Sachsen-Coburgs „Santa Chiara“

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Mit Spannung erwartet brachte bereits im Februar 2022 das Meininger Staatstheater die Oper Santa Chiara des Prinzen Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha heraus – die erste Szenische Aufführung in moderner Zeit, nachdem das verdienstvolle Theater Erfurt das Werk am Klavier bereits 2010 vorgestellt hatte. Nun also gab es die Bühnen-Komponente mit Orchester, Chor, Szene und Regie – eine Rezension gestaltete sich schwierig wegen der bekannten Corona-Probleme, mit denen Meiningen wie viele andere Bühnen geplagt ist. Zum Kennenlernen bringen wir den Artikel von Arne Langer zu der Oper 2010 in Erfurt. G. H.

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Prinz Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha/ Wikipedia/ Hampton Court Paintings

Der Komponist: Die beiden Prinzen Ernst und Albert (Victorias späterer Ehemann) von Sachsen-Coburg und Gotha kamen früh mit Musik in Berührung, lernten das Klavierspiel und betätigten sich als Komponisten. Albert komponierte Kirchenmusik und Lieder, auch eine Oper (Hedwig von Linden) soll von ihm stammen. Als Gatte der englischen Königin wurde er ein eifriger Förderer der Musik, wovon bis heute die Royal Albert Hall zeugt. Während seines Studiums in Bonn lernte er u.a. bei dem Musikwissenschaftler Heinrich Carl Breidenstein, der eine Gesangsschule und geistliche Kompositionen veröffentlicht hatte.

Bei ihm erhielt Ernst Unterricht in der Generalbasslehre. Während der Militärzeit in Dresden verkehrte er mit literarischen Größen wie Ludwig Tieck und Schauspielern wie Eduard und Emil Devrient bzw. Sophie Schröder. Musikalisch prägte ihn vor allem der Hofkapellmeister Carl Gottlieb Reissiger, der als Nachfolger Carl Maria von Webers einen hervorragenden Ruf als Opernkomponist besaß.

Seit 1842 stand Franz Liszt in einem Anstellungsverhältnis am Weimarer Hof und wurde für Ernst offenbar ein wichtiger Ansprechpartner in Sachen Musik. Er gastierte im selben Jahr als Pianist im Coburger Hoftheater und spielte auf Schloss Callenberg mit Ernsts Frau Alexandrine vierhändig Klavier.1846 soll Liszt die Anregung für die Komposition der ersten Oper des Herzogs, Zayre, gegeben haben.

Der Kontakt wurde intensiver, seit sich Liszt 1848 in Weimar niedergelassen hatte. Im selben Jahr lernten sich Liszt und Wagner kennen und standen seitdem in enger Verbindung. Im Oktober 1848 erwähnt Liszt in einem Brief an Wagner Herzog Ernst und spricht darin von dessenintelligence superieure,et sa predilection personnelle pour la musique“.

„Santa Chiara“: die Librettistin Charlotte Birch-Pfeiffer (hier auf einem Foto von Harald Craf von 1850)/ Sammlung Langer/ Programmheft zur Aufführung in Erfurt 2010

Die zweite Oper des Herzogs, Die Vergeltung, hatte geringen Erfolg, so dass kurz darauf eine Neufassung unter dem-Titel Tony entstand, die Liszt bald nach der Coburger Uraufführung auch am Weimarer Hoftheater herausbrachte. Der Herzog, der möglicherweise schon in seiner Dresdner Zeit mit Wagner in Berührung gekommen war, ordnete bald nach seinem Regierungsantritt 1844 an, die Partitur des Rienzi anzukaufen. Eine Aufführung kam zunächst nicht zustande. Sicherlich nahm er auch von den Lisztschen Wagner-Aufführungen in Weimar Kenntnis, der Erstaufführung 1849 von Tannhäuser und der Uraufführung von Lohengrin 1850. Durch Liszt verbürgt ist die Anwesenheit des Herzogs bei der Erstaufführung des Fliegenden Holländer 1853. Kurz darauf beabsichtigte Ernst, Wagner mit der Instrumentation seiner neuen Oper Santa Chiara zu beauftragen. Liszt besuchte 1853 in Gotha auf Einladung des Herzogs eine Aufführung von dessen Oper Casilda und übernahm 1854 das Dirigat der Uraufführung der Santa Chiara. Noch kurz vor Liszts Abgang aus Weimar kam 1859 die letzte Oper des Herzogs, Diana von Solange, dort zur Aufführung.

