Geschichtsstunde mit Raritäten

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Anders als in der Oper greifen Schauspielmusiken in aller Regel nicht in die Handlung und deren Entwicklung ein; sie bilden üblicherweise nur illustrierenden Hintergrund. Die Musik, die Gioachino Rossini 1817 zu der Tragödie Edipo a Colono (Ödipus auf Kolonos) von Sophokles komponierte, ist ein Unikat im gesamten Repertoire der italienischen Musik jener Zeit. Dort hielt man wenig von der Gattung der Schauspielmusik und zog die Verbindung von Musik und Drama, also die Oper vor. Rossini erhielt den Auftrag zur Komposition der Musik zur Sophokles-Tragödie nicht – wie man annehmen sollte – von einem Theater, sondern vom italienischen Dichter Giambattista Giusti (1758-1829), der das Drama ins Italienische übertragen hatte. In einem vorausgehenden Diskurs erläuterte Gusti sein Ziel, die schlichte Schönheit der Originalsprache Sophokles‘ wieder aufleben zu lassen, mit besonderem Augenmerk auf die in den griechischen Tragödien so wichtigen Chöre. Bei der Entstehung der Komposition für Solo-Bass und Männerchor, jeweils mit Orchester-Begleitung, gab es erhebliche Verzögerungen, weil Rossini hauptsächlich mit „Barbiere“ und „Cenerentola“ beschäftigt war. Ob und wann Rossinis Musiche di scena erstmals aufgeführt wurde, ist bis heute unklar geblieben. Die erste moderne Aufführung von seiner Musik zu Edipo a Colono fand 1982 beim Rossini Opera Festival in Pesaro statt. Da sie zusammen mit der gesamten Tragödie von Sophokles als Begleitmusik gespielt wurde, darf man annehmen, dass die damalige Aufführung nicht allzu weit von der Art und Weise entfernt war, wie es sich Giusti in den 1810er-Jahren vorgestellt hatte. (Vorstehende Informationen sind dem Beiheft entnommen, das einen ausführlichen, sehr informativen Aufsatz von Francesco Milella enthält.)

Die vorliegende CD ist ein Live-Mitschnitt der konzertanten Aufführung der mit knapp 45 Minuten  relativ kurzen Schauspielmusik beim Rossini Opera Festival 2022 in Pesaro. Der argentinische Opernsänger Nahuel Di Pierro deutet acht Rezitative und zwei Arien ausdrucksstark aus, indem er seinen markanten Bass abgerundet und sicher durch alle Lagen führt.  Mit ausgesprochen ausgewogenem Klang gefällt der von Mirca Rosciani einstudierte Herrenchor des Coro del Teatro della fortuna. Bass und Chor werden von der ausgezeichneten Filarmonica Gioachino Rossini begleitet; die souveräne Gesamtleitung hat Fabrizio Ruggero. Die Einspielung dieser Rarität ist eine gelungene Sammlungsergänzung für Rossinini-Freund (Audax ADX 11207).

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Unter dem Titel  Splendours of the Gonzaga hat Arcana jeweils kürzere geistliche Chorwerke herausgebracht, die führende Musiker am Hof der bis 1630 in Mantua herrschenden Gonzaga-Familie komponiert haben. Es sind dreizehn  Stücke von den Komponisten Amante Franzoni, Giovanni Giacomo Gastoldi, Claudio Monteverdi, Benedetto Pallavicino, Salomone Rossi und Giaches de Wert. Das 2014 im lombardischen Vimercate gegründete Ensemble Biscantores, hier bestehend aus zwanzig Sängerinnen und Sängern sowie drei Instrumentalisten (Viola da Gamba, Erzlute und Orgel) entwickelt unter der umsichtigen Leitung seines fachkundigen Gründers Luca Colombo typische Renaissance-Klänge. Dabei gefällt besonders, wie schlank und bestechend intonationsrein allen die Stimmführung gelingt, ohne wunderbar ausgewogene Klangentfaltung zu vernachlässigen (Arcana A545).

