Im Jahr 1920, als die erfolgreichste Oper von Walter Braunfels in München unter der Leitung von Bruno Walter uraufgeführt und er dadurch in der Zwischenkriegszeit neben Richard Strauss zu einem der erfolgreichsten Komponisten Deutschlands wurde, gelangte auch Strawinskys neoklassizistisches Pulcinella-Ballett und Schrekers Schatzgräber zur Uraufführung, schlossen sich Milhaud und Honegger und weitere Komponisten zu Les Six zusammen und folgte im Jahr darauf Hindemiths Expressionismus-Schocker Mörder, Hoffnung der Frauen, während Mahlers Werk wieder Aufmerksamkeit fand und Schönberg seine Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen fixierte. Walter Braunfels hatte, wie es damals in der Münchner Theaterzeitung hieß, „den Mut, unmodern zu sein, obwohl er modern sein kann, wie kaum ein anderer. Fesselnd in seinen Einfällen, unerschöpflich in ihrer Ausgestaltung und Verknüpfung macht er immer ‚Musik‘, und sie klingt leicht, obwohl sie, rein technisch gesprochen, keineswegs leicht ist“. Einflüsse von allen Seiten lassen sich nachweisen, doch „Braunfels musikalische Sprache ist einmalig, was sich unter anderem in der heterogenen Menge der Komponisten bestätigt findet, mit denen seine Musik verglichen wurde“, heißt es im Beiheft von frühen Orchesterwerken bei Capriccio, das mit mehreren maßstäblichen Aufnahmen, zu dem Label avancierte, wo man in Sachen Braunfels fündig wird. Einflüsse von Strawinsky über Hindemith, Bartok, Mahler, Wagner, natürlich Strauss, Janáček, Orff, Pfitzner und Schreker usw.
Mit dem ORF Vienna Radio Symphony Orchestra, das eigentlich ORF Radio-Symphonieorchester Wien heiß, spielt Gregor Bühl, der mit weiteren Aufnahmen zum zentralen Dirigenten der Braunfels-Reihe wird, das buffoneske Vorspiel zu der Musikalischen Komödie Don Gil mit den grünen Hosen, einer Mantel- und Degenkomödie nach Tirso de Molina, mit der Braunfels 1924 in München nicht an den Erfolg der Vögel anknüpfen konnte. Der leichte freche, dabei elegant aufgemischte Ton findet sich auch in dem explizit für Radioorchester geschriebenen knapp 20minütigen Divertimento op. 42 mit zwei deutlich herausgestellten Saxophonen, wobei Braunfels drängte, den Saxophonen „einzubläuen, daß sie gar nicht tremolieren dürfen“. Das klug zusammengestellte und wunderbar abgerundete Programm schließt neben Ariels Gesang für keines Orchester (Streicher, zwei Hörner, Trompete, Harfe) die im gleichen elfenhaft luftigen, romantisch-originellen Klang gehaltene Serenade op. 20 ein, in der der frisch verheiratete Braunfels 1910 das „Glück der jungen Ehe“ spiegelte (C5429). Eine der schönsten Aufnahmen in der Reihe.
Gleichfalls gut zusammengestellt hat Gregor Brühl das Programm, das im November 2017 und Mai 2018 mit der Deutschen Staatsphilharmonie Reinland-Pfalz in Ludwigshafen aufgenommen wurde: drei Werke für Klavier und Orchester mit der durch zahlreiche Ersteinspielungen hervorgetretenen Tatjanam Klavier (5345). Zuerst als World Premier Recording der während Braunfels‘ Studienzeit bei Ludwig Thuille in München 1906 entstandene Hexensabbat op. 8 für kleines Orchester, ein durchgehendes, in vier Teile gegliedertes Stück, das etwas bemüht spätromantisch wuchtig, dann aber auch sehr virtuos und auftrumpfend klingt. Nachdem die Karriere von Braunfels, der 1933 als Halbjude aller Ämter enthoben worden war, abrupt geendet und er den Zweiten Weltkrieg in innerer Emigration am Bodensee überlebt hatte, wurde er 1947 neuerlich zum Direktora Blome der Kölner Musikhochschule berufen. Im Jahr zuvor wurde in Hamburg unter Eugen Jochum und mit Braunfels als Solist das Konzertstück op. 64 für Klavier und Orchester uraufgeführt. Das von Tatjana Blome und der Deutschen Staatsphilharmonie Reinland-Pfalz mit aparter Delikatesse gespielt Stück wirkt abgeklärter als das Jugendwerk, lebt gleichwohl von den interessant abgetönten Passagen der Soloinstrumente und dem noblen romantischen Duktus. Ebenfalls um eine Ersteinspielung handelt es sich bei Braunfels‘ vorletztem Stück, den Hebridentänzen op. 70, die 1952 mit dem Braunfels-Sohn Michael als Solist in Karlsruhe erstmals erklangen und nach 1962 für ein halbes Jahrhundert völlig vergessen waren. Das ist, wie es im Beiheft heißt, tatsächlich „Romantik mit Kanten“, etwas schwer zugänglich, aber voll schwelgerischer Schönheiten und süßlich-frecher Einwürfe.
