Glückverheißend klingt mit der Titel Erwarten Sie Wunder! von Kent Naganos in Zusammenarbeit mit Inge Kloepfer im Berlin Verlag verfasstem Buch, Unheilschwangeres dagegen ist in ihm zu lesen, wenn der Verfasser immer wieder auf die drohende Gefahr verweist, die Klassik, sei es Konzert oder Oper, werde in absehbarer Zeit aus dem Leben der Menschen verschwinden, da immer geringer werdende Subventionen (Deutschland) oder Spenden (USA) ihr die finanzielle Grundlage zunehmend entziehen würden. Der Text bewegt sich in dem Spannungsfeld zwischen ungeheurem Enthusiasmus gegenüber der Musik der Vergangenheit, aber auch der sogenannten „modernen“ und einem abgrundtiefen Pessimismus, da nicht nur die Gelder schwinden, sondern auch das Publikum, das immer älter wird und dem keine jungen Besucher nachwachsen.
Das Buch gliedert sich in einen Prolog und sechs Kapitel, jedes mit einem das Hauptthema verratenden Titel und dazu nähere n Ausführungen über Schwerpunkte. Eine Art Komponistenportrait der Musiker, die eine besondere Rolle in der Karriere von Nagano gespielt haben, schließt sich den einzelnen Kapiteln an. Jedem von ihnen ist außerdem das Zitat einer Persönlichkeit vorangestellt, das mit dem jeweiligen Thema zu tun hat. Als Anhang gibt es lediglich ein Verzeichnis der Literatur, aus der zitiert wurde, kein Sach- oder Personenregister. Als Verlust für den Einzelnen wie für die gesamte Menschheit bezeichnet der Verfasser den drohenden Verzicht auf ein Leben mit klassischer Musik. Im ersten Kapitel berichtet er davon, wie er selbst mit ihr in einem kleinen Fischerdorf an der Westküste namens Morro Bay durch den Glücksfall eines dorthin verschlagenen georgischen Musikers im Kreis der Dorfjugend sich für die Klassik begeisterte. Von ihm entwirft der Dirigent ein ebenso plastisches wie liebevolles Portrait. Er bekennt sich zur „sanften Gewalt“, mit der man Kinder zum Erlernen eines Instruments veranlassen müsse, auch er brauchte sie anscheinend, um das Klavierspiel zu erlernen. Kinder müssten jeden Tag mit Musik konfrontiert werden, und Anstrengung wie Handwerk gehörten zum Erreichen von Zielen. Wichtig ist dabei als Anleitung eine charismatische Persönlichkeit, wie sie sein Lehrer offensichtlich in hohem Maße war. Nagano berichtet von dem Doppelstudium von Soziologie und Musik, meint, dass ein Autodidakt in der Musik nicht weit komme und spricht der Musik einen hohen Wert für das friedliche Zusammenleben von Menschen zu. Dabei wird Biographisches immer wieder zum Anlass für allgemeine Betrachtungen.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Beinahe-Scheitern des berühmten Orchesters von Philadelphia durch finanzielle Probleme, wie sie vor allem die nicht subventionierten Kulturinstitutionen bedrohen, während in Oakland bereits das Orchestersterben Wirklichkeit wurde. Da Musik in den USA „nice-to-have“ sei, aber nicht lebensnotwendig, da die Zinsen der Stiftungen auf einem besonders tiefen Niveau sind, drohe hier, aber auch in Italien und in abgeschwächter Form überall eine „Auflösung des kulturellen Konsens“. Allerdings hat Nagano auch die freudige Feststellung treffen können, dass es immer mehr Festivals mit klassischer Musik gibt. In Europa sieht er es als symptomatisch an, dass in den Pisa-Tests keine Kompetenz in den Künsten geprüft werde, und er beklagt sich über den fehlenden oder schlechten Musikunterricht an den Schulen. Im dritten Kapitel geht es unter anderem um die Frage, ob Hochkultur trivialisiert wird, wenn sie allen zugänglich gemacht wird, welchen Standpunkt Nagano strikt ablehnt, im Gegenteil gerade jetzt auch eine Chance für die Klassik in den USA sieht. Er fragt sich, wie Musik ihre Kraft entfaltet und was sie bewirken kann, geht dabei weit zurück bis zu den Meinungen der alten Griechen zu diesem Thema. Mancher Leser wird ihm in seinem Enthusiasmus für die vermeintliche Kraft der Musik nicht folgen können.
Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen das Wirken von Nagano in Montreal, die Èclatè-Jugendkonzerte, die Kombination von Strauss‘ Ein Heldenleben mit einer Eishockey-Musik Les Glorieux für noch zu gewinnende Zuschauer. Entsprechend gab es mit dem DSO eine Kombination von Brahms und Rihm, während er in München (der Stadt der Uraufführungen) fünf Kompositionsaufträge vergab. Im Zentrum des fünften Kapitels steht ein Gespräch mit einem Psychologen über die Wirkung von Musik auf den Menschen. Es geht um die Frage, warum uns Musik in Moll besonders berührt, dass unser Gehirn auf atonale Musik nicht programmiert ist und wir sie darum tunlichst meiden. Eine besondere Bedeutung misst Nagano dem Tritonus zu als „Diabolus in Musica“. Das sechste und damit letzte Kapitel nennt sich „Die offene Frage“ und bringt Gespräche mit Helmut Schmidt und Kardinal Marx, was die deutsche Seite betrifft. Opernfreunden wird nicht gefallen, was Schmidt über die Oper denkt, dass er den Ring als voll von üblem Nationalismus sieht, ist schlichter Blödsinn. Die den einzelnen Kapiteln angehängten Komponistenportraits, die sich wie das gesamte Buch trotz seines hohen Anspruchs gut lesen lassen, befassen sich mit Bach ( Enzyklopädie musikalischen Wissens), Beethoven (Assoziationen beim Hören der 8. Sinfonie), Schönberg (revolutionär in der Harmonik, konservativ in der äußeren Form), Bruckner (im Zentrum die7. Sinfonie, das Vorbild Wand bei der Interpretation), Messiaen (durch ihn Zugang zu Europa) und Yves und Bernstein (rustikale und urbane typisch amerikanische Musik).
Sieht man die vollen Konzert- und Opernhäuser, dann mag man die düsteren Prophezeiungen für übertrieben halten, einwenden, dass klassische Musik immer eine Sache des Bildungsbürgertums war, dass auch junge Leute besonders in den Konzertsälen anzutreffen sind oder mit dem Reifwerden von der Pop- zur klassischen Musik wechseln, aber unleugbar gibt es Kürzungen, Orchesterzusammenlegungen und ähnliche bedrohliche Erscheinungen, in Deutschland weniger schlimm als anderswo, und ein Alarmschlagen sollte deshalb zu Nachdenklichkeit und einem „Wehret den Anfängen“ führen (320 Seiten, Berlin Verlag ISBN 978 3 8270 1233 3).
Ingrid Wanja