Noch als Erbprinz trat Ernst 1844 erstmals mit größeren Kompositionen an die Öffentlichkeit. In Gotha erklangen – unter der Leitung von Liszt – die Kantate Allerseelen für Vokalquartett und Orchester und das Geistliche Lied Immer Liebe für Sopran, Bariton, Chor und Orchester. Im selben Jahr erschien auch eine Gruppe von Klavierliedern im renommierten Musikverlag Breitkopf & Härtel.

„Santa Chiara“ in Meiningen 2022/ Szene/ Foto wie auch oben Christina Iberl

Auch nach seinem Regierungsantritt 1844 betätigte sich der junge Herzog weiter als Komponist. Eine Anregung Liszts führte wohl zur Komposition seiner ersten Oper, Zayre, eine Große Oper nach der Tragödie Voltaires. Der Uraufführung 1846 in Gotha folgte die Erstaufführung in Coburg.

Es war im „Doppelstaat“ Coburg-Gotha die Regel, dass das Hoftheater jeweils zu Jahresbeginn in Gotha und in der zweiten Jahreshälfte in Coburg spielte. Uraufführungen wurden möglichst gleichberechtigt verteilt. In beiden Städten standen moderne miteinander kompatible Theatergebäude, die 1840 noch vom Vater, Ernst I., errichtet worden waren. Während das Coburger Haus bis heute seinem Zweck dient, wurde das Gothaer Hoftheater nach Kriegszerstörung 1958 abgerissen.

Als zweites Bühnenwerk kam1848 in Coburg Die Vergeltung, eine Romantische Oper, heraus. Sie spielt im vom Freischüfz inspirierten Wald- und Jägermilieu. Die Bearbeitung unter dem Titel Tony wurde nach Coburg und Weimar u.a. 1854 auch an der Münchner Hofoper gespielt. Das spanische Sujet des dritten Bühnenwerkes, Casilda, ebenfalls eine Romantische Oper, erinnert an das Schauspiel Preciosa, das mit der Musik von Carl Maria von Weber ausgesprochen populär war. Ernsts Oper wurde nach der Gothaer Uraufführung 1851 an mindestens 15 weiteren Bühnen gespielt, u.a. in Brüssel, Wien, London, Prag, Riga, Weimar und offenbar 1889 auch in Erfurt.

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„Santa Chiara“ in Meiningen 2022/ Szene/ Foto Christina Iberl

Nun also Santa Chiara: Während der Herzog in seinen ersten Werken mit lokalen Librettisten und musikalischen Beratern zusammenarbeitete, suchte er für die beiden folgenden Opern nach prominentem auswärtigem Sachverstand. Entsprechend groß war das überregionale Echo auf zunächst Santa Chiara und dann auf die Große Oper Diana von Solange. Das Libretto zu Diana schrieb der damals sehr erfolgreiche Wiener Autor Otto Prechtler, der sein eigenes, im historischen Portugal spielendes Drama Adrienne entsprechend umarbeitete. Nach der Coburger Uraufführung 1858 erlebte die Oper mindestens 25 auswärtige Inszenierungen, von Hannover über Dresden, Wien, Warschau, Leipzig, Rotterdam, Prag, Riga, Berlin (Kroll) bis hin zur Metropolitan Opera in New York (1891). Meyerbeer kam im Februar 1860 eigens nach Gotha, um das Werk zu erleben. Viele Jahre später komponierte der Herzog noch zwei Operetten unter Pseudonym, von denen sich kein Aufführungsmaterial erhalten hat: Der Schuster von Straßburg, aufgeführt 1871 im Wiener Strampfer-Theater, und Alpenrosen (1873), angeblich in Hamburg gespielt.

