlebt zu haben. G. H.
Tinsley Pauline Cecilia, Sopran, * 27.3.1928 Wigan bei Manchester; Ausbildung an der Northern School of Music in Manchester durch Margaret Dillon und Ellis Keeler, dann in London durch Joan Cross, Roy Henderson und Eva Turner. Sie begann ihre Karriere zunächst als Konzertsängerin. Bühnendebüt 1961 bei den Philopera Company in London als Desdemona in Rossinis Belcanto-Oper »Otello«. Sie hatte seit 1962 bei der Welsh Opera Cardiff große Erfolge als Abigaille in Verdis »Nabucco«, als Lady Macbeth In »Macbeth« von Verdi und als Turandot von Puccini, dann auch als Aida und als Elektra in den gleichnamigen Opern von Verdi und R. Strauss. Sie sang 1962-72 und wieder 1975-81 bei der Welsh National Opera Cardiff u.a. auch die Elsa im »Lohengrin«, die Donna Elvira im »Don Giovanni« und die Susanna in »Figaros Hochzeit«, bei der English National Opera London 1963-74 die Gilda im »Rigoletto«, die Königin der Nacht in der »Zauberflöte« und die Leonore im »Fidelio«. Seit 1963 auch bei der English National Opera London engagiert, wo sie als Gräfin in »Nozze di Figaro«, als Fiordiligi in »Così fan tutte«, als Leonore im »Troubadour« wie in »La forza del destino« von Verdi und als Elisabetta in »Maria Stuarda« von Donizetti auftrat. Seit 1965 Mitglied der Covent Garden Oper London; hier 1971 sehr erfolgreich als Amelia in Verdis »Ballo in maschera«, 1976 als Santuzza, 1983 als Mère Marie in »Dialogues des Carmélites« von F. Poulenc, 1989 als Lady Billows in »Albert Herring« von B. Britten, die sie auch 1990 beim Glyndebourne Festival übernahm. 1966 wirkte sie am Londoner Camden Theatre in der englischen Erstaufführung von Verdis Oper »Il Corsaro« mit. Gastspiele an der New York City Centre Opera (1971-72, u.a. in der amerikanischen Bühnen- Erstaufführung von »Maria Stuarda« von Donizetti), an der Niederländischen Oper Amsterdam (1984 Titelrolle in »Elektra« von R. Strauss), an der Hamburger Staatsoper, bei den Festspielen von Verona (1982), an den Opernhäusern von Zürich und Genf (1988), Vancouver, Philadelphia, Houston (Texas), Santa Fé (1969 als Titelheldin in Donizettis »Anna Bolena«) und New Orleans (1985 als Ortrud im »Lohengrin«).
An der Scottish wie an der Welsh Opera hörte man sie als Küsterin in Janáceks »Jenufa«, 1989 an der English National Opera als Kabanicha in »Katja Kabanowa« von Janácek, an der Opera North Leeds als Fata Morgana in »L’Amour des trois oranges« von Prokofieff, beim Wexford Festival 1990 in »The Rising of the Moon« von N. Maw. Noch 1996 übernahm sie beim Garsington Festival die Partie der Lady Billows in B. Brittens »Albert Herring«. 1979 wirkte sie an der Oper von St. Louis in der Uraufführung der Oper »The Village Singer« von Stephen Paulus (als Candace) mit. An der Mailänder Scala wie am Teatro Liceo Barcelona (1986) war sie als Färberin in »Die Frau ohne Schatten« von R. Strauss zu hören. Die Elektra, eine ihrer großen Kreationen, sang sie u.a. in London, San Diego, Amsterdam, Basel, Düsseldorf und Mannheim. Gegen Ende ihrer Bühnenkarriere übernahm sie dramatische und Wagner-Partien (Isolde, Kundry, Brünnhilde, Kabanicha, Hexe in »Hänsel und Gretel« wie in »Die Königskinder« von Humperdinck). Noch 1997 trat sie am Opernhaus von Dublin als Marcellina in »Figaros Hochzeit« auf. Sie sang auf der Bühne ein universelles Repertoire, dessen Partien von der Koloraturrolle bis ins dramatische Fach reichten. Dazu galt sie als hervorragende Schauspielerin. Sie konnte eine gleich bedeutende Karriere im Konzertsaal entfalten. Schallplatten: Philips (Elettra in Mozarts »Idomeneo«), MRF/ Gala (»I Gioielli della Madonna« von Wolf- Ferrari). Lit: E. Forbes: Pauline Tinsley (in »Record Collector«, 1982). Quelle: Isdoldes Liebestod