Na bitte, es geht doch noch, eine Bohéme so zu inszenieren, wie es Librettist und Komponist im Sinn hatten, und das im Jahre 2017 an Covent Garden. Eine Aufnahme gibt es nun von der Wiederaufnahme 2020 gerade noch rechtzeitig vor der Schließung der Theater wegen Corona, zwar nicht von der ersten, sondern von einer der folgenden Vorstellungen, als die erkrankte Sonya Yoncheva wieder genesen und als Mimi einsetzbar war.
Richard Jones hatte sich von Stewart Laing ein Bühnenbild zimmern und Kostüme entwerfen lassen, bei dem und denen 90 Prozent der Ausgaben für den zweiten Akt verschwendet wurden, drei opulent wirkende Passagen, in denen sich der Chor und die Statisten in wundervollen Kostümen tummeln können, während die Solisten im ersten und vierten Akt unter einem Giebel und mit einer aus Stuhl und Kochkiste bestehenden Einrichtung sich arrangieren und aufpassen müssen, nicht mit den Köpfen an die Balken zu stoßen. Der dritte Akt entbehrt jeder romantischen Stimmung, die klitzekleine Baracke entlässt zwar wunderbarer Weise jede Menge Partyvolk, das wohl zuvor in ihr gestapelt worden war, wäre aber des Aufwands einer Bemalung kaum würdig gewesen. Immerhin gibt es reichlich Schnee, nicht nur während und in der Vorstellung, sondern bereits davor über den Vorhang rieselnd, und aus dem Schornstein kommt echter Rauch.
Bei der Personenregie hatte sich Richard Jones einiges Ungewohnte einfallen lassen, so wenn Mimi, kaum in die Mansarde eingetreten, zu Boden fällt, dafür aber im vierten Akt noch einmal vom Totenbett aufsteht und einen recht munteren Eindruck macht. Das ist doch eigentlich einer Violetta vorbehalten! Recht verlegen-burschikos, benimmt sich Rodolfo, der die bewusstlose Mimi mal kurz in die Seite tritt, um sich über ihren Zustand klar werden zu können. Auch im vierten Akt ist er aktiver, als sonst von der Figur gewohnt, wenn er die tote Mimi von ihrem Lager reißt. Diese erscheint übrigens in einem eleganten Ballkleid zum Sterben, während Musetta kostümmäßig direkt einer Klosterschule entsprungen zu sein scheint. Es gibt also auch bei einer traditionellen Inszenierung genug Möglichkeiten, seine eigenen Ideen einzubringen.
Wunderbar typgerecht sind die vier artisti mit einem dunkel-romantisch wirkenden Rodolfo, einem prallen Marcello, einem windigen Schaunard und einem Tiefsinn versprühenden Colline. Charles Castronovo scheint mit seinem inzwischen sehr dunkel timbrierten Tenor schon fast der Partie des Rodolfo entwachsen, auch weil in den Ensembleszenen mit den amici, in denen eh die dunklenpucc Stimmen dominieren, eine hellere Stimme angebracht wäre. Seine große Arie singt er gut, der Schluss des 1. Akts wirkt wunderbar romantisch, auch weil er seiner Partnerin den hohen Ton überlässt und nach unten singt. Diese ist Sonya Yoncheva mit ebenfalls dunkel grundierter, sanfter und schön gerundeter Sopranstimme, die auch im Piano gut trägt und das Erinnerungsmotiv wie aus einer anderen Welt kommend klingen lässt. Zwischen Koketterie und Unschuld trifft sie auch darstellerisch den richtigen Ton für die liebenswerte Grisette. Mit virilem, farbigem Bariton singt Andrzej Filonczyk den Marcello, Simona Mihai nimmt man nicht so recht ab, dass ihre Musetta die gesamte Männerwelt in Aufruhr versetzt. Angemessen gestaltet Gyula Nagy seine Geschichte vom gemeuchelten Papagei, während Peter Kellner eine frische, junge Bassstimme für den Colline hat.
Der Chor des Hauses leistet Großes im zweiten Akt, das Orchester unter Emmanuel Villaume noch Bedeutenderes, indem es die Partitur so frisch, so bitter-süß, so temperamentvoll und jung erscheinen lässt, als handele es sich um eine Uraufführung (Opus Arte Bluray OABD7287D). Ingrid Wanja