Aus Gera stammt die Aufnahme des 1924 im Leipziger Gewandhaus unter Wilhelm Furtwängler uraufgeführten Don Juan op. 34 und der 1909 unter Leitung von Hermann Abendroth erstmals gespielten Symphonischen Variationen über ein altfranzösisches Kinderlied op. 15, über die schon einmal berichtet wurde. Obwohl der großorchestrale, Berlioz-wilde Don Juan mit seinem bewussten klassisch romantischen Bezug und der kunstreichen Variation der Champagnerarie und von „Là ci darem la mano“, bei denen laut Braunfels, „ein klassisches Gebilde, mit romantischem Geist verbunden, traumhaft aufsteigen und abtauchen“ solle, vermutlich einer der größten Erfolge Braunfels war, wirken die von unverhohlener Strauss-Bewunderung zeugenden brillanten Symphonischen Variationen – die auch ein bisschen an Ernst von Dohnányis Variationen über ein Kinderlied erinnern – heute überzeugender, wie Markus L. Frank und das Philharmonische Orchester Altenburg Gera am 19. März 2013 in ihrem Konzertsaal belegten (C 5250).
Nicht thematisch verbunden mit den Symphonischen Variationen über ein Altfranzösisches Kinderlied sind die 1919 entstandenen und 1945 neubearbeiteten Variationen über ein Altfranzösisches Lied für zwei Klaviere op. 46, die Tatjana Blome – zusammen mit Holger Groschopp – auf ihrer Einspielung von Klavierwerken Braunfels‘ mit dem Kleinen Stück für vier Hände op. 24 und den Bagatellen für Klavier solo op. 5 verband. Ausgehend von dem Lied „Au clair de la lune“ entwickelt Braunfels über 18 Variationen ein halbstündiges Werk, in dem der Sohn und Pianist Michael den Höhepunkt im Schaffen seines Vaters für das Klavier sah. Das Stück besitzt trotz seines Lehrbuchcharakters genügend Originalität, wie Blome und Groschopp nicht nur in Sätzen wie „Geschwindmarsch“ oder „Gemessen, sehr spritzig“ beweisen. Die „Sprühende, oft groteske Phantastik“ der neun Bagatellen, so das Urteil nach der 1908 erfolgten Uraufführung, erfüllt Blome mit der erforderlichen Brillanz und lyrischer Farbigkeit. Und die Kleinen Stücke, Laurson nennt sie, „ideale – und im besten Sinne – Bildungsbürger-Hausmusik“, spielen Blome und Groschopp an zwei Klavieren (C5361).
Ebenfalls schon einmal berichtet wurde über die aus Braunfels‘ erster Oper Prinzessin Brambilla herausgelöste Carnevals-Ouvertüre op. 22, die Schottische Phantasie op. 47, die „in allem, bis auf den Namen ein Violakonzert“ ist, wie Jens Laurson in seiner ausgezeichneten, Leben und Werk verbindenden Einführung („Walter Braunfels, eine Affäre des Herzens“) schreibt, Präludium und Fuge op. 36 sowie die zwei Orchesterlieder nach Hölderlin („An die Parzen“, „Tod fürs Vaterland“) op. 27 (C5308), deren dramatische Wucht, in der sich die Kriegserfahrung von Braunfels spiegelt, Paul Armin Edelmann mit direkter Aussagekraft vermittelt. Die sehr hörenswerte, klanglich souveräne Aufnahme unter Gregor Bühl mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz (C5250) vom April und Juni 2017 spürt nicht nur der reichen Ausdruckspalette und der zwischen Spätromantik und Neuer Sachlichkeit wandelnden Formensprache von Braunfels‘ Musik nach, sondern vermittelt eine großartige Musik – im Falle der Ouvertüre und Präludium und Fuge in Ersteinspielungen.