Neben dem Einsatz für seine eigenen Werke interessierte sich Herzog Ernst zeitlebens für das Opernschaffen anderer Komponisten. Die Verbindung zu Giacomo Meyerbeer, dem seinerzeit sicherlich erfolgreichsten Opernkomponisten, wirkte sich auf die Entstehung der Santa Chiara aus und hatte zur Folge, dass die deutschsprachige Erstaufführung von dessen letzter Oper Dinorah 1859 in Coburg stattfand. In späten Jahren wurde Ernst zu einer Schlüsselfigur in der Biographie von Johann Strauß, der sich mit Adele Deutsch neu verheiraten wollte, was im katholischen Wien nicht möglich war. 1886 wurde er auf Bestreben des Herzogs in Coburg eingebürgert, wo dann auch die Ehescheidung und Neuverheiratung amtlich besiegelt werden konnten. Zum Dank widmete Strauß die Werke Simplicius (Wien 1887) und Ritter Pàzmàn (Wien 1892) dem Herzog.

„Santa Chiara“/ das Herzogliche Hoftheater Coburg/ OBA

Kurz vor seinem Tod betätigte sich Ernst noch einmal als Förderer der zeitgenössischen Oper. Nach dem Vorbild des legendären Einakter-Wettbewerbs des Mailänder Verlages Sonzogno, das den Weltruhm der Oper Cavalleria rusticana begründete, initiierte er 1892 einen vergleichbaren Wettbewerb für deutschsprachige Operneinakter. Der Zuspruch war immens, die beiden siegreichen und in Gotha uraufgeführten Werke, Die Rose von Pontevedra von Josef Förster und Evanthia von Paul Umlauft, konnten allerdings keinen dauerhaften Platz im Repertoire erobern.

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„Santa Chiara“: die berühmte Rosina/e Stoltz sang 1856in Brüssel die Berthe (hier als Meyerbeers Fides)/ Wikipedia

Uraufführung und Verbreitung: Die Große romantische Oper Santa Chiara erlebte ihre Uraufführung am 2. April 1854 im Herzoglichen Hoftheater Gotha unter dem Dirigat von Franz Liszt. Die Dekorationen für den zweiten und dritten Akt hatte der später durch seine Arbeiten für Bayreuth und Meiningen berühmte Coburger Hoftheatermaler Heinrich Karl Brückner (* 11. Juli 1805 in Coburg; † 24. Juni 1892 ebenda) gestaltet. Die Titelpartie sang die Sopranistin Anna Falconi (eigentlich Bockholtz), die zuvor an der italienischen Oper in London und an der Mailänder Scala aufgetreten war. Meyerbeer kam auf Einladung des Herzogs nach Gotha zu einer der Folgevorstellungen und vermerkte im Tagebuch:„Der zweite Akt der Oper hat wirklich sehr große musikalische Schönheiten im edlen dramatischen, hochtragischen Stil.“ Ein halbes Jahr später folgte die Coburger Premiere der Oper, dann die Opernhäuser in Frankfurt, Hamburg und Karlsruhe. Spätesten für die prestigeträchtige Erstaufführung in Paris wurde die Oper einer Revision unterzogen. Vor allem im dritten Akt entfielen einige Passagen, andere – wie eine Romanze der Bertha – wurden neu eingefügt. In dieser musikalischen Gestalt, die auch als Klavierauszug gedruckt wurde, ist das Werk in der Folge weitgehend unverändert aufgeführt worden, wie das in der Coburger Landesbibliothek erhaltene Aufführungsmaterial erkennen lässt.