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Nicola Matteis der Jüngere – wer ist das? Nur ausgewiesenen Spezialisten dürfte dieser Violinist und Komponist aus dem frühen 18. Jahrhundert bekannt sein. Um ihn dreht sich die bei Signum aus Anlass der Krönung von George III. herausgekommene Doppel-CD unter dem Titel An Englisman abroad. Matteis wurde in London als Sohn eines italienischen Vaters (Nicola Matteis der Ältere) und einer englischen Mutter um 1677 geboren. Er erhielt Violin-Unterricht durch seinen Vater, ebenfalls Violinist und Komponist, und wurde im Stil Henry Purcells ausgebildet. 1700 verließ er England, um an den kaiserlichen Hof in Wien zu gehen. Dort wirkte er unter Johann Joseph Fux in der Wiener Hofmusikkapelle; ab 1712 war er Direttore della musica instrumentale und von 1714 bis zu seinem Tod 1737 Komponist der höfischen Ballettmusiken, die zumeist am Ende eines Aktes, in Opern von Conti, Ziani, Caldara, Bononcini, Fux und anderen eingesetzt wurden. Die Zusammenstellung der Stücke auf den CDs kann man als karolingisch bezeichnen, denn sie wurden für Charles II. von England oder für Kaiser Karl VI. geschrieben. Das bereits seit 1994 bestehende britische Barock-Ensemble Serenissima wird von seinem Gründer und Konzertmeister Adrian Chandler geleitet, der auch in den beiden Violinkonzerten, die die Doppel-CD enthält, die Sologeige übernommen hat. Zu hören sind von Nicola Matteis zwei Werke, das Violinkonzert B-Dur und die abschließende Ballettmusik zu der Oper La Verità nell’Ingano von Antonio Caldara, dessen Ouvertüre ebenfalls gespielt wird. Der gradlinige, sehr transparente Klang des renommierten Streichensembles mit seinen historischen und entsprechend nachgebauten Instrumenten gefällt gerade auch in diesen Stücken des Spätbarocks, wozu die blitzsaubere Strichführung des Sologeigers bestens passt. Mit derselben Intensität und stilgerechten Interpretation werden die übrigen Werke der Doppel-CD musiziert, das Violinkonzert  Il Favorito von Antonio Vivaldi, die Ouvertüren-Suiten von Georg Philipp Telemann und Giuseppe Antonio Brescianello, dessen Chaconne A-Dur die CD abschließt, während entsprechend der Ausbildung von Matteis eine Chaconne in g-Moll von Henry Purcell die Reihe der barocken Stücke eröffnet (signum CLASSICS SIGCD751).

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Das kanadische Label ANALEKTA hat unter dem Titel Clara, Robert, Johannes einen Zyklus von vier Doppel-CDs herausgebracht, die je zwei Sinfonien von Robert Schumann und Johannes Brahms mit Liedern und anderen Werken meist aus dem Bereich der Kammermusik von Clara Schumann verbinden. Die Doppel-CD mit beiden dritten  Sinfonien mit dem Untertitel Atmosphère e Maestra enthält von Clara drei aus ihren etwa 30 Liedern, Quatre pièces fugitives op.15, die g-Moll-Klaviersonate und das Klaviertrio op.17. Durch das in allen Gruppen gut disponierte Orchestre du Centre National des Arts du Canada (NCA) erfahren beide Sinfonien eine gediegene, klangschöne Wiedergabe, bei der jeweils die Neigung des souveränen Dirigenten Alexander Shelley zu eher getragenen Tempi deutlich wird.  Die kanadische Sängerin Adrianne Pieczonka interpretiert gemeinsam mit der unaufdringlichen Pianistin Liz Upchurch Am Strande, An einem lichten Morgen und Heinrich Heines Lorelei mit farbenreichem Sopran. Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero kostet die Melodiebögen und aufrauschenden Arpeggien in Clara Schumanns Klaviersonate g-Moll genüsslich aus, so dass ihr eine insgesamt überzeugende Ausdeutung gelingt. Die jeweils kurzen Quatre pièces fugitives op.15 interpretiert der aus Kanada stammende Pianist Stewart Goodyear entsprechend ihrem Titel mit der nötigen Leichtigkeit. Gemeinsam mit dem Konzertmeister des NCA Yosuke Kawasaki und der Solo-Cellistin des Orchesters Rachel Mercer musiziert er das mit seinen vier Sätzen vielseitige Klaviertrio op.17, das durch die schwungvolle Interpretation aller Sätze, besonders des schwelgerischen Andante und des spritzigen Scherzo durchweg positiven Eindruck hinterlässt  (Analekta AN 2 8882-3). Gerhard Eckels