Besondere Aufmerksamkeit verdient Jörg-Peter Weigles Aufnahme der Großen Messe op. 37 für Soli, gemischten Chor und Knabenchor, die er in der Berliner Philharmonie mit dem Konzerthausorchester Berlin, dem Philharmonischen Chor Berlin, der Berliner Singakademie und Knaben des Staats- und Domchores Berlin realisierte (C 5267). Michael Honeck kommt das Verdienst zu, die Messe 2010 in Stuttgart erstmals nach 80 Jahren wieder aufgeführt und Decca sie veröffentlicht zu haben; das Berliner Konzert vom 1. Mai 2013 unter Weigle war die zweite moderne Aufführung der 1926 unter Hermann Abendroth uraufgeführten, rund 80 Minuten dauernden Messe. Neben dem Te Deum ist die Große Messe das bedeutendste geistliche Werk des nach dem Ersten Weltkrieg zum Katholizismus übergetretenen Braunfels. So großartig und ausgreifend die Messe auch konzipiert ist, so luzide ist sie instrumentiert, so dramatisch und suggestiv sind Schlagwerk, Glockenspiel, Tam-Tam eingesetzt, so theatralisch verblenden sich die Solisten (Simone Schneider, Gerhild Romberger, Christian Elsner, Robert Holl) mit den Chorstimmen. Die Musik ist sowohl szenisch explosiv wie stark verinnerlicht entworfen, wechseln sich bestürzende dramatisch Momente wie die Schlusszeile des Credos „et vitam venturi saeculi“ mit dem langen Orchesterinterludium für Orgel, Blech und Streicher im Offertorium ab.
Eine weitere CD ist Ausgewählten Liedern gewidmet. Es handelt sich um 41 Lieder, die mit Ausnahme der beiden Lieder op. 44 auf Texte von Hans Canossa, mit denen Braunfels 1932 sein Liedschaffen beendete, alle aus den frühen Jahren vor Beendigung der Vögel stammen (C 5251). Marlis Petersen und der Bariton Konrad Jarnot haben die Gruppen und Zyklen bei den im März und April 2011 in Berlin stattgefundenen Aufnahmesitzungen gerecht unter sich aufgeteilt. Möglicherweise verkörperte Maria Ivogün für Braunfels die idealtypische Sopranstimme. Während die Gesänge für tiefe Männerstimme gelegentlich, so in den sechs Liedern op. 1 etwas bemüht und schwerfällig wirken, sind die Lieder für Sopran geradezu sphärisch und körperlos. Auffallend: alle Lieder sind ausgesprochen kurz, viele kürzer oder nur wenig länger als eine Minute; das längste ist die Brentano-Vertonung Nachklänge Beethovenscher Musik op. 13. An Ivogün, die erste Nachtigall in den Vögeln, denkt man unwillkürlich bei den beiden Zyklen Kleines Federspiel op. 7 und Neues Federspiel: acht bzw. neun Vogelporträts nach Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn, unter denen sich auch Die Nachtigall befindet. Marlis Petersen singt die schlichten, von dem sensiblen Eric Schneider am Klavier mit imitatorischem Zierrat versehenen Vogel-Lieder mit funkelnder Schlichtheit und jubelnden Ton, der in den beiden Klärchen-Liedern von 1916 „Freudvoll, leidvoll, gedankenvoll sein“ und „Die Trommel gerühret!“ energische Züge annimmt und in Herbstgefühl und schließlich den Canossa-Gesängen eine sublime Abschiedsstimmung suggeriert. Konrad Jarnot gefällt mir am besten mit den Gesängen aus der 1909 entstandenen Schauspielmusik zu Shakespeares Was ihr wollt op. 11, bestehend aus der melodramatischen Einleitung „If music be the food of love, play on“, wo der englische Bariton in seiner Heimatsprache rezitieren kann, und den drei Liedern des Narren, deren Bänkellieder-Charakter der herb-dunklen Stimme entgegenkommt; finster schürfend gibt Jarnot Hölderlins An die Parzen (Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Rolf Fath