Der Pariser Aufführungin französischer Sprache – gingen intensive Bemühungen des Herzogs voraus, die von Meyerbeer unterstützt wurden. In den vorangegangenen Jahren war Ernst mehrfach in diplomatischer Mission bei Kaiser Napoleon III. gewesen. Ein schon länger schwelender Konflikt zwischen Russland einerseits sowie Frankreich und England anderseits führte schließlich Ende 1854 zum Krim-Krieg. Die profranzösische und zugleich antirussische Tendenz der Santa Chiara-Handlung war in dieser Situation sicher hilfreich. Die Aufführung am 27.9.1855 erfolgte dann kurz nach dem Sieg der Alliierten in Sewastopol in einer Phase nationaler Begeisterung. Noch dazu war gerade in Paris die (Vierte) Weltausstellung eröffnet worden. Die Tenorpartie sang der durch die Uraufführung von Meyerbeeers Le Prophete bekannt gewordene Gustave-Hippolyte Roger. Ebenfalls in französischer Sprache folgte 1856 eine Inszenierung in Brüssel, wo Leopold l., ein Onkel des Herzogs, als belgischer König herrschte und gerade sein Thronjubiläum begangen hatte. Die Charlotte wurde in Brüssel von Rosine Stoltz gesungen, einer der prominentesten Primadonnen ihrer Zeit. Herzog Ernst scheint sie danach besonders protegiert zu haben. 1865 erhob er sie in den Adelsstand, und sie zog für einige Jahre nach Coburg.

1856 gastierte Hector Berlioz als Dirigent eigener Werke in Gotha und stellte dem Programm als Reverenz an den Hausherrn die Ouvertüre von Santa Chiara voran.

„Santa Chiara“: der Tenorstar Gustave-Hippolyte Roger (hier als Meyerbeers Jean van Leyden) sang 1855 den Victor in der Pariser Erstaufführung/ Wikipedia

In den folgenden Jahren ging die Oper über viele große deutschsprachige Bühnen – Dresden, Darmstadt, Wien (Josefstadt-Theater), Leipzig, Bremen, Königsberg. Nach einer längeren Unterbrechung gab es dann ab 1876 noch einmal eine Reihe von Erstaufführungen: Nürnberg, Köln, Straßburg, Augsburg, Chemnitz, Lübeck, Berlin (Kroll-Oper). In Gotha und Coburg kam es immer wieder zu Neueinstudierungen, die letzte Aufführung soll 1927 in Coburg stattgefunden haben – und im Mai 2010 dann in der Reihe „Oper am Klavier“ am Theater Erfurt (Ralph Neubert hatte die musikalische Leitung, in den Hauptrollen hörte man Mate Sölyom-Nagy, llia Papandreou, Stephanie Müther, Richard Carlucci, Vazgen Ghazaryan und Jörg Rathmann sowie Mitglieder des Philharmonischen Chores Erfurt). Arne Langer

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Nun also die szenischen Aufführungen am Staatstheater Meiningen (vom April bis Juni 2022: Charlotte: Lena Kutzner/Deniz Yetim/ Bertha: Marianne Schechtel/Sandra Maxheimer/ Victor: Markus Petsch/Patrick Vogel/ Alexis: Johannes Mooser/ Aurelius: Rafael Helbig-Kostka/ Alphonse: Tomasz Wija/ Herbert: Mikko Järviluoto/ Chor des Staatstheater Meiningen/ Meininger Hofkapelle/ Statisterie/Musikalische Leitung: GMD Philippe Bach/ Regie: Hendrik Müller/ Bühne: Marc Weeger/ Kostüme: Katharina Heistinger/ Dramaturgie: Claudia Forner; nebst absurder Geisterstimme der Heldin, wie man bei der Radioübertragung verärgert vermerken konnte). G. H.

