Feuerwerk und Halle Luja

.

Als einziger Musiker liegt „unser Händel“ als  George Frederic Handel in Londons Westmister Abbey begraben, „in der sogenannten Poet´s Corner, neben den großen Dichtern unweit der Gräber der englischen Könige… einer im Bereich der Musik damals noch singulären Erinnerungskultur.“ So schreibt der renommierte Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen in seinem so fundamen­talen wie profunden Essay über den „Mythos Händel“, der gewissermaßen das Rückgrat der opulent bebilderten Publikation ist (100 Jahre Händel-Festspiele¸ Henschel Verlag, ISBN 978-3-89487-835-1, 192 S.

Er spannt den Bogen von Händels Zeit an Hamburgs Gänsemarkt-Oper, seine glänzende monetäre Verwöhntheit wie Geschäftstüchtigkeit, Händels „Selbstinszenierung“ am Ende seines Lebens über die Händel-Literatur (Klopstock schrieb schon 1766 von „Händels Zaubereyen“ bis hin zu heutigen Händel-Musik-Zelebrierung der Champions League mit einer Komposition von Tony Britten, „in Anlehnung an Händels Coronation Anthem ‚Zadok the Priest‘. Dass Händels Musik somit auch den Mythos des Populären ohne Weiteres zu bedienen vermag, verdankt sich ihrer besonderen Affinität zur Darstellung des Festlichen, Majestätischen und Erhabenen.“ Selbst ein Massenphänomen wie der Fußball vereinnahmt den englischen Komponisten Hallescher Abstammung.  Sowohl im Dritten Reich wie in der DDR hab er eine „kulturpolitische Stellvertreterrolle für den ideologisch weitaus problematischeren Johann Sebastian Bach“ eingenommen. Spätesten seit der Händel-Renaissance in den 20er Jahren war Händel gefeierte Projektionsfläche wie gefeierter Repräsentationskomponist.

Clemens Birnbaum, gegenwärtiger Direktor des Händelhauses sowie Leiter der Händelfestspiele Halle spricht denn auch in seinem eröffnenden Beitrag zur großen publizistischen Feier des 100sten Jubiläums dieses Festivals von einem „Händel-Bild für jede Zeit“. 1922 wurden die Händelfestspiele Halle vom damalige Oberbürgermeister Rive als zunächst lokales Event gegründet. Zurecht betont Birnbaum, dass das Festival heute zu den größten Barockmusikfesten Europas zählt. „Beim Rückblick auf eine hundertjährige Geschichte lassen sich Kontinuitäten und gleichermaßen Diskontinuitäten Feststelle.“ Davon handelt die Publikation bei Henschel, deren 18 Kapitel unterschiedlichste Aspekte des Festivals in den Fokus rücken: historische, politische, ideologische, werk-, aufführungs- und theatergeschichtliche, aber auch Fragen der Wissenschaft und Händelforschung, aufgelockert von 17 vorwiegend erlebnisorientierten, subjektiven Beiträgen unterschiedlichster Couleur. Auch fehlen die Grußworte und Statements einiger Lokalpolitiker und Sponsoren Sachsen-Anhalts nicht. Lorbeeren und Streublümchen dürfe nicht fehlen in einer Jubiläumsfestschrift. Aber es gibt auch Substanzielles.

Annette Landgraf beschreibt die Geschichte der Händelaufführungen in Halle bis zum ersten Händelfest 1922.

Hanna John etwa, ehemalige Leiterin der Händel-Festspiele blickt in einem Interview zurück auf die Zeit vor Ihrer Intendantur (als sie aber schon beim Festival angestellt war): „Rückblickend muss ich sagen: Das war eine Gratwanderung. Zum einen wünschte die sozialistische Kulturpolitik nicht, dass zu viele westliche Interpreten in Halle auftraten, auch die Valuta zur Bezahlung dieser Künstler Waren recht knapp. Zum anderen wollte man aber Trotzdem ein internationales Fest und Besucher aus dem Ausland. Es sollte gezeigt werden, welch hohen Stellenwert die Kultur in der DDR hat.“ Nun davon ist das heutige Festival weit entfernt.

Der rührige Kulturmanager und Konzertgestalter Folkert Uhde reflektiert ausgehend von Händels grandiosem Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ über den „Triumph der Musik Händels an sich. Dorothea Schröder wirft ein Schlaglicht auf die Feuerwerkskunst, die für Händelaufführungen einst wie jetzt nicht unwesentlich war und ist.

Darauf, dass es immer wieder auch einzelne Säger- bzw. Sängerinnen Persönlichkeiten waren, die den Rum Händels mehrten weist Graydon Beeks am Beispiel Jenny Linds hin, einer der gefeiertsten Sopranistinnen des 19. Jahrhunderts.

„Zu Geschichte und Themenfeld der Historische Aufführungspraxis“ hat Hartmut Krones ein Kapitel geschrieben. Ein musikwissenschaftlicher Gelehrtenbeitrag zur Chronologie der „historisch informierten“ Aufführungspraxis, von der, an heute ehr spricht. Das vertieft ganz konkret Edwin Werner. Er nimmt die „Aufführungspraxis Alter Musik in Halle zwischen 1922 und 1993“ ins Visier, nennt Namen und würdigt detailliert Ereignisse des Musiklebens. Über Händel-Schallplatten-Einspielungen der DDR berichtet Bernhard Schrammek. Martin Elste (bis 2018 Medienkurator im Musikinstrumenten-Museum Berlin sowie Vorsitzender des Preises der deutschen Schallplattenkritik) erläutert am Beispiel des „Messiah“ kenntnisreich und differenziert die diskologische Interpretation- und Rezeptionsgeschichte dieses Werks, das als Paradebeispiel für den Erfolgszug Händels „von Großbritannien aus in die Welt“ gelten kann.

Der Karlsruher Musikwissenschaftler Thomas Seedorf beschreibt den „Einzug des Countertenors in Halle“.

Es gibt differenzierte Werkbetrachtungen Beschreibungen legendärer Inszenierungen. Die Musikwissenschaftlerin, Händelpreisträgerin und Autorin des Händel-Opernlexikons, Silke Leopold fragt in einem anspruchsvollen Aufsatz nach der „Neapolitanischen Drahtpuppendramatik“ Händels, was ein Licht wirft auf „Erzählweisen und Charakterentwürfe,“ und das Bemühen „Barockoper dem Publikum … schmackhaft zu machen“.

Natürlich wird (vom Händelexperten und Tübinger Professor Matthew Gardner) die große Bedeutung der Hallischen Händel-Ausgabe gewürdigt, die 33 Jahre nach den ersten Festspielen in Halle erschien, erstmals die Fassungsproblematik wissenschaftlich aufgearbeitet hat und damit die Aufführungspraxis veränderte.

Sehr interessant sind die Aufklärungen Juliane Riepes (Expertin für die Rezeptionsgeschichte Händels) über die Geschichte der „Händel-Tage in der NS-Zeit (1935-1944)“, die veranschaulichen, wie „bemerkenswerte kulturelle Leistungen und eine menschenverachtende Ideologie und Politik durchaus miteinander vereinbar sind“.

Der Fall Händel zeigt einmal mehr, wie eng Musik und Politik ineinander verschlungen sind. Dieser Jubiläumsband macht es deutlich.

Das so gehrte wie unterhaltsame, weitausholende Panorama der Händelfestspiele Halle wird von nützlichen Personen-, Werk- und Aufführungs-Registern sowie einer Zeittafel zur Geschichte des Festivals abgerundet. Dieter David Scholz