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„Santa Chiara“: Bühnenbildentwurf der Gebrüder Brückner/ Coburg zum 3. Akt/ Sammlung Langer/ Programmheft zur Aufführung in Erfurt 2010

Die Handlung: Russland 1715 unter der Regierung von Peter dem Großen/ Akt 1 – Prächtiger Saal im Palast des Zarewitschs in Moskau Der Engel der Berge. Die deutsche Prinzessin Charlotte Christina lebt als Gattin des Zarewitschs Alexei am russischen Zarenhof und leidet an der Missachtung durch ihren rohen und gewalttätigen Mann. Sie hatte ihren Vater gebeten, zurückkehren zu dürfen. Am Tage ihres Geburtstages erhält sie nun die Nachricht, dass er ihr schweren Herzens aus politischer Rücksichtnahme die Rückkehr verbietet. Selbst das Wiedersehen mit Victor de St. Auban, einem französischen Edelmann in russischen Diensten, kann sie nicht trösten. Auban war ihr in jungen Jahren in der Heimat zufällig begegnet und ist ihr seither verfallen. Während der höfischen Geburtstagsfeier will Alexei den Plan umsetzen, seine Gattin mit Gift zu ermorden. Dem Leibarzt gelingt es aber, das ihr zugedachte Gift durch ein Schlafmittel zu ersetzen. Das Fest endet abrupt mit dem vermeintlichen Tod Charlottes.

Der Autor: Arne Lange, Opern-Chefdramaturg am Erfurter Theater

Akt 2 – Die Michaelskathedrale im Kreml. Die Totenmesse. An Charlottes Sarg gesteht Victor seine Liebe und schwört Rache für den Mord. Nachdem Alexei den Sarg hat verschließen lassen, erwacht Charlotte. Unbemerkt von der trauernden Menge geleiten sie der Sekretär Herbert und Leibarzt Aurelius aus der Kapelle und ermöglichen ihr die Flucht.

Akt 3 – Heitere Gegend bei Resina am Golf von Neapel. Unerkannt lebt Charlotte fortan in Italien, von den Landleuten als Wohl-täterin „Santa Chiara“ verehrt. Der Zufall führt sowohl Alexei als auch Victor in ihre Nähe. Alexei hatte eine gescheiterte Verschwörung gegen seinen Vater geplant und gelangte auf der Flucht hierher. Victor wiederum war auf Befehl des Zaren dem Flüchtenden gefolgt. Während Charlotte und Victor glücklich zueinander finden, wird Alexei durch den Anblick der tot geglaubten in den Wahnsinn getrieben. Arne Langer

(Der Autor: Arne Lange ist Opern-Chefdramaturg am Erfurter Theater und stellte diese Auszüge aus seinem für das Programmheft 2010 geschriebenen Artikel dankenswerterweise zur Verfügung. Textred.: G. H.)

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Und nun die Rezension der Aufführung in Meiningen: Die beiden Herren müssen sich prächtig verstanden haben. Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818-93) und Georg II. von Sachsen-Meinigen (1826-1914) dürften sich nicht nur bei der Kaiserproklamation in Versailles 1871 begegnet sein, sondern teilten auch weitreichende künstlerische Interessen. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Albert genoss Ernst eine umfassende musische Bildung, wozu neben den obligaten Studienreisen auch eine umfassende musikalische Ausbildung gehörte. Nach Studienjahren in Bonn trennten sich ihre Wege. Albert siedelte als Gemahl der britischen Königin Victoria 1840 nach London über, Ernst, der seine Ausbildung noch in Dresden verfeinert hatte, trat 1844 die Nachfolge seines Vaters an. Immerhin fühlte er sich als Musiker und Komponist hinreichend gerüstet, um u.a. vier Opern zu komponieren. Sein ebenso kunstsinniger Meininger Nachbar lebte seine künstlerischen Ambitionen in der Neuorganisation des Meininger Hoftheaters aus. Schön, dass nun die vierte und erfolgreichste Oper von Ernst II. Santa Chiara am Staatstheater Meiningen ausgegraben wurde.

Santa Chiara ist die Wolfenbütteler Prinzessin Charlotte, die zur Stärkung der russisch-westeuropäischen Beziehungen mit dem Sohn Peter I., dem Zarewitsch Alexej, nach Russland verheiratet wurde. Legenden umwoben ist ihr späteres Nachleben. Offiziell 1715 bei der Geburt des späteren Zar Peter II. gestorben, kamen ein halbes Jahrhundert später Gerüchte auf, dass sie ihren Tod nur vorgetäuscht habe, um dem gewalttätigen Gatten zu entgehen und mit ihrem französischen Verehrer Chevalier Victor  St. Auban ausgewandert sei. Für den Text wählte sich der Herzog die populäre Erfolgsautorin Charlotte Birch-Pfeiffer aus, die als Vorlage Johann Heinrich Daniel Zschokkes Roman Die Prinzessin von Wolfenbüttel vorschlug. Die Idee gefiel dem Herzog. Gut möglich, dass sich Ernst II an das Schicksal einer Tante erinnert hatte, die gleichfalls mit einem Romanow-Zarewitsch verheiratet worden war, nach fünfjähriger unglückliche Ehe in die Heimat zurückkehrte und als geächtete Frau und Mutter unehelicher Kinder ein einigermaßen abenteuerliches Leben führte. Auch darüber hinaus hatte der Herzog nur erste Namen im Blick: Gustav Freytag warf einen letzten prüfenden Blick auf das Textbuch, für die Instrumentation versuchte er vergebens, Wagner zu locken. Meyerbeer durfte das Schlussurteil über das Werk fällen, das so vorteilhaft ausfiel, dass sich Meyerbeer für eine Pariser Aufführung einsetzte, die im Jahr nach der von Franz Liszt 1854 am Hoftheater Gotha dirigierten Uraufführung stattfand. Viele, durchaus renommierte Bühnen schlossen sich an. Ende des 19. Jahrhunderts riss die Erfolgsserie ab, nur die ehemals herzoglichen Hoftheater in Gotha und Coburg, wo es zuletzt 1927 zu einer Aufführung gekommen war, hielten der Santa Chiara die Treue.

Nun also neuerlicher Anlauf für Santa Chiara in Meiningen (29. April 2022). Der letzte Versuch sechs Wochen zuvor scheiterte an einer kurzfristigen Corona bedingten Absage der Aufführung. Dem Staatstheater Meinigen muss man das Kompliment machen, dass es sich nicht bequem zurücklehnte, sondern mit Kay Metzgers spannender Inszenierung des Fliegenden Holländers einen guten Ersatz einschob (10. März). Zusammen mit dem Lohengrin (20. April) am Abend vor der jetzigen Santa Chiara eröffnet sich ein kulturgeschichtlicher Horizont und werden „lokale“ kunst- und kulturgeschichtliche Bezüge deutlich, die die Oper des Herzogs nochmals in einem anderen Licht erscheinen lassen. Interessanterweise ist Lena Kutzner, die Senta und Elsa, auch eine der beiden Besetzungen der Santa Chiara. Eine Jugendlich-Dramatische, um die jedes Haus Meinigen beneiden muss.  Höhensicher und mit schönen leuchtenden Bögen, innig im Ausdruck. Überzeugend als Senta, die bei Metzger tagtäglich im altmodischen Kino ihren Kaffee nimmt, um anschließend ihren Star in einem  Fluch der Piraten-Aufguss zu erleben. Wunsch und Realität vermischen sich sehr packend. Und sie sitzt noch immer da. Inzwischen ein altes Weiblein am Gehstock. Noch eindrucksvoller gelingt Kutzner die Elsa, die sie in Ansgar Haags hochromantischer, um Böcklins „Toteninsel“ kreisender Inszenierung sehr leidenschaftlich und packend singt und auf ideale Weise erfüllt. Ein Ideal auch ihr Schwanenritter, den Magnus Virgilius mit silbern metallischem Stahl, unerschöpflich schlanker Kraft und glühendem, im Brautgemach zwischen Unerbittlichkeit und Resignation sich aufreibendem Ausdruck so beeindruckend sang, wie man ihn nicht oft hört.

Handelt es sich bei Santa Chiara um ein vergessenes Juwel der romantischen Oper, das man hinter die beiden 1843 und 1850 in Dresden und Weimar uraufgeführten Wagner-Opern einreihen darf oder nur eine interessante Fußnote zur regionalen Musikgeschichte? Ernst II. beginnt seinen Dreiakter  mit einer geheimnisvoll schwermütigen, reich instrumentierten Ouvertüre, die geradewegs in die dunklen Räume des Kremls zu führen scheint, wo die deutsche Prinzessin unter ihrem gewalttätigen Mann und dessen Mätressen leidet. Dann lichtet sich das Dunkel.  Ernst II. nimmt die hüpfende Tanzlaune Neapels vorweg, wo Charlotte im dritten Akt  als Wundertäter verehrt wird. In dieser zehnminütigen Zusammenfassung seiner Oper kehrt Ernst II. von der Elisir d’amore– oder opéra-comique-Beschwingtheit wieder zu den dunklen Grabesklängen zurück. Trotz aller Originalität wirkt die Ouvertüre kunstsinnig zusammengeflickt, kommt nicht richtig in Schwung, was leider für die gesamte Oper gilt, die sich zwischen französischen und italienischen Vorbildern nicht so recht zu entscheiden vermag.

Am ursprünglichsten wirkt Santa Chiara, wenn Ernst II. in den Rezitativen einen gemütlichen Lortzing-Ton anschlägt, der eigentlich gar nicht zu den französischen Adeligen am russischen Hof passt, und gemütvolle deutsche Romantik anstimmt. Beispielhaft zu Beginn die große Szene des Victor und seine Romanze „Am blum’gen Rain“, die sich wie eine schöne Kopie von Nicolais Fenton und Flotows Lyonel ausnimmt: liedhaft gefällige Schwärmereien, die den hier höhenstark geforderten Tenor in Bedrängnis bringen. Patrick Vogel singt den Victor mit nicht ungefährdetem, manchmal fast brechendem Ton, aber mit einer Operettenleichtigkeit, die hier gut am Platz ist, und mit so viel Charme, dass er, der im dritten Akt mit einer schönen Arie seiner Angebeteten folgt, fast zur Hauptfigur in diesem kruden Schwenk von Moskau nach Neapel wird, in dem keine der Figuren ein Gesicht erhält .

Santa Chiara ist noch eine Nummernoper, „aber wir haben es hinbekommen, dass es mehr ineinanderfließt“,  erzählt GMD Philippe Bach im Programmheft, „Besonders bei den Rezitativen, die nicht nur das kompositorisch schwächste Teil sind, sondern auch zu lang, habe ich den Rotstift angesetzt“. Was auch immer wegfiel, der Rest hängt irgendwie in der Luft, denn aus den kurzen Ensembles und Chornummern, in welche die Gesellschaftsszenen des ersten Aktes aufgelöst sind, lässt sich keine Geschichte filtern. Da hilft es auch wenig, wenn Charlotte eine innere Schauspielerinnen-Stimme zur Seite gegeben wird, die mehr zur Verwirrung denn Klärung beiträgt. Vor allem die Titelgestalt wird nicht greifbar, scheint sich von Anfang an wie ein Phantom durch den Kreml zu schleichen und ihre spätere Legendenbildung vorzubereiten. Mit gebrochen, gezackter Gesangslinie tut sich Deniz Yetim in den kurzen Ariosi und disparaten Attacken schwer, allenfalls ihm Duett mit der Charlotte liebenden Gräfin Bertha besänftigt sie ihren wilden Sopran so weit, dass er in der Sterbeszene recht vorteilhaft klingt. Der zweite Akt mit der Alexejs Giftanschlag um Opfer gefallenen und aufgebahrten Charlotte ist ganz Grand Opéra: die Cavatine der Bertha, in der sie ihr verlorenes Glück beklagt, entspricht vollkommen dem Schema, das an dieser Stelle der zweiten Sängerin eine bravouröse Nummer zuteilt, dazu die anspruchsvolle Tenorszene des Victor, kurze Intrigen des Zarewitsch, der in der Oper immer Czarowitsch genannt wird, vor allem die Gesänge des Archimandriten von Moskau, sakrale Klanggesten und Orchesterraunen – wozu die Regie ein Foto Bruckners aufgestellt hat – und das im Hintergrund erklingende „Requiem“ zeigen, wie genau sich Ernst II. in der weiten Welt der Grand Opéra umgesehen hatte. Musikalisch runder wird die Oper, nachdem Charlotte, die erst in der letzten Zeile als „Santa Chiara“ gefeiert wird, im Süden Asyl gefunden hat.

Idyllische Gesänge, nochmals hübsche Nummern für den Mezzosopran, wobei Sandra Maxheimer als Bertha einen lyrischen Mezzo von angenehmer Wendigkeit zeigte, endlich eine große, kloraturenverzierte fast bellinihafte Arie für Charlotte, die Yildim mit kangvoll, vibratoreichen Sopran angeht. Noch ein Abschiedsduett mit dem Tenor, dann – recht unvermittelt – der Auftritt des Charlotte gefolgten Alexej, der zuvor bestenfalls durch das blaue Ballkleid auffällig wurde, mit dem er auf dem Bett neben dem Sarg mit seiner Gattin tanzte. Nun wird er angesichts der Ereignisse wahnsinnig. Mit seinem leichten Spielbariton kann der spielmächtige Johannes Mooser die Dimensionen der Figuren nur andeuten. Hendrik Müller unterstrich die Ungleichartigkeit der Musik bzw. die vielfältigen stilistischen Einflüsse, die Buntscheckigkeit und Sprunghaftigkeit der Handlung durch eine Inszenierung, die Revue und Show und Zirkus mit ironischer Distanz und parodistischer Leichtigkeit verbindet. In der Charlottes Teddybär ebenso seinen Platz findet wie der Schmerzensmann mit der Dornenkrone, der die Tote im Sarg berührt, worauf sie wie Schneewittchen plötzlich die Augen aufschlägt. Wo Alexejs Mutter und Geliebte als stumme Nebenfiguren auftauchen oder eine neue Glaubensgemeinschaft glückselig taumelt. Wie auf einem Karussell lässt Marc Weeger dazu in den beiden ersten Akten die pompejanisch roten Zimmerfluchten des Kremls rotieren, in denen Müller eine überzeichnete, affektierte Gesellschaft zeigt, in deren Mitte Alexej und Victor als Paradiesvögel  stolzieren. Nicht weniger schillernd das sich drehende Zirkusrund im Süden, wo die durchgehend als weiße Bräute gekleideten Chormassen (Kostüme: Katharina Heistinger) mit den hier besonders auffälligen Plattitüden der Birch-Pfeiffer ihrer Führerin huldigen, die wie eine Operettendiva aus der Kuppel herunterschwebt.  

Zwischen zwei Lohengrins überließ BGM Bach die Aufführung am 30. April Andrey Doynikov, der die wunderbar eingestimmte Meininger Hofkapelle und den Chor und Extrachor so gewinnend durch den 2 ¼ stündigen Abend führte, dass Brüche und Schwächen des Werks wenig spürbar wurden. Großer begeisterter Jubel für diese Prinzessin, die nun wieder für ein Jahrhundert in einen Dornröschenschlaf versinken wird. Für die nächste Spielzeit hat Meiningen bereits eine weitere Beschäftigung mit russischer Geschichte vorgesehen und als Novität die szenische Uraufführung von Bizets fünfaktigem Ivan IV. angekündigt